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Zwischen Hitler und Petain | APuZ 5/1957 | bpb.de

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APuZ 5/1957 Zwischen Hitler und Petain Der Partisanenkrieg in Südgriechenland

Zwischen Hitler und Petain

ALEXANDER FREIHERR VON NEUBRONN T

Aus einem nachgelassenen Manuskript des Generalleutnants a.

D. Alexander Freiherr von Neubronn und Eisenburg, das unter dem Titel „Ein Soldat blickt zurück“ dessen Etlebnisse während des zweiten Weltkrieges zum Gegenstand hat, veröffentlichen wir im folgenden mit freundlicher Erlaubnis der Witwe sowie des Verlages (Erstveröffentlichung in „Vierteljabrshefte für Zeitgesdtichte", 3. Heft/Juli, 4. Jahrgang 1956) zwei Kapitel, die mehr Abhandlungs-als Memoiren-stil haben.

Als Sohn eines Offiziers badischer Herkunft — der seine Laufbahn als Flügeladjutant Kaiser Wilhelms 11. und Generalleutnant beendete, und dessen Gattin einem baskischen Geschlecht entstammte a) — trat der am 6. Oktober 1877 in Berlin geborene Verfasser 1896 in das 1. Badische Leibgrenadierrcgiment Nr.

109 in Karlsruhe ein. Während des ersten Weltkrieges und in der Reichswehr in Generalsiabssteilungen verwendet, schied er 1929 als Oberst beim Stabe des Infanterieregiments Nr. 9 in Potsdam aus dem aktiven Wehrdienst aus, war jedoch als Spezialist für die französische Armee und Prüfer der französischen Dolmetscher der Reichswehr bei der Abteilung Fremde Heere West im Truppen-amt weiterhin tätig. Später als E-Offizier reaktiviert, wurde Ncubronn am 25. September 1939 zum Leiter der in Berlin verbleibenden Nebenstelle der Abteilung Fremde Heere West ernannt und am 1. September 1940 der Heereskontrollinspektion in Bourges, einer jener vier deutschen Kontrollkommissionen zur Überwachung des für die unbesetzte Zone genehmigten französischen Übergangsheeres („armee d'armistice", 100 000 Mann), zugeteilt Im Januar 1^ 41 zum Generalmajor befördert, wurde er am 1. Februar 1941 Inspekteur (Leiter) der Heereskontrollinspektion. Er führte dieses Amt formell bis zum 31. Januar 1943 — wurde jedoch bereits nach der Landung der Engländer und Amerikaner in Nordafrika vom Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall von Rundstedt, zu dessen Vertreter bei dem französischen Staatschef, Marschall Petain, bestellt c), um mit dem 1. Februar 1943 endgültig zum „Deutschen General des Oberbefehlshabers West in Vichy“ ernannt zu werden. Als „unmittelbares Verbindungsorgan des Ob. West zu der Französischen Regierung“

war es „Hauptaufgabe“ des „Deutschen Generals“, „Befehle und Wünsche des Oberbefehlshabers „an die Französische Regierung und insbesondere an den französischen Staatschet lieranzutragen, sowie dem Oberbefehlshaber West aal Grund seiner Beobachtungen über Pläne und Haltung der Französischen Regierung und die allgemeine Lage zu berichten und persönliche Wünsche des französischen Staatschefs entgegenzunehmen und zu übermitteln“ d). Bei weit gehender Selbständigkeit im einzelnen und mithin starker persönlicher Verantwortung für Ncubronn gab freilich Rundstedt, „ganz seiner Einstellung entsprechend“, dem General die entschiedene Weisung, sich jeder „politischen Betätigung zu enthalten. So schwer sich dies bei dem Charakter der Stellung N s praktisch durchführen ließ und so wenig es unter den außergewöhnlichen Verhältnissen der nationalsozialistischen Herrschaft seinen innersten Anschauungen entsprach, schreibt er es doch dem ihm „trotz aller Anfeindungen“ gewährten Schutz Rundstedts zu, daß er nicht ein Opfer des Hasses der Partei winde.

Schon angesichts der unaufrichtigen Politik Hitlers gegenüber Frankreich nennt sich Neitbromt rückschauend den „ehrlichen Makler einer unehrlichen Sache“ Darüber hinaus bezeugt sein Rechenschaftsbericht erneut den Gewissenskon„di. überhaupt, in den i. e..... t. r-agg-i-s-c-h--e Ve--r-s-t-r-i-c-k-u--n„g eines echten Einsatzes für hohe Ziele mit der Dämonie einer verflikt Utopie“ und ihre „Verfälschung aller Begriffe", wie N. sagt, jeden ethisch verwurzelten Offizier des Hitler-staates versetzte. Daß N. es dennoch verstanden hat, mit der Wahrung seiner Offiziersehre auch den aeutschen Kamen zu seinem Teil zu wahren — gewiß nicht durch unausführbaren Widerspruch gegen die Weisungen der nationalsozialistischen Staatsführung, wohl aber durch deutliche Distanzierung von ihrem Geist und ihrer Tendenz —, haben ausländische Zeugen seines Wirkens eindrucksvoll bestätigt e).

Petain und Laval

INHALT DIESER BEILAGE: Alexander Freiherr von Neubronn F: Georg Stadtmüller: (S. 82) „Zwischen Hitler und Petain" „Der Partisanenkrieg in Südgriechenland"

Henri Philippe Petain (geb. in Cauchy-la-Tour, Dep. Pas-de-Calais, 1856) und Pierre Laval (geb. in Chteldon, Dep. Puy-de-Dme, 1883) waren während der längsten Zeit der Vichy-Regierung die leitenden Staatsmänner Frankreichs, aber in ihrem Erscheinungsbild und Wesen zwei so verschiedene Naturen, daß es fast widersinnig erscheint, ihre Namen nebeneinander zu setzen. Da aber die deutsche Regierung diese gegensätzlichen Persönlichkeiten zur Leitung der französischen Politik zusammengespannt hat, lohnt es sich, sie nebeneinander und in ihrer Wechselwirkung aufeinander zu betrachten.

Schon ihre äußere Erscheinung zeigte sie als zwei grundverschiedene Typen, die das französische Volk aufweisen mag. Petains edel geformter, männlich schöner Kopf, der, wenn nicht einem Offizier und Staatsmann, einem Arzt gehören konnte, saß auf einem vom Alter ungebeugten, sich mit vornehmer Würde und selbstverständlicher Grazie bewegenden Körper. Auch in der angeregten und menschlich vertrauten Unterhaltung behielt er eine gewisse Kühle und den wohltuenden Abstand der in sich gefestigten Persönlichkeit bei. Seine vollendeten Gesten und seine eindrucksvollen Gespräche zeigten einen Menschen von an-geborenem Takt und einer weit über den Beruf hinaus gewonnenen Bildung. Einzig seine Schwerhörigkeit brachte einem zum Bewußtsein, einem alt gewordenen Manne zu begegnen. Man konnte ihm nicht anders als mit verehrungsvollem Abstand gegenübertreten, und man wußte sogleich, daß er sich selbst beim Worte hielt, das er bedächtig aussprach.

Lavals leidenschaftlich bewegter Kopf ließ dagegen alle feineren Züge vermissen. Er hätte abstoßend gewirkt, wenn nicht auffallend kluge und lebhafte Augen eine gewisse Wärme der Empfindung ausgedrückt hätten und seine sprühende Vitalität nicht sehr bald den Eindruck seines Äußeren nebensächlich hätte erscheinen lassen. Er konnte anziehen, was er wollte, selbst im Staatsrock machte er einen ungepflegten Eindruck. Man hätte in ihm eher einen verschlagenen Wirt oder Händler der nicht mehr „bürgerlichen" Sphäre vermutet. Er wußte, daß er nur durch seinen Elan, durch die Beweglichkeit und Treffsicherheit seiner Gedanken und Worte, durch seinen Witz wirkte, und er übte sich täglich im vollendeten Gebrauch dieser Waffen. Im Auftreten war er betont ohne Formen.

War Petain der Typus des ritterlichen Soldaten, so Laval der Typus eines Nichtsoldaten, der Typ des mit allen Wassern gewaschenen und intriganten Parteipolitikers. Petain war strenggläubiger Katholik, Laval unumwundener Atheist. Petain war ein Mann einfachster und mäßigster Lebensführung, Laval dem Lebensgenuß zugetan, stets bedacht auf die Mehrung seines Vermögens, dabei aber ein anhänglicher Familienvater. Neben den Temperamentsgegensätzen wirkte sich auch der Altersunterschied von 27 Jahren sehr fühlbar aus. War Petain auch in jüngeren Jahren ein klar planender, stetig im Gleichmaß sein Pensum erledigender Arbeiter, so war Laval ein von einer stets sich erneuernden Initiative gepackter, aber auch nie fertig werdender Fanatiker der Arbeitsleistung. Es war ein großer Nachteil für Frankreich in seiner schwierigen Lage gegenüber der Besatzungsmacht, daß diese gegensätzlichen Naturen bei ihren zudem starken sachlichen Differenzen begreiflicherweise nicht ersprießlich Zusammenarbeiten konnten. Die Ungunst dieses Verhältnisses wurde noch dadurch vermehrt, daß die Umgebung beider ständig dazu beitrug, die trennenden Dinge zu verschärfen. Das wirkte sich noch in besonderem Maße dadurch aus, daß die Dienststellen der beiden Parteien in Vichy in demselben Hotel (Hotel du Pare) untergebracht waren.

Nachdem der Feldzug von 1940 mit einer Katastrophe für Frankreich geendet hatte, war Petain — schon seit März 1940 Kriegsminister und stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Reynaud — Minister-fehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD den Ob. West um Erlaß einer neuen Dienstanweisung, auf Grund welcher N. „die Tätigkeit seiner Dienststellen nicht mehr behindern könne. . . . Der zuständige Bearbeiter für meine Angelegenheiten beim Ob. West", fügt N. hinzu, „beugte sich dieser Forderung." Tatsächlich untersagte die neue Dienstanweisung N. mehrfach ausdrücklich die Entgegennahme von Anträgen und Beschwerden französischer Dienststellen hinsichtlich der deutschen Polizei, wenn auch mit der Einschränkung: sofern die Beschwerden „nicht mittelbar oder unmittelbar die Interessen der Wehrmacht berühren und sofern nicht dargetän wird, daß der Gegenstand der Beschwerde bereits ohne Erfolg mit dem Höheren SS-und Polizei-Führer beim Militärbefehlshaber in Frankreich besprochen worden ist.“

N. kommentiert die neue Dienstanweisung folgendermaßen: „Sie sollte mir Zügel anlegen, hat mich aber in keiner Weise beeinflußt. Ich erklärte seinen (d. h.des Ob. West) Offizieren, daß ich als ein in den Auffassungen des alten Heeres erzogener Offizier genau wisse, wie ich zu handeln habe. Mir sei es gleichgültig, wie die Dienstanweisung lauten würde, ich würde mich nie auf etwas einlassen, das mit meiner Ehrauffassung als Offizier nicht vereinbar sei. Das war an sich eine Selbstverständlichkeit, aber gegenüber den unter der Naziherrschaft aufgekommenen Auffassungen hielt ich es für gut, dies deutlich zu betonen.“

e) Vgl. insbesondere das Buch des ehemaligen schweizerischen Gesandten in Vichy, Dr. Walter Stucki, Von Petain zur Vierten Republik — Vichy 1944, Bern 1947, passim. Ferner Robert Aron, Histoire de Vichy 1940-1944, Paris 1954, S. 700 f.

Präsident und Laval sein Stellvertreter geworden, da dieser schon damals als der Mann eines Ausgleichs mit Deutschland galt ’). Laval war sich der geradezu symbolischen Bedeutung des greisen Marschalls Petain bewußt, denn die überwiegende Mehrzahl der Franzosen sah in dem ruhmreichen Verteidiger von Verdun den Retter des Vaterlandes. Diese vertrauensvolle Stimmung kam auch in dem Votum der Nationalversammlung zum Ausdruck, das dem greisen Feldherrn nicht nur die bisher mehr repräsentative Stellung eines Präsidenten der französischen Republik zuerkannte, sondern ihm auch für die Dauer des außerordentliehen Notstands durch ein besonderes Ermächtigungsgesetz am 10. Juli 1940 die freie Verfügungs-und vollziehende Gewalt eines autoritär regierenden Staatschefs übertrug. Es darf heute nicht vergessen werden, daß dieses Gesetz in der Kammer mit 395 gegen drei Stimmen und im Senat mit allen gegen nur eine Stimme angenommen wurde Wie sehr diese Entscheidung damals dem Gefühl des französischen Volkes entsprach, geht unter anderem daraus hervor, daß Petains Bild in allen Schaufenstern zu sehen war, und es unterliegt für keinen Beobachter einem Zweifel, daß die Huldigungen für ihn spontan waren. Die demokratische Regierungsform hatte, nach Ansicht vieler Franzosen, ihre Schwäche in Zeiten der Anspannung aller Kräfte erwiesen, und auch Petain hielt es in Anbetracht der durch den Waffenstillstand geschaffenen Lage für unerläßlich, die Regierungsgewalt stärker zu konzentrieren und beweglicher zu handhaben.

Bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in die „Freie Zone“ südlich der Demarkationslinie konnte der Marschall wenigstens in diesem Teil Frankreichs ungehindert, regieren Seine Beliebtheit erlitt zunächst trotz der englischen Propaganda und der des Generals de Gaulle keine wesentliche Einbuße. Vielmehr verstand es der körperlich erstaunlich rüstige alte Herr, durch Ansprachen, die er im Anschluß an Truppen-paraden des neuen Heeres hielt, die Traditionen der französischen Armee neu zu beleben. Er war auch ein Meister der volkstümlichen Rede, mit der er an vielen Orten Südfrankreichs in weitesten Kreisen die Stimmung hob. Bei seinen An-und Abfahrten, wie auch bei der allsonntäglichen Flaggenparade in Vichy (la fete des couleurs) hatte er jedesmal das erfreuliche Erlebnis der vollen Anhänglichkeit und des Dankes der Erschienenen. Auch auf einen großen Teil der Jugend hatte sich damals die Begeisterung für den Marschall ausgedehnt. Sie war durchaus der Ausdruck vaterländischer Gesinnung. Das Lied der „Jeunesse du Marechal“ hatte den begeisternden Schluß: „Marechal! Nous voil!"

Sehr schnell aber sollte, wie so oft in der Geschichte, auch diesem „Hosianna“ ein „Crucifige“ folgen. Lind doch dürfte es fast unmöglich sein, den Wendepunkt genau zu fixieren. Das Übermaß der Verehrung, und der auf die schwache Kraft eines Menschen gesetzten Hoffnungen trug das mögliche Verdammungsurteil der Enttäuschten schon in sich.

Die dienstliche und persönliche Umgebung des Staatschefs bestand aus einem Zivil-und einem Militärkabinett. Als politischer Berater stand ihm ein Generalsekretär zur Seite, der auf Druck von deutscher Seite mehrfach wechseln mußte. Es folgten aufeinander die Herren Jardel, Tracou und General Debeney auf diesem einflußreichen Posten des secretaire general. Der intimste Vertraute des Marschalls blieb jedoch sein Arzt und zugleich Privatsekretär Dr. Mntrel (chef du Secretariat particulier) Die persönliche Lebensführung des Marschalls war von bewundernswerter Bescheidenheit. Während meines Aufenthaltes in Vichy bewohnte er ein kleines abgeschlossenes Appartement von drei Zimmern im Hotel du Pare: ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, das zugleich sein Geschäftszimmer war, und ein Wartezimmer, das auch den Sitzungen des Ministerrates diente. Der Madame la Marechale stand für ihre repräsentativen Pflichten nicht einmal eine Hilfe in Gestalt einer Ehrendame zur Verfügung. Die einzige Zeremonie in dieser Hofhaltung wurde beobachtet, wenn der Marschall vor dem Essen den Empfangssaal des Hotels betrat, um die dort versammelten Gäste zu begrüßen. Dann klopfte ein Diener mit dem Stock auf den Boden, wie dies an monarchischen Höfen üblich war, und sprach in feierlichem Ton die Worte: „Le Marechal de France, Chef de l’Etat franoais, entre dans le salon."

Das Leben des Marschalls vollzog sich mit pünktlicher Regelmäßigkeit; er bewältigte täglich eine große Arbeitslast. Der Zutritt zu ihm war sehr zuvorkommend geregelt, und er vermied es, seine Besucher lange warten zu lassen.

Es war schmerzlich für die ihm Nahestehenden, beobachten zu müssen, wie — für ihn selbst völlig unmerklich — diese kleine Welt der täglichen Pflichterfüllung des Marschalls immer mehr der Isolierung verfiel. Das französische Volk verlor mehr und mehr den inneren und äußeren Kontakt mit dem Staatschef. Es machte ihm den Vorwurf, daß er den deutschen Forderungen nicht energisch genug entgegenwirke. Das Fehlen eines unmittelbaren Weges zur Öffentlichkeit, einer freien Presse, eines mitverantwortlichen Parlaments wirkte sich sehr schnell zu LIngunsten Petains aus; denn das, was er in Gesetzen und Anordnungen unter dem ständigen Druck der Besatzungsmacht zu verkünden hatte, konnte keine freudige Zustimmung im französischen Volke finden. Zunächst stellte sich die französische Bevölkerung den Marschall wohl noch als einen Mitstreiter um Frankreichs Sache vor, der sich in geheimem Einverständnis mit seiner offiziellen Opposition befinde. Dann aber fand man auch zu seinen etwa verborgenen Motiven keinen Zugang mehr. Die Zeit des Hinhaltens dauerte zu lange. Einen entscheidenden Schlag brachte die Besetzung ganz Frankreichs durch die deutschen (und italienischen) Truppen im Jahre 1942 und die Einrichtung der deutschen Militärverwaltung auch in der bisher freien Zone. Der Marschall protestierte zwar gegen diese nur schwach begründete Maßnahme, doch schien der Protest mehr eine Sache der Form zu sein. Die englischen und die de Gaulle-Sendungen konnten nun eine Wirkung in die Breite gewinnen. Sie haben in der Folge immer mehr zur politischen Willensbildung Frankreichs beigetragen. Mit dem Absinken der Autorität des Staatschefs trat der Wunsch des Volkes, seine altgewohnte demokratische Regierungsform wiederzugewinnen, immer gebieterischer hervor. Auch die beabsichtigten, freilich nur zum Teil durchgeführten sozialen Reformen fanden keine Zustimmung mehr. Zu Anfang des Jahres 1944 sagte mir ein gut unterrichteter Franzose, daß sich keines der von Petain erlassenen Gesetze in der Praxis bewährt habe und nichts davon übrigbleiben werde. Am meisten schadete es im weiteren Verlauf dem Ansehen des Marschalls, daß sich das Naziregime als unfähig erwies, Sich in die Mentalität Frankreichs einzufühlen und darauf auch nur in der Diktion der Forderungen Rücksicht zu nehmen. Die Torheiten und rohen Übergriffe der Parteidienststellen fielen gleichfalls auf Vichy zurück, da seine Proteste ungehört blieben. Spätestens im Frühjahr 1944 erkannte das ganze französische Volk, daß der Marschall keine freien Entschlüsse mehr fassen konnte, daß auch im Radio die Besatzungsmacht durch seinen 'Mund sprach und daß die von ihm ausgehenden Proklamationen und Erlasse zuletzt nicht nur von deutscher Seite mit-redigiert, sondern ihm ganz und gar aufgenötigt waren Zur inneren Haltung Petains wird noch einiges zu sagen sein. Nach außen hin hatte er ausgespielt, als er schließlich auf Hitlers Anordnung aus Vichy entführt wurde.

Dennoch waren die Gefühle für den greisen Marschall 'anderer Art als die für seinen Ministerpräsidenten und Gegenspieler Laval. Das ist nicht nur in der grundverschiedenen Persönlichkeit der beiden Staatsmänner begründet, sondern auch in ihrem Wollen und Handeln. Laval war zweifellos hochbegabt. Er besaß eine erstaunliche geistige Beweglichkeit, hatte ein eminentes Gedächtnis für alle politischen Vorgänge, große Menschenkenntnis und durch seine langjährige Tätigkeit als Abgeordneter und Minister eine bedeutende Routine in der Leitung der Regierungsmaschinerie. Auf das Ressort kam es ihm, wie so manchem parlamentarischen Minister, nicht sonderlich an. Er kannte keine Sache um ihrer selbst willen. Alles hatte sich vielmehr einer großen politischen Konzeption unterzuordnen. Diese zu nennen, wäre ihm wohl schwergefallen. Denn sein Programm war fern von jeder Doktrin. Er trieb, soweit ich ihn erkannt zu haben glaube, Politik um des Reizes willen, eines Reizes, der von der souveränen Beherrschung der politischen Klaviatur und von der Durchsetzung seiner oft gewundenen Taktik zur Lösung der Probleme ausging. Er brauchte das Abenteuer des politischen Spiels, die Bestätigung seines persönlichen Wertes durch den Erfolg in der Öffentlichkeit. In allem das gerade Gegenteil des in sich ruhenden Marschalls.

Unglaublich waren LImfang und Vielseitigkeit seiner Arbeit. Zur Zeit meiner Anwesenheit in Vichy leitete er gleichzeitig mit dem Minister-präsidium das Außen-und das Innenministerium und dazu noch bis zur Berufung des Ministers Henriot im Dezember 1943 auch das Ministere de rinformation (Nachrichten und Propaganda), dessen Zügel er auch später in der Hand behielt

Sein selbst für die gesellschaftlich voraussetzungslosen Verhältnisse der Dritten Republik aufsehenerregender Aufstieg hat zu Legenden-bildung und Kritik manchen Anlaß geboten. Über die Art, wie dieser einst arme Bauernjunge sein beträchtliches Vermögen erworben hatte, liefen viele mißbilligende Gerüchte um Man pflegt allerdings den Erfolgreichen solche Schönheitsfehler nicht nachzutragen, doch erregte es allgemeine Empörung, als bekannt wurde, daß Laval im Jahre 1944 große Teile seines Vermögens nach Spanien verschob. Den letzten Rest an menschlichem Kredit in den Augen seiner französischen Landsleute verscherzte er sich wohl, als er nach seiner Festnahme mit Hilfe eines SS-Trupps aus der Haft befreit wurde und daraufhin längere Zeit den Schutz der deutschen Botschaft in Paris in Anspruch nahm.

Laval hatte den Stolz des Mannes, der seinen Aufstieg und seine Stellung „allein der eigenen Kraft“ zu verdanken glaubt. Er behielt auch als Ministerpräsident etwas vom landverbundenen Bauern der Auvergne, und das war wohl fast seine beste Seite. In einer UInterhaltung sagte er mir einmal: „Jeder Franzose sollte außer seinem Beruf noch drei weitere Dinge beherrschen. Er müsse einen Baum pflanzen, eine Hecke schneiden und auch selbst kochen können.“ Lind dann setzte er hinzu: es sei seine liebste Tätigkeit, wenn er nach Beendigung seines Dienstes nach Hause komme, seine Frau vom Herde zu verdrängen.

Wie ich schon erwähnte, bewohnte er das etwa zwanzig Kilometer von Vichy entfernte Schloß Chäteldon. Es lag über dem Ort, in dem er in kleinsten Verhältnissen geboren und ausgewachsen war. Er hatte, nachdem er über das Studium, die Rechtsanwaltspraxis und die erfolgreiche politische Laufbahn zum reichen Mann geworden war, den Traum seiner Jugend und seinen höchsten Ehrgeiz erfüllt gesehen, als er dieses Schloß kaufte.

Jeden Morgen kam Laval in einer Wagenkolonne von Chäteldon zur Aufnahme seiner Diensttätigkeit; am späten Nachmittag fuhr er wieder dorthin zurück. Während aber Petain keines Schutzes bedurfte und sich frei unter dem Volk bewegte, fuhr Laval im gepanzerten Auto, und die Straße von Chäteldon nach Vichy mußte stets in ihrer ganzen Länge von Posten bewacht werden. Wenn Laval ausstieg, wurde sein Wagen sofort im weiten LImkreis von getarnten Polizisten umgeben. In seinem Geburts-und Wohnort war sogar eine ganze Eskadron der Garde zu seinem Schutze untergebracht Diese Sicherheitsmaßnahmen waren wühlbegründet, denn in der Zeit zwischen seinen beiden Minister-präsidentschaften in Vichy hatte ein auf ihn abgefeuerter Schuß (Paris, 27. 8. 1941) dem vielumstrittenen und schon damals von vielen gehaßten Mann die Gefahr für sein Leben deutlich gemacht.

Es mußte mir in meiner Stellung natürlich daran gelegen sein, mit Laval reibungslos zusammenzuarbeiten. Aber auch seinerseits war das Bemühen unverkennbar, meine ursprüngliche Zurückhaltung zu durchstoßen. Da er (wie übrigens auch Petain) nur Französisch (Laval auch etwas Spanisch) sprach, war es ihm angenehm, in mir einem Deutschen zu begegnen, der ihm in die feineren Nuancierungen der französischen Sprache, auch des Witzes, folgen konnte. Aber gerade diese Gewohnheit Lavals, in jeder Situation, auch nach für sein Land schmerzlichen Ereignissen, Witze anbringen zu müssen, wirkte oft befremdend auf mich.

Lind doch mußte ich sagen, daß trotz allem, was uns trennen mußte, meine Begegnungen mit ihm für mich oft etwas Faszinierendes hatten.

Ich kann mich kaum eines Gesprächs erinnern, aus dem ich nicht den Gewinn eines besseren Einblicks in die Verhältnisse gezogen hätte.

Interessant waren mir besonders die fast unabsichtlich klingenden beiläufigen Äußerungen des erfahrenen Mannes, der natürlich wußte, daß gerade sie einen aufmerksamen Hörer und Bewahrer fanden.

Vieles konnte ich so über Mussolini und Stalin erfahren, deren Mentalität er genau zu kennen glaubte. „Ich war nämlich'vor Euch in Moskau“, sagte er einmal scherzend zu mir. Dabei gab er seiner Über-zeugung Ausdruck, daß Stalin im deutsch-russischen Kampf, selbst nach entscheidenden Mißerfolgen, niemals nachgeben würde. Mussolini bezeichnete er als eitel und habgierig. Als die italienische Besatzungsbehörde im Jahre 1943 in dem von ihr kontrollierten Gebiet östlich der Rhone von einigen nicht genehmigten Waffenlagern erfuhr, verlangte die italienische Regierung als Sühne eine hohe Summe nach genau abgestuftem Tarif, vom Gewehr bis zum Geschütz. Laval hatte diese Forderung gerade erhalten, als ich zu einer Besprechung sein Dienstzimmer betrat. Höhnisch lächelnd teilte er mir dieses eigenartige Ansinnen mit und setzte hinzu: „Das ist Mussolini, wie ich ihn kenne!“

Diejenigen Deutschen in Frankreich, deren Blick nicht durd die Parteibrille getrübt war, erkannten schon frühzeitig, daß es Laval nicht gelang, aufrechte und diensterfahrene Franzosen für sein Kabinett zu gewinnen. Daß auch der Marschall diese Ansicht teilte, erfuhr ich von diesem selbst bei einem meiner Besuche auf besondere Weise. Als ich, wie gewöhnlich, zur festgesetzten Zeit sein Amtszimmer betrat, rief er mir zu: „Noch einen Augenblick! Ich schreibe gerade eine Beurteilungsliste meiner Minister!“ Als er bald darauf seine sarkastische Charakteristik fertiggestellt hatte, zeigte er mir das Blatt: Jedem Minister war darauf seine Unfähigkeit mit drastischer Ironie bescheinigt. Nur der Verkehrsminister Bichelonne hatte eine gute Note erhalten, die er wegen seiner überdurchschnittlichen Begabung auch wirklich verdiente. Die bitteren Worte, mit denen der Marschall diese Aufzeichnungen glossierte, klingen mir noch im Ohr. Vermutlich wollte er mir dadurch zugleich zum Ausdruck bringen: „Daran seid Ihr Deutschen schuld!“ Die deutsche Botschaft in Paris hatte einen nicht geringen Anteil an der Auswahl so ungeeigneter Persönlichkeiten, zum mindesten an ihrer Bestätigung. Im Jahre 1944 drängte sie der Vichy-Regierung sogar zwei Parteiführer auf, die dem Marschall so unsympathisch waren, daß er sich lange weigerte, sie zu empfangen

Es unterliegt keinem Zweifel, daß auch Laval keineswegs mit dem Herzen hinter der aus Berlin befohlenen Politik in Frankreich stand.

Aber zwischen seiner und Petains Haltung war doch ein grundsätzlicher Unterschied. Der Wunsch des Marschalls nach einer dauernden Waffenruhe mit dem deutschen Gegner war von keiner Zweckhaftigkeit des Augenblicks bestimmt. Er war ein viel zu aufrichtiger französischer Patriot, um nicht in erster Linie dabei das Schicksal seines Vaterlandes im Auge zu behalten, dem er die Schrecknisse der Fortsetzung des Krieges ersparen wollte. Darüber hinaus war er ein überzeugter Freund des Friedens und der Verständigung, von einem politischen Ethos, das die politische List selbst nicht will und sie deshalb auch beim Gegner nicht überall vermutet. In diesem Punkt war ihm Laval überlegen, der aus seiner Selbsterkenntnis heraus sehr viel klarer und früher die Pläne des Gegners durchschaute. Daß er sich dennoch zur Verfügung stellte, entsprach wohl zunächst seiner Überzeugung, daß die Achsenmächte siegreich sein würden. Aus diesem reinen Zweckbündnis wurde dann bald eine Verstrickung, aus der er sich nicht mehr zu lösen vermochte. Es gehörte wohl zu den verhängnisvollsten der dämonischen Kräfte Hitlers, in denen Ribbentropp nur ein mangelhafter Schüler war, daß er die Menschen auch gegen ihre Überzeugung an sich zu fesseln verstand. Laval hat offenbar geglaubt, der überlegene Spieler zu sein. Er hatte in seinen Spekulationen wohl nicht ganz den wahrhaft blutigen Dilettantismus und den krankhaften Selbstvernichtungswillen des Diktators einbezogen. Dazu war er selbst zu vital und realistisch. So hat ihm das völlig Linkluge der Hitler-Ribbentropschen Außenpolitik wohl bald unlösbare Rätsel aufgegeben. Sie hat mit der Verweigerung des Friedensschlusses, der Nichtentlassung der Gefangenen, der Zwangsrekrutierung der Arbeiter und ähnlichem seine Stellung völlig untergraben und alle Kräfte Frankreichs gegen ihn aufgerufen.

Die Gegensätzlichkeit der Auffassungen zwischen Laval und dem Staatschef führte dazu, daß sich Laval in Vichy schon durch die Anwesenheit des Marschalls in seiner Regierungstätigkeit behindert fühlte.

Petain ließ es sich nicht nehmen, in Vichy in allen Sitzungen des Ministerrats den Vorsitz selbst zu führen. Laval erfand daraufhin das Aushilfsmittel, die Sitzungen immer häufiger in Paris abzuhalten, wohin ihm der greise Marschall nicht folgen konnte. Laval hatte zu dieser Ortsveränderung die ständige Genehmigung der deutschen Botschaft, während Petain einer besonderen Erlaubnis Hitlers bedurft hätte. Wie sehr sich Laval durch Petain bevormundet fühlte, zeigte mir eine gelegentliche zynische Äußerung: „Der Marschall lebt viel zu lange!“

Meine Dienststelle wurde täglich von Laval in starkem Maße in Anspruch genommen. Die deutsche Regierung hatte genehmigt, daß Laval Funksprüche nach einem uns übergebenen Schlüssel senden dürfe.

Bedingung war jedoch, daß Laval jeden Funkspruch persönlich unterschreiben müsse und daß die Sprüche nur von der Funkstelle des deutschen Generals gegeben werden dürften. Da es sich stets um eine beträchtliche Anzahl von Anweisungen an die auswärtigen Vertreter Frankreichs und auch an die vor Alexandrien und vor den Antillen liegenden Flottenteile handelte, arbeitete mein Nachrichtenpersonal täglich mehrere Stunden für Lavals Anforderungen.

In den stets gespannten und von zahlreichen Auseinandersetzungen gestörten Beziehungen zwischen Petain und Laval ist es zu dramatischen Höhepunkten gekommen, die den unheilbaren Riß auch der Öffentlichkeit offenbar machten. Während der Zeit, in der Marschall Petain noch einen Rest von Bewegungsfreiheit besaß, entlud sich seine ganze Abneigung gegen Laval, indem er diesen am 13. Dezember 1940 kurzerhand absetzte und auf seinem Schloß Chäteldon internieren ließ. Abetz behauptete mir gegenüber sogar einmal, er wisse bestimmt, daß man Laval damals beseitigen wollte; er wisse sogar, durch wen dies geschehen sollte

An Lavals Stelle ernannte der Marschall den Admiral Darlan zum Ministerpräsidenten. Dieser war ein Mann ganz nach dem Sinne Petains, ein Offizier, der sich vor dem zweiten Weltkrieg als Chef des Admiralstabs, dann als Marineminister hervorragend bewährt hatte, und mit Petain auf dem gleichen Grund der Lebensanschauungen stand.

In seiner Beurteilung der damaligen politischen Lage stimmte Darlan mit dem Marschall völlig überein. Beide hielten darauf, daß die Bestimmungen des deutsch-französischen Waffenstillstandes genau eingehalten würden, schon um Deutschland keine Gelegenheit zu weiteren Repressalien zu geben. Beide waren damals England gegenüber nicht freundlich gesinnt. Sie fühlten sich enttäuscht und verraten und sahen offenbar die Siegeschancen eher auf Seiten der Mittelmächte. Ihr ganzes Bestreben ging daher dahin, für Frankreich ausreichende Lebensbedinjungen und einen Rest von Selbständigkeit und Würde zu wahren, um dadurch günstige Friedensbedingungen zu erringen. Vor allem suchten sie die französische Verwaltung fest in nur französischen Händen zu halten und ebenso die noch dem Lande verbliebene Streitmacht in und außerhalb Frankreichs nicht zu gefährden. Sie glaubten diesem Ziel am besten durch äußerste Korrektheit zu dienen. General Bridoux erzählte mir später, als wir über die Frage der bis dahin verheimlichten Waffenlager sprachen: „Die Geheimhaltung ist zu Darlans Zeiten besonders schwierig gewesen, denn wir mußten sie nicht nur vor den deutschen Stellen, sondern auch vor Darlan verheimlichen.“ Darlan hatte dem Kriegsminister erklärt, ein Bekanntwerden dieser Lager könne seine Politik gefährden

Den gleichen Motiven entsprach wohl auch der Plan Darlans vom Juni 1941, Syrien gegen die Alliierten zu verteidigen. Auch wollten Petain und Darlan das Übergangsheer zur Geltung bringen, um dadurch vielleicht von Deutschland die Genehmigung zu einer Vermehrung des Heeres zu erlangen. Französische Truppenteile wurden damals durch Süddeutschland nach Syrien transportiert. Einheiten der deutschen Flotte und der deutschen Luftwaffe übernahmen den Schutz der Küste.

Der französische General Dentz erhielt den Oberbefehl über die Truppen der Vichy-Regierung in Syrien. Es war nun von entscheidender Bedeutung, . daß es den zum erstenmal kämpfend auftretenden Truppen General de Gaulles und den Engländern gelang, Syrien den Vichy-Kräften zu entreißen. Die Maßnahmen Darlans untergruben die Achtung für ihn im französischen Volk, und zwar schon vor ihrem Fehlschlag.

Die Züge der an die Syrienfront gehenden Vichy-Truppen wurden an einzelnen Stellen mit Steinen beworfen. Der gemeinsame Sieg der Alliierten und der de Gaulle-Truppen in Syrien aber zeigte vielen bis dahin Unentschiedenen, daß die Befreiung Frankreichs doch über den Weg des Kampfes gehen müsse. Darlans scheinbare Hinneigung zu Deutschland — auch wenn sie nur Zweckmäßigkeitsgründe hatte — wurde ihm nicht mehr verziehen, auch nicht durch seine spätere Haltung, die dem Gerechtdenkenden doch den Sinn seiner früheren Entscheidungen hätte offenbaren müssen. Wenn er, wie so mancher Mann der französischen Marine, nach den Erlebnissen mit der englischen Flotte auch kein Freund der Engländer war, so war er doch ein französischer Patriot. Für die Amerikaner hatte er große Sympathien, und seine Einladung an sie zum Flottenbesuch in Casablanca im Jahre 1941 entsprach meines Erachtens ganz seiner Grundhaltung.

Petain suchte nun ständig sich von diesem Manne wieder zu befreien, obwohl ihm schon die erste Entlassung Lavals auf die Dauer keinen Erfolg gebracht hatte. Auch mich befaßte er mit seinem Vorhaben. Im September 1943 hatte ich dem Marschall bei einem meiner regelmäßigen Besuche den Dank des Generalfeldmarschalls v. Rundstedt für einen an diesen gerichteten Brief zu übermitteln. Wir saßen, wie immer, wenn er mich empfing, nebeneinander auf dem Sofa hinter seinem Schreibtisch.

Nach einer kurzen allgemeinen Unterhaltung fuhr der alte Herr plötzlich auf und sagte zu mir in erregtem Tone: „Ich kann so nicht Als man in der deutschen Botschaft in Paris die selbstverständliche „Entdeckung“ machte, daß Darlan in erster Linie Franzose war, glaubte man klug daran zu tun, ihn von seinem Posten zu verdrängen. Im April 1942 trat wieder Laval an seine Stelle. Ein Zeichen dafür, wie man bereits über die Willensäußerungen des greisen Staatschefs zur Tagesordnung überging. Was Abetz und vor allem Laval sich von dieser „Lösung“ versprochen haben, entzieht sich meinem Einfühlungsvermögen. Jedenfalls scheint sich der wiederauferstandene Ministerpräsident die Entwicklung wesentlich anders vorgestellt zu haben. Als ich ihm zu seinem 60. Geburtstag meine Glückwünsche überbrachte, sagte er scherzend: „Ja, die Hälfte meines Lebens werde ich nun wohl vollendet haben!“ Er hat bestimmt damit gerechnet, daß er, dank seiner großen Geschicklichkeit und Erfahrung, auch nach Beendigung des Krieges noch eine führende Rolle spielen werde. Er hat nicht sehen wollen, daß er Figur, Gegenstand des der Verachtung und zur zum Hasses aller patriotischen Franzosen geworden war. weiter regieren! Ich kann nicht dauernd gegen die Volksmeinung regieren! Ich muß von Laval befreit werden, den das ganze Volk ablehnt.“ Da mir von Rundtstedt wiederholt eingeschärft worden war, mich jeder politischen Betätigung zu enthalten, antwortete ich, daß ich mich nur mit militärischen Dingen befassen dürfe. Dadurch ließ sich Petain aber nicht von seinen Gedanken abbringen. Er setzte mir auseinander, daß in einem der letzten Briefe Hitlers stehe, er solle sich in allen Anliegen an Rundstedt wenden. Deshalb habe er ein Recht darauf, dessen Rat zu erbitten, wie er die Enfernung Lavals erreichen könne. Ich versuchte nochmals auszuweichen: „Herr Marschall! In dem letzten an Sie ergangenen Briefe Hitlers steht aber der Satz: , Ich werde bis zum Ende des Krieges zu keinem anderen Ministerium als dem von Laval geführten meine Zustimmung geben .'“ Der Marschall erwiderte energisch, es sei ja gerade sein Anliegen, die in diesem Satz enthaltene Beschränkung seiner Handlungsfreiheit aufgehoben zu sehen. Er ersuchte mich nochmals, Rundstedt seinen dringenden Wunsch vorzutragen. Nun konnte ich mich dem Auftrage nicht mehr entziehen. Als der bei der Unterhaltung anwesende Generalsekretär mich hinausbegleitete, sagte er mir zum Abschied: „Dieses Thema war für die Besprechung mit Ihnen nicht vorgesehen. Er hat Ihnen da Dinge gesagt, die er kaum einem Franzosen gegenüber äußern würde.“ Ich war jedoch, so sehr ich mir meiner schwierigen Lage bewußt war, beinahe froh darüber, nun endlich sozusagen genötigt zu sein, etwas in einer Sache zu tun, die mir schon lange am Herzen lag, die aber klar meine Kompetenzen überschritt.

Gleich am nächsten Morgen fuhr ich nach Paris und begab mich von dort in das im Sommer in St. Germain befindliche Hauptquartier des Oberbefehlshabers West. Leider war Rundstedt gerade auf einer Besichtigungsreise abwesend. So trug ich meinen Auftrag zuerst seinem Generalstabschef, General Blumentritt, vor. Dieser zeigte sich wenig erfreut:

„Da wären wir ja glücklich in der Politik drin, was wir vermeiden wollten“, waren die ersten, von seiner Überraschung eingegebenen Worte.

Er gab jedoch zu, daß ich mich dem Wunsche Petains nicht entziehen konnte. Da es nun so gekommen sei, dürfe vor allem die deutsche Botschaft vor einer Entscheidung Rundstedts von der Angelegenheit nichts erfahren, denn sonst werde sie von Anfang an verdorben.

Leider hielt sich Rundstedt von jeder politischen Einflußnahme fern.

Dadurch wurde die Verwaltungsaufgabe des Militärbefehlshabers General Heinrich v. Stülpnagel ebenfalls sehr erschwert. So manche Klage habe ich von diesem leidenschaftlichen Gegner der Hitlerpolitik über die passive Haltung des Oberbefehlshabers gehört. Immer mehr ging die ausübende Macht in Frankreich an die Botschaft, an die Stellen der SS und Gestapo sowie der Parteiorganisationen über. Die unerwünschten Folgen dieser Selbstausschaltung des Ob. West haben zuletzt ein verhängnisvolles Ausmaß angenommen.

Als Rundstedt von seiner Reise zurückgekehrt war, suchte ich ihn sofort auf. Er verbarg nicht seinen Unmut und eröffnete das Gespräch mit den Worten: „Sagen Sie dem Marschall, er möge einen persönlichen . Brief an Hitler, also von Staatschef zu Staatschef, schreiben.“ Mit dieser weisen, ausweichenden Antwort, die den Fatalismus Rundstedts, sein Wissen um die Erfolglosigkeit aller derartigen Bemühungen um vernünftige Entscheidungen Hitlers kennzeichnet, kehrte ich nach Vichy zurück. Als ich die Antwort Rundstedts Petain am nächsten Morgen mitteilte, fragte er mich enttäuscht, auf welchem Wege er den Brief befördern solle. Darauf konnte ich ihm nur die Antwort geben: „Das ist nur durch die Vermittlung deutschen “ der Botschaft möglich. Sofort gab Petain zu erkennen, er befürchte, daß dieser Brief nicht befördert werde, und fragte mich daher weiter, ob es möglich sei, den Brief durch seinen Generaladjutanten persönlich überbringen zu lassen. Als ich ihm sagen mußte, daß der General gleichfalls durch die Botschaft angemeldet werden müßte, resignierte der Marschall mit einem bitteren Lächeln. Er mußte einsehen, daß sein Plan, Laval zu beseitigen, durch die Mithilfe militärischer Stellen nicht zu erreichen war. Es war für mich beschämend, ihn die Machtlosigkeit der obersten militärischen Stelle in Frankreich so offen erkennen lassen zu müssen. Für mich hatte dieses „Eingreifen in die Politik", wie die deutsche diplomatische Vertretung die Ausführung meines Auftrages auffaßte, noch ein Nachspiel. Die deutsche Botschaft erfuhr sehr bald von meiner Vermittlertätigkeit. Entrüstet beschwerte sich der stellvertretende Botschafter, Gesandter Schleier, beim Ob. West, daß ich unberechtigt in die Belange der Diplomatie eingegriffen hätte. Aber diese Klage machte beim Ob. West keinen Eindruck. Rundstedt schützte mich. Ebenso gekränkt aber zeigte sich der Leiter der Zweigstelle Vichy der Botschaft, Gesandter Krug v. Nidda. Er betonte mir gegenüber, ich hätte ihm noch vor der Abreise von Vichy von dem Auftrag Petains Kenntnis geben müssen. Ich erklärte ihm jedoch, daß ich allein meinem militärischen Vorgesetzten verantwortlich sei und dessen Entscheidung nicht vorgreifen dürfe. Durch Rundstedts Eingreifen gelang es, die Angelegenheit nicht zur Staatsaktion werden zu lassen; ich war aber seitdem in politischer Ungnade bei der deutschen Botschaft und ihrer Zweigstelle in Vichy. Noch mehr als bisher legte man Wert darauf, mir alle politischen Pläne und Handlungen zu verheimlichen, was jedoch nicht immer gelang.

Mir hat dieses Mißtrauen zwar manche Unannehmlichkeit bereitet, aber auch weitgehend meinen inneren Frieden gerettet.

Auch Laval erfuhr bald von der Sache. Er schien die Angelegenheit aber nicht zu tragisch zu nehmen und ließ sich zunächst nichts anmerken.

Erst bei Gelegenheit eines späteren Besuchs sagte er einmal in ironischem Tone zu mir: „Idi weiß genau, was damals zwischen Ihnen und dem Marschall besprochen worden ist.“ Laval hatte zweifellos Mittel genug, um stets über die Ansichten und Worte des Staatschefs unterrichtet zu sein.

Petain hat sich durch den Mißerfolg seines Bemühens nicht auf die Dauer entmutigen lassen Er hatte ganz offensichtlich seine Hoffnung auf die Haltung militärischer Kreise gesetzt und versuchte weiterhin, mich in der Frage der Entfernung Lavals ins Vertrauen zu ziehen. Erst nach den Ereignissen des 20. Juli 1944 hat er seine Hoffnung endgültig begraben.

In einem Punkte allerdings — das muß für die Charakteristik der beiden Staatsmänner abschließend hervorgehoben werden — begegneten sich die Ansichten Petains und Lavals vollkommen: in ihrer Gegnerschaft zum Kommunismus, von dessen Einfluß sie-großes Unglück für Frankreich befürchteten. Diese Besorgnis ließ auch Petain später noch hoffen, daß wir eine Landung der Alliierten abwehren würden. Zu mir äußerte er einmal seine damit verbundene Sorge: . .denn sonst bekommen wir den Kommunismus.“ Er hegte tiefes Mißtrauen gegen die Absichten der zahlreichen Kommunisten in der Widerstandsbewegung und fürchtete ihren beherrschenden Einfluß nach Beendigung des Krieges. Auch Laval hat einmal in meiner Gegenwart, umringt von einigen in Vichy akkreditierten Diplomaten, nach einem Essen seine Meinung dahin zusammengefaßt: „Wir streiten uns in Europa um den Besitz von Landstücken und sehen nicht die größere Gefahr, die uns alle verschlingen kann, — den Kommunismus.“

Es ist eine besonders tragische Fügung des Schicksals gewesen, daß diese so gegensätzlichen Menschen, die kaum einen der gemeinsamen Schritte ihres Lebens aus den gleichen Gründen getan haben, dem gleichen Schuldspruch verfielen, als ihre Politik, die nach außen hin übereinzustimmen schien, gescheitert war. Beide wurden wegen Landesverrats vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Der Marschall war sich dessen bewußt, daß seine Gegner ihn zur Rechenschaft ziehen würden. In den letzten Tagen seines Aufenthalts in Vichy sagte er einmal zu mir: „Mais moi je serais puni.“ — Noch hat niemand die Frage zu beantworten gewagt, welches Schicksal Frankreich hätte erdulden müssen, wenn nicht der greise Marschall für lange Jahre mit dem Gewicht seiner achtunggebietenden Persönlichkeit der Vernichtung seines Landes Einhalt geboten hätte. Ich selbst bin nicht in der Lage, diese andere Möglichkeit zu übersehen.

Wehrmacht und Partei in Frankreich

Mit der Übernahme meines Amtes in Vichy hatte ich gehofft, einen Beitrag zur Verständigung der beiden Völker leisten zu können. Ich fühlte mich damals noch in Übereinstimmung mit dem erkennbaren Sinn und dem Wortlaut der deutschen offiziellen Verlautbarungen, mit den Weisungen meines unmittelbaren militärischen Vorgesetzten, und ich fand mich schon in den ersten Gesprächen mit Marschall Petain in meiner Auffassung bestätigt. Von seiner Seite hat sich das auch später kaum geändert. Als ich ihm sagte: „Es muß ein für allemal verhindert werden, daß Deutschland und Frankreich sich in jeder Generation zerfleischen. Es muß eine wirkliche Lösung aller Konfliktstoffe gefunden werden!“ erwiderte er: „Sie haben damit die Grundlinie auch meiner Politik ausgesprochen.“

Der französische Staatschef und ich befanden sich jedoch in einem weittragenden Irrtum über die Grundzüge der Hitler-Ribbentropschen Politik. Wenn ich auch Anlaß genug hatte, deren außenpolitischer Konzeption im ganzen zu mißtrauen, so versuchte ich doch das Frankreich-Problem daraus zu isolieren. Ich glaubte, daß sie vielleicht in diesem Punkte etwas einsichtiger geworden sein könnten, und meinte, daß ihnen schon aus taktischen Gründen daran gelegen sein müsse, mit Frankreich ins reine zu kommen. Meine irrige Auffassung wurde noch dadurch genährt, daß nach dem von Hitler geschaffenen Recht die offiziellen Inhaber der vollziehenden Gewalt in Frankreich von deutscher Seite der Militärbefehlshaber in Frankreich und der Oberbefehlshaber West waren. Gerade von General Heinrich v. Stülpnagel aber wußte ich, daß er ganz ähnlich dachte und auch entschlossen war, sich von niemand das Konzept verderben zu lassen.

Im Verlauf der Ereignisse stellte sich dann immer deutlicher heraus, daß Hitler auch hier sein altes Mittel angewandt hatte, alle Funktionen und Zuständigkeiten mehrmals zu besetzen, um jeweils den einen durch den anderen ausschalten zu können und die Befehlsgewalt allmählich von der ihm unsicheren Wehrmacht auf die ihm hörigen Personen und Organisationen zu übertragen. So wurde der in der Wehrmacht verbreitete Gedanke der Völkerversöhnung mehr und mehr zunichte gemacht. Der selbst von Dämonen Getriebene konnte oder wollte nicht sehen, daß das Endergebnis dieser ränkevollen und verlogenen, alle gegen alle ausspielenden Politik das vollendete Chaos sein mußte. Die Libergriffe der Parteiorgane selbst auf militärisches Gebiet drängten den Einfluß der Wehrmacht ständig zurück.

Wer die sauber und übersichtlich wirkenden graphischen Darstellungen und Karten der Behördenorganisation und ihrer Kompetenzen in Frankreich befragte, der konnte die in der Praxis geradezu allmächtigen Exekutivorgane auf ihnen kaum entdecken. Sie trugen ganz bescheidene Namen, meist mit dem Wort „Einsatz-“ oder „Sonder-“ beginnend. Das „Einsatzkommando des SD“ in Vichy, die Gestapo zum Beispiel war dort die wirkliche Herrscherin. Kein französischer Beamter war vor ihren Schergen sicher. Ist es doch sogar vorgekommen, daß der Generalsekretär des Kriegsministeriums, der aktive General Caldairou, an seinem Schreibtisch verhaftet wurde. Es bedurfte des sofortigen und energischen Eingreifens der Dienststelle des Deutschen Generals, um ihn wieder zu befreien. Daraufhin erklärte die Gestapo, wie in allen Fällen, in denen sie sich nicht durchsetzen konnte, es handle sich um ein Versehen. Ein anderes Mal beschlagnahmte die Gestapostelle Vichy den gesamten Fahrzeugpark der Admiralität. Die deutsche Waffenstillstands-kommission hatte absichtlich alle militärischen Behörden in Vichy von Kontrollen und Abgaben ausgenommen. Ich schritt daher sofort ein, als man sich an mich wandte. Aber schon hatte der SS-Führer alle Wagen zu einer SS-Sammelstelle in Holland gesandt. Er wurde von oben belobt und gedeckt, und es fand sich keine Stelle außerhalb der SS, die sich für kompetent gehalten hätte, ihn zu bestrafen. Die Gestapo arbeitete mit allen Mitteln. So hatte sie auch einen am Tisch des Marschalls Petain bedienenden Kellner bestochen und erpreßt. Dieser berichtete der Gestapo alle an der Tafel gehörten Gespräche. So kam es zur Verhaftung des Begründers und Leiters der französischen Jugendbewegung, der „Chantiers de jeunesse", des Generals de la Porte du Theil. Als ich den Führer der Gestapo deswegen zur Rede stellte, erklärte er mir frech, der General habe während eines Essens bei Petain zu diesem gesagt, im Osten seien die Deutschen am Ende: „Das hat mir genügt, um ihn festzunehmen.“ Der Marschall verlor damit einen seiner aufrechtesten Ratgeber Von diesem Tage an wußte ich, daß auch jedes von mir bei einer Einladung beim Marschall gesprochene Wort an die Gestapo berichtet wurde. Daß ich überhaupt die Ehre hatte, Gegenstand des besonderen Interesses der Gestapo, allerdings auch der französischen Polizei zu sein, war mir schon vorher kein Geheimnis.

Später suchte ich den — leider vom Kriegsminister General Bridoux aus seiner Stellung als Generalsekretär entlassenen und verabschiedeten — General Delmotte vor der Verhaftung durch die Gestapo zu bewahren. Es gelang mir nicht. Der General wurde nach quälenden Verhören nach Deutschland verschleppt. Allein schon die Art der Unterbringung des etwa 50 Mann starken Einsatzkommandos des SD war unerhört herausfordernd. Etwa 150 Meter von der Wohnung des Marschalls entfernt, hatte es einen Blöde von fünf Häusern beschlagnahmt. Der ganze Gebäudekomplex war von einer zwei Meter hohen Betonmauer umgeben worden, auf der Plätze für Maschinengewehre und Scheinwerfer vorbereitet waren. Diese grobe Geschmacklosigkeit war eine ständige Beleidigung für die Vichy-Regierung. Der Führer des Kommendes hieß Geißler, von den Franzosen, in Anspielung auf Schillers „Teil“, Geßler genannt ein typischer, persönlich mutiger Haudegen, der 1943 bei einem Überfall durch Partisanen getötet wurde. Sein Nachfolger Bömelbürg machte einen etwas menschlicheren und wohlerzogeneren Eindruck. Er hatte sich seine Stellung bei der Nazipartei dadurch verdient, daß er den Mörder des Legationssekretärs vom Rath, Grynspan, entdeckt und verhaften lassen hatte.

Im Jahre 1942 erhielt ich einmal vom OKW unmittelbar den Befehl, die obersten französischen militärischen Behörden in Vichy zu revidieren. Diese Anordnung Keitels ging offenbar auf die Initiative der Parteikreise zurück, denen unsere Rücksichtnahme auf Petain schon lange sehr ungelegen war. Ich erhielt diese Anweisung, als ich mich gerade zu einer für den Abend angesetzten Besprechung bei dem Stellvertreter des Botschafters, dem Gesandten Schleier, in Paris befand. Um 22. 00 Uhr fuhr ich mit dem Wagen nach Vichy zurück. Am frühen Morgen ging ich zum Gebäude des Kriegsministeriums, dem Hotel Thermal, und suchte zunächst den damals noch amtierenden Generalsekretär, General Delmotte, auf. Anschließend nahm ich die vorgeschriebene Kontrolle in allen Dienstzimmern an Hand der aufgestellten Listen vor. Die Überprüfung wurde mir durch größtes Entgegenkommen erleichtert und ergab keine Verstöße gegen die Abmachungen. Sie blieb die einzige in den vier Jahren der Besetzung.

In einen immer schärferen Gegensatz zum OKW geriet der schon erwähnte Militärbefehlshaber in Frankreich, General der Inf. Karl Heinrich von Stülpnagel. Ich habe diesen hervorragenden Soldaten, der ein sicheres politisches Urteil besaß, häufig in Paris ausgesucht. Unsere Unterhaltung fand stets unter vier Augen statt, und ich habe dabei sein Wesen, seine Anschauungen, seine Begabung und Leistung eingehend kennengelernt. Er war ein intimer Freund des Leiters der deutschen Widerstandsbewegung, Generaloberst Beck, und selbst ein erbitterter Feind der NSDAP. Schon frühzeitig hat er durch personelle Maßnahmen die Beseitigung des Einflusses der Parteiorganisationen in seinem Befehls-bereich für den von ihm erhofften Augenblick des LImsturzes vorbereitet. Als wertvolle Hilfe diente ihm dabei Oberstleunant von Hofacker, ein begabter und energischer Württemberger und zugleich eine Persönlichkeit von großer Weltkenntnis, die er sich als weitgereister Vertreter eines großen rheinischen Industriekonzerns erworben hatte. Dieser aufrechte Mann ließ sich nach seiner Verhaftung wegen Teilnahme am 20. Juli auch durch die quälendsten Verhöre der Gestapo nicht einschüchtern. Ihm zum ehrenden Gedächtnis sei einer seiner letzten Aussprüche vor der Untersuchungsbehörde bewahrt: „Hitler ist der größte Verbrecher der deutschen Geschichte.“ — Obwohl Stülpnagel einer der Hauptbeteiligten am Putschplan des 20. Juli war, mich auch genau als Gesinnungsgenossen kannte, hat er mir gegenüber niemals etwas davon erwähnt. Im Gegenteil hat er bei jeder Zusammenkunft, bei der ich midi über das von mir beobachtete Verhalten der Parteistellen in Frankreich beschwerte, abschließend festgestellt: „Ich bin ganz Ihrer Ansicht, aber wir können nichts machen.“ Er wollte niemand durch eine Mitwisserschaft belasten, der nicht im Putschplan eine besondere Aufgabe übernehmen sollte.

Während seiner Tätigkeit hat sich Stülpnagel ständig bemüht, die Sorgen des fanzösischen Volkes nicht über Gebühr zu vermehren. Daß es immer schwieriger wurde, dieses Interesse mit den Bedürfnissen der deutschen Truppen in Einklang zu bringen, wird nur der ganz begreifen, der weiß, wie eingeschränkt er durch das entgegengesetzte und verständnislose Wirken der politischen Stellen bei diesem Bemühen war. „Die Frage der Ernährung in Frankreich haben wir nun endlich gelöst“, sagte Stülpnagel Anfang 1944 erleichtert zu mir, „nur die Verpflegung von Paris bereitet leider noch große Schwierigkeiten." Damals hatte allerdings die Zerstörung des französischen Eisenbahnnetzes durch die anglo-amerikanischen Luftangriffe kaum begonnen. Sie machte im weiteren Ablauf eine geregelte Versorgung der französischen Bevölkerung überhaupt unmöglich.

Große Beunruhigung rief in Frankreich die plötzliche Verhaftung zahlreicher Generale hervor. Anlaß dazu war das Entweichen des Generals de Lattre de Tassigny aus dem Gefängnis von Riom. Der ehemalige Kommandeur der 16. Division des Übergangsheeres in Montpellier war wegen seines Versuchs aktiver Gegenwehr beim Vormarsch der deutschen Truppen am 11. November 1942 und wegen des damit begangenen Ungehorsams gegen den Befehl der französischen Regierung von einem französischen Militärgericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. In der ersten Zeit war er in einem Gefängnis in Lyon untergebracht worden, dann wurde er nach Riom überführt. Seine Flucht war natürlich nur durch die Mithilfe des Gefängnispersonals möglich. Die Gestapo wagte nicht, den Fall an Hitler zu melden. Nun aber erfuhr Hitler, daß de Lattre in Nordafrika Truppen aufstelle. In dem darauf folgenden Wutanfall ordnete er an, daß alle fanzösischen Generale, die sich in Frankreich im Zivilverhältnis befanden, zu verhaften und nach Deutschland zu verbringen seien. Das war selbst der Gestapo zuviel. Sie verschoben die Ausführung um einige Wochen und suchten, unterstützt durch Vorstellungen von anderen Seiten, eine Aufhebung des Befehls zu erreichen. Hitler aber bestand auf der Durchführung. Nun wurden die ehemaligen Generale in ganz Frankreich zusammengesucht, in einem Lager bei Compiegne gesammelt und nach Deutschland gebracht, wo sie in guten deutschen Hotels untergebracht wurden, bis sich die Alliierten dem Rhein näherten. Als ich mit dem Generalfeldmarschall von Rundstedt über diese bedauerliche Angelegenheit sprach und dabei erwähnte, daß einer der Generale in Clermont-Ferrand von der Gestapo gefesselt durch die Stadt an die Bahn geführt worden sei, äußerte er sehr überrascht, man habe ihm versichert, es solle sich nur um eine Ehrenhaft für die Generale handeln. Unter den verschleppten Generalen befand sich sogar ein Achtzigjähriger. Petain erbat meine Vermittlung für ihn. Trotz sofortiger Bemühungen gelang es erst nach drei Monaten, den alten Herrn in seine Heimat zurückzubringen. Wie sanken meine Hoffnungen auf eine Verständigung der beiden Völker!

Mit der Zuspitzung der inneren Lage und der damit zunehmenden Nervosität der Gestapo fiel mir in stärkerem Maße die Aufgabe zu in Fällen von besonderer Härte zu intervenieren. Leider waren meine Bemühungen nicht immer von Erfolg gekrönt. Das lag nicht nur daran, daß Rundstedt jede Überschreitung meiner Kompetenzen — und dies brachte ja jeder dieser Fälle mit sich — nicht wünschte, sondern weit mehr an der Tatsache, daß auch er, selbst wenn dem Fall ein „militärisches Gesicht“ verliehen werden konnte, mit seinen Vorstellungen oben nicht durchzudringen vermochte. Die radikalen Draufgänger der politischen Stellen dagegen führten in Windeseile Entscheidungen zugunsten ihrer Auffassung herbei. Ich habe nach den lähmenden Erfahrungen mit dem korrekten Dienstweg die einzig mögliche Konsequenz gezogen und, wo es irgend anging, aus eigener Entschließung und auf eigene Verantwortung eingegriffen. So konnte ich in einigen besonders dringenden Fällen erfolgreiche Hilfe leisten. Es ging dabei zweimal um ein Wettlaufen mit dem Tode. So hatte ein in Südfrankreich wohnender Offizier sich wegen angeblicher Begünstigung der Truppenaufstellung in Nordafrika zu verantworten. Er sollte eine Organisation geschaffen haben, die es jungen Franzosen ermöglichte, über Spanien dorthin zu gelangen. Ohne ausreichende Beweise wurde er zum Tode verurteilt.

Oberstleutnant de Goy in Bourges erbat meine Hilfe im Namen der Familie des Betroffenen. Ich mußte, wenn ich noch etwas retten wollte, den direktesten Weg gehen. Sogleich ließ ich mich mit dem Ober-befehlshaber der Armee in Avignon, General von Sodenstern, verbinden und trug ihm den Fall in bewegten Worten vor. Dieser verständnisvolle Offizier nahm sich sofort der Angelegenheit an und kassierte das Urteil wegen mangelnder Beweise. Der Fall wurde dann zu erneuter Verhandlung dem Gericht der Kommandantur von Paris überwiesen.

Dort fand eine neue Untersuchung statt und dank eines gerechten Richters erfolgte ein Freispruch.

Im Jahre 1942 war ein Arzt zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er sich über die Verschickung zur Arbeit nach Deutschland abfällig geäußert hatte. Auch in diesem Falle überbrachte mir Oberstleutnant de Goy das Ersuchen um Hilfe von Seiten der Familie. Der zuständige Vorgesetze des Gerichts war der Militärbefehlshaber General Heinrich von Stülpnagel. Ich fuhr nach Paris und trug diesem die Bitte vor, das Urteil aufzuheben. Damit stellte ich eine schwere Anforderung an sein rechtsempfindendes Gewissen, denn das Urteil war nach geltendem Recht und Gesetz zustandegekommen. Es mußte ein hinreichender Begnadigungsgrund gefunden werden, was auch gelang, nachdem Stülpnagel den Fall an sich gezogen hatte. Er sprach eine restlose Begnadigung aus.

Die harmloseren Fälle gehörten bald zu unserem Tagewerk. Ein bezeichnender Fall, der, rückblickend, nicht ohne Humor ist, mag hier für viele stehen: In einer Familie eines französischen Alpenkurortes sollte die Hochzeit der Tochter stattfinden. Das Haus und seine Bewohner waren mir auf einer Dienstreise bekannt geworden. Eines Tages erhielt ich von der Mutter der Braut einen Anruf. Sie klagte, die Hochzeit, zu der schon alle Vorbereitungen getroffen seien, werde durch einen Zwischenfall in Frage gestellt. Der zukünftige Schwiegervater der Braut sei in Marseille von der Gestapo verhaftet worden. Er habe ein südländisches Aussehen und würde deshalb von den Schergen der Gestapo für einen Juden gehalten. Die sehr gründliche Leibesvisitation schien diesen Verdacht zu bestätigen, und bei der Ahnungs-und Skrupellosigkeit dieser „Behörde“ konnte die Sache gefährlich werden. Ich rief sofort den deutschen Generalkonsul in Marseille, den bekannten früheren U-Bootkommandanten Freiherrn von Spiegel an, der meine Bestrebungen auch in anderen Fällen unterstützt hatte. Durch dessen Eingreifen konnte der Irrtum noch rechtzeitig aufgeklärt werden und die Hochzeit zum festgesetzten Termin stattfinden. So unbedeutend der hier geschilderte Fall an sich erscheinen mag, so zeigt er doch die weitgehende Rechtsunsicherheit und die Autonomie einer Schnell-,, Justiz“, denen die Bevölkerung in der letzten Besetzungszeit ausgesetzt war. Da die Gestapo mit vielen gedungenen Elementen der französischen Halb-und Unterwelt arbeitete, konnte eine unvorsichtige Äußerung schwere Folgen haben. Haussuchungen und Beschlagnahmen mehrten sich, und gerade diese Maßnahmen haben die Abwehrfront zusammengeschweißt, der sich zum Schluß der Deutsche gegenübersah. Auch die Friedfertigsten nahmen an der allgemeinen Empörung teil, und das selbstverständliche Einverständnis, das schließlich fast alle Franzosen verband, machte die Lage der Vichy-Regierung zu einer Unmöglichkeit und stellte auch die den Ausgleich suchenden militärischen Stellen vor unlösbare Aufgaben.

Wie undurchsichtig die Verhältnisse waren, erlebte ich bei der Heimkehr des Generalresidenten von Tunelien, Admiral Esteva, im Mai 1943. Dieser hatte auf seinem Posten bis kurz vor dem Einrücken der alliierten Streitkräfte ausgehalten. Ein deutsches Flugzeug sollte ihn nach Frankreich zurückbringen. Bei einer Zwischenlandung in Rom wurde er noch mit militärischen Ehren empfangen. Der Gesandte Krug; von Nidda und ich erhielten die Anweisung, ihn bei seinem Eintreffen in Vichy, wo er sich bei Petain melden wollte, auf dem Flugplatz offiziell zu begrüßen. Nachdem wir dort einige Stunden gewartet hatten, erfuhren wir endlich, daß das den Admiral befördernde Flugzeug von Rom noch nicht gestartet sei. Kurze Zeit, nachdem ich in meine Wohnung zurückgekehrt war, kam der Gesandte mit der Nachricht, daß das Flugzeug nun von Rom abgeflogen sei. Er habe aber das Gefühl, es sei nicht zweckmäßig, daß wir zu dessen Eintreffen nochmals hinausführen. Was war geschehen? Beim Auswärtigen Amt und der Gestapo waren plötzlich Zweifel darüber entstanden, ob Esteva sich während der Kämpfe in Tunesien gegenüber unseren Truppen loyal verhalten habe. Infolgedessen wurde er in Vichy sogleich von einem Beauftragten der SD abgeholt und im Kraftwagen nach Paris gebracht. Dort wurde er unter der Verantwortung der deutschen Botschaft einige Zeit im Hotel Ritz in einer Art von Ehrenhaft gehalten. Er protestierte lebhaft und erreichte, daß ihm nach etwa einer Woche dieses unfreiwilligen Aufenthalts ein Flugzeug nach Vichy gestellt wurde. Nun erhielt ich den Befehl, für einen möglichst feierlichen Empfang zu sorgen. Die zahlreich Erschienenen, französische Vertreter, die Zweigstelle der Botschaft, der Stab des italienischen Generals und der meinige waren gruppenweise in einem Gliede angetreten. Ich begrüßte den Admiral am Flugzeug und schritt mit ihm die lange Front der Erschienenen ab. Anschließend suchte der Admiral den Marschall auf. Man kann sich leicht in die Gefühle des Admirals versetzen, der diesen wechselnden Behandlungen ausgesetzt war. Die Behörden der Vierten Republik haben ihn offenbar der Unterstützung der deutschen Truppen für schuldig befunden, denn er wurde nach dem Kriege verurteilt.

Aber auch in anderer Hinsicht hat sich die deutsche Führung psychologisch vergriffen. Es war zwar noch durchaus in der Ordnung, daß französische Offiziere und Mannschaften, die sich in dem letzten Stadium der italienisch-deutschen Kämpfe um Nordafrika bei der Verteidigung ihrer eigenen Kolonie ausgezeichnet hatten, in Vichy unter Beteiligung deutscher und italienischer Abordnungen sowie aller fremden Militärattaches empfangen wurden und ihnen in einer feierlichen Kundgebung am Denkmal der Gefallenen des ersten Weltkriegs durch den Staatssekretär des Kriegsministeriums und im Beisein Lavals das Kreuz der Ehrenlegion verliehen wurde. Aber es mußte befremdend, ja verletzend für das französische Gefühl wirken, daß man auf den Gedanken kam, einigen franzöischen Offizieren, die in Rußland als Angehörige der legion antibolchevik gekämpft hatten, das Eiserne Kreuz zu verleihen. Mir wurde diese peinliche Aufgabe einmal zuteil. Dazu war ein Ersatztruppenteil im Hof eines öffentlichen Gebäudes in Montargis angetreten. Ich hielt eine französische Ansprache, der ich den leitenden Gedanke zugrunde legte, daß die Abwehr gegen den Bolschewismus eine Aufgabe sei, in der die Völker zusammenstehen müßten und daß . sie sich in diesen Kämpfen als gute Franzosen erwiesen hätten, was sie stets sein und bleiben sollten. Die Aufstellung dieser legion war übrigens merkwürdigerweise das Werk der Deutschen Botschaft in Paris. Sie war ein Beispiel für die Einmischung dieser Behörde in militärische Belange, die das OKW damit quittierte, daß sie den Verband erst spät anerkannte.

Die angeführten Beispiele können die unerhörten Spannungen, die sich in Frankreich entwickelt hatten, nur schlaglichtartig charakterisieren. Alle guten Ansätze zu einer Volksverständigung, zu gutem Ein-vernehmen zwischen Bevölkerung und Besatzungsmacht schienen ausgelöscht. Von einer Einheitlichkeit deutscher Willenskundgebungen konnte, seitdem auch in Frankreich die Partei die volle Macht übernommen hatte, kaum mehr die Rede sein.

Es klingt heute billig, weil allzu viele es für sich geltend machen, daß es eine schwierige, aber oft die richtige Entscheidung gewesen sei, auf dem Posten auszuharren, auf den einen das Schicksal gestellt hatte. Doch glaube ich, daß es für nur ganz wenige, für ganz besondere, einen anderen Weg gab. Fast unmerklich, von Tag zu Tag mehr, fanden wir älteren Offiziere uns in eine Opposition gedrängt, die als Begriff schon schlechthin die Aufhebung alles dessen bedeutete, was uns in unserem ganzen Berufsleben begleitet hatte und in Fleisch und Blut übergegangen war. Der deutsche Offizier stand nach 1918 noch ganz in der festgefügten Tradition der preußisch-deutschen Armee, deren höchster Begriff der selbstlose Dienst für das Vaterland war. Aber dieser Dienst war stets von dem beinahe selbstverständlichen Bewußtsein seiner inneren Rechtfertigung getragen. Das kam in den Worten „Mit Gott“ zum Ausdruck, auf die der Diensteid aufgebaut war. Wir konnten deshalb „unpolitisch" sein wollen, unpolitisch allerdings mehr in dem Sinne, daß wir weder einer Partei, noch einer Klasse dienen wollten. Trotz des zweifellos oft wachen politischen Interesses hat dieses Prinzip dann zu einer Selbstausschaltung der Wehrmacht als Machtfaktor im Staate geführt. Das konnte Hitler für seine Pläne nur willkommen sein. Er mußte nur gerade so viele Menschen aus dem Kreis der Offiziere für sich gewinnen, als zur Kontrolle des Ganzen nötig erschienen. Die wirkliche Revolutionierung des Offizierkorps ist dann schrittweise, durch die Vergrößerung und Aufblähung von unten erfolgt.

So war das Offizierskorps nicht mehr das gleiche wie 1934 oder 1939.

Es umschloß viele ausgesprochene Parteigänger Hitlers und viele, die sich leicht führen ließen, gelockt von Möglichkeiten, die Hitlers Beförderungssystem und Auszeichnungen aller Art eröffneten. Es dauerte einige Zeit, bis man bei Menschen, die man nicht schon länger kannte, wußte, wes Geistes Kind sie waren. Dennoch war der Kreis derjenigen, die keine Fortsetzung des Krieges, sondern eine Beseitigung des Hybris-Regimes in Deutschland wünschten, bald so groß, daß die Hoffnung, diesen Gedanken zur Tat werden zu lassen, nicht mehr utopisch erschien.

Ich selbst habe mich im August 1943 im Auftrage mehrerer Generale zu Rundstedt begeben, um ihm aufs eindringlichste nahezulegen, daß nun gehandelt werden müsse und daß es seine Pflicht sei, aktiv gegen Hitler vorzugehen. Ein Plan war, das Westheer in der Art, wie es unter römischen Prokonsuln einige Male geschehen ist, als autonom zu erklären und mit ihm gegen Berlin zu marschieren. Man glaubte für diesen Fall durch die Vermittlung des englischen Botschafters in Madrid, Sir Samuel Hoare, Verständnis bei den Alliierten zu finden. Diese Möglichkeit mußte jedoch schon deshalb ausscheiden, weil die Truppen dafür nicht sicher genug in der Hand der Führung waren. Es blieb also, wie ich Rundstedt vortrug, nur der Weg einer unmittelbaren Intervention bei Hitler. Rundstedt hörte mich ruhig an und gab mir zur Antwort, daß Falkenhausen ihm vor wenigen Tagen dasselbe Ansinnen gestellt habe. Diese Vorschläge seien zwecklos. Es sei unmöglich, Hitler unter Druck zu setzen. „Man wird mich an die Wand stellen. Damit kommt Ihr aber keinen Schritt weiter.“ Ich drang noch stärker in ihn: „Herr Feldmarschall! Das deutsche Volk wird Sie dereinst zur Verantwortung ziehen, wenn sie jetzt nicht handeln!“ Aber weder dieses Argument noch der wiederholte Hinweis darauf, daß ich nicht nur für meine Person, sondern im Auftrage mehrerer Generale zu ihm spreche, konnten ihn von seinem Standpunkt abbringen, daß die Lage durch seine Vorstellungen bei Hitler nicht gebessert werden könne und daß auch ein Opfer seiner Person keinen Erfolg zeitigen würde. Stark beeindruckt von meinem Mißerfolg verließ ich das Dienstzimmer Rundstedts. Im Vorzimmer beklagte ich mich bei dem Adjudanten, Major von Salviati, von dem ich wußte, daß er ein ausgesprochener Feind des Nationalsozialismus war, und der auch später wegen seiner Beteiligung am 20. 7. 1944 hingerichtet worden ist. Er sagte mir, daß auch er nichts sehnlicher wünsche als die Liquidation Hitlers. Er müsse aber der Auffassung Rundstedts beipflichten, denn er kenne die Verhältnisse im Führerhauptquartier genau und wisse, daß Rundstedt als von der Front kommender Heerführer bei Hitler nichts ausrichten könne, falls er überhaupt vorgelassen würde. Auf Äußerungen, die über die militärischen Kompetenzen hinausgingen oder Kritik an seiner Kriegführung übten, würde sofort mit einer Verabschiedung, nach außen hin wegen Krankheit, oder gar mit einer Beseitigung Rundstedts reagiert werden. Heute weiß die Welt, daß Rundstedt und Salviati recht hatten. Daß ich mit meiner Forderung an Rundstedt im Jahre 1943 in seinen Augen nicht unter den Begriff des „Rebellen“ fiel und verhaftet wurde, entsprach nicht etwa nur dem persönlichen Verhältnis, das mich mit Rundstedt verband, sondern ist ein Beweis dafür, daß derartige Gedankengänge im verantwortungsbewußten Kern des Offizierkorps geläufig waren Man hatte Hitler nun wirklich als Wortbrüchigen, als Verbrecher am deutschen Volke erkannt. Konnte jemand erwarten, daß man ihm noch den Diensteid hielt?

Allein die Tatsache, daß unser Deutschland, daß unsere Kameraden, das Leben unserer Frauen und Kinder, auch weiter von unserem Tun abhingen, daß ihr Schicksal mitbestimmt war von Hitlers Krieg, zwang uns in den Dienst zurück. Dieser Dienst litt unter dem ständigen Widerstreit der Gefühle, unter dem Zusammenprall des äußeren Befehls mit den ewig gültigen Gesetzen in uns. Er konnte nur noch eines bedeuten: ausharren, schützen, verhindern, ausgleichen, dann und wann an einen Rest von Vernunft appellieren und — zusammenstehen, ein bitteres Ende erwartend. Wer weiß die Summe des Leids, des Verzichts, der Seelenqual, die dieser Dienst von seinen Trägern gefordert hat?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Lava) trat am 23. Juni 1940 in die am 16. Juni gebildete Regierung Petain zunächst als Minister ohne Portefeuille ein, wurde jedoch am 27. Juni von Petain zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt.

  2. Diese Feststellung bedarf einer Einschränkung. Abgesehen von den bereits in den ersten Monaten nach Abschluß des Waffenstillstandes erhobenen Forderungen nach militärischer Zusammenarbeit gegen England in Afrika sowie nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen der Vichy-Regierung mit den Exilregierungen der von Deutschland besetzten Länder, begann nach der Absetzung und Verhaftung Lavals (13. 12. 40) eine fortgesetzte mittelbare und unmittelbare deutsche Einmischung in die innere Politik Petains, die Auswahl seiner Mitarbeiter u. a. m.

  3. Dr. Mntrel ist nach dem Kriege einem Autounfall erlegen. (Anni. d. Vers.) Über xMenctrel vgl. Stucki a. a. O., S. 14, 62 f; Aron a. a. O., S. 179 f., 652.

  4. Vgl. die Rede Petains in Paris am 26 4. 44 und ihre Abänderung für die Presse (Aron a a O., S 668 ff.) sowie seine Botschaft vom 6. 6. 44, bei Beginn der angloamerikanischen Invasion.

  5. Die Zusammenseczung der Regierung Laval . von 1942 s. bei Aron a. a. O. » S. 495; nach ihrer Unibildung im Dezember 195 3: a. a. O., S. 655.

  6. Vgl.demgegenüber jedoch Aron . a. O., S. 56.

  7. Nach französischen Zeugnissen hat der am 16. 12 40 in Vichy eingetroffene Botschafter Abetz am nächsten Morgen u a. die i reilassung Lavals von 1 etain gefordert, die jedoch bereits kurz . vorher erfolgt zu sein scheint, (Vgl Aron a a -S. 338.. Mallet a. a. O., S. 3O 9, und die Darstellung von O Abetz, Dis offene Problem, Köln 1951, S. 176 ff ). Gegenüber der französischen Darstellung, Abetz sei von zwei deutschen „automitrailleuses" begleitet gewesen, bemerkt dieser a. a.sein A^to sei „lediglich von zwei normalen Personenwagen gefolgt worden, die „das übliche Begleitkommando der Sicherheitspolizei bei Überiand sahnten amtlicher Persönlichkeiten in Frankreich in Höhe von acht Mann enthielten“ Der Abetz empfangende französische Generäl Laure hat nach eigenem Zeugnis dem Botschafter gegenüber derartige Selbstschutzmaßnahmen als inkorrekt bezeichnet (Aron a. a. O., S. 337).

  8. Vgl. dazu Aron a. a. O., S. 605 f.

  9. Die Botschaft folgte dabei den Weisungen Hitlers und Ribbentrops. Im Dezember 1943 wurde Philippe Henriot Staatssekretär für Information und Propaganda, während der Chef der „Französischen Miliz“, Joseph Darnand, ehemals Chef der . Legion des Combattants", das „Generalsekretariat für die Aufrechterhaltung der Ordnung“ mit Sondervollmachten für die Einsetzung von Kriegsgerichten erhielt. Fetain verweigerte seinerseits die Unterzeichnung der Neuernennungen und überließ sie Laval. Im März wurde der zunächst von Petain überhaupt abgelehnte Marcel Deat, Führer des von ihm als Einheitspartei gedachten „Rassemblement National Populaire", unter deutschem Druck von Laval zum Arbeitsminister ernannt. (Vgl. Aron a. a. O., S. 650 ff.; Abetz a a. O., S. 269 f.)

  10. Entsprechendes behauptet Abetz noch a. a. O., S. 177; ähnlich Mallet a. a. O. L S. 308. Dagegen Martin du Gard a. a. O., S. 132.

  11. Secretaire d’Etat ä la Gucrre.

  12. Diese und die folgenden Ausführungen des Verfassers sind naturgemäß von seinen damaligen persönlichen Eindrücken bestimmt. Zur Politik Darlans vgl. jetzt Aren a. a. O., S. 371 ff.

  13. Hitler selbst hatte am 19. 12 42 im Führerhauptquartier Laval erklärt, er werde immer nur mit diesem verhandeln; Laval verkörpere die letzte eigene Regierung Frankreichs. Ribbentrop hatte am 23. 4. 43 in einem Brief an Petain vor etwaigen „Machenschaften“ in Vichy gegen Laval gewarnt und betont, die Reichsregierung werde eine Wiederholung von Vorgängen, wie sie sich am 13. Dezember 1940 (Entlassung und Verhaftung Lavals) abgespielt hätten, nicht gestatten. (Vgl. Aron a. a. -* S. 612, 626 f., 634.).

  14. Für die sich seit September 1943 erneut geltend machenden Bestrebungen Petains, Laval zu Stürzen bzw. ihn als vorgesehenen Nachfolger im Amt des Staatschefs auszuschalten und zu diesem Zwecke durch den geplanten Gesetzesakt vom 12. 11. 43 für den Fall des Ablebens des Marschalls dessen verfassunggebende Gewalt wieder der Nationalversammlung zu übertragen — Bestrebungen, die im Dezember 195 3 am Einspruch Hitlers endgültig scheiterten — vgl. Aron a. a. O., S. 633 (mit Fußnote) ff.; Abetz a. a. O., S. 267 ff.

  15. Gemeint ist das Einsatzkommando der „Sicherheitspolizei" (— Gestapo und Kriminalpolizei) und des SD unter einem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD.“.

  16. An anderer Stelle erörtert der Verfasser einen ebenfalls sehr bezeichnenden Vorfall mit der Gestapo, der in der vom Autor gegebenen Darstellung hier folgt:

  17. Der Name wird jedoch noch von Aron a. a. O„ S. 352, 369 „Geßler“ geschrieben. Richtige Schreibweise bei Mallet a. a. O., II, S. 93 (Kapitel: Les chefs nazis).

  18. General d. Inf. Frhr. von Falkenhausen, Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich.

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