Schicksalsfrage Österreichs im Zeitalter des Nationalismus
Der Leidensweg erst des alten österreichischen Staates, nach 1918 dann seiner deutschsprachigen Bevölkerung durch das nationalstaatliche Jahrhundert wird in seinem Wesen noch vielfach verkannt. Ebenso wird der anfängliche Jubel über den Anschluß von 1938 bei uns oft oberflächlich, teilweise auch böswillig ausgelegt. Wer über diesen, auch in den Märztagen von 1938 schon recht geteilten Beifall urteilen will, muß sich erst mit der langen historischen Kausalitätsreihe auseinander-setzen, die zu den Ereignissen von 1938 hingeführt hat. Angesichts unserer eigenen jüngeren Vergangenheit steht es uns wenig an, über unsere österreichischen Freunde einen Schuld-oder Freispruch zu fällen. Unsere Pflicht ist es aber, uns um Verständnis zu bemühen für die geschichtliche Tragik, welche im Weg des österreichischen Staates und Volkes durch das Jahrhundert des europäischen Nationalismus liegt. Ein solches Verständnis wird zugleich die beste Basis für eine dauerhafte gutnachbarliche Zusammenarbeit abgeben. Nicht zuletzt wird die Betrachtung jenes Weges auch zu manch fruchtbarer Besinnung über unsere heutige Lage anregen und uns so vielleicht vor manchem Fehler bewahren können.
Der Verfasser stützte sich für den die Zeit der Monarchie betreffenden Teil der Arbeit auf die bewährten Historiker Schnabel, Srbik, Hantsch und Redlich. Für die Zeit der Republik ist die 1954 im Oldenburg-Verlag, München, erschienene „Geschichte der Republik Österreich" von Heinrich Benedikt maßgebend, die wohl für lange Zeit das Standardwerk für die Geschichte Österreichs zwischen den Weltkriegen bleiben wird. Sie ist in ihren wichtigsten, von W. Goldinger und A. Wandruszka, einem Srbik-Schüler, verfaßten Teilen als ein äußerst abgewogenes Werk zu bezeichnen, das sich von den in zeitgeschichtliche Arbeiten leicht einfließenden polemischen oder Rechtfertigungstendenzen in einem erstaunlichen Maße freizuhalten vermag. Für den am Detail näher Interessierten enthält das Buch ein sehr reichhaltiges Literatur-und Quellenverzeichnis.
Die Auflösung des alten Reiches
Das Kaisertum Österreich 1801 war im Frieden von Luneville eine Hauptsäule des alten Reiches, die Reichskirche, gefallen. Der völlige Einsturz des Reichsgebäudes konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. So nahm Kaiser Franz 1804 den Titel „Kaiser von Österreich“ an. Wenn er dann 1806 die Krone des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ niederlegte, so war dies nur noch die Anerkennung eines de facto bereits bestehenden Sachverhaltes. Damit hatte sich letztlich auch das Haus Habsburg von den Pflichten gegenüber dem Reiche entbunden, dessen Krone es durch Jahrhunderte getragen und dem es vermöge seiner Hausmacht in den Jahrhunderten fortschreitenden Zerfalls noch einen letzten Glanz verliehen hatte. Daß das Reich als politische Lebensgemeinschaft der mitteleuropäischen Völker überhaupt den dreißigjährigen Krieg überdauert hatte, war ein Verdienst des Hauses Österreich gewesen. Mit der Dynastie übernahm der „neue“ Kaiserstaat Österreich vom heiligen römischen Reich auch einen beträchtlichen Teil von dessen geistiger Tradition. Österreich war ein völlig irrationales Gebilde, ein durch glückliche Heiraten und siegreiche Abwehrkriege historisch gewachsener Staat, dessen innerer Ausbau aber von Anfang an mit großen Schwierigkeiten verbunden war, vor allem in den Ostgebieten. Seiner Geschichte und seinem Charakter nach war das Kaisertum Österreich ein deutscher Staat, auch wenn es, ähnlich wie das alte Reich, Angehörige vieler Nationen innerhalb seiner Grenzen barg. Schon in den Emblemen kam dies zum Ausdruck. Schwarz-Gelb waren die Farben des Hohenstaufenreiches, der Doppeladler das Wappen des alten Reiches. Vor allem aber wurde der Staat vom deutschen Element geführt. Der Kaiser von Österreich war ein deutscher Fürst, Deutsche waren bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auch noch alle Minister und die hohen Beamten. Die Deutschen Österreichs konnten diesen Staat als ihre Schöpfung betrachten und sie waren auch das führende Element in ihm. Die Bevölkerung der habsburgischen Erblande — und das waren zum größten Teil die Deutsch-Österreicher — hatte einen besonders hohen Anteil der Opfer für die Erhaltung des alten Reiches und für den Ausbau des Habsburgerstaates gebracht. Im 19. Jahrhundert wurde es ihre Aufgabe, mit Hilfe dieses Staates ein Vordringen Rußlands über die Donau auf den Balkan zu verhindern und im Innern den Bestand der Donaumonarchie gegen die zentrifugalen Kräfte der Nationalitäten zu schützen.
Das Jahr 1809 Das Jahr 1809 bringt den einzigen Ausbruch der Volkskraft in den neueren Jahrhunderten der deutschen Geschichte. Wohl ist der Aufstand der Tiroler Bauern eine altrechtliche Bewegung — für ihr Volkstum, für die angestammte Dynastie und die Erhaltung der Religion gegen Franzosentum und Freigeisterei, gegen die nivellierende, die historischen Eigenheiten des Landes mißachtende moderne bayerische Verwaltung — die Auswirkungen dieses Freiheitskampfes aber waren durchaus nationale. Die Niederlage, welche die auf Gott, ihr Recht und auf die Natur ihrer zäh geliebten Heimat vertrauenden Bergbauern den damals besten Soldaten der Welt beibrachten, waren für die Sammlung der Widerstandskräfte gegen den Unterdrücker Europas von großer Bedeutung. Die Gestalt Andreas Hofers wurde für die deutsche Nationalbewegung, in der bis zum Scheitern von 1848 ja das großdeutsche Element überwog, zum Symbol. Die Tiroler haben durch ihren Freiheitskampf die Nationalidee befruchet, ohne selbst ein theoretisches nationales Programm zu haben. Deutschnationale Züge trug in jenen Tagen vielmehr die Wiener Hofburg, repräsentiert vor allem in dem Grafen Stadion und dem ersten Bezwinger Napoleons zu Lande, dem Erzherzog Karl. Beide standen mit dem Freiherrn v. Stein in Verbindung, der damals in Norddeutschland vergeblich versuchte, den Volksaufstand zu entfesseln. Über dieses Jahr 1809 schreibt der Münchner Historiker Franz Schnabel:
„Der Krieg von 1809 ist der erste Versuch der werdenden deutschen Nation, sich mit den neuen Mitteln der Volkserhebung die nationale Freiheit zu erkämpfen; er ist zugleich aussdiliefllich ein deutscher Krieg, während nachher im Jahre 1813 die Befreiung nur als ein Ergebnis einer günstigen aussenpolitischen Konstellation und nur im Bunde mit fremden Mächten erkämpft werden konnte. Diesen Krieg, der in der deutschen Geschichte das Zeitalter der Nationalitätenkämpfe eröffnet hat, mußte Österreich allein führen; das Jahr 1809 ist trotz allem Miflgesdüd^ ein Jahr der deutsdien Großtaten Habsburgs.“
Die erste deutsche Volkserhebung, von Österreich geführt, war mißlungen. Die Hofburg wird nun wieder konservativ. Stadion und Karl treten künftig nicht mehr in Erscheinung.
„Das Jahr 1809 bedeutet im großen Zug der deutsdien Gesdüd'ite den Aufstieg und den furditbaren Zusammenbruch einer Idee. In Österreid'i, das bisher in der Vorbereitung der nationalen Befreiung die politisdie Führung gehabt hatte, erfolgte nun jene entschlossene Absage an die Politik des Grafen Stadion, die für alle Zukunft entscheidend wurde;
man hatte Grund zu prüfen, ob die Anbahnung der nationalen Leidenschaft nicht eine größere Gefahr für die habsburgische Monarchie bringen werde, als jemals von Napoleon drohen konnte, und ob auf diesem Wege nidrt gar alle bürgerlidten Verhältnisse revolutioniert wurden und Europa seine Freiheit vom napoleonischen Joch mit einem Chaos bezahlen mußte“.
Metternich und die Nation Metternich hat durch sein in der Wiener Bundesakte und in der Wiener Schlußakte festgelegtes System der Stabilität die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch geprägt. Die Anfechtung und Auflösung des statischen Werkes von 1815 durch die dynamischen Kräfte der nationalkonstitutionellen und -revolutionären Bewegungen der Völker Mittel-und Osteuropas ist ein Hauptinhalt der Geschichte des 19. Jahrhunderts. (1815 — 1918!) Die von nationalem Geist erfüllten Patrioten waren tief enttäuscht über das Werk der alten Diplomatie, das doch die einzige ohne Krieg realisierbare Möglichkeit bot, nach den Wirren der Revolution und der napoleonischen Kriege in Europa Ruhe und Sicherheit zu garantieren.
Im Zeitalter des Nationalismus ließ man an Metternich und seiner politischen Konzeption nichts Gutes. Erst der Begründer der gesamtdeutschen Historikerschule, Heinrich v. Srbik, hat in seinem zweibändigen Werk über Metternich, aus den Quellen erarbeitet und ohne Ressentiment geschrieben, sein Andenken in ein gerechteres Licht gerückt. Auch die Nationen beurteilen nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Metternichs weltbürgerlichen Rationalismus nicht mehr so ungünstig wie ehedem. Wenn Metternich sich gegen die -Wünsche auch der deutschen Patrioten wandte, so geschah das nicht aus Mißachtung für die deutsche Nation, sondern, weil er die Vertreibung des Usurpators nicht mit der Revolutionierung der Völker erkaufen wollte. In Europa sollte nach den Stürmen wieder Ruhe, Ordnung und Sicherheit herrschen. Deshalb wurde Frankreich nicht gedemütigt. Und diesem Plane hatte sich nach seiner Meinung auch die deutsche Nation einzuordnen, die für sein Empfinden im übrigen auch die edelste wär. Zu Stabilität und Sicherheit gehörte für Metternich auch schon das Verhindern eines russischen Vordringens nach Mitteleuropa. Er wollte nicht die französische Vorherrschaft mit einer russischen vertauschen. Ähnlich wie die europäischen wurden auf dem Wiener Kongreß auch die staatlichen Verhältnisse Deutschlands streng nach der mechanistischen Staatskunst des 18. Jahrhunderts, dem Prinzip des Gleichgewichtes geordnet. Doch der „Deutsche Bund“, im Vergleich zum deutschen Reich in seinen letzten Jahrhunderten für die Nation zweifellos ein Fortschritt, genügte schon bald nicht mehr den Forderungen des (bürgerlichen) 19. Jahrhunderts. Metternich war bei der Abfassung der Bundesakte von zwei falschen Voraussetzungen ausgegangen. Er hatte erstens geglaubt, daß die nationale Bewegung der deutschen Patrioten zum Stillstand kommen werde, und zweitens, daß Preußen am friedlichen Dualismus festhalten und nicht den Weg der Eroberung beschreiten werde, um sein zweigeteiltes Staatsgebiet abzurunden. Aber schon unter Friedrich-Wilhelm IV. kehrte Preußen wieder zur friderizianischen Politik zurück und noch weniger war die bürgerliche Bewegung bereit, sich mit dem Werk von 1815 abzufinden. In den letzten Jahren seiner Regierung äußerte Metternich sich mit tiefer Skepsis über sein Werk, von dessen Bestand er nicht mehr überzeugt war. Er hatte die Gefährlichkeit des Nationalismus für sein politisches System erkannt.
„Wenn diese Deutsdren (die in Böhmen! d. Vers.) einmal verschwinden und Böhmen ein tsdied'iisd'ier Staat wird, dann wird die slawische Flut vorrücken bis vor die Tore von Dresden und Regensburg, dann wird die ganze Rassengliederung Europas und die ganze Weltkonstellation sich ändern“.
Metternich war aber schon zu starr für fruchtbringende Kompromisse geworden.
Etwa ab 1840 zeigen sich erste Symptome einer allmählichen Auseinanderentwicklung zwischen Österreich und dem übrigen Deutschland. Der österreichische Staatskanzler hatte die Zeit nicht benützt, in der die Mehrzahl der Patriotenpartei lediglich die Erneuerung des Reiches mit dem österreichischen Kaiserhaus an der Spitze wollte.
Der kleindeutsche Gedanke oder Pläne, welche nach Zerschlagung der Donaumonarchie eine großdeutsche Zentralrepublik zum Ziele hatten, waren damals nur in einigen Studierstuben zu finden. Die Bewegung der Patrioten war in der Hauptsache noch großdeutsch-föderalistischreichsromantisch. Unter Metternichs Führung zog sich Österreich mehr als in den vorausgegangenen Jahrhunderten, wo seine Herrscher sich ja auch dem Reiche verantwortlich fühlten, von den gesamtdeutschen Aufgaben auf seine eigenstaatlichen Interessen zurück. Der Staatskanzler sah voraus, daß die Gärungen bei den Völkern im Falle ihres Fortschreitens für Österreich viel heillosere Probleme aufwerfen würden als für jeden anderen Staat, ja daß hieraus eine Frage auf Leben und Tod für die Donaumonarchie entstehen würde. Äußerlich zeigte sich dieser Rückzug Österreichs darin, daß es 1815 seine Besitzungen am Oberrhein und die österreichischen Niederlande nicht zurückverlangt hatte. Es hatte als Schutzmacht für so weit vom geschlossenen Staatsgebiet entfernte Territorien schlechte Erfahrungen gemacht.
Diese im Vergleich zur Vergangenheit stärkere Betonung der unmittelbaren Interessen der Donaumonarchie, die nationale Idee und die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen Deutschlands andererseits brachte für die Deutsch-Österreicher eine fatale Doppelstellung mit sich, die bis zur Auflösung des Habsburgerstaates an innerer Spannung zunahm und, in verändertem Rahmen, das politische Bewußtsein auch noch bis 1945 belastete. Sie fühlten national, weil sie Deutsche, und sie dachten politisch, weil sie Bürger eines Staates waren, der ihre geschichtliche Leistung war, in dem sie das führende Element darstellten und der eine europäische Notwendigkeit bedeutete. Alle verantwortlichen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts, bis in die 80er Jahre sogar die Führer und Erwecker der slawischen Völker Österreichs, waren sich über die Aufgabe Österreichs einig, im Donauraum Ruhe und Stabilität zu garantieren sowie Rußlands Vordringen nach Mitteleuropa und auf den Balkan zu verhindern. Es war ein Verdienst Österreichs, wenn seit den Niederlagen der Türkei bis 1848 die Ordnung in diesem Raum nicht gestört worden war. Auch Bismarck hat die Funktion der Donaumonarchie im Jahre seines Sieges über Österreich bestätigt: „Was sollte an die Stelle Europas gesezt werden, die heute von der österreichischen Monarchie eingenouwten wird? Neubildungen auf diesem Boden könnten immer nur revolutionärer Natur sein“.
Auch die Österreicher entschieden sich in ihrer Mehrzahl für den Dienst und die Erhaltung des Gesamtstaates. Einer von denen, die sich anders entschieden, war Hitler. Natürlich konnten die Österreicher nicht immun bleiben gegen den nationalen Gedanken, der ja erst in seiner Übersteigerung zum Nationalismus jene bekannten unheilvollen Folgen zeitigte. In einem Zeitalter, wo überall in Mittel-und Osteuropa die nationale Idee, das große Anliegen des 19. Jahrhunderts, verwirklicht wurde, verlangte die Staatsraison von den Österreichern den Verzicht auf die Erfüllung jener Wünsche, welche allen Nachbar-völkern als das erstrebenswerteste Ziel erschienen und denen sich auch die Politik der Kabinette in zunehmendem Maße unterzuordnen hatte.
Und die Österreicher galten und fühlten nicht minder als Deutsche als die übrigen Stämme. Noch vor 90 Jahren wurden in norddeutschen Zeitungen Klagenfurt, Bozen oder Laibach ganz schlicht und ohne nationalen Akzent einfach als deutsche Städte angesprochen.
1809 hatten österreichischer Patriotismus und deutsches Nationalgefühl für einen kurzen Moment der Geschichte zusammengeschlagen. Die deutschnationale Welle der 40er Jahre („Sie sollen ihn nicht haben . . .“) brachte in Österreich noch keinen bewußten Gegensatz zwischen Nationalgefühl und Treue zu Staat und Dynastie. Erst die mitteleuropäische Revolution von 1848/49 mit den Diskussionen um die politische Gestaltung Deutschlands, um Staatenbund oder Bundesstaat, engeren und weiteren Bund, großdeutsch-föderalistisch-monarchistiche, großdeutsch-republikanische, kleindeutsche, kleindeutsch-konstitutionelle, großdeutsch-großösterreichische Lösung zeigte den Österreichern, daß nur der Weg der großdeutschen Monarchisten und Föderalisten oder der großösterreichische Weg, in jedem Falle aber der Weg über die Bundesreform mit dem Endziel der mitteleuropäischen Gemeinschaft ihnen den Zusammenklang von österreichischem Staatsgefühl und deutschem Nationalgefühl erlauben würde.
Das erste „prominente“ Opfer des Zwiespaltes zwischen Staats-und Nationalgefühl war der Paulskirchenabgeordnete Robert Blum. Er hatte 1848 für die Auflösung der Donaumonarchie und die Aufnahme ihrer deutschsprachigen Gebiete in eine deutsche Zentralrepublik agitiert. Fürst Windischgraetz,.der nach der Unterdrückung des tschechischen Aufstandes auch das revolutionierte Wien eroberte, ließ Blum standrechtlich erschießen, ohne seine Immunität als Abgeordneter der Paulskirche zu achten. Die reale Macht der Krone siegte über den extremen Vertreter der bürgerlichen Ideologie.
Keine der bis in den Sommer von 1866 diskutierten Lösungsmöglichkeiten der deutschen Frage wurde schließlich verwirklicht. Nur Bismarck vermochte 1866 seinen Willen durchzusetzen. Er ließ Preußen nicht im Reich aufgehen, wie es die meisten (liberalen) Klein-deutschen gewünscht hatten, sondern er hat Preußen gestärkt und den kleindeutschen Nationalstaat unter preußischer Führung geschaffen, nicht auf der Grundlage der Volkssouveränität und des parlamentarischen Prinzips, sondern als einen auf die Krone gestützten Bundesstaat unter der Oberherrschaft des preußischen Königs.
Die Ereignisse von 1866 waren für die Österreicher von weit einschneidenderer Bedeutung als etwa die des Jahres 1806. Damals ging ein Reich zu Ende, das nur dank der habsburgischen Hausmacht noch ein Scheindasein geführt hatte und dessen Aufhören die Positionen auf dem europäischen Schachbrett nicht beeinflußte; 1866 wurde eine tausendjährige politische Lebensgemeinschaft zwischen den Südostdeutschen und den übrigen Deutschen zerschnitten, eine Lebensgemeinschaft, die zugleich notwendig war, um den deutschen Charakter des Vielvölkerstaates an der Donau auch im Zeitalter des Nationalismus zu erhalten. Die politische Trennung der Deutsch-Österreicher von der übrigen Nation wurde von vielen beiderseits der Grenzen um so schmerzlicher empfunden, als sie in einer Zeit erfolgte, in der das national-staatliche Streben auf dem Höhepunkt stand. Immerhin konnten sich die künftigen „Reichsdeutschen“ damit trösten, daß nun der Weg für eine fortschreitende Einigung wenigstens im kleindeutschen Rahmen offenstand, eine Hoffnung, die zugleich neue Aufgaben in Aussicht stellte. Bei den Österreichern fanden wenigstens die Großösterreicher an der Erfüllung österreichischer Aufgaben im Donauraum Trost.
Auch das spätere Bündnis von 1879 mit dem neuen deutschen Reiche wirkte auf beiden Seiten lindernd auf die Wunden, welche 1866 hinterlassen hatte. Der österreichische Zwiespalt zwischen Staatspatriotismus und Nationalgefühl wurde bis zum zweiten Weltkrieg, von den extremen Gruppen der Nur-Österreicher oder der extrem Nationalen abgesehen, nie endgültig überwunden. Erst die sieben Jahre „großdeutscher“ Erfahrung brachten hier Klarheit.
Der Umbau der „Monarchie”
Im 18. Jahrhundert war Österreich mächtig genug gewesen, um die Magyaren zu beherrschen. Seit 1849 aber war LIngarn neben Norditalien der größte LInruheherd im Staate. Nach der Niederwerfung der radikalen, von Ludwig Kossuth geführten Revolution verlangte selbst die ungarische Gentry eine dualistische Verfassung für ÖsterreichUngarn. Der Zeitpunkt für die Verwirklichung dieser Forderung war nach der Niederlage von Schmerlings großdeutscher Politik auf dem Frankfurter Fürstentag und nach Österreichs militärischer Niederlage in Böhmen gekommen. Die Hofburg konnte nunmehr den „Ausgleich“ nicht mehr hinausschieben, wenn sie nicht den Fortbestand des Gesamtstaates riskieren wollte. Die Donaumonarchie zerfiel ab jetzt in zwei Hälften mit getrennter Gesetzgebung. Nur die Angelegenheiten der Wirtschaft, des Heerwesens und der auswärtigen Politik waren gemeinsamen (k. u. k.) Ministerien untergeordnet. Mit dem „Ausgleich“ verliert die Monarchie in zunehmendem Maße ihren deutschen Charakter und es beginnt die weltgeschichtliche Rolle der Magyaren. Von ihnen nämlich waren fortan die Entscheidungen der Hofburg in erster Linie abhängig.
Bismarck hatte vor 1866 Verbindung zu den LIngarn gehalten, um im Falle eines längeren Krieges Österreich durch eine Revolution im Innern zu bedrohen. Nun diente ihm der Draht nach Budapest dazu, etwaige deutschnationale Bestrebungen der Österreicher zu paralysieren, durch die ja der Bestand des Gesamtstaates in Frage gestellt worden wäre. Die Magyaren bildeten in der östlichen Reichshälfte eine Minderheit. Sie betrieben dah eine äußerst robuste Magyarisierungspolitik und verweigerten den anderen Nationalitäten jenes Maß an Selbständigkeit, das sie selbst zu fordern nie müde wurden. Damit stärkten sie aber auch die zentrifugalen Kräfte bei diesen Völkern, was wiederum zur weiteren Schwächung des Gesamtstaates beitrug. Auf der anderen Seite mußten die Deutschen in Cisleithanien den Tschechen immer weitergehende Rechte einräumen. Durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes wurde ihr Vorrang schließlich auf einen geringen Rest reduziert. Die einst allein führende Nation sank im Zeitalter der Quantitäten immer mehr zum Rang einer Nationalität herab.
Stellung zur deutschen Frage zwischen Revolution und Ausgleich Ob der vielschichtigen Schwierigkeiten und mannigfaltigen Lösungsmöglichkeiten gelangten die Österreicher in den Jahrzehnten, in denen die deutsche Frage zur Entscheidung reifte, verständlicherweise zu keiner einheitlichen und klar entschiedenen Stellung in dem Zwiespalt zwischen Staat und Nation. Vom Ende der 48er Revolution bis Königgrätz lassen sich vier verschiedene Richtungen feststellen, deren Traditionen in unterschiedlichen Schattierungen bis in die Gegenwart reichen. 1. die großösterieichische Richtung; repräsentiert u. a. durch Schwarzenberg und Bruck mit ihrem Projekt eines 70 Millionen-Reiches von der Nordsee bis zur Adria mit dem Mittelpunkt Wien. Anhänglichkeit an die Dynastie, Bekenntnis zur deutschen Kultur und zu den Traditionen des deutschen Geisteslebens, der Wunsch nach einem wirtschaftlich, politisch und militärisch starken Mitteleuropa, Universalismus und Reichsromantik sind die hauptsächlichen Merkmale dieser Richtung, welche ihre Anhänger vor allem in der Bürokratie und in der Armee hatte.
2. die eigentlichen Großdeutschen; (im Sinne der Zeit vor 1866). Ihre Konzeption ist eng mit der der Großösterreicher verwandt und unterscheidet sich eigentlich nur durch den Akzent, indem hier das „Deutsche“ gegenüber dem „Österreichischen“ stärker betont wird, ohne aber dieses zu opfern, ebensowenig wie die Großösterreicher das Deutsche opfern wollten. Die Großdeutschen wollen unter Bewahrung des österreichischen Staatscharakters die engst-mögliche Verbindung zum übrigen Deutschland. Diese Gruppe — ihr bedeutendster Vertreter ist v. Schmerling — trägt deutlich josephinische Züge und war verantwortlich für jene Politik, die zum Frankfurter Fürsten-tag führte.
3. die deutsch nationale Gruppe; sie entspricht ungefähr den National-Liberalen anderer Länder. Es ist die Richtung der Wiener Revolution, die in der Paulskirche für die Auflösung Österreichs und den Anschluß seiner deutschen Länder an eine deutsche Republik eintrat. Diese Gruppe stützte sich vornehmlich auf die Burschenschaften, die Turn-und Schulvereine, später auch auf die „völkischen“ Gruppen der Jugendbewegung. Während das alte Großdeutschtum sich weitgehend aus katholischem Geistesgut nährte, huldigte diese Richtung einem zeitwilig recht heftigen Antiklerikalismus.
4. Die Kleindeutschen; sie wollen die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung und unter Ausschluß der Habsburgermonarchie, welche später zerschlagen und deren deutsche Teile an das neue deutsche Kaiserreich angegliedert werden sollen. Diese radikal-nationale und -demokratische Gruppe hegte eine etwas primitive Verehrung für das Bismarck-Reich, dessen Politik und Struktur sie völlig verkehrt beurteilte. Politisch blieb diese „Schönerer-Gruppe" bis zum Ende der „Monarchie“ ohne Wirkung. Ihre spätere Bedeutung liegt darin, daß im Schatten ihrer abstrusen Ideenwelt Hitlers erste politische Gedanken erblühten.
Die Wandlung dieser Gruppen nach 1866 Das Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Bund und der damit unumgänglich gewordene innere Umbau des Staates führte auch zu einer Revision der bisherigen Einstellung zum österreichischen Staat und zur deutschen Nation. Dabei überflügelten die Großösterreicher und die Kleindeutschen ihre ihnen verwandten Nachbargruppen, zwischen denen sich eine immer breiter werdende Kluft auftat. Resignation erfaßte nach 18 66 die alten Großdeutschen und so übernahmen immer mehr die Großösterreicher die Führung auf dieser Seite. Nadi Verlust von Österreichs deutscher und italienischer Stellung konzentrierten sie sich mehr auf die Aufgaben im Donauraum. Das Bündnis von 1879 bot ihnen einen weitgehenden Ersatz für die vor 1866 bestehende Verbindung. Schwerer wiegende Folgen erwuchsen auf der anderen Seite den Deutsch-Nationalen und den Kleindeutschen. Es liegt in der allgemeinen Tendenz der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, daß die Freiheitsidee allmählich vom Machtgedanken überflügelt wird, daß an die Stelle von Idealismus Positivismus und LItilitarismus treten, daß der Nationalismus sich seiner humanistischen Ethik entkleidet und in das Gewand eines biologischen Naturalismus schlüpft, um schließlich im 20. Jahrhundert im Rassismus zu enden. In der Entwicklung der deutschen Frage zeigte sich diese allgemeine Entwicklung bereits dadurch an, daß der kleindeutsche Nationalstaat nicht durch den Liberalismus der Paulskirche, sondern durch die preußische Machtpolitik geschaffen wurde.
Der nationale Gedanke wurde den Deutschen in Österreich ebenso wie den anderen Völkern des östlichen Mitteleuropa durch die fort-wirkende Kraft der französischen Revolution und vor allem durch die aus der deutschen Romantik fließenden Ideen überbracht. Als autochthone Kraftquelle kam auf dem Boden des Vielvölkerstaates noch der Nationalitätenkampf hinzu. Seine letzte Ausprägung erhielt der Nationalismus der Deutsch-Österreicher durch die Defensive gegen die immer weiter gehenden Forderungen der andern Nationalitäten. An den Sprachgrenzen — Südtirol, Südkärnten, Südsteiermark, Ungarn, Böhmen — war nicht nur der 1867 in Transleithanien, 1907 dann überall gefallene historische Primat im Staate, sondern Volkstum und Sprache schlechthin bedroht. Der Nationalismus ist in verschiedener Ausprägung und Intensität in allen politischen Lagern der Deutsch-Österreicher zu finden. Es ist der Eigenart des Habsburgerstaates zu danken, daß bei der Mehrheit seiner deutschen Bevölkerung sich der Nationalismus trotz des Angriffs der nichtdeutschen Völker, der zunächst auf den deutschen Charakter des Staates, später auf diesen selbst gerichtet war, nicht zum primum movens des politischen Handelns und Fühlens wurde. So sehr österreichische Studenten beim Verlassen der Universität auch mit radikalnationalem Ideengut erfüllt sein mochten, die Lösung praktischer Aufgaben in den nichtdeutschen Teilen des Staates lehrte sie später den Eigenwert fremden Volkstums schätzen und brachte ihnen zudem man-
cherlei Vorzüge des alternden Vielvölkerstaates zur Kenntnis. Aus diesem Grunde war die „alldeutsche" Gruppe Schönerers von einem dauernden Abfall ihrer Anhänger gekennzeichnet. Sobald diese beim Militärdienst oder als Beamte mit den realen Verhältnissen des alten Österreich konfrontiert wurden, geriet ihr infantiler Schulvereinsnationalismus ins Wanken. Es ist bezeichnend, daß Hitler sich diesem Erlebnis entzogen hat.
Die Schönerergruppe blieb zunächst unbedeutend. Dennoch sei ihre Ideologie in kurzen Umrissen festgehalten, weil sie die reinste und zugleich übertriebenste Form des Nationalismus darstellt, und weil sie infolge der Aneinanderkettung unglücklicher Umstände und Zufälle im 20. Jahrhundert so verhängnisvolle Auswirkungen zeigte. Ausgangspunkt dieser Ideologie ist die Überzeugung von der natürlichen und gerechten Überlegenheit der deutsch-germanischen Rasse. Solche Gedanken sind für uns indiskutabel geworden. Wir müssen aber bedenken, daß derartige Ideen durch das biologische Denken des späten 19. Jahrhunderts (Darwin, Gobineau’s „Rassenseele“) nicht unwesentlich gefördert wurde. Dazu übernahmen die Schönerianer noch die Christentumsfeindschaft Nietzsches und prägten den in Wien vorhandenen ökonomischen und religiösen Antisemitismus in einen Rassenantisemitismus um. Dieser und ein bis zur Hysterie gesteigerter Antiklerikalismus waren schließlich die hervorstechendsten Merkmale im politischen Programm dieser Gruppe.
Die Entstehung solch verstiegener Ideen war nicht auf Österreich beschränkt, wie die „deutsche Glaubensbewegung“ der Ludendorffs („Philosophin“ und „Feldherr“) oder die der SS-Ideologie aus dem „Reiche“ zufließenden Gedanken beweisen. In einem merkwürdigen Widerspruch zu der revolutionären, radikal-demokratischen Wurzel und der Feindschaft gegen die Dynastie und alles, konservative Denken steht die oft grotesk idealisierende Schwärmerei der Schönerer-gruppe für das auf preußischem Konservativismus, Militarismus und Wirt-Schaftskapitalismus beruhende „Deutsche Reich“, für seinen Schöpfer und seine Dynastie, überhaupt für das „deutsche Wunder“ nach 1871 und die Äußerungen deutscher Kraftmeierei nach 1890. Aus dieser falschen Sicht des kleindeutschen Nationalstaates resultiert letzten Endes die bittere Enttäuschung, die gerade die radikal nationalen Österreicher nach dem Anschluß von 1938 erlebten, weil die Realität nach dem Anschluß eben in so hartem Gegensatz stand zu ihren jahrzehntelang gehegten Vorstellungen und Träumen vom deutschen Reich.
Zwischen dem revolutionären „völkischen“ Nationalismus der Österreicher und dem staatlich-konservativen Denken der Reichsdeutschen und zumal der Preußen gab es im Grunde keine Verständigungsmöglichkeit, so daß bei jeder realen Begegnung die Preußenschwärmerei der österreichischen „Nationalen“ diesen bittere Enttäuschung bringen mußte — von der bekannten Standpauke, die Bismark seinen jungen österreichischen Verehrern in Friedrichsruh über ihre Pflichten gegenüber dem österreichischen Staatswesen hielt bis zu dem Leidensweg gläubig-idealistischer Nationalsozialisten und „alter Illegaler“ in der deutschen Wehrmacht, aber auch in der politischen Hierarchie des „Dritten Reiches“. Auch Hitlers seltsame Haßliebe zum preußischen Konservativismus — wie andererseits die scharfe Ablehnung, die Hitler und sein Nationalsozialismus weitgehend in streng preußisch-konservativen Kreisen fanden und die dann in der Widerstandsbewegung dieser Kreise und in der Verschwörung vom 20. Juli 1944 zum dramatischen Ausbruch kam — ist letzten Endes aus der widerspruchsvollen Einstellung der Schönerianer zum Bismarckreich und zum preußisch-deutschen Konservativismus zu erklären.“ 3)
Wie anderswo, so war auch bei den Österreichern der Nationalismus in seiner Entstehung die Angelegenheit einer vornehmlich akademisch bürgerlichen Schicht. Eine Besonderheit lag für die Österreicher darin, daß sie den von der nationalen Idee verlangten Kampf nicht gegen einen fremdnationalen Staat, sondern gegen „ihren“ Staat zu führen hatten. Dieser Umstand bewirkte, daß viele nach der radikalen Periode der Studentenzeit sich zu einem Standpunkt durchrangen, der sowohl dem Staats-als auch dem Nationalgefühl gerecht zu werden versuchte. Dieser Kompromiß — und in der Blütezeit des Nationalsozialismus konnte es nie mehr sein — gelang vor allem den Deutsch-Nationalen der Alpenländer. (Ihre Parteibezeichnung wechselte mehrmals).
Die Entstehung der österreichischen Parteien
Das 19. Jahrhundert hat nicht nur die Frage Monarchie oder Volks-souveränität, sondern im Gefolge von Technik und Industrialisierung auch die soziale Frage hervorgebracht, deren befriedigende Lösung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit den Mitteln des klassischen Liberalismus nicht mehr möglich war. Lind wie einem das Hemd näher ist als der Rock, so stand für viele, vor allem für die Massen des Klein-bürgertums und der Arbeiterschaft in Wien, die Unzufriedenheit mit den persönlichen materiellen Verhältnissen höher als die nationale Frage, deren Lösung im Sinne der abstrakten Ideologie ohnehin kaum möglich schien. Am Lebensabend der Donaumonarchie ist das Partei-wesen nicht durch die nationale, sondern durch die christlich-soziale und die sozialdemokratische Bewegung geprägt. Da sie beide nach 1918 zu den wichtigsten Säulen der Republik wurden, ist hier eine kurze Skizzierung ihrer Entstehung und ihres Wesens angebracht.
Die drei Parteigruppierungen, die das politische Gesicht Österreichs zwischen den Weltkriegen und bis heute bestimmen, stammen alle aus der gleichen Zeit, nämlich aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Gemeinsam war ihnen ursprünglich auch das Bestreben, die soziale Lage der Massen zu verbessern. Die Bezeichnungen christlich-sozial, sozial-demokratisch, national-sozial deuten bereits an, auf welchem Wege die einzelnen Gruppen eine Lösung der sozialen Probleme anstrebten. Ihr gemeinsamer Ansturm gegen den Liberalismus war von solcher Wucht, daß nach 1918, allerdings noch begünstigt durch das Wahlgesetz, sich keine ausgesprochen liberale Partei mehr durchsetzen konnte. Dennoch träfe die Behauptung, daß damit der Liberalismus in Österreich ausgetilgt wurde, nicht zu. Das Gesetz von der Rache der Besiegten wurde auch hier wirksam. Lind antiliberal von der Wurzel her war ja keine der drei Bewegungen. Ihr Antiliberalismus richtete sich nur gegen das Unvermögen des klassischen großbürgerlichen Liberalismus, die soziale Frage in einer den Zeiterfordernissen gerecht werdenden Weise zu lösen. Der Liberalismus lebte nach seiner Vernichtung in allen drei Richtungen fort und ist noch heute in unverkennbarer Weise wirksam;
der ökonomische Liberalismus bei den Christlich-Sozialen und heute in der ÖVP, der kulturelle bei den Sozialisten und bei den Nationalen. Die liberale Idee lebte nach dem ersten Weltkrieg auch noch fort in der aus der Monarchie übernommenen Beamtenschaft, die ja seit Joseph II. eine Stütze liberaler Ideen gewesen war, außerdem in den Wirtschaftverbänden und in der Presse. Wenn der Liberalismus auch nicht mehr quantitativ durch Wählerstimmen zum Ausdruck kommen konnte, so war er doch vielfach an Stellen wirksam, wo persönlicher Einfluß von Gewicht ist.
Der gemeinsame Ursprung des Anliegens, nicht der Theorie (!), zeigt sich auch darin, daß die organisatorischen Gründer aller drei Bewegungen sich anfangs sehr nahe standen. Lueger, der große Führer der Christlich-Sozialen, Victor Adler und Peruerstorfer, die beiden Sozialisten, hatten in ihrer Jugend alle einmal dem Kreis um Schönerer (radikaldemokratisch-national) angehört. Der Sozialist Pernerstorfer wiederum war der Lehrmeister Walter Riehl s, der bedeutendsten Persönlichkeit des österreichischen Nationalsozialismus vor Hitler. Gemeinsam ist diesen Parteigründern auch, daß sie mit einer einzigen Ausnahme aus dem Kleinbürgertum stammten, das in Wien durch die Wirtschaftsentwicklung der Gründerzeit in arge Bedrängnis geraten war.
Nur Victor Adler stammt aus dem Großbürgertum. Er hatte als Arzt die Nöte der kleinen Leute kennen gelernt.
3) Adam Wandruszka in: H. Benedikt: Geschichte der Republik Österreich, S. 380.
Dr. Karl Lueger ist der erste Organisator einer Massenpartei in Österreich. Unter seiner Führung eroberten die Christlich-Sozialen das Wiener Rathaus und verbreitete sich die Bewegung schließlich fast über die ganze Habsburgermonarchie. Den Hauptgegner sah diese Partei in dem Antiklerikalismus der Zeit, in Positivismus und Materialismus, in schrankenlosem Individualismus und Manchesterliberalismus. Die Spitze gegen den „Freisinn“ und gegen Freimaurertum führte verschiedentlich auch zu einer religiösen Untermauerung des ökonomischen Antisemitismus im Wiener Kleinbürgertum. Die Juden waren ja oft die Vertreter eines extremen Liberalismus, der ihnen erst die völlige Emanzipation beschert hatte. Dieser Antisemitismus, der von rassischen Affekten frei blieb, hat in der Republik wiederholt eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der großenteils jüdischen Führung der Sozialdemokraten erschwert und die Annäherung an die gemäßigt nationalen Gruppen erleichtert.
Der Kaiser, die ungarische Gentry, der hohe Klerus und der konservative Adel betrachteten das Vordringen der christlichsozialen Bewegung lange mit großem Mißmut. 1895 aber wurde das sozialpolitische Programm von Papst Leo XIIII. („Rerum novarum“) gutgeheißen. 1897 ist Lueger Bürgermeister in Wien und in den nächsten Jahren wächst die Partei rasch in die Aufgaben des Gesamtstaates hinein und verbreitet sich in die Provinzen.
1907 bereits erfolgt der Zusammenschluß mit den Konservativen zur „christlich-sozialen Reichspartei“. Die praktische Verantwortung in der Hauptstadt und der damit verbundene Kontakt mit der konservativen Leitung des Staates milderten bald die radikalen Komponenten des Parteiprogramms. In den letzten Jahren vor Ausbruch des Krieges standen die Christlich-Sozialen in enger Verbindung mit dem Thronfolger Franz Ferdinand, dessen geplante Reichsreform sich aller Voraussicht nach unter der hauptsächlichen Mitwirkung der Christlich-Sozialen vollzogen hätte. Die Fusion mit den Konservativen änderte natürlich auch das äußere Gesicht der Partei. Zu den unzufriedenen Vertretern des Kleinbürgertums traten jetzt die saturierten Schichten des Bauerntums und der Wirtschaftskreise. Der dynamische Schwung der Bewegung erlahmte zusehends, die Idee der Sozialreform verliert ihre bisher die Partei beherrschende Stellung.
Die Sozialdemokratie Wie anderswo, so wuchs auch in Österreich die sozialistische Bewegung auf dem Boden der Industrialisierung und der damit verbundenen Gesellschaftsumschichtung. Ebenso war sie auch von der frühen internen Auseinandersetzung zwischen dem Gesellschaftssozialismus Marx’ und dem Staatssozialismus Lasalle's betroffen, desgleichen von den späteren Zwistigkeiten um die richtige Marx-Exegese zwischen Bernstein's Revisionismus und Lenin's scheinbarer Orthodoxie. Seine Formung als Massenpartei erlebte der österreichische Sozialismus wie die christlich-soziale Bewegung in den 80er Jahren. Victor Adler gelang es, die radikale und die gemäßigte Richtung zu einer einheitlichen Partei zusammenzufassen. Es entsprach dem aus den Verhältnissen des Habsburgerreiches, aus der Aufgabe des Erhaltens und des Ausgleichens erwachsenen österreichischen Wesen, wenn der Ausgleich zwischen orthodoxer und revisionistischer Richtung, zwischen scharfen Theoretikern und konzilianten Praktikern bis zum Verbot der Peitei im Jahre 1934 immer wieder gelungen ist. V. Adler selbst hat sich scherzhaft als „Hofrat der Revolution“ bezeichnet, und Kaiser Franz-Joseph hat dies bestätigt, indem er nach einer Audienz sagte: „Er war eigentlich recht nett zu mir, der Dr. Adler“. Der stetige Kompromiß schuf eine fruchtbare Spannung innerhalb der Partei. Der Nachteil dieses ständigen Ausgleichs mit dem linksradikalen Flügel war der Zwang, sich wilder gebärden zu müssen, als man überhaupt war und sein wollte.
Nadi der Machtübernahme in der Reichshauptstadt im Jahre 1911 wuchs die Sozialdemokratie, ebenso wie 14 Jahre vorher die Christlichsozialen, durch die Mitverantwortung ganz natürlich in die Staatsaufgaben hinein. Es gehört zu den Verdiensten der österreichischen Sozialdemokratie, daß sie — durch Karl Renner und Otto Bauer — die österreichische Schicksalsfrage, das Nationalitätenproblem, theoretisch zu lösen versuchte. Auch Kreise der Hofburg hegten die Hoffnung, daß das Aufsteigen der internationalen Sozialdemokratie den Nationalismus des bürgerlichen Liberalismus allmählich überwinden könnte. In der Folge wurde aber auch die Arbeiterschaft, zuerst die tschechische, vom Nationalismus erfaßt, und zwar von einem immer mehr seiner liberalen und humanistischen Bestandteile entkleideten Nationalismus. Die Völker bildeten eigene „national-soziale“ Parteien. Nur die deutschen Sozialdemokraten Österreichs behielten, ähnlich wie die bürgerliche und adelige Führungsschicht sich zum internationalen Donaustaat bekannte, ihr internationales Bekenntnis auch in der Praxis bei. Lediglich im Kampfgebiet der Nationalitäten, in Nordböhmen und Nordmähren, kam es zur Bildung einer vorläufig noch kleinen „Deutschen nationalsozialistischen Arbeiterpartei“. Wo der Angriff am heftigsten war, wurde also auch die deutsche Arbeiterschaft angesteckt. Adler und Pernerstorfer hatten als nationaldeutsche Demokraten ä la 1848 begonnen und waren zum Sozialismus gekommen. Pernerstorfer’s Schüler Riehl tat dann den Schritt vom internationalen Sozialismus zum nationalen Sozialismus. Die Wurzel der österreichischen Sozialdemokratie ist wie überall ökonomisch. Ihre Weiterentwicklung ist mit allein ökonomischen Maßstäben nicht mehr zu beurteilen. Stärker als anderswo trat hier ein Bildungs-und Kulturelement hinzu, nicht nur durch das Bildungsstreben ihrer leitenden Köpfe, sondern vor allem durch den Nationalitätenkampf gefördert.
Das nationale Lager Die Starrheit, mit der Schönerer und seine Anhänger ihre esoterische Ideologie vertraten, und die Furcht, die Theorie durch die praktische Begegnung mit den realen Verhältnissen getrübt zu sehen, daneben Schönerers unbeliebtes Naturell und seine mangelnde Organisationsfähigkeit haben der deutschnationalen Gruppe jeden politischen Erfolg verwehrt. Sie konnte jeweils nur dann Gewicht erlangen, wenn gemäßigte nationale Gruppen ein Bündnis mit ihr eingingen, oder wenn sie, wie unter Hitler, Unterstützung von außen erhielt. Darauf und auf die Vielschichtigkeit des nationalen Problems in Österreich, die sich ja in den vielen nationalen Gruppen wiederspiegelte, ist es zurückzuführen, daß das nationale Lager bis zum Anschluß von 1938 vielfältig gespalten blieb und aus eigener Kraft keine den beiden anderen Gruppen gleichkommende Organisation erfuhr.
Das Ende der Monarchie und die Gründung der deutsch-österreichischen Republik
Zu Beginn des ersten Weltkrieges schien es, als ob die nationalen und sozialen Spannungen, die seit einem halben Jahrhundert das Gebäude der Monarchie wiederholt erschüttert hatten, vorläufig überbrückt wären. Die nur vorgetäuschte Rekonvaleszenz wich aber unter dem Eindruck der Kriegsleiden, der Frage nach den Kriegszielen, dem unsicheren Ausgang des Krieges und unter der Wirkung der alliierten Propaganda. Den Sozialisten hatte der Kampf gegen den Zarismus das patriotische Eintreten für den Gesamtstaat wesentlich erleichtert. Ihr Ziel konnte aber im Falle eines Sieges auf keinen Fall der Fortbestand der bisherigen Gesellschaftsordnung sein. Mit dem Zusammenbruch Rußlands fiel auch das außenpolitische Ziel weg. Für die überwiegende Mehrzahl der Deutsch-Österreicher war die Erhaltung des Gesamtstaates der Sinn des Kampfes. Eine Ausnahme bildeten hier nur die radikale Linke und die Anhänger Schönerers. Letztere konnten den Strapazen des Krieges immerhin noch einen deutschnationalen Sinn beilegen. Die Deutsch-Österreicher trugen auch den größten Anteil an den Blutopfern. Die Zahl ihrer Gefallenen war relativ noch höher als bei den „Reichsdeutschen".
Die Nationalitäten waren — von der nationalen Emigration abgesehen — für die Erhaltung des Gesamtstaates. Sie konnten sich aber nicht über seine innere Gestaltung einig werden. Über diesen Punkt bildeten sich bei den Tschechen und bei den übrigen Slawen Vorstellungen, die mit denen der Deutschen sehr differierten, während die Ungarn am Dualismus festhielten, was wiederum die Slawen der östlichen Reichshälfte aufbrachte.
Gegen die Slawisierungspläne des Staates setzte sich der „deutsche Nationalverband“ zur Wehr. Sein Kriegsziel war ein „lebenskräftiges, starkes Österreich unter deutscher Führung“, wie es in der Osterbegehrschrift von 1916 heißt. Ein solches Programm war natürlich für die Slawen und Ungarn unannehmbar. Im Falle eines Sieges der Mittelmächte wäre sicherlich der Gesamtstaat erhalten geblieben, zumindest als ein Staatenbund von Nationalitätenstaaten. Je mehr sich aber das Kriegsglück auf die Seite der Alliierten neigte, desto mehr wurde die Frage von Fortbestand, Umbildung oder Auflösung der „Monarchie“ von den Plänen und Entschlüssen der Westmächte abhängig. Kurz vor dem Kriegseintritt Italiens im Frühjahr 1915 hatten die Alliierten im Londoner Vertrag den Italienern Südtirol bis zum Brenner, Triest, Görz und große Teile Dalmatiens zugesprochen. Von diesen Gebieten abgesehen, waren die Alliierten aber bis 1917 geneigt, die Monarchie in ihrem bisherigen Besitzstand zu erhalten. Ihre Kriegspropaganda, die den Nationalitäten die Förderalisierung auf der Basis von demokratischen Nationalstaaten versprach, war neben echtem demokratischen Missionierungseifer von dem Bestreben getragen, den Donau-staat aus dem Bündnis mit dem deutschen Reich zu lösen und zu einem Separatfrieden zu bewegen. Diese Versprechungen fielen bei den Völkern auf um so fruchtbareren Boden, als in Wien und Berlin im Laufe des Krieges wieder Pläne einer politischen Einigung Europas unter deutscher Führung bei völliger Kulturautonomie der fremdsprachigen Bewohner laut geworden waren. Der Zusammenbruch Rußlands im Jahre 1917 bedeutete nicht nur für die Sozialisten das Erreichen eines wichtigen Kriegszieles, sondern enthob die Nationalitäten vermeintlich — die Geschichte hat das inzwischen bewiesen — auch der Entscheidung zwischen dem liberalen Westen und dem absolutistischen Tendenzen zuneigenden Osten. Als Österreich für einen Sonderfrieden nicht zu haben war, vielmehr am 12. Mai 1918 in Spa ein Defensiv-und Garantiebündnis mit dem deutschen Reich einging, dem später eine Zoll-und Wirtschaftsunion folgen sollte, ließen die Westmächte die „Monarchie“ endgültig fallen. Ihr Kriegsziel war ja gerade die Verhinderung einer deutschen Vorherrschaft in Mitteleuropa, die aber durch das in Spa vorgezeichnete „Zweikaiserreich“ geschaffen worden wäre. So wurden erst die Exilregierungen anerkannt, schließlich die Tschechoslowakei als kriegsführende Macht auf Grund der tschechischen Legion in Rußland und Italien. Die „kleine Entente“ sollte künftig die Rolle im europäischen System übernehmen, die bis 1917 das Zaren-reich gegenüber Deutschland und Österreich eingenommen hatte.
Nach dem Ausscheiden Bulgariens im September und dem damit verbundenen Zusammenbruch der Südostfront rief Wilson die Nationalitäten selbst zur Entscheidung über das künftige Schicksal der Habsburger Monarchie auf. Noch stand die Front, aber im Innern schwankte das Reich bereits in seinen Grundfesten. Die Deutschen und die zentrale Leitung des Staates wurden von dieser Entwicklung ziemlich überrascht. Nur die Sozialdemokraten hatten sich für den Fall der Niederlage und der Auflösung des Gesamtstaates Gedanken gemacht. Am 3. Oktober forderten sie das Selbstbestimmungsrecht auch für die Deutschen in Österreich, einen Tag später schlossen sich der Nationalverband und die Christlichsozialen diesem Wunsche an. Das Manifest Kaiser Karl’s vom 16. Oktober, das die Föderalisierung des Reiches zum Inhalt hatte, kam viel zu spät, es war nur noch eine Feststellung sich bereits vollziehender Tatsachen. Die Nationalitäten bröckelten ab, die Deutschen blieben übrig. Nominell bestand zwar das Reich noch fort, dennoch wurde es für die Deutschen Zeit, sich Gedanken über ihre politische Zukunft zu machen. So traten am 21. Oktober die 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes zur „provisorischen Nationalversammlung des selbständigen deutschösterreichischen Staates“ zusammen, den die Deutschen Österreichs auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu bilden im Begriffe waren. Mit treffender Selbstironie umriß Friedrich Austerlitz damals die Situation der Österreicher:
„Wir sind unabhängig geworden, nachdem uns die andern haben stehen lassen."
Und Renner sagte:
„Wir sind über Nacht ein Volk ohne Staat geworden.“
Es wurde dann zwar ein Staat gebildet, aber die Verhältnisse ließen nur einen Staat zu, der ohne Hilfe des Auslandes niemals selbständig werden konnte, der ob dieses Ungenügens von seinen Bürgern immer in Frage gestellt wurde, gerade auch von Persönlichkeiten, die ihre Lebenskraft im Dienste an diesem Staate verzehrten. Daß in diesem Staate nicht jenes innenpolitische Gleichmaß entstehen konnte, das für das Gedeihen einer jungen Demokratie erforderlich ist, ist weitgehend auf die widrigen Umstände bei seiner Entstehung zurückzuführen. Ein großes Glück war es immerhin noch für die Anfänge dieses Staates, daß die „Revolution“ sich mehr in hitzigen Debatten als in Gewalttaten abspielte. Der Ruf nach Ordnung und Organisation, um die Bevölkerung mit dem Notwendigsten zu versorgen, war so gebieterisch, daß der gut eingespielte Verwaltungsapparat mit sehr geschickt operierenden Beamten an der Spitze sich in der aussichtslos erscheinenden Läge dem neuen Staate zur Verfügung stellte. Daneben ist es auch dem Geschick zu danken, mit dem die sozialdemokratischen Führer die Volksmassen auf gemäßigte Wege zu führen oder die Soldatenräte auszuschalten wußten, daß ein vollständiges Chaos verhindert werden konnte. Es war ein Segen, daß die Sozialdemokratie nicht die Parolen der radikalen Linken zu verwirklichen suchte, sondern sich angesichts der allgemeinen Not zur Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Kräften bereit fand. Die Sozialisten traten in den Geburtsstunden der Republik auch am entschiedensten für den Anschluß an Deutschland ein, vor allem als am 9. November in Berlin ebenfalls die Revolution ausgebrochen war. Victor Adler meinte damals: „Wir Deutsdten werden der Welt das Vorbild geben, wie man am glattesten, klassischsten und einfachsten Revolution macht und durchführt.“ Am 11. November nahm Kaiser Karl die ihm vorgelegte Verzichterklärung an. Damit war für einen großen Teil der Christlich-Sozialen und für einen geringeren Teil der Nationalen der Streit um die Staatsform hinfällig geworden. Am 12. November erklärte die provisorische Nationalversammlung „Deutsch-Österreich“ zur demokratischen Republik und als Bestandteil der Deutschen Republik. Beide Beschlüsse wurden einstimmig gefaßt. Siebzig Jahre nach der Paulskirche schien ein zweiter aus dem Schoße der Nation wachsender Versuch zu gelingen. Jedoch in Wien und Berlin und in den anderen Hauptstädten im Reiche standen die Sorgen um Frieden und Brot vor der Anschlußfrage. Außerdem mehrten sich auf beiden Seiten die Stimmen, die vom Anschluß nur Beschwernisse für die Friedensverhandlungen befürchteten. Auch die Frage des Zusammenlebens mit den aus der Donaumonarchie hervorgegangenen Nachfolgestaaten war noch nicht entschieden. Selbst ein Teil der österreichischen Sozialisten, vor allem Renner, dachten noch an einen Staatenbund oder wenigstens eine Wirtschaftsunion auf dem Boden des früheren Gesamtstaates. Die Anschlußfrage trat vorübergehend hinter die Alltagssorgen zurück. Die Exekutive war noch schwach und konnte sich nur mit Mühe gegen die Llmsturzversuche der radikalen Linken, die eine Rätediktatur errichten wollte, behaupten. Infolge der geringen Machtmittel mußte man sich auf etwas so schwer Greifbares wie den Extremen abgeneigten Volkscharakter verlassen. Im Frühjahr 1919 wurde die Lage für Wien besonders gefährlich, da in Budapest und in München die Errichtung von Rätediktaturen geglückt war. Besonders die ungarischen Räte versuchten der radikalen Revolution in Wien zum Durchbruch zu verhelfen, indem sie versprachen, die Ernährung Wiens sicherzustellen. Rechtzeitig distanzierten sich die Sozialdemokraten von der „Roten Garde“ und Österreich lehnte die ungarische Hilfe ab, obwohl die Lebensmittelrationen in Wien damals einen Tiefstand erreicht hatten wie in Deutschland teilweise nach dem zweiten Weltkrieg. Ein großes Verdienst dafür, daß es gelang, die demokratische Republik gegen die kommunistischen Llmsturzversuche zu bewahren, gebührt dem Wiener Polizeipräsidenten Schober, den man aus der Monarchie übernommen hatte.
Der Friedensvertrag, die Frage des Staatsgebietes und des Anschlusses
Der im Herbst 1918 proklamierte Staat „Deutsch-Österreich“ war noch lange kein festgefügtes Gemeinwesen. Zur gleichen Zeit, als die gemäßigte Revolution sich nur mit Mühe gegen radikale Llmsturzversuche halten konnte, stand es noch keineswegs fest, welche Gebiete der neue Staat umfassen sollte. Die Staatsrechtler in Wien vertraten die Ansicht, daß keine Kontinuität zwischen der neuen Republik DeutschÖsterreich und dem zugrunde gegangenen Habsburgerreich bestehe. Der alte Staat sei vielmehr durch Dismembration untergegangen. In ähnlicher Weise stand es für die historischen Länder, die ja älter waren als „Österreich“, nicht von vorneherein fest, daß sie sich dem neuen, in Wien gegründeten Staat „Deutsch-Österreich“ anschließen würden. Sie hätten das wohl in keinem Falle getan, wenn in Wien die Rätediktatur zum Zuge gelangt wäre.
Dieser Länderföderalismus war in Tirol am stärksten. Die Tiroler hatten in erster Linie die Einheit ihrer engeren Heimat im Auge. Sie wollten lediglich auf „Welschtirol“ verzichten. In dem Durcheinander von Waffenstillstand, Demobilisierung und italienischer Besetzung glaubte man die Brennergrenze am ehesten durch einen Anschluß an Deutschland verhindern zu können. Andere hofften, wenn schon der Anschluß aller Deutschen Österreichs oder wenigstens der Tiroler nicht zu erreichen wäre, die Einheit des Landes durch die Errichtung eines „Freistaates Tirol“ zu retten.
Die Länder haben sich in Österreich bis heute als geschlossene historische Persönlichkeiten erhalten. Auch sie beriefen sich in der Frage der Anschlußerklärung an den neuen Staat auf das Selbstbestimmungsrecht. Ihr verschiedentlich zutage getretener Widerstand gegen das „rote Wien“ entsprang teils länder-(dynastisch-, historisch-Jföderalistischen, teils stammesföderalistischen Motiven.
Stammesföderalistische Elemente traten vor allem in Vorarlberg in Erscheinung. Bis 1921 gab es hier eine starke Anschlußbewegung an die Schweiz. Daneben bestanden auch schwächere Gruppen, die einen Anschluß an Bayern oder Württemberg wünschten. Der Anschluß an die Schweiz scheiterte an Wien und an der Mäßigung der Schweizer Regierung, die außer dem Einverständnis der Bevölkerung auch die Zustimmung der Wiener Regierung voraussetzte. Außerdem waren auch noch Clemenceau und die romanischen Teile der Schweiz dagegen, die ein zu großes Übergewicht der Deutsch-Schweizer nicht wünschten, oder gar eine allgemeine deutsch-schweizerische Irredenta-Bewegung befürchteten. Ähnlich bewirkte die Stammesgemeinschaft mit Bayern in Salzburg und Tirol eine gewisse Reserve gegen Wien.
Ein Überhandnehmen solcher Selbständigkeitsbestrebungen in den übrigen Ländern konnte die Existenz des neuen Staates in Frage stellen. Außerdem würde mit dem Absplittern eines jeden Randgebietes die wirtschaftliche Lebensfähigkeit noch mehr in Frage gestellt als sie es ohnehin schon war. Solche zentrifugalen Kräfte kamen bei der Festlegung des Staatsgebietes nicht übermäßig zur Geltung, da die Grenzen in erster Linie durch die Alliierten festgelegt wurden. Im Falle Kärnten waren es sogar in erster Linie solche föderalistischen Kräfte, die österreichischen Boden, der noch dazu teilweise von slowenischer Bevölkerung bewohnt ist, dem neuen Staate erhielten. Den Kärntnern ging es in erster Linie um die Einheit ihres Landes. Sie hatten mit ihren Anstrengungen mehr Glück als die Tiroler und die Steirer. Böhmen Die österreichisch-ungarische Monarchie wurde aufgelöst im Zeichen des von Präsident Wilson proklamierten Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Es war nur logisch, wenn auch die Deutschen dieses Selbstbestimmungsrecht für sich beanspruchten. Schwierig wurde dabei vor allem die Lage der Deutschen in Böhmen, die gerne an der konstituierenden Nationalversammlung in Wien teilgenommen hätten. Die Tschechen aber sahen darin einen Hochverrat an ihrem neugegründeten Staate.
Im Oktober 1918 hatte eine Gruppe von Sudetendeutschen zwar versucht — hauptsächlich aus geographischen Gründen — Nordböhmen an Deutschland anzuschließen; sie hatte in Deutschland aber kein Echo gefunden. So erklärten die deutschen Gebiete Böhmens am 30. Oktober ihren Beitritt zu „Deutsch-Österreich“. Sie wurden auch in die Staats-erklärung „Deutsch-Österreichs“ vom 22. November 1918 ausgenommen. Voraussetzung für die Verwirklichung solcher Erklärungen wäre der Aufbau militärischen Widerstandes gewesen. Doch weder im Lande selbst noch in Wien hatte man die materiellen Mittel, um das Selbstbestimmungsrecht gegen die tschechischen Ansprüche auf die historischen Grenzen Böhmens und Schlesiens durchzusetzen. Nicht das Selbstbestimmungrecht, sondern das Recht der Stärke und der historischen Landesgrenzen wurde hier verwirklicht. Als am 4. März 1919 in Wien die neugewählte österreichische Nationalversammlung zusammentrat und die Sudetendeutschen deshalb auf der Straße demonstrierten, kam es durch Einschreiten tschechischen Militärs zu Blutvergießen. Die Frage der Nordgrenze war schließlich de facto längst gelöst, als die österreichische Delegation nach Versailles eingeladen wurde. Die neue Tschechoslowakei zählte ja zu den Alliierten. Ihre Gründung lieferte zugleich den Beweis, daß eine Grenzziehung nach dem strengen Nationalitätsprinzip auf dem Boden der ehemaligen Monarchie nicht möglich war. Der tschechische Staat wurde ein Nationalitätenstaat, wie es die Donaumonarchie gewesen war.
Die Südtiroler Frage Der Ruf der Italiener nach der Brennergrenze war erstmals im Jahre 1848 laut geworden. Er stammt von dem genuesischen Advokaten und Revolutionär Giuseppe Mazzini, als dessen Testamentsvollstrecker sich Mussolini gern bezeichnete. Die Brennergrenze, die die Teilung ihrer mit so viel Blut verteidigten Heimat bedeutete, erschien den Tirolern unerträglich. Nach längerem Zögern hatten die Tiroler am 25. November ihren Beitritt zu Deutsch-Österreich erklärt, allerdings vorbehaltlich der Aufrechterhaltung der Landesautonomie und der von einer künftigen Volksvertretung getroffenen Regelungen. Als die Gefahr der Teilung nicht schwinden wollte, hoffte eine Gruppe mit dem Vorschlag einer selbständigen Republik Tirol unter Beibehaltung der Rechts-und Wirtschaftsunion mit Österreich die Einheit des Landes zu erhalten.
Alle diese Versuche waren vergebens. Wenn die Entscheidung von St. Germain bis auf den heutigen Tag immer wieder zu Schwierigkeiten geführt hat, so liegt das nicht an einem österreichischen oder gar pangermanistischen Revisionismus, sondern ganz einfach daran, weil hier zugunsten eines pfiffig formulierten positiven Rechtes natürliche Menschenrechte verletzt werden.
Steiermark Um die Österreicher etwas zu versöhnen und aus realen eigenen Interessen im Donauraum unterstützte Italien Österreichs Anspruch auf Südsteiermark und Südkärnten. Die Verhältnisse lagen hier aber schwieriger als in Südtirol. In der Südsteiermark waren die Städte überwiegend deutsch, das Land meist überwiegend slowenisch. Genaue Sprachgrenzen waren nirgends festzulegen. Mit der Auflösung der Monarchie waren jugoslawische Truppen in die Südsteiermark eingerückt. Anläßlich einer deutschfreundlichen Kundgebung kam es im Januar in Marburg infolge Einschreitens von jugoslawischem Militär zu einem Blutbad. In St. Germain war bereits eine Volksabstimmung für die südsteirische Hauptstadt Marburg beschlossen, die später auf einen Protest Jugoslawiens hin, dem Frankreich seine Unterstützung lieh, wieder abgesetzt wurde. Ähnlich scheiterten weitere Bemühungen um Volksabstimmungen in anderen Gebietsstreifen.
Kärnten In Kärnten rückten ebenfalls jugoslawische Truppen ein, um den Südteil des Landes mit meist slowenischer Bevölkerung von Österreich loszutrennen. Die Regierung in Wien war geneigt, vor allem der Staatssekretär des Äußeren, Otto Bauer, den slowenischen Südteil abzutreten. Die Kärntner aber wollten die Einheit ihres Landes erhalten. So kam es hier zu bewaffnetem Widerstand, an dem sich zum Teil auch Bewohner slowenischer Sprache beteiligten. Es gelang der Volkswehr, die Jugoslawen zu vertreiben. Erst mit verstärkten und überlegenen Kräften konnten diese im Mai 1919 wieder große Teile des Landes, darunter auch Klagenfurt, besetzen. Immerhin hatte der Freiheitskampf der Kärntner der Welt gezeigt, daß man hier nicht einfach über die geschichtliche und geographische Einheit des Klagenfurter Beckens hinwegschreiten konnte, eine Einheit, die man im Falle Böhmen erhalten hatte. So wurde für Kärnten eine Volksabstimmung festgelegt, deren Ergebnis für den Verbleib bei Österreich ausfiel. Die Jugoslawen zogen ihre Truppen erst auf energische Vorstellungen der Alliierten zurück.
Burgenland Neben diesen Verlusten hatte Österreich in St. Germain auch einen territorialen Gewinn zu-verzeichnen, nämlich Deutsch-Westungarn, später Burgenland geheißen. In der österreichisch-ungarischen Monarchie hatte man über dieses Gebiet kaum gesprochen. Nach dem Zerfall des Gesamtstaates aber war es klar, daß man dieses geschlossene deutsche Siedlungsgebiet für Österreich beanspruchte, vor allem weil es für die Ernährung Wiens von äußerster Wichtigkeit war. Nach überaus schwierigen und vielseitigen — die Interessen mehrerer Staaten überschnitten sich in der Burgenlandfrage — Verhandlungen hatte die österreichische Delegation in St. Germain erreicht, daß das Burgenland Österreich zugesprochen wurde. Es folgten zwei Jahre vielfältiger Spannungen und langwieriger Verhandlungen mit Ungarn. Als der Vertrag von Trianon (Friedensvertrag mit LIngarn) endlich von allen Signatarmächten ratifiziert war, setzte die Botschafterkonferenz in Paris im August 1921 die Übergabe des Burgenlandes an die Entente fest. Den Österreichern war es verboten, in das neue Staatsgebiet mit dem Bundesheer einzurücken. Als nun Gendarmerie und Zollwache das Land in Besitz nehmen wollten, stießen sie auf bewaffneten Widerstand.
LIngarn hatte beträchtliche Insurgentenkräfte und getarntes Militär zur Stelle, die die eingesessene Bevölkerung gewaltsam unterdrückten und die österreichischen Beamten mit Waffengewalt am Betreten des Landes hinderten. Es kam zu Kampfhandlungen, die sich teilweise bis auf niederösterreichischen Boden erstreckten. Die Alliierten überließen Italien die Regelung der Angelegenheit. Italien aber war wegen seiner gespannten Beziehungen zu Jugoslawien darauf bedacht, Ungarn nicht zu verstimmen. Bei den Verhandlungen in Venedig wurde die österreichische Delegation unter Druck gesetzt. Man wies auf die nachteiligen Folgen hin, die eine starre Haltung Österreichs in der Burgenlandfrage auf die schwebenden Kreditverhandlungen ausüben würde. So mußte Österreich in die Abtretung Ödenburgs und der umliegenden Landstriche willigen. Es konnte zwar noch erreichen, daß in einer Volksabstimmung endgültig darüber zu entscheiden sei. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß die Entente an der Reinheit des Abstimmungsverfahrens kein Interesse mehr hatte. Das Ergebnis des Plebiszits war von vornherein klar, nachdem Österreich wegen der Parteinahme der Italiener für Ungarn seine Vertreter aus der Kommission zurückgezogen hatte.
Die Anschlußfrage Am 12. November 1918 hatte die provisorische Nationalversammlung einstimmig den Anschluß an Deutschland beschlossen. Der Anschluß wurde aber nicht verwirklicht, obwohl damals vielleicht noch der günstigste Moment gewesen wäre. In Berlin standen andere Dinge im Vordergrund, wenn auch der dortige österreichische Gesandte die Anschlußfrage zu forcieren versuchte. Unter den Alliierten hätten sich wahrscheinlich die USA und Italien mit der vollzogenen Tatsache abgefunden. Noch Anfang Oktober wäre der Beschluß über den Anschluß in einer österreichischen Nationalversammlung kaum einstimmig ausgefallen. Der rechte Flügel der Sozialdemokraten unter Karl Renner und Victor Adler dachte damals, ebenso wie ein großer Teil der Christlich-sozialen, noch an einen Donaubundstaat, der auf demokratischer Grundlage und nach dem Selbstbestimmungsrecht errichtet werden sollte. Sogar bei den Deutschnationalen gab es Gruppen, die nicht unbedingt für den Anschluß waren. Am entschiedensten wurde dieser vertreten durch den linken Flügel der Sozialdemokraten unter Dr. Bauer und natürlich von den Schönerianern. Erst als der Wunsch nach weiterer Zusammenarbeit in einem neuen gemeinsamen Haus bei den Nationen kein Echo fand, die Österreicher also übrig geblieben waren, konnte jener Beschluß einstimmig zustande kommen. Zur Zeit des Zusammentretens der Weimarer Nationalversammlung war man in Wien schon wieder skeptischer geworden. Wohl war eine österreichische Delegation dorthin eingeladen worden. In Wien aber begnügte man sich jetzt mit der offiziellen Begrüßung dieses Aktes im Reich. Renner und andere äußerten gewichtige Bedenken gegen eine Teilnahme an der Verfassungsarbeit, solange man nicht wisse, wohin und unter welchen Umständen man angeschlossen werde. Sein doktrinärer Parteifreund Otto Bauer, damals noch Staatssekretär des Auswärtigen, begeisterte sich mehr für die Verwirklichung des Sozialismus in einer gesamtdeutschen Republik. Er schloß im Februar ein Geheimabkommen mit dem deutschen Außenminister. Der Inhalt bestand hauptsächlich in wirtschaftlichen Vereinbarungen für den Fall des Anschlusses.
Zur gleichen Zeit setzten Gegenaktionen Frankreichs ein, wo man sich in puncto Deutschlandpolitik natürlich besonders der Schule Richelieu’s erinnerte. Unabhängig von dem diplomatischen Vertreter Frankreichs, Mr. Allize, wurden vor allem im christlichsozialen Lager immer mehr Bedenken gegen den Anschluß laut. Zu einer ausgesprochenen Gegenbewegung kam es aber nicht. Der Beschluß vom 12. November war der aus der Not der Situation geborene Schlußpunkt einer Entwicklung, die inzwischen wieder mehr auf den Boden der realen Tatsachen herabgestiegen war. Die Mehrheit der Österreicher war auch 1919 für den Anschluß an Deutschland, aber jetzt mit Vorbehalten hinsichtlich der Art seiner Durchführung.
Die politische Zukunft Österreichs hing aber nicht vom Willen seiner Bewohner ab. Als die österreichische Friedensdelegation nach Paris abreiste, war die Entscheidung über den Anschluß mittelbar schon gefallen, da die Alliierten beschlossen hatten, Deutschland zur Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs zu verpflichten. Alle Versuche Renners, in St. Germain Kompensationen für das Verbot des Anschlusses herauszuschlagen, beispielsweise eine Korrektur der Brennergrenze, schlugen fehl. Zu den schmerzlichen Verlusten Südtirols, der Südsteiermark, der Sudetenländer, zu den harten wirtschaftlichen und finanziellen Bestimmungen des Staatsvertrages (da die Österreicher die staatsrechtliche Kontinuität zur Donaumonarchie verneinten, eine Auffassung, der sich später auch die Alliierten anschlossen, sprachen sie nie von einem Friedensvertrag, sondern immer nur von einem Staatsvertrag) trat das Anschlußverbot. Der von der konstituierenden Nationalversammlung im März 1919 festgelegte Anschlußartikel mußte gestrichen werden, der Staat „Deutsch-Österreich“ durfte sich künftig nur noch „Österreich“
nennen. Nur durch einstimmigen Beschluß des Völkerbundsrates sollte die Aufhebung oder Abänderung des Anschlußverbotes erlaubt sein.
Diese Zusatzbestimmung aus dem Artikel 8O des Versailler Vertrages war im Vertrag von St. Germain ursprünglich nicht enthalten. Er wurde aus folgenden Gründen als Artikel 88 eingefügt: In der Weimarer Verfassung war ein Artikel enthalten, nach dem Österreich das Recht haben sollte, bis zum Anschluß an Deutschland am Reichsrate mit beratender Stimme teilzunehmen. Frankreich und England erblickten darin eine Verletzung des Versailler Vertrages. So wurde der Artikel 80 Versailles durch den Artikel 8 8 St. Germain ergänzt, während gleichzeitig die Besetzung des rechten Rheinufers angedroht wurde, falls der betreffende Artikel in der Weimarer Verfassung nicht gestrichen würde.
. In St. Germain war die Anschlußfrage außenpolitisch vorläufig erledigt worden. Innenpolitisch spielte sie noch eine Zeitlang eine Rolle, einige Male drohte sie sogar den Bestand des jungen Staates zu gefährden. In Tirol dachte man immer noch an eine Verbindung mit Bayern, wenn auch die Tage vorbei waren, in denen man überlegt hatte, ob nicht durch den Anschluß des Landes an Deutschland die Brennergrenze zu verhindern wäre. Am lebendigsten blieb der Anschlußgedanke in den Alpenländern. Hier hatte man sich schon in den Jahrzehnten der Nationalitätenkämpfe im Reichsrat der Monarchie zunehmend von Wien distanziert. Es hatte sich ein Ressentiment gegen die immer stärker werdende slavische Zuwanderung nach Wien gebildet. Man bedachte nicht, daß die Zuwanderer in Wien schnell assimiliert, oder wenn man sich im „nationalen“ Sinne ausdrücken wollte, „germanisiert“ wurden. In der Republik wurde dieser Gegensatz abgelöst von dem Mißtrauen der „konservativen“ Alpenländer gegen das „rote“ Wien, das von einer sozialdemokratischen Mehrheit regiert wurde. Dieser Gegensatz führte aber auch zu Spannungen innerhalb der Christlichsozialen. Denn neben betont nationalen (Steiermark) oder die Eigeninteressen der Länder betonenden Kräften standen hier, vor allem in Wien und Niederösterreich, ehemalige konservative Großösterreicher, die aus ihrer geistigen Tradition einen kräftigen Eigenstaatsgedanken zu entwickeln vermochten. Im Ganzen aber blieb das politische Denken und Fühlen der Österreicher nach dem Zerfall der Monarchie noch lange ohne Gleichgewicht. Die bei der Geburt des Staates an fast allen Grenzen auflodernden Volkstumskämpfe, bei denen die Deutschösterreicher überall in der Defensive standen oder im Falle Kärntens für die Erhaltung der historischen Einheit eintraten, und das wackelige Fundament, auf dem das von einer permanenten Wirtschaftsmisere heimgesuchte Staatsgebäude ruhte oder ruhen sollte, das weitverbreitete Gefühl, diesen Staat unter mehrfachen Verletzungen des Selbstbestimmungsrechtes, unter dessen Banner die alte Monarchie zerschlagen worden war, in St. Germain aufgezwungen bekommen zu haben, sind die Hauptursache, warum in Österreich zwischen den beiden Weltkriegen sich kein kräftiges Staatsgefühl entwickeln konnte und die Österreicher im Grunde ein „Volk ohne Staat“ blieben.
Streit um die Volksabstimmung In ihrer letzten Sitzung am 1. Oktober 1920 nahm die konstituierende Nationalversammlung das Bundesverfassungsgesetz und anschließend einstimmig einen Antrag an, wonach die Regierung binnen sechs Monaten eine Volksabstimmung über den Anschluß anordnen sollte. Immerhin bot die Klausel, daß der staatsrechtliche Status Österreichs mit Zustimmung des Völkerbundes verändert werden könne, eine gewisse Begründung hierfür. Lind noch 1920 war Österreich ja zum Völkerbund zugelassen worden. Andererseits bot sich der Anschlußgedanke als Druckmittel an, um die Gewährung der für die wirtschaftliehe Konsolidierung Österreichs notwendigen Kredite durchzusetzen. Auch viele. Anschlußgegner plädierten für eine solche Verwendung des Anschlußgedankens. Die stärksten Impulse für den Anschluß gingen vorläufig noch von Tirol aus. Hier war vom Landtag bereits im Frühjahr 1920 eine Anschlußkommission eingesetzt worden. Der Tiroler Landtag setzte für das Frühjahr 1921 eine Volksabstimmung fest, was die Bundesregierung zwar für unzulässig erklärte, aber damals doch nicht ganz verhindern konnte. Salzburg, wo ebenfalls die Stammesverbundenheit mit Bayern wirkte, folgte dem Beispiel der Tiroler. Obwohl es sich nur um eine Prüfung der Volksmeinung handeln sollte — eine Gallup-Methode gab es damals noch nicht — die „weder aus verfassungsrechtlichen noch aus außenpolitischen Gründen zu verpönen sei , drohte die Entente der Wiener Regierung, die Hilfsaktion einzustellen und die Reparationen zu erneuern. In den Alpenländern aber versprach man sich vom Anschluß mehr als von den Alliierten. So folgte der steirische Landtag denen von Tirol und Salzburg. In Kärnten war die deutschnationale Bewegung zwar besonders stark, doch hatte man hier im Falle staatsrechtlicher Modifikationen erneute Angriffe von Jugoslawien zu befürchten. In Vorarlberg blieb es ruhig und in Wien und Niederösterreich zog die Anschlußbewegung keine weiten Kreise. In Tirol und Salzburg kam es tatsächlich zur Abstimmung, die in beiden Ländern eine Mehrheit von über 90 Prozent für den Anschluß ergab.
Über den Streit um die Volksabstimmung stürzte das Kabinett Dr. Mayr. Auch der christlichsoziale Landeshauptmann in Graz, Dr. Rintelen, war hartnäckig für die Abstimmung eingetreten. Erst nadl wochenlangen Verhandlungen zwischen der Wiener Regierung und den Steirern wurde sie abgesetzt. Die Regierungsneubildung auf breiter parlamentarischer Grundlage gestaltete sich bereits diesmal schwierig.
Die Sozialdemokraten wollten nicht mit allen andern auf der Regie-rungsbank sitzen. Ein rein christlichsoziales Kabinett war nicht möglich, da gerade die Frage, Fortsetzung der Sanierungsaktion oder Volksabstimmung über den Anschluß, zu heftigen Spannungen im Partei-gefüge geführt hatte. Die neue Regierung kam endlich zustande, als in Graz die Abstimmung abgesagt wurde und die Großdeutschen — so wurden nunmehr die früheren Deutschnationalen genannt — sich endgültig gegen eine Politik des alles oder nichts entschlossen hatten. Sie beschränkten die nationale Seite ihres Parteiprogramms vorläufig auf den Ausbau der gemeinsamen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland. Die Anschlußbewegung war damit zu einem vorläufigen Stillstand gekommen. Die Realität des Anschlußverbotes und die wirtschaftliche Abhängigkeit von den Alliierten geboten einen Anschluß auch nationaler Kreise an jenen Teil der Christlichsozialen, der von jeher die innere Konsolidierung des nach dem Zerfall des Großreiches verbliebenen Raumes für das dringendste Problem hielt.
Zusammenfassend ist über die Anschlußbewegung jener Jahre noch zu bemerken, daß sie — von den Schönerianern und einem Teil der Sozialdemokraten abgesehen —, nicht einer strengen nationalen Ideologie, sondern mehr dem natürlichen Drang entsprach, einer unverschuldeten Notlage auf dem logischsten Wege zu begegnen.
Die Sanierungsaktion unter Seipel Viele Österreicher, darunter auch der rechte Flügel der Sozialdemokraten, wünschten bei der Auflösung der „Monarchie“ wenigstens den Fortbestand der Wirtschafts-und Zolleinheit mit den Nachfolgestaaten, fanden aber bei den mündig gewordenen Völkern keine Gegenliebe.
Nationalistischer Protektionismus siegte über die Gebote wirtschaftlicher Vernunft. Am schwerwiegendsten wurde von dieser Zerschneidung des alten Wirtschaftskörpers Österreich betroffen, vor allem Wien, das aus der Hauptstadt eines großen Reiches zur großen Hauptstadt eines kleinen Landes geworden war, dessen wirtschaftliche Funktion nun stark verändert und eingeengt wurde. Das Prohibitivsystem der nun zum Ausland gewordenen Nachfolgestaaten stellte noch im Winter 1919/20 die Versorgung Wiens mit den wichtigsten Lebensgütern in Frage. Durch Kompensationsverträge mit der Tschechoslowakei konnte man sich mühsam über Wasser halten. Zudem war auch viel österreichisches Eigentum in den Besitz der Nachfolgestaaten übergegangen. 1921 konnte die Wirtschaftsblokade durch den mit der Tschechoslowakei zu Lana unterzeichneten Vertrages erstmals durchbrochen werden. Die Streichung der Forderungen, die von den Nachfolgestaaten erhoben wurden, erreichte man erst 1929.
Die Alliierten wünschten die politische Selbständigkeit Österreichs.
Damit waren sie aber auch verpflichtet, die für Österreichs wirtschaftliche Stabilisierung nötige Hilfe zu gewähren. Die dringendsten Voraussetzungen hierfür waren die Stillegung der Notenpresse und der Ausgleich des Staatshaushalts. Beides war voneinander abhängig und nur mit der Hilfe des Auslandes zu erreichen. Bis 1921 war es keiner Regierung gelungen, ausreichende Hilfe vom Ausland zu erhalten. Das Schiff der österreichischen Wirtschaft neigte sich immer mehr auf Schlagseite. Nur ab und zu war es gelungen, Hilfe für die vordringlichsten Bedürfnisse zu bekommen, von einer produktiven Wirtschaftshilfe aber konnte in keinem Falle die Rede sein. Immer schwieriger war die nur notwendigste Hilfe aus dem Ausland zu erhalten, denn auch in alliierten Finanzkreisen zweifelte man immer mehr an der Lebensfähigkeit des österreichischen Staates. Am 31. Mai 1922 ergriff Bundeskanzler Seipel das Staatsruder. Sein Selbsthilfeprogramm, durch das endlich die Inflation gebannt werden sollte, fand nicht die Gegenliebe des Auslandes. (Die für die Gründung einer Notenbank unentbehrlichen Institute der „Länderbank“ und der „Anglobank" befanden sich in französischer bzw. in englischer Hand.) Die Krone sank weiter bis auf den 15 OOOsten Teil ihres Goldwertes. Die Stimmung der Bevölkerung war verzweifelt. Auch ein direkter Appell an den englischen König Georg V. blieb ohne Erfolg. Niemand wollte bei dem bevorstehenden Finis Austriae beteiligt sein. Seipel wandte sich an den Völkerbund. Zu gleicher Zeit machte er Reisen nach Prag, Verona und Berlin, um überall klarzulegen, daß die in den Verträgen festgelegte staatliche Ordnung Europas gefährdet sej, falls keine ausreichende Hilfe gewährt würde. Österreich bliebe nur noch der Anschluß an ein größeres Wirtschaftsgebiet. Mit dieser Argumentation gewann Seipel die wirksame Hilfe Beneschs und Masaryks beim Völkerbünde; denn in Prag wünschte man knapp vier Jahre nach der Zerstörung der Donaumonarchie alles andere als einen erneuten engeren Kontakt mit Wien.
Das Ergebnis dieser Verhandlungen waren die „Genfer Protokolle“, die im Oktober 1922 zwischen Österreich, England, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei vereinbart wurden. Die Alliierten erklärten sich bereit, die politische LInabhängigkeit Österreichs sicherzustellen, Österreich versprach, diese zwanzig Jahre lang nicht aufzugeben. Die vier Mächte gewährten eine Anleihe von 650 Millionen Goldkronen, welche nur unter der Kontrolle eines vom Völkerbünde bestellten Generalkommissars verwendet werden durften.
Seipels Sanierungswerk bedeutete die Rettung in letzter Not. Ihr bemerkenswertestes Ergebnis war, daß bei der Bevölkerung nach Jahren, die man nur mühsam von Tag zu Tag gefristet hatte, wenigstens ein bescheidenes Vertrauen in die Zukunft sich bildete. Freilich reichte die Hilfe nur bis zur Stabilisierung der Währung, nicht für eine grundlegende Gesundung der Volkswirtschaft. Die Arbeitslosigkeit konnte auch in den folgenden Jahren nicht beseitigt werden. Als verhängnisvollste Folge sollte sich aber die Verhärtung der innenpolitischen Fronten zwischen den beiden großen Parteien erweisen. Es gehört zur Tragik der österreichischen Republik, daß dieselbe Aktion, die ihr nach den Jahren wirtschaftlichen Siechtums erstmals vom Krankenbett aufhalf, gleichzeitig einen Keim innerpolitischer Vergiftung legte.
„Keine Kombination ohne Deutschland 7
Europagedanke 1926 stellte der Generalkommissar des Völkerbundes seine Tätigkeit in Wien ein. Die Sanierung war damit abgeschlossen. Tatsächlich aber befand sich nur der Staatshaushalt im Gleichgewicht, während die Wirtschaftskrise weiterhin auf das Land drückte. Es war daher erklärlich, daß der Gedanke einer großdeutschen Wirtschaftsunion immer stärker hervortrat. Enge Kultur-und Handelsbeziehungen bestimmten seit 1920 das Verhältnis zu Deutschland. Im übrigen aber war der Weg zu weiterer Annäherung durch die Pariser Vorortverträge und durch die Genfer Protokolle versperrt. Deutschland verhielt sich sehr zurückhaltend. Man hoffte aber auf beiden Seiten, mit Hilfe des engen Kultur-und Warenaustausches den Weg für einen späteren Zusammenschluß offenzuhalten. In dem zwischen den Christlichsozialen und den Großdeutschen bestehenden Koalitionspakt war vereinbart, außenpolitisch mit der Reichsregierung enge Fühlung zu halten und die Anschlußpropaganda der Großdeutschen nicht zu stören. „Keine Kombination ohne Deutschland“, so hat Seipel die Außenpolitik jener Jahre umrissen, die im übrigen auf eine Normalisierung der Beziehungen zu den Nachfolgestaaten gerichtet war. Ohne Zweifel blieb der Anschlußgedanke in Österreich damals ziemlich verbreitet. „Nie davon sprechen, immer daran denken“, war nun auch eine Parole der Österreicher geworden.
Man vermied aber Aktionen, die den Verdacht erregen konnten, man wolle sich über die in St. Germain und Genf eingegangenen Verpflichtungen hinwegsetzen. Seipel, der dem Anschlußgedanken, besonders in Zeiten innerpolitischer Spannungen in Deutschland, recht skeptisch gegenüberstand, hielt an der durch gemeinsame Geschichte, Kultur und Sprache zum Ausdruck kommenden Schicksalsgemeinschaft mit Deutschland fest; er wollte diese Schicksalsgemeinschaft aber zugleich in den Dienst der Völkerverständigung stellen. Anschluß an Deutschland und Donauföderation bildeten für ihn durchaus keine Gegensätze, wie für die Sozialisten, sondern nur die Vorstufe eines erneuerten europäischen Systems. Er gehörte dem Präsidium der Paneuropa-Union an, die nicht aus reinem Zufall von Wien ausgegangen war. Ihr Gründer, Graf Coudenhove-Kalergi, schrieb damals: „Von Österreich ans kann die . viropafrage aufgerollt werden und von Europa aus kann die Österreichtrage gelöst werden.“
Seit der Genfer Sanierungsaktion bestand die Außenpolitik Seipels und seiner Nachfolger darin, möglichst wenig Außenpolitik zu treiben, sich aus den Verwicklungen möglichst herauszuhalten und im übrigen ein gut nachbarliche/Verhältnis mit den angrenzenden Staaten herzustellen. Am schwierigsten gestaltete sich dabei das Verhältnis zu Italien. Die Südtiroler waren dort mannigfachen Bedrängnissen ausgesetzt, vor allem seit der Machtergreifung des Faschismus. Die Schwierigkeit lag darin begründet, daß Italien nicht zum Schutz der deutschsprachigen Minderheit verpflichtet worden war. Man nahm in Wien und Innsbruck kein Blatt vor den Mund, bezeichnete Unrecht eben als Unrecht, was meist äußerst gereizte Reaktionen bei den Italienern auslöste. Als Seipel 1928 das kulturelle Minderheitenrecht der Südtiroler naturrechtlich begründete, verließ der italienische Gesandte Wien für vier Monate.
Der Plan einer Zollunion Der Zeitabschnitt der passiven Außenpolitik ging 1930/31 mit den von Wien und Berlin verfolgten Plänen einer deutsch-österreichischen Zollunion zu Ende. In österreichischen Wirtschaftsverbänden waren schon wiederholt dahinzielende Gedanken laut geworden. Im März 1929 hatte der deutsche Reichstag einstimmig die Zollunion gefordert.
Die Regierungen hatten sich zu diesen Wünschen nicht geäußert. Erst die Weltwirtschaftskrise, deren Auswirkungen die chronisch leidende Wirtschaft Österreichs besonders empfindlich trafen, brachte die Frage in Fluß. Im März 19 30 fanden zwischen den Außenministern Curtius und Schober die abschließenden Besprechungen statt. Innenpolitisch waren auf beiden Seiten keine wesentlichen Schwierigkeiten zu erwarten. Außenpolitisch aber hatte man mit heftigen Widerständen zu rechnen. Lind hier machte man in Wien und Berlin unglückliche Fehler, vor allem durch die Art, in der man andere Mächte von dem Plan in Kenntnis setzte. Am heftigsten war die Reaktion in Paris, wo man eine Neuauflage der Mitteleuropapläne von 1918 zu sehen vermeinte, und in Italien, das seine Pläne im Donauraum gefährdet sah. Die Kleine Entente schloß sich diesen Mächten an. Die amerikanische Presse reagierte anfangs zustimmend, ebenso Churchill. Mit Rücksicht auf Frankreich aber übergab England den Fall dem Völkerbund, der ihn an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag überwies. Der Gerichtshof entschied mit 8: 7 Stimmen, daß die geplante Zollunion zwar nicht gegen das in den Friedensverträgen enthaltene Anschlußverbot, dafür aber gegen die Genfer Protokolle von 1922 verstoße. Auf französischen Druck mußten die Außenminister Schober und Curtius am 3. September 1931 vor dem Völkerbund erklären, daß Deutschland und Österreich das Zollvereinsprojekt nicht weiter verfolgen würden. Wenn die Vertreter Frankreichs und Italiens dabei aussprachen, daß man Österreich die Zollunion mit jedem anderen Lande eher zu erlauben bereit sei als mit Deutschland, so förderten sie mit diesen Auffassungen unbewußt die österreichischen Nationalisten.
Das Scheitern der parlamentarischen Demokratie
In der Verfassung von 1920 wurden die ehedem das Staatsgefüge tragenden historischen Kategorien der Länder durch die soziologischen Kategorien der Parteien ersetzt. Die letzten Jahrzehnte der Monarchie hatten dieser Entwicklung schon vorgearbeitet. Ihre Formulierung in der Verfassung war ein Sieg der Sozialdemokratie. In den ersten Jahren der Republik, als man einfach um das Überleben gegen die nackte Not zu ringen hatte, war die Frage, ob die parlamentarische Demokratie sich auf die Dauer durchsetzen könne, Nebensache. Daß sie sich später nicht behaupten konnte, lag zu verschiedenen Anteilen an der politisch-geistigen Struktur der österreichischen Parteien, an den widrigen Verhältnissen, unter denen die Demokratie ins Leben getreten war und an der außenpolitischen Gesamtsituation Mitteleuropas in den zwanziger und dreißiger Jahren.
Die innenpolitische Hauptursache war zunächst die zunehmende Verhärtung im Verhältnis zwischen den beiden großen Parteien, den Sozialdemokraten und den Christlichsoizalen. Mäßigung auf beiden Seiten hatte in der größten Not nach dem Zusammenbruch die ,. schwarz-rote" Koalition ermöglicht. Aber selbst der stets konziliante und meist kompromißbereite Karl Renner hatte von zwei Wanderern gesprochen, die sich in höchster Bergnot treffen, sich gemeinsam in einen Mantel hüllen, um den Schneesturm zu überstehen. Nach den schwersten Gefahren aber würden sich die Wanderer wieder trennen. Tatsächlich ging die Koalition schon im Jahre 1920 an einer verhältnismäßig unbedeutenden Frage in die Brüche.
Das Wahlergebnis vom Oktober 1920 legte erstmals jenes Stärke-verhältnis zwischen den politischen Parteien fest, das sich bis zum vorläufigen Ende des Parlamentarismus mit verblüffender Konstanz erhalten hat. An Stelle der Sozialisten waren nun die Christlichsozialen die stärkste Partei. Sie erhielten 79 Sitze, die Sozialdemokraten 62, die Großdeutschen 18, zu denen gesinnungsmäßig auch die 6 Abgeordneten der Deutschen Bauernpartei zu rechnen sind. 1920 kam noch ein „bürgerlicher Demokrat“ hinzu, der frühere k. u. k. Außenminister Graf Czernin. Die Christlichsozialen waren damit zur Regierungsbildung berufen. Es ist aus den damaligen Verhältnissen zwar verständlich, aber bei der Stabilität der politischen Lager innerhalb der Wählerschaft für die Zukunft Österreichs verhängnisvoll gewesen, daß keine große Koalition mehr zustande gekommen ist. Regierung und Verwaltung wurden den Christlichsozialen von der Opposition recht schwer gemacht. Deshalb bemühte sich auch Seipel, bei der Regierungsbildung im Jahre 1922 die Großdeutschen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Unter den zahlreichen Richtungen der Großdeutschen setzte sich schließlich die gemäßigte durch und so kam die Koalition zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen zustande, die dann bis 1932 bestand. Von der Unterbrechung durch das „Beamtenkabinett“ Schober abgesehen, behielten die Christlichsozialen fortan die Führung bis zum Ende der Republik, beladen mit der Last der Verantwortung, aber auch Verführungen ausgesetzt, die der dauernde Besitz der Macht nur allzu leicht mit sich bringt. Die Sozialdemokraten waren in die Dauerrolle der Opposition gedrängt, da keine spätere Wahl eine wesentliche Änderung des Kräfteverhältnisses erbrachte. Die Angst der Sozialdemokraten, sich in nutzloser Opposition allmählich zu verbrauchen, ist einer der Gründe für ihre oft überspitzt formulierten Forderungen. Dazu kam, daß ihre hochintellektuellen Theoretiker, voran Otto Bauer, unbedingt die Einheit der Partei erhalten wollten, also eine Absplitterung der radikalen Linken verhindern wollten. Diese war nur durch eine radikale marxistische Phraseologie bei der Stange zu halten, die auf der Gegenseite zu erhöhtem Mißtrauen gegen die Verfassungstreue der Sozialdemokraten führte, die sich ihrem linken Flügel zuliebe wilder gebärdeten als sie eigentlich waren. Renner, für den die politische Praxis immer über der scharfen theoretischen Formulierung stand, sagte auf einem Parteitag einmal, man solle nicht immer von Revolutionen reden, die man in Wirklichkeit gar nicht machen könne.
Neben unbezweifelbaren Vorzügen war es eine große Schwäche des „Austromarxismus“, daß er kein offenes Bekenntnis zum Revisionismus ablegte. Dies unterblieb aus Gründen der Ideologie und um nicht die Anhänger auf der Linken zu verlieren. In der politischen Praxis verhielt man sich dennoch evolutionär. Das führte zum Vorwurf eines „schleichenden Revisionismus“ von kommunistischer Seite, während man auf christlichsozialer Seite wegen der radikalen Phrase in Rede und Schrift nicht über das Mißtrauen hinwegkam, ob die sozialdemokratische Partei nicht doch revolutionäre Ziele verfolge, vor allem da seit dem Parteitag zu Linz im Jahre 1926 folgender verhängnisvoller Satz in das Parteiprogramm ausgenommen worden war: „Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellsdiaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durdt gewalt- same Aaflehnung, durch 'Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterschaft gezwungen, den V/iderstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Gewalt zu brechen.“
Dieser auf Betreiben Max Adlers als Vertreter der radikalen Linken in das Programm aufgenommene Satz ist in seinem Inhalt nicht so kriegerisch, wie er sich obenhin anhört. Die Anwendung von Gewalt wird nicht in Abrede gestellt, aber man will sich dazu erst zwingen lassen.
In diesem Zusammenhang darf auch die Einstellung Seipels zur Sozialdemokratie nicht unerwähnt bleiben, denn sie bestimmte weitgehend die Entwicklung im christlichsozialen Lager auch noch nach Seipels Tode. Der Kleriker und scharfsinnige Wissenschaftler Seipel war durch theoretische Überlegung zur Überzeugung gekommen, daß der Marxismus und damit auch die marxistisch geführte österreichische Sozialdemokratie prinzipiell religions-und kirchenfeindlich, ja überhaupt Tod-feinde der bestehenden Ordnung seien. Diese Anschauung wurde ihm durch zahlreiche Erlebnisse im politischen Alltag bestätigt. Seine Darstellung in Schmähliedern und auf Plakaten von linksradikaler Seite, ein Attentat, von dessen Folgen er sich nie mehr ganz erholte, die intellektuell hochfahrende Art, mit der manche Sozialdemokraten ihm, dem seiner eigenen geistigen Fähigkeiten wohl bewußten Gelehrten, entgegentraten, waren wenig dazu angetan, ihm dieses Bild von der Sozialdemokratie zu widerlegen. Ein persönliches Verhältnis fand er am ehesten noch zu Otto Bauer, dem Chefideologen der Sozialdemokraten, dessen scharfer und überlegener Geist dem seinen verwandt war und den er trotz aller Feindschaft schätzte. Bauer seinerseits nannte Seipel nach dessen Tode einen „Staatsmann europäischen Formats“, dem nur nicht ein seinen Fähigkeiten entsprechender Staatsraum zur Verfügung gestanden habe. Es wurde schließlich Seipels feste Überzeugung, daß man dem revolutionären Marxismus nur mit Stärke, und wenn die anderen Mittel versagten, nur mit Gewalt gegenübertreten könne.
Diese Anschauung ging auch auf seine Nachfolger über. So hat am Ende das Fehlen einer Brücke zwischen den Begriffen bürgerlich und sozialistisch, zwischen marxistisch und antimarxistisch in stärkstem Maße zur inneren Aushöhlung der Demokratie beigetragen.
Den sinnfälligsten Ausdruck fand die innenpolitische Erstarrung in den bewaffneten Scharen beider Lager, hier in den Heimwehren, dort im „Republikanischen Schutzbund“. Die Wehren stammten noch aus der Zeit des Zusammenbruches und des Grenzlandkampfes nach dem Kriege.
Sie waren damals ausgestellt worden, um in dem allgemeinen Durcheinander Ausschreitungen zu verhüten und die Sicherheit von Leben und Eigentum zu gewährleisten. So hatten sich Ortswehren, Bahnhofs-wachen, Bürgergarden und Arbeiterverbände gebildet, die sehr oft einträchtig zusammenwirkten. Waffen ließen sich damals leicht und in Fülle beschaffen. Die Wehren waren meist lokalen Ursprungs — in Tirol kam das uralte verbriefte Recht auf freies Waffentragen hinzu — und organisierten sich zunächst höchstens auf Länderbasis. Begründetes Mißtrauen erregte in den Umbruchjähren die rote „Volkswehr“, durch deren revolutionäre Tendenz sich die Gegenseite zu einer strafferen Organisierung veranlaßt sah.
1920 konstituierte sich unter der Führung von Dr. Steidle die Tiroler Heimatwehr als Verein, um bei öffentlichen Notständen einzugreifen. Die Exekutive hielt die Heimwehr angesichts ihrer eigenen Schwäche und der Unsicherheit an verschiedenen Grenzen — 192 5 sah man das Burgenland und selbst die Brennergrenze in Gefahr — für ein Instrument, mit dessen Hilfe man in Notzeiten die Polizeigewalt verstärken könne. Der „Marsch auf Rom“ und Hitlers mißglückter Novemberputsch legten solche Überlegungen nahe. Die Unternehmer förderten die Heimwehren wegen der in manchen Gebieten radikalen Einstellung der Arbeiterschaft. Die Arbeiterschaft hatte ihrerseits aus den Tagen der Abwehrkämpfe zahlreiche Waffen in den Händen behalten. In manchen Bezirken war die Sozialdemokratie geistig in der Revolution stecken geblieben, mit deren in marxistischem Sinne unvollkommenem Ergebnis sie unzufrieden war.
Um die Macht der Arbeiterklasse zu demonstrieren, sprengten die Sozialisten verschiedentlich Versammlungen und Kundgebungen der Gegenseite. Diese ging immer mehr dazu über, sich ihr Recht durch Beschaffung und auch Gebrauch von Waffen zu sichern. Es kam öfters zu Schießereien, bei denen die Sozialisten meist größere Verluste davon trugen, da sie innerlich doch nicht auf die Anwendung von Waffengewalt eingestellt waren. In den darauffolgenden Gerichtsverhandlungen war es in der Regel kaum möglich, den Tatbestand zu rekonstruieren und eine ihm entsprechende Strafe zuzumessen. Immer ergab sich ein Anlaß zu überreizter Polemik in der Presse. Die Unzufriedenheit mit einem solchen LIrteil — es lautete auf Freispruch, während man wenigstens mit geringfügigen Strafen wegen Notwehrüberschreitung gerechnet hatte — führte zu der spontanen Revolte vom 15. Juli 1927, bei der der Wiener Justizpalast in Flammen aufging. Die Führer der Sozialdemokratie hatten damit nichts zu tun. Mittelbar hatte ein nicht ohne Ethos, bei der damals überhitzten Stimmung vieler Arbeiter aber doch etwas leichtsinnig geschriebener Leitartikel in der „Arbeiter-Zeitung“ die Entzündung bewirkt. Polizeipräsident Schober sah keinen anderen Ausweg als den Schießbefehl. Nach ein paar Tagen war der Aufstand im Blut von 90 Toten erstickt. Der 15. Juli 1927 ist einer der schwärzesten Tage in der Geschichte der Republik Österreich. Nach den blutigen Erfahrungen jener Tage fehlte es zwar nicht an Stimmen in beiden Lagern, die eine allgemeine Entwaffnung und die Beteiligung der SP an der Staatsgewalt wünschten, aber die diesbezüglichen Verhandlungen scheiterten immer wieder an dem oben geschilderten Mißtrauen.
Der 15. Juli wurde auch der eigentliche Geburtstag der Heim-wehren, die nun über die Rivalität der einzelnen Landesführer hinweg organisatorisch zusammengefaßt wurden und in den folgenden Jahren ihre Blütezeit erlebten. Die Heimwehr umfaßte damals in ihren Doppelreihen Angehörige aller Gruppen der von Seipel zusammengehaltenen antimarxistischen Front. Diese Einigkeit nur im Negativen war auch die Schwäche der Heimwehr, die zeit ihres Bestehens niemals zu tieferem geistigen Zusammenhalt gelangte. Als der von den Heim-wehren anfangs gestützte Bundeskanzler Schober ihre auf einen Staatsstreich zielenden Tendenzen offen ablehnte und in treuer Beobachtung der Verfassung eine Gesundung des Parlamentarismus und die Hebung der Staatsautorität anstrebte, wandten die Heimwehrführer ihre Blicke nach Italien, von wo sie künftig politische und materielle Unterstützung erhielten. Gleichzeitig wurde der Heimwehr die von O. Spann an der Universität zu Wien vorgetragene neuromantische Lehre vom ständischen Staat als Ideologie aufgepfropft, die in den Doppelreihen nie richtig Fuß zu fassen vermochte. Dieses auch im „Korneuburger Eid“ vom 11. Mai 1927 enthaltene Bekenntnis zum Ständestaat führte naturgemäß sogar zu inneren Auseinandersetzungen, da ja beträchtliche Gruppen der Heimwehr sich der parlamentarischen Demokratie verpflichtet und vereidigt fühlten. Nach außen hin traten diese Streitigkeiten durch einen Wechsel in der Führung in Erscheinung. Fürst Starhemberg, damals der Hitlerbewegung nach seinem eigenen Geständnis sehr nahestehend, trat an die Stelle Dr. Steidle’s. Nachdem er in der nur kurzfristig amtierenden Verlegenheitsregierung Vaugoin den Posten des Innenministers bekleidet hatte, stellte er für die Herbstwahlen 1930 eigene Listen auf. Die acht errungenen Sitze waren keine imponierende Ausbeute. Maßlosigkeit und Richtunglosigkeit der unter dem -Vorzeichen des Antimarxismus erstarkten Bewegung haben aber so viel zur Zersplitterung des bürgerlichen Lagers beigetragen, daß die Sozialdemokraten erstmals wieder die stärkste Partei im Nationalrat wurden.
Der kläglich mißlungene Versuch eines Staatsstreiches im darauffolgenden Jahr bewies den unwiderruflichen Niedergang der Heimwehr. Starhemberg hatte sich als Innenminister kompromittiert, der Stabschef Major Pabst, der einst am Kapp-Putsch mitgewirkt hatte, war von Schober ausgewiesen worden. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Heimwehr gerade auf Grund der von ihr bekämpften demokratischen Spielregeln wieder zu politischem Gewicht und zur Beteiligung an der Regierung kam, weil Dollfuß nur mit ihrer Hilfe gegen die Opposition der Großdeutschen und der Sozialdemokraten die spärliche Mehrheit von einer Stimme für eine erneut notwendige Genfer Anleihe erreichen konnte.
Inzwischen hatte sich nämlich die Wirtschaftslage wieder einmal verschlechtert. Im Sommer 1931 war die Creditanstalt, das letzte aus der .
Monarchie stammende Geldinstitut, zusammengebrochen. Der Krach zeigte Auswirkungen selbst auf ausländische Währungen. Seipels Ver-such, in der höchsten Bedrängnis des Staates eine Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten zu bilden, schlg fehl. Er galt als „zu starker Mann“. So wurde Österreich von neuem als europäisches Wirtschaftsproblem zur Diskussion gestellt. Der Plan der Wiederherstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes an der Donau wird international erörtert, scheitert aber an dem Protektionismus der Nachfolgestaaten und den in diesem Raum einander widerstrebenden Interessen der Großmächte. Die nach kurzen Intervallen immer wieder hervorgebrechende Not radikalisierte allmählich die Bevölkerung und brachte die bisher stabilen innerpolitischen Fronten in Bewegung. Vor allem gärte es im nationalen Lager. Um einen Stimmeneinbruch durch die die Unzufriedenheit radikal ausnützenden Nationalsozialisten zu verhindern, beschlossen die Großdeutschen bei nächster Gelegenheit aus der Regierung auszuscheiden. Auch die Christlichsozialen waren des Druckes, den die kleine Gruppe der Großdeutschen dauernd auf ihre Politik ausübte, müde. So kommt es schließlich 1932 zum Bruch der zehnjährigen christlichsozialen-großdeutschen Koalition.
Die Radikalisierung ergriff in diesen Jahren alle drei Lager. In jeder Partei war die liberale Komponente im Schwinden begriffen. Die Anschlußfreunde gingen immer mehr ins Lager der Nationalsozialisten über, die den gordischen Knoten der verwickelten Situation einfach zu durchhauen versprachen. Skeptiker oder Gegner des Anschlusses betrachteten umgekehrt die Anschlußfreunde immer mehr einfach als Staatsfeinde. Nachdem die Nationalsozialisten engere Kontakte zu ihrer Bruderpartei im „Reich“ herstellten, suchten die Großdeutschen die Anlehnung an die Deutschnationalen im Reich, deren Beispiel der Harzburger Front sie in Österreich nachahmen wollten. Landtagswahlen in fünf Bundesländern brachten im April 19 32 einen Stimmenzuwachs der Nationalsozialisten, auf Kosten der Großdeutschen, des Landbundes und des Heimatblocks. Die Christlichsozialen erlebten in Wien eine empfindliche Einbuße. Im Gegensatz zu den Alpenländern war das aber hier nicht so sehr nationalen Bestrebungen zuzuschreiben, sondern in erster Linie der wirtschaftlichen Unzufriedenheit. Trotzdem löste das Wahlergebnis bei den Christlichsozialen einen solchen Schock aus, daß sie zweimal eine Verschiebung der Nationalratswahlen auf einen günstigeren Termin durchsetzten. Die Ereignisse gingen schließlich über die Frage des Wahltermins hinweg. In den Jahren nach der Lahmlegung des Parlamentes, in denen es um die Selbständigkeit des österreichischen Staates ging, hat man daher keinen Überblick mehr gewinnen können, ein wie großer Teil der Bevölkerung hinter der Regierung stand oder überhaupt die Sache des Staates zu vertreten bereit war.
Die Regierung Dollfuß
Dollfuß'Berufung zum Bundeskanzler bedeutete einen Generationen-wechsel bei den Christlichsozialen. Die Persönlichkeiten, die ihr politisches Profil noch in der alten Monarchie gewonnen hatten und für die der Parlamentarismus eine Selbstverständlichkeit geworden war, traten allmählich ab. Sie werden abgelöst von meist ehemaligen Frontoffizieren des Weltkrieges, die vielfach aus der katholischen Akademikerschaft, dem CV, hervorgegangen waren. Sie sind beseelt von den Ideen Seipel’s und der Spann-Schule, zum Teil auch von Mißtrauen gegen die ältere Generation der christlich-sozialen Parlamentarier erfüllt. Eine ähnliche Kluft zwischen den Generationen hatte sich auch schon bei den „Nationalen“ aufgetan, die die Jugend zum großen Teil an die Nationalsozialisten verloren.
Dollfuß besaß einen respekteinflößenden persönlichen Mut, war ein gewandter und energischer Mann, der in manch ausweglos erscheinenden Situationen aber auch taktische Winkelzüge nicht verschmähte. Um seine Genfer Anleihe im Nationalrat durchzubringen, war er genötigt, die Verbindung mit der von ihm wenig geachteten Heimwehr einzugehen. Die Sozialdemokraten stießen sich bei der Anleihe vor allem an der Kontrolle durch das Ausland, die „Nationalen“ an der erneuten Anerkennung der Genfer Protokolle, die ja das Anschlußverbot bestätigten. Die einzige Stimme Mehrheit, von Abstimmung zu Abstimmung noch dazu fraglich, war keine tragfähige Grundlage für eine parlamentarische Regierungsweise. Da Dollfuß die Großdeutschen für eine Zusammenarbeit nicht gewinnen konnte, Präsidialkabinette nach deutschem Muster (Brüning, Papen) wegen der geringen Machtbefugnis des österreichischen Bundespräsidenten nicht möglich waren, stützte er sich auf das Kriegsermächtigungsgesetz von 1917, das damals zur Versorgung der Bevölkerung mit den lebenswichtigen Gütern erlassen worden und in den schwierigen Nachkriegsjahren sowie durch das Verfassungsübergangsgesetz von 1929 in Kraft geblieben war. Wiederholt griff Dollfuß mit autoritären Methoden durch, beispielsweise bei Streiks, die allerdings nicht immer frei von politischen Motiven waren. Immer mehr setzte man auf Regierungsseite Opposition mit Staatsfeindschaft gleich, immer mehr wuchs auf der Gegenseite und in weiten Kreisen der Bevölkerung die Erbitterung gegen die Regierung. Am 4. März hatte der Streit im Parlament über die Gültigkeit eines Stimmzettels — auf diese eine Stimme kam es wieder einmal an — die Selbstausschaltung des Parlaments zur Folge. Der Kanzler wußte es mit Geschick zu verhindern, daß der Nationalrat durch eine Notverordnung wieder handlungsfähig wurde. Dollfuß wollte vorerst Zeit gewinnen.
Inzwischen war in Deutschland Hitler an die Macht gekommen. Rückwirkungen auf den in zunehmendem Maße ferngesteuerten Nationalsozialismus in Österreich standen zu befürchten. Viele sahen die Verwirklichung des Anschlusses näher gerückt und verstanden nicht, daß der Nationalsozialismus kraft seiner geistigen Struktur dieses Problem niemals in einer die Österreicher befriedigenden Form würde lösen können. Schon stellten die Ziele und die häufigen Terroraktionen der Nationalsozialisten den Bestand des Staates in Frage. Die Regierung befand sich in einem circulus vitiosus, aus dem mit den Mitteln der „Formaldemokratie“ kaum zu entkommen war. Ein Brückenschlag nach links verbot sich, weil damit ein Abfall der Heimwehr, der „Hilfspolizei“, zu befürchten war. Mangels einer geistigen Geschlossenheit der Heimwehren und infolge der Rivalität ihrer Führer Fey und Starhemberg hatten sich ohnehin schon zahlreiche Kameraden aus den Doppelreihen den Nationalsozialisten angeschlossen.
Die treibende Kraft bei den Nationalsozialisten war der Landes-inspekteur Habicht, ein Reichsdeutscher, dessen Kompromißlosigkeit und Draufgängertum jeden Ausgleich von vornherein ausschlossen. Die Terroraktionen riefen wieder den Gegendruck der Regierung hervor.
Als eine Reihe diesbezüglicher Notverordnungen durch die Justiz angefochten wurden, schaltete die Regierung den Verfassungsgerichtshof aus, wodurch sie bei vielen Staatsbürgern, die am Rechtsstaat festhalten wollten, weiter an Kredit verlor. Als infolge der nationalsozialistischen Gewalttätigkeiten auch Menschenleben zu beklagen waren, verbot die Regierung die nationalsozialistische Partei. Hitler beantwortete das Verbot mit der „Tausend Mark-Sperre“, wonach jeder Reichsdeutsche für die Ausreise nach Österreich 1000 RM bezahlen mußte, ein empfindlicher Schlag für den österreichischen Fremdenverkehr. Umgekehrt gingen hauptsächlich aus den Alpenländern, wo die Unzufriedenheit rasch wuchs und auch die Bauern erfaßte, zahlreiche junge Österreicher, die sich in der Illegalität etwas zuschulden kommen ließen, nach Deutschland. Hier wurden sie in Bayern militärisch ausgebildet und zur „österreichischen Legion“ zusammengefaßt. Längere Zeit hindurch war ein bewaffneter Einfall nach Österreich zu befürchten. Die Propaganda des Münchener Senders und zahlreiche Grenzverletzungen durch deutsche Flugzeuge, die Agitationsmaterial über Österreich abwarfen, machten die Bedrohung deutlich. Schon 1933 hatten die Sozialdemokraten den Anschlußparagraphen aus ihrem Parteiprogramm gestrichen. Jetzt erklärte sich der inzwischen aufgelöste sozialistische „Republikanische Schutzbund“ bereit, im Falle eines Angriffes bei der Landesverteidigung mitzuwirken. Infolge der Schwäche des Landes und der Verteidigungsmittel mußte sich Österreich aber vor allem eine ausländische Stütze für die Erhaltung seiner Unabhängigkeit suchen.
Dollfuß fand die außenpolitische Stütze an Mussolini, dem seine Großmachtinteressen im Donauraum höher standen als die Sympathie für den braunen Faschismus in Deutschland. Den einzigen Ertrag der Verträge von 1919 sah er ja in der „Befreiung der Donauvölker von der Herrschaft der germanischen Rasse“. Seine Unterstützung für Hitler beschränkte sich vorläufig auf die Forderung nach Gleichberechtigung Deutschlands in der Abrüstungsfrage. Österreich erhielt von Italien im Falle offener Bedrohung Waffenhilfe zugesagt. Damit trat die Bedrohung durch die Legion zurück. Durch diese Abmachung von Riccione war aber Dollfuß im Innern der Brückenschlag nach links endgültig versperrt. Er mußte sich nämlich Mussolini gegenüber verpflichten, einen Neuaufbau des Staates auf berufsständischer Grundlage herbeizuführen, was Dollfuß nach seinen Erfahrungen mit der demokratischen Maschinerie nicht sehr widerstrebte. Durch den persönlichen Kontakt zwischen Dollfuß und Mussolini war Mussolinis Unterstützung der Heimwehr nicht mehr sicher genug. Ihre von faschistischen Ideen beseelten Führer Fey und Starhemberg suchten deshalb Fühlung zu den Nationalsozialisten, auch zu Abgesandten Hitlers zu halten. Dollfuß seinerseits begegnete dieser Gefahr, indem er sehr geschickt die hoffnungslos verfeindeten Fey und Starhemberg gegeneinander ausspielte und ebenfalls den Kontakt zu den „Nationalen“ suchte, was ihm durch die Gewaltaktionen der „Hakenkreuzler" äußerst schwer gemacht wurde. Von der Heimwehr und von der Regierung wurden im Spätherbst 193 3 vielfach Geheimverhandlungen mit Deutschland angesponnen. Dollfuß wollte die Zweigleisigkeit der deutschen Politk — einerseits das einigermaßen korrekte Verhalten der Reichsregierung, andererseits die von der Partei in München gelenkte Politik der 5. Kolonne — ausnutzen und die österreichischen Nationalsozialisten nach Möglichkeit auf Abmachungen mit der Reichsregierung festlegen.
Im Januar 1934 erklärte nun Mussolini die Selbständigkeit Österreichs nur noch nach der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und dem Aufbau einer faschistischen Staatsverfassung nach italienischem Muster garantieren zu können. Auch die Heimwehr drängte in dieser Richtung. Aber Dollfuß, der schon oft schnell und überraschend gehandelt hatte, zögerte. Im Herbst 193 3 war auf dem SP-Parteitag der Gedanke laut geworden, sich den Frieden mit der Regierung zu erkaufen, indem man sich ihr zum Kampf gegen den Nationalsozialismus zur Verfügung stellte. Die von. Dollfuß erhobenen Gegenforderungen aber gingen den Sozialistenführern zu weit. Sie hätten praktisch das Ende der Partei bedeuten können. Der Kanzler stand von innen und außen unter Druck und so unterblieb ein großer politischer Entschluß, der vielleicht eine Stabilisierung im Innern hätte herbeiführen können. Die Heimwehr wünschte schon lange die Auflösung der SP.
Am 11. Februar erklärte Fey, daß die Heimwehr am nächsten Tage losschlagen und „ganze Arbeit leisten“ werde. Das Signal zum offenen Kampf gab jedoch am nächsten Tage der Führer des Linzer Schutz-bundes, als Polizei das Parteilokal nach Waffen durchsuchen wollte.
Der Angriff des Schutzbundes erfolgte gegen den Willen des Partei-vorstandes. Rasch zündete der Funke auch auf andere Gegenden über.
Obwohl sich der Kampf im Rahmen begrenzter Teilaktionen hielt und Bundesheer, Polizei und Gendarmerie bald wieder Herr der Lage wurden, waren 321 Tote zu beklagen. Das Mißtrauen, das schon Ende der 20er Jahre eine Entwaffnung beider Lager verhindert und in den letzten Jahren zu einem förmlichen Wettrüsten geführt hatte, hatte furchtbare Früchte getragen. Neben den Nationalsozialisten befanden sich nun auch die Sozialdemokraten in der Illegalität. Die anfängliche Befürchtung, daß größere Teile der Arbeiterschaft sich mit den Nationalsozialisten verbünden würden, wurde nicht Wirklichkeit. Entgegen den Wünschen der Heimwehr nützte Dollfuß den Sieg nicht über das Verbot der SP hinaus. Er bemühte sich sogar, die Arbeiterschaft zu gewinnen, wofür er freilich nicht die passenden Mittel und Wege fand.
Habicht hatte nach Beendigung der Kämpfe von München aus Verhandlungen angeboten, sich bei Dollfuß aber eine Abfuhr geholt.
Der Versuch des Ständestaates Nach langwierigen Verhandlungen vor allem mit der Heimwehr trat am 1. Mai 1934 die abgeänderte Verfassung in Kraft, wonach die bisherige „Herrschaft der Parteien“ durch eine autoritäre Regierungweise ersetzt wurde. Berufsständische Körperschaften sollten eine beratende Funktion ausüben. Aus diesen „Räten“ wurde das Plenum des Bundestages beschickt, das die Gesetzesvorschläge nur annehmen oder ablehnen konnte. Debatten gab es keine. Nur im Punkt des Budgets war die Kompetenz des Bundestages erweitert. Ein Initiativantrag fehlte völlig. Ohne Zweifel hätte auf dieser Grundlage, Ruhe im Innern und Sicherheit von außen vorausgesetzt, bei gutem Willen und Vertrauen aller Beteiligten, sich eine „ständische Demokratie“ entwickeln können. In der verfahrenen Situation Östereichs aber blieb der Aufbau des Stände-staates in den Anfängen stecken und trug nur noch zur Erhöhung der vorhandenen Spannungen bei. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kam es nicht einmal mehr zur Konstituierung der Berufsstände, die ja die Voraussetzung für ein Funktionieren der korporativen Verfassung gewesen wären.
Die Ständeideologie stammt nicht von Dollfuß, so sehr sie seinem politischen Fühlen und seinen Erfahrungen auch entgegenkam. Die Abneigung gegen den Parteienstaat war im damaligen Europa auch nicht auf Österreich beschränkt. Man denke nur an die verschiedenen Versuche die Exekutive stark zu machen, die man damals mit verschiedenem Erfolg in Italien, Ungarn, Polen, Jugoslawien, Portugal und in Deutschland (Präsidialkabinette) unternahm. Auch in Österreich hatten politische Praxis und Theorie seit einem Jahrzehnt den Weg für den autoritären Staat geebnet. In der Praxis war dies geschehen durch die Angst vor der Klassendiktatur (Linzer Programm der SP !), durch die Verhärtung der innenpolitischen Fronten, durch das Scheitern von Regierungen an der Parteien-Arithmetik, schließlich durch die kaum abreißende Folge der Bankenkrache, die das Vertrauen der Bevölkerung auch in das kapitalistische Wirtschaftssystem erschütterten. So verloren bei den Christlichsozialen die Anhänger des Parlamentarismus immer mehr an Einfluß, zugunsten der „Wiener Richtung“, deren kämpferische Einstellung durch den inzwischen verstorbenen Seipel repräsentiert worden war. In diesen Kreisen waren Geistesströmungen aus der politischen Romantik und von den Sozialreformen am Ende des 19. Jahrhunderts stammende Ideen noch lebendig. Hinzu kam in Wien die von Othmar Spann an der Universität vertretene neuromantische Staatslehre, die bei den wenig erfreulichen Verhältnissen Österreichs in der akademischen Jugend auf einen günstigen Boden fallen mußte, so weit diese den Glauben an eine bessere Zukunft nicht aus dem Sozialismus bezog. Die Verbreitung dieser Lehre wurde noch dadurch gefördert, daß man in antimarxistisch eingestellten Kreisen des Bürgertums bestrebt war, dem Marxismus eine eigene positive Ideologie entgegenzustellen. Die Spann-Schule wirkte sowohl auf die gemäßigt-nationale Richtung in der Heimwehr als auch auf die katholisch-konservative Studentenschaft. Im katholischen Lager erhoffte man sich vom „organisch aufgebauten Ständestaat“ zugleich eine Sicherung gegen die Allmacht des Staates. Für die Katholiken war diese Staatslehre ein „Streben nach der Mitte“. Andere wieder empfanden die „Formaldemokratie“ als eine Idee des Westens, der 1918 die jahrhunderte alte politische Organisation des Donauraumes zerstört hatte, ohne an ihre Stelle etwas Besseres oder wenigstens Gleichwertiges setzen zu können.
Der Putsch vom 25. Juli 1934 Hitler glaubte im Frühjahr 1934 noch, daß Österreich von innen her „reif“ werden würde. Habicht hatte ihn dahingehend informiert. Dementsprechend arbeiteten die Nationalsozialisten seit Mai wieder mit schweren Sprengstoffanschlägen, die den Fremdenverkehr zum Erliegen bringen sollten. Gegenmaßnahmen der Regierung waren unausbleiblich, hatten aber die verhängnisvolle Nebenwirkung, daß sie auch die Anhänger des Rechtsstaates immer mehr mit der Regierung entzweiten.
Die „Anhaltelager“ füllten sich, die Legion in München erhielt neuen Zulauf. Dollfuß suchte den Ausgleich mit dem nationalen Lager, kam aber zu keinem Ergebnis, weil der braune Radikalismus die Gegenseite beherrschte. Am 25. Juli, ein Beauftragter Dollfuß'befand sich gerade auf der Reise nach Deutschland, um die Möglichkeiten eines Modus vivendi zu sondieren, erfolgte der Handstreich auf das Bundeskanzleramt und das Wiener Funkhaus, in dessen Verlauf Dollfuß ermordet wurde. Der von München aus gelenkte Putsch mißlang, in kurzem war die Regierung wieder Herr der Lage. Die heftigsten Kämpfe hatte es in Steiermark und dem angrenzenden Oberösterreich gegeben. Von Anschluß war wegen der außenpolitischen Lage nirgends die Rede. Mussolini hatte nämlich seine schnellen Truppen bereits in Richtung Brenner verlegt. Das Mißlingen des Putsches hatte einen völligen Kurswechsel in Hitlers Österreichpolitik zur Folge'. Noch vor wenigen Wochen hatte Hitler bei seiner Zusammenkunft mit Mussolini in Venedig beteuert, ‘die Unabhängigkeit Österreichs zu beachten, damit aber auch den Wunsch nach einer „Normalisierung der inneren Verhältnisse Österreichs“ verbunden. Die vergangenen zwei Jahrzehnte haben uns in zahlreichen Beispielen gelehrt, was solche Worte in der diplomatischen Sprache totalitärer Regierungschefs bedeuten. Nach dem Scheitern der Revolutionierungspläne entschied Hitler sich für den Weg der Evolution. Habicht, der bisher freie Hand gehabt hatte, wurde abgesetzt, der Vizekanzler Papen als Sonderbotschafter nach Wien geschickt.
Erdrutsch im nationalen Lager
Vor dem Eintritt in den letzten Lebensabschnitt der Republik ist ein kurzer Blick auf die Entwicklung im nationalen Lager in der Zeit von 1930 bis 1934 angebracht. In diesen Jahren nämlich gelang es den Nationalsozialisten, den größten Teil des nationalen Lagers aufzurollen.
Der Nationalsozialismus in Österreich war in seinen Anfängen ein eigenständiges Gewächs. Er trat bis zum Ende der 20er Jahre im politischen Kräfteverhältnis so gut wie nicht in Erscheinung. Vorläufig war in ihm auch der Schönerer-Komplex schwächer ausgebildet als in Hitlers reichsdeutscher Bewegung. Der erste Führer der „Deutschen nationalsozialistischen Arbeiterpartei“ in Österreich, Dr. W. Riehl, war im Industriegebiet von Wiener-Neustadt ausgewachsen und kam von der Sozialdemokratie her. Erst das Erlebnis des Nationalitätenkampfes während seiner Amtszeit in Reichenberg führte ihn zu der Verbindung von Sozialismus und Nationalismus. Die Embleme seiner Partei waren Hammer und Eichenlaub, zu denen 1920 noch das Hakenkreuz kam, das Hitler nebst der Parteibezeichnung übernahm. Zwischen 1920 und 1922 kamen die ersten Kontakte zu Hitlers Münchner Bewegung zustande. Das führte schon 1923 zur ersten Spaltung in Östereich. Riehl nannte seine Gruppe nunmehr „Deutschsozialer Verein“. 193 3 wurde er von dem Landesinspekteur Habicht ganz aus der Partei ausgeschlossen, weil er gegen den sich ausbreitenden Radikalismus in der Partei opponierte. Es ist ein Charakteristikum des-österreichischen Nationalsozialismus, daß sich seine qualifizierteren Köpfe, nach Riehl beispielsweise Seiß-Inquart oder der Wiener Gauleiter Frauenfeld — damit ist die Reihe ohnehin fast abgeschlossen — sich in der Partei nicht durchsetzen konnten. In der Hauptsache herrschten die aus der radikalen Splittergruppe hervorgegangenen, teilweise fragwürdigen Existenzen, deren politische Weisheit sich nicht selten im Schönererkomplex, einem anarchistischen Eintreten für den Anschluß und in Sprengstoffanschlägen erschöpfte. Diese Leute brachten es meist nicht fertig, den Idealismus der jüngeren Generation für positivere Ziele einzusetzen. Als sich ihnen 1936 die Gelegenheit zu sachlicher Mitarbeit in der Regierung bot, mußten sie sich schließlich mit der Benennung der bei den Radikalen nicht beliebten Glaise Horstenau und Guido Schmidt einverstanden erklären. Zwei Gruppen von LIrsachen waren für das verhältnismäßig rasche Eindringen des Nationalsozialismus in das nationale Lager maßgebend.
Zuerst sind ähnliche Gründe zu nennen, die auch in Deutschland den Aufstieg des Nationalsozialismus wesentlich begünstigt haben, der aus den Verträgen von 1919 wachsende Revisionismus, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, verschiedene Mängel der demokratischen Parteien und des Parlamentarismus, Mängel, die unter den vorhandenen Umständen freilich kaum vermeidbar waren, ferner die nur sehr zögernd und dann oft mit übertriebenem Mißtrauen gewährte Hilfe des Auslandes für die demokratischen Regierungen (Zollunion). Im Falle Österreichs traten zu den genannten noch spezielle Gründe hinzu: Das Erlebnis des Nationalitätenkampfes und des Grenzlandkampfes vor und nach 1918, der im Zeitalter des Nationalismus auch bei den anderen Völkern vorhandene „Irredenta-Komplex“, die damit verbundene Sehnsucht nach dem Reich und dessen Verherrlichung. Nach Hitlers Machtergreifung und dem darauf folgenden, in seiner Struktur nicht durchschauten wirtschaftlichen Aufschwung im Reich — auch die Anziehungskraft des höheren Lebensstandards ist nicht zu übersehen — trat noch die Abstammung Hitlers aus Österreich hinzu, desgleichen die Wirksamkeit verschiedener von Schönerer übernommener Gedanken in der im Reiche herrschenden Ideologie.
Die in den dreißiger Jahren auf der Höhe ihres Lebens stehende Generation hatte noch die Nationalitätenkämpfe erlebt. Die Akademiker dieser Jahrgänge waren während ihrer Studentenzeit mehr oder minder in den Bannkreis Schönerers gekommen. In der Praxis des Lebens hatten sie sich wohl zum größten Teil von dieser Sturm-und Drangperiode distanziert. Als aber jetzt die Söhne die alten, längst abgelegten Ideen frischgebacken wieder ins Haus brachten, erlebte so mancher seine zweite politische Jugend. Der Einbruch in das Lager der Großdeutschen wurde auch erleichtert, weil die Partei sich in ihrer zehn jährigen Regierungsbeteiligung abgenutzt hatte, mit allem gegen den Staat und die Regierung gerichteten Odium belastet war und ihre meist aus Beamten bestehende, wenig hervortretende Führerschaft getreu ihrer Tradition als Diener des Staates das Interesse des Staates fast immer über das der Partei gestellt hatte.
Während also der Nationalsozialismus das Stimmenreservoir der Großdeutschen, der nationalen Richtung in der Heimwehr und später auch noch des Landbundes nahezu völlig aufsaugen konnte, gelang ihm bei den beiden anderen politischen Gruppen kein Einbruch, sondern nur ein Ankratzen der Randschichten. Die Christlichsozialen hatten sich mit dem Fortschreiten der Hitlerbewegung im Reich vom Anschlußgedanken völlig abgewandt, ebenso die Sozialdemokraten. Lediglich Leute, die „grundsätzlich“ antimarxistisch oder „grundsätzlich“ antiklerikal eingestellt waren, wurden aus diesen beiden Lagern vom braunen Sog erfaßt. Der mißglückte Juli-Putsch und die darauf folgende Desavoierung der Sprengstoffpolitik durch Hitler hob wieder die Bedeutung der gemäßigt nationalen Gruppen. Die geistig bedeutendste unter ihnen waren die „Katholisch-Nationalen“. Diese'intellektuelle Elite suchte eine Verbindung des von Herder und der Romantik stammenden Volkstumsgedankens, des Nationalerlebnisses im ersten Weltkrieg und im späteren Grenzlandkampf, mit der alten universalistischen Reichsidee und den Traditionen der Habsburger-Monarchie. Auf diesem Ideengut fußend, sollte eine auf den nationalen Einheiten beruhende übernationale Ordnung entstehen und die Völker in sich nach dem Gedanken von der „organischen Volksordnung“ ständisch gegliedert sein. Die „Katholisch-Nationalen“ zählten viele Professoren der Wiener Universität in ihren Reihen. Wissenschaftlicher Positivismus hatte sich hier mit katholischem Unversalismus und dem romantischen Organismusgedanken verbunden. Die „Katholisch-Nationalen lehnten die Parteien ab. Das Feld ihrer politischen Betätigung war in erster Linie der „Deutschösterreichische Volksbund“, eine überparteiliche nationale Organisation. In ihm spielte auch der aus Iglau in Mähren stammende Rechtsanwalt Dr. Seiss-Inquart eine Rolle. Bei der großen Spannweite der katholisch-nationalen Konzeption waren selbstverständlich Brucken sowohl zu den Christlichsozialen als auch zu den übrigen nationalen Gruppen vorhanden. Einen Einfluß auf die Massen konnten die Katholisch-Nationalen in den Jahren der Radikalisierung natürlich nicht gewinnen.
Schuschniggs Bemühungen nach innen und außen
Es war eine böse Überraschung für die österreichischen Nationalsozialisten, daß das Reich die Aufnahme der Putschisten verweigerte. Dieser augenfällige Beweis für den Kurswechsel in Hitlers Österreichpolitik und die von der österreichischen Regierung ergriffenen Repressalien, durch die fast der ganze illegale Parteiapparat zerschlagen wurde, bewirkten eine leichte Dämmerung selbst in den Köpfen des radikalen Flügels der österreichischen Nationalsozialisten. Verschiedentlich trat nun bei ihnen das in der Hitze des illegalen Machtkampfes vergessene Heimatgefühl wieder hervor. Gemäßigte Elemente, die die Eigenständigkeit des österreichischen Nationalsozialismus vertraten, konnten es jetzt wagen, Friedensfühler auszustrecken.
Schuschnigg, der neue Bundeskanzler, wollte ebenfalls die Fäden weiterknüpfen, die Dollfuß kurz vor seiner Ermordung noch angesponnen hatte, um zu einem Frieden in dem seit Jahren latenten, von Zeit zu Zeit offen aufflackernden Bürgerkrieg zu kommen. Mangelnde „Gefolgschaftstreue“ der radikalen Nazis und ihre Versuche, den nun vielleicht zum Zuge kommenden gemäßigten Flügel ihrer Partei zu unterwandern, erschwerten von Anfang an eine Einigung. Auf Seiten der Regierung hemmte Schuschniggs ständeideologische Fiktion, daß es nämlich in Österreich keine Parteien oder parteiähnliche Gebilde als Widerspiegelung der nun einmal vorhandenen verschiedenen politischen Lager, sondern nur die „Vaterländische Front“ geben dürfe, die Verhandlungen. Wie es so häufig auch auf internationalen Konferenzen geschieht, war man sich hier im Grundsätzlichen einig, während sich in den Details unüberbrückbare Differenzen ergaben. In diesem Falle bestanden die Details in dem Wunsche nach einer stufenweise zu erlassenden Amnestie, der Rückkehr der Emigranten und der Zulassung einer eigenen nationalen Wehrformation. So mißlang es, die Nationalsozialisten tätig und verantwortlich in den Staat einzugliedern.
Nicht viel erfolgreicher gestalteten sich die Bemühungen um einen dauerhaften Ausgleich mit der ihrer meisten Führer beraubten sozialdemokratischen Arbeiterschaft. Schon Seipel hatte eine tiefgefühlte Abneigung gegen das Proletariat als Kollektivum, nicht gegen den Arbeiter selbst, die sich auch auf seine Nachfolger und die „Wiener Richtung“ innerhalb der Christlichsozialen vererbte, hinter Dollfuß war das Mißtrauen schier ins Grenzenlose gewachsen. Bei Schuschnigg kam noch das Fehlen von jeglicher Popularität hinzu, das zum Teil in der durch die Ungunst der Ereignisse geförderten Abnutzung des Begriffes „Regierung“, zum Teil in seinem Charakter begründet war. Schuschnigg war zäh, bedächtig, ein unermüdlicher und systematischer Arbeiter, der Politik am liebsten im engsten Kreise machte. Die Herstellung eines lebendigen Kontaktes zu breiteren Bevölkerungsschichten lag ihm nicht.
Ein beachtlicher innenpolitischer Erfolg war immerhin die Kaltstellung Starhembergs, den er sich anfangs als Innenminister hatte gefallen lassen müssen. Im übrigen war es schon eine große Beruhigung, daß nach dem mißlungenen Putsch vom Juli 1934 die nationalsozialistischen Gewaltanschläge aufhörten und die illegale Tätigkeit sich „bloß“ noch auf Propaganda erstreckte. Niemand aber gab sich der Illusion hin, daß Österreich damit schon gerettet sei. Hitler hatte ausländischen Diplomaten gegenüber offen bekundet, daß der Anschluß Österreichs eines seiner außenpolitischen Ziele sei. Schuschnigg mußte sich gegen derartige Pläne eine Rückendeckung im Auslande suchen. Mit Deklarationen des Interesses an Österreichs Unabhängigkeit, wie sie von den Westmächten wiederholt abgegeben wurden, war nach 1934 Österreichs Bestand nicht mehr gesichert. Schuschnigg setzte den bereits von Dollfuß eingeschlagenen italienischen Kurs fort.
Die Anlehnung an Italien Italiens Bestrebungen im Donauraum kamen den Wünschen Österreichs entgegen. Dollfuß hatte Mussolini gegenüber bereits Pläne einer wirtschaftlichen Annäherung der Donaustaaten geäußert. Mussolini seinerseits sah in der wirtschaftlichen Annäherung Italiens, Österreichs und Ungarns einen Schachzug gegen die Kleine Entente.
Vor allem aber war der italienische Diktator an dem Durchmarsch-recht durch Kärnten im Konfliktfalle mit Jugoslawien interessiert, was
Schuschnigg aber nicht zusagte. Dem Bundeskanzler genügte es, daß er im August 1934 in Florenz Italiens Garantie der österreichischen Selbständigkeit zugesagt bekam. Ein allgemeiner Nichteinmischungspakt zugunsten Österreichs, den 193 5 Frankreich und Italien anregten, kam nicht zustande. Die Staaten der Kleinen Entente, besonders Jugoslawien», betrachteten eine eventuelle Restauration der Habsburger in Österreich als Grund zur Einmischung mit allen Mitteln. Tatsächlich war die legitimistische Propaganda in Östererich damals sehr lebhaft. Schuschnigg selbst war Monarchist, Anhänger der alten Mitteleuropa-Idee. Er vertrat aber die Frage der Staatsform als eine rein innerösterreichische Angelegenheit, da Österreich sich in keinem Vertrage, auch nicht 1919, international festgelegt hatte.
. Schuschnigg war auch an den Bemühungen, eine kleinösterreichische Monarchie unter Otto von Habsburg zu begründen, nicht unbeteiligt. Die Restaurationsbestrebungen erleichterten damals die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Belgrad. Von hier ging auch der Haupt-widerstand aus, als Schuschnigg wegen der äußeren Bedrohung die Streichung der militärischen Klauseln von St. Germain anstrebte. Besser gestaltete sich das Verhältnis zur Tschechoslowakei. Mit Ausnahme der Restaurationsfrage fand Schuschnigg viel Verständnis bei dem Ministerpräsidenten Hodza, der einst dem Reformkreis des Thronfolgers Franz Ferdinand angehört hatte. Auch die Tschechoslowakei fühlte sich trotz ihrer ausgezeichneten Rüstung damals schon unsicher.
1935 geraten die machtpolitischen Gewichte in Europa nach einer eineinhalb Jahrzehnte bestehenden Stabilität wieder in Bewegung. Deutschland kündigt die militärischen Abmachungen von Versailles. Rußland tritt in den Völkerbund ein und meldet damit nach achtzehn Jahren wieder seine Stimme im europäischen Konzert an. Im April erklären England, Frankreich und Italien sich noch einmal an der Unabhängigkeit Österreichs interessiert. Hitlers Reichstagsrede kurz darauf ist deshalb vorsichtig gehalten. Im Herbst aber bricht Mussolini aus der westlichen Front auch außenpolitisch aus und beginnt sein Abenteuer in Abessinien. Österreich konnte sich wegen seiner Anlehnung an Italien nicht gut an den Sanktionen beteiligen. Daß es aber bei der Abstimmung im Völkerbünde auch noch seine Sympathie für Italien bekundete, verstimmte die Westmächte sehr.
Im März 1936 besetzt Hitler die entmilitarisierte Zone im Westen, ohne von Frankreich wirksam daran gehindert zu werden. Darauf verkündet die österreichische Regierung am 1. April die allgemeine Bundes-dienstpflicht. Man hatte in Wien bereits eingesehen, daß man im Ernstfall wahrscheinlich allein stehen würde.
Modus vivendi mit Deutschland?
Seit Italien sich in Afrika engagiert hatte, war ein tatkräftiges Eintreten von seiner Seite für die österreichische Integrität mehr als fraglich geworden. Überdies mehrten sich die Anzeichen einer italienisch-deutschen Annäherung. So erheischte die außenpolitische und die wirtschaftliche Lage Österreichs immer mehr eine Verständigung mit der Reichsregierung. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war das „Juli-Abkommen“ von 1936, in Form und dem überwiegenden Inhalt nach ein Nichteinmischungspakt, in dem Deutschland, nicht mit Freude, sondern der Not der Situation gehorchend, die Selbständigkeit Österreichs feierlich anerkannte. AIs entscheidend aber entpuppte sich der Artikel IX b, in dem sich der österreichische Regierungschef verpflichten mußte, Vertreter der „nationalen Opposition“, die sein Vertrauen genossen, in die Regierung zu bestellen. Damit wai die Nichteinmischung praktisch aufgehoben. Den längeren Hebel bei diesem Vertrage hatte Hitler in der Hand. Schuschniggs Hoffnung, damit den Illegalen in Österreich den Wind aus den Segeln genommen zu haben, erfüllte sich nicht. Neben den äußerlich korrekten Beziehungen der Reichsregierung zu Österreich wünschte Hitler dennoch den Fortbestand des illegalen Parteiapparates, der infolge der im Vertrage festgelegten Amnestie auch bald wieder anwuchs. Einer Abordnung österreichischer Parteifunktionäre sagte Hitler schon fünf Tage nach Abschluß des Vertrages, daß nur die Umstände ihn zu diesem Vertrage gezwungen hätten. Aufgabe seiner österreichischen Anhänger sei es, nun Disziplin zu wahren, er brauche noch zwei Jahre Zeit. Im übrigen lieh er ihnen weiterhin finanzielle Unterstützung.
Schuschnigg nahm aus dem nationalen Lager Dr. Glaise-Horstenau, den Direktor des Kriegsarchivs, und Dr. Guido Schmidt in das Kabinett. Beide waren gemäßigte Männer und im wesentlichen daran interessiert, daß nach der Anlehnung an Italien nun wieder der deutsche Weg beschritten wurde.
Dem Außenminister des „deutschen Weges“, Guido Schmidt, wurde 1947 in Wien ein großer Hochverratsprozeß gemacht. Nach Prüfung aller Geheimbriefe, Geheimakten, Zeugenaussagen und unveröffentlichten Dokumenten kam das Gericht zu dem Urteil, daß bei den damaligen Machtverhältnissen in Europa keine andere Außenpolitik mehr möglich war.
In Schuschnigg selbst lebte noch die alte „Reichsidee“, er war also Großdeutscher im Sinne der Zeit vor 1866, der sich geistig und kulturell eng mit den übrigen deutschen Stämmen verbunden fühlte. Es war auch sein Ehrgeiz, die christlich-humanistische Tradition des deutschen Geisteslebens nach ihrer gewaltsamen Abwertung im „Reich“ in Österreich zu bewahren.
Schuschnigg versuchte auch nach dem Juli-Abkommen noch die Hilfe anderer europäischer Mächte für Österreich zu gewinnen. Das Ergebnis dieser Bemühungen aber war die traurige Erkenntnis, daß von keiner Seite auf zuverlässige Hilfe zu rechnen war. England war nur noch daran interessiert, daß eine Veränderung des Status Österreichs sich ohne Erschütterungen vollzog, Jugoslawien, aus der Kleinen Entente ausgebrochen, hielt sich mehr auf die Seite Deutschlands. Deutschland bemühte sich bei Italien um freie Hand für Österreich. Der „Duce“ war darüber ungehalten, wußte aber keinen wirksamen Gegenzug. Seit dem Herbst 1937 wich Italien langsam zurück. In Österreich wurde das Wort geprägt, die Achse Berlin-Rom sei der Spieß, an dem Österreich braun gebraten werde. Und das Feuer unter dem Bratspieß brannte immer mächtiger. Papen plante schon lange eine persönliche Begegnung zwischen Hitler und Schuschnigg. Nachdem Hitler die Wehrmachtführung von den ihm widerstrebenden Männern „gesäubert“ hatte, fand am 12. Februar die Begegnung in Berchtesgaden statt. Um für die Verhandlungen ein Angebot in der Tasche zu haben, hatte der österreichische Kanzler mit Seiss-Inquart die weitere Teilnahme von gemäßigten Nationalsozialisten in Regierung und öffentlichen Körperschaften vereinbart. Es ging ihm selbstverständlich dabei auch um den inneren Frieden und die Ausschaltung der illegalen Partei. Hitlers Ton bei den Verhandlungen aber entsprach dem Überlegenheitsgefühl, das ihm seine Divisionen verliehen. Der Vertrag ging über die Punktationen mit Seiss-Inquart hinaus. Dieser nämlich sollte zum Sicherheitsminister ernannt, alle verurteilten Nationalsozialisten freigelassen werden. Dem Bundespräsidenten Miklas, dessen Zustimmung sich Schuschnigg vorbehalten hatte, fiel die Zustimmung unendlich schwer. „Ersäufen und erwürgen lassen wir uns nicht,“ meinte der Kanzler. Auch der Öffentlichkeit bemächtigte sich tiefe Niedergeschlagenheit. Die Nationalsozialisten aber triumphierten und veranstalteten zahlreiche Freudendemonstrationen, gegen die die Regierung wegen der zu befürchtenden Repressalien Deutschlands nicht einzuschreiten wagte.
Die letzte Runde Die Nationalsozialisten durften nun fest mit der Legalisierung ihrer Partei rechnen. Aber auch die Sozialisten rechneten mit dem Ende ihrer illegalen Zeit. Die Regierung würde in ihrer Bedrängnis die Hilfe der sozialistischen Arbeiterschaft benötigen, diese dafür die Gewährung ihrer vollen demokratischen Rechte einhandeln. Zwischen Vertretern der früheren und der nunmehrigen legalen „ständischen“ Gewerkschaften waren schon lange Zeit Besprechungen geführt worden. Die Lage Österreichs nach außen und die der Regierung Schuschniggs im Innern war verzweifelt. Seiss-Inquart bemühte sich zwar loyal zu bleiben und erklärte dies am 17. Februar auch Hitler.
Der britische Außenminister Eden war eben gestürzt, eine Hilfe Italiens in der gegenwärtigen Situation nicht zu erwarten, wenn auch Mussolini noch gegen den Anschluß eingestellt war. In Frankreich wurde der Gedanke einer Volksabstimmung laut, eine überraschende Wendung, da gerade Frankreich bis vor kurzem eine Volksabstimmung als Vertragsbruch bezeichnet hatte. Der englische Botschafter in Berlin, Henderson, konferierte am 3. März mit Hitler über den Vorschlag einer Volksabstimmung, erhielt aber eine ausweichende Antwort.
Der bedachtsame österreichische Kanzler war seit dem 12. Februar etwas nervös geworden. Er setzte für den 13. März eine Volksabstimmung an. Durch den Verrat einer Sekretärin erfuhr Hitler davon schon einige Stunden vor der öffentlichen Bekanntgabe. Erst glaubte er nicht daran. Als eine Rede Schuschniggs die Nachricht aber bestätigte, war Hitler empört. Hitler hatte geglaubt, daß Ton und Lautstärke seiner Verhandlungsweise in Berchtesgaden, durch die dauernde demonstrative Anwesenheit einiger Generäle im Hintergrund noch unterstützt, seinen Verhandlungs, partner" eingeschüchtert hätten. Schuschnigg war tatsächlich eingeschüchtert. Die Volksabstimmung war ein Verzweiflungsakt und sicherlich ein Fehler, der aber den Ablauf der Dinge nicht bestimmt, sondern höchstens beschleunigt hat.
Das Zentralkomitee der „illegalen Sozialisten“ hatte, begreiflicherweise nur schweren Herzens, die Parole ausgegeben, für die Unabhängigkeit zu stimmen. Es machte aber nicht den besten demokratischen Eindruck, daß nur ungenügende Vorkehrungen für die freie und geheime Durchführung der Wahl gegeben wurden und das Wahlalter auf 24 Jahre festgesetzt war, um die größtenteils vom nationalen Rausch erfaßte Jugend von der Abstimmung fernzuhalten. Außerdem war auch die Frage auf den Stimmzetteln etwas verfänglich gestellt. Im nationalen Lager stiftete der Entschluß zur Abstimmung einige Verwirrung. Hitler befürchtete, wie er auch gegenüber Glaise-Horstenau äußerte, eine Niederlage bei der Abstimmung und damit eine nachhaltige Verzögerung in der Verfolgung seiner Absichten und einen beträchtlichen Prestigeverlust. In Wien war es in diesen Tagen kaum möglich, einen ruhigen Kopf zu behalten. Österreichs Lage glich der des Kaninchens vor der Schlange. Aber auch die Schlange in Berlin wurde in diesen Tagen unsicher. Ein sonst bei Hitler nicht gewohntes Zögern ist unverkennbar. Beim Einmarsch der deutschen Truppen verrieten Mängel in der Organisation und in der Truppenführung den Improvisationscharakter der Aktion. Die größte Entschlossenheit in Berlin zeigte Göring, den man als den Hauptmotor jener Tage bezeichnen kann. Glaise-Horstenau weilte damals in Deutschland. Er wurde nach Berlin beordert und beauftragt, zusammen mit Seiss-Inquart eine Verschiebung der Abstimmung bei Schuschnigg zu verlangen. Dieser war zuerst unbeugsam; als die beiden nationalen Minister mit Rücktritt drohten, gab er nach, um einem Einmarsch deutscher Truppen zu entgehen. Nun packte Göring zu. Er verlangte den Rücktritt der Regierung und die Bildung eines nationalsozialistischen Mehrheitskabinetts unter Seiss-Inquart, widrigenfalls der Einmarschbefehl erteilt würde.
Die Nachrichten aus den europäischen Hauptstädten waren deprimierend. Frankreich hatte keine Regierung und machte seine Haltung von der Englands abhängig. In London wollte man keine Ratschläge erteilen, für deren Folgen man keine Garantie übernehmen könne. Auch das italienische Außenministerium wußte keinen Rat. Mussolini riet der Witwe Dollfuß’, ihre Kinder in die Schweiz zu bringen. Einen Befehl zu militärischem Widerstand hätte niemand in Österreich verantworten können. Schuschnigg blieb nur noch der Rücktritt. Damit lag die Entscheidung beim Bundespräsidenten. Undurchsichtige und widersprechende Nachrichten wirkten in Wien und Berlin bald verzögernd, bald beschleunigend auf die Entschlüsse. Göring wollte Seiss-Inquart veranlassen, telegrafisch deutsche Truppen anzufordern, weil in Österreich Unruhen ausgebrochen seien. Seiss-Inquart lehnte dies ab. Während in Wien noch erbittert um die Regierungsbildung verhandelt wurde, erhielten SA und SS die Weisung, in den Ländern die Macht zu ergreifen. Desgleichen wurde auch der Einmarschbefehl erteilt.
Schließlich sandte man das Telegramm um Truppenhilfe ab, nicht durch Seiss-Inquart, sondern durch den SS-Führer Keppler, der per Sonder-flugzeug gekommen war, um ein neues Ultimatum zu stellen. Eine Stunde bevor das Telegramm in Berlin eintraf, war der Einmarschbefehl durchgegeben worden. Das Telegramm kam aber noch rechtzeitig, um als erwünschtes Alibi gegenüber dem Ausland Verwendung zu finden.
„Ostmark"
Die nach außen hin einmütig erscheinenden Freudenkundgebungen beim Einmarsch der deutschen Truppen kamen im Grunde aus sehr verschiedenen Motiven. Am leichtesten verständlich war die Begeisterung bei den illegalen Nationalsozialisten. Andere freuten sich über die endgültige Lösung all der Spannungen, die seit Jahren wie ein Alpdruck über dem Lande gelegen hatten, oder über den Rücktritt der wenig beliebten Regierung Schuschnigg. Am weitesten verbreitet war wohl die Freude über das Ende der Bestimmungen von St. Germain, die ein Großteil der Österreicher stets als Unrecht und als Benachteiligung gegenüber den Nachbarn empfunden hatte. Nun waren endlich die Fesseln des zu engen Raumes gesprengt, man würde wieder einer Großmacht angehören und deren Schutz genießen, eine in den vergangenen Jahrzehnten unterbrochene tausendjährige politische Lebensgemeinschaft würde nun neu geknüpft werden und wie in der Vergangenheit neue Früchte tragen. Wien, jahrhundertelang die Kaiserstadt des alten Reiches, dessen Insignien noch in der Hofburg aufbewahrt wurden, würde wieder zu Deutschland gehören. Viele meinten auch in einem etwas frivolen Leichtsinn, daß es mit dem Nationalsozialismus nicht so schlimm sein würde, wie manche Skeptiker befürchteten. Arglose Optimisten glaubten, daß die ehrwürdige Tradition der österreichischen Geschichte, die weitgehend auch Reichsgeschichte war, verschiedene Auswüchse des Nationalsozialismus zu mildern imstande wäre und auch zur Milderung mancher Praktiken des Nationalsozialismus im „Altreich" beitragen könnte. Neben diesen standen natürlich auch jene, die wirtschaftliche Vorteile und eine Hebung des allgemeinen Lebensstandards erwarteten, die Arbeitslosen, Geschäftsleute und Wirtschaftskreise. Schlimmer als bisher könne es doch nicht werden, sagten viele, die sich nun von dem dauernden Druck der Nachkriegsjahre erleichtert fühlten. Es wurde schlimmer. Schon wenige Tage nach dem Einmarsch der Truppen wurden allein in Wien durch die Gestapo, die dort noch vor den Soldaten eingetroffen war, 69 OOO Personen verhaftet. (Die Zahl nach dem Oxforder Historiker Allan Bullock: Hitler, a study of tyranny.) Wie meist die „weltgeschichtlichen Augenblicke", so war auch die Gründung „Großdeutschlands“ begleitet von den ungehörten Seufzern in den Gefängnissen. Viele führende Männer der ersten Republik hatten im Vertrauen auf ihre rechtliche Unschuld nicht an Flucht gedacht, die nachher nur noch wenigen glückte. Viele sahen das „Dritte Reich“ nur aus der Perspektive des Stacheldrahtes, unter ihnen auch Schuschnigg. Viele kamen in den Konzentrationslagern um. Hitler wollte aus außenpolitischen Rücksichten Österreich vorläufig noch nicht völlig in das Reich eingliedern. Die Haltung des Auslandes und die Begeisterung seiner Landsleute, die mehr der „Wiedervereinigung“ als seinem Regime galt, beseitigten seine Bedenken. Die Volksabstimmung vom 10. April hätte aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne die Anwesenheit deutscher Truppen und bei korrekter Stimmenauszählung eine Mehrheit für den Anschluß ergeben, denn auch zu diesem Zeitpunkt war der großdeutsche Überschwang noch nicht völlig abgeklungen, wenn die Bedenken gegen das Regime auch sehr rasch im Wachsen begriffen waren. Allzu harte Kritiker der Begeisterung auf Seiten der Österreicher mögen bedenken, daß der Anschluß Österreichs auch beträchtliche Kreise im Altreich bewog, ihre Einstellung zu Hitler wenigstens zeitweilig zu revidieren. Der Traum von 1848 schien nun wenigstens in seinem nationalen Inhalt erreicht. Die Frühlingsatmosphäre der Märztage erfuhr durch den politischen Alltag eine baldige Abkühlung. Es wirkte sich zwar bei der Verwaltungs-und Rechts-angleichung noch segensreich aus, man einen höheren Teil daß der Beamtenschaft ins „Dritte Reich“ übernahm; daneben aber erregte die Tätigkeit der Parteistellen bald wachsenden LInwillen in allen Kreisen der Bevölkerung. Selbst manche Illegale waren über den Unterschied
zwischen ihrer Idee und der Wirklichkeit des Nationalsozialismus tief enttäuscht.
Seiss-Inquart hatte wenig zu sagen. Die maßgebende Person in Österreich war nun der „Reichskommissar“ Gauleiter Bürckel, der eine endlose Reihe ungebildeter Funktionäre und wenig befähigter Beamter in das von einer hochkultivierten Bevölkerung bewohnte Land zog. Die Einstellung vieler Österreicher zu den „Reichsdeutschen" während des Krieges und in dem Chaos von 1945 ist zum großen Teil als eine Reaktion auf das Verhalten jener ebenso kümmerlichen wie überheblichen Repräsentanten des „Reichsdeutschtums" zu verstehen.
Österreich wurde zum Experimentierfeld verschiedener nationalsozialistischer Ideen. Die später auch für das übrige Reich vorgesehene Identität von Verwaltung und Partei trieb man hier am weitesten voran.
Hand in Hand damit ging das Bestreben, jede Erinnerung an das alte Österreich auszulöschen. Lind dabei hätte ein Anknüpfen an manche aus der alten, in Österreich noch am lebendigsten erhaltenen Reichs-tradition stammende Elemente viel zur Konsolidierung des „Großdeutschen Reiches“ beitragen können, aber der Ausgleich zwischen Schönerer und der Reichsidee, der in großösterreichischem und nach 1918 in kleinösterreichischem Rahmen unterblieben war, fand auch in „Großdeutschland“ nicht statt.
Ehemalige gemäßigt nationale Österreicher, die den Anschluß zwar mit Einschränkung, aber dennoch aus vollem Herzen begrüßt hatten, mußten bald einsehen, welche Verhöhnung eines echten Reichsgedankens die Wirklichkeit des „Dritten Reiches“ war, und wandten sich enttäuscht ab. Sie spielten dann in verschiedenen Widerstandsgruppen oft führende Rollen. Besonders böses Blut machte in Österreich der „Verkauf der Südtiroler. Viele gaben wohl zu, daß die Rückkehr der Süd-tiroler damals nicht möglich war, waren aber um so ungehaltener darüber, daß Hitler den Bemühungen der Südtiroler um ihr gutes Recht die Grundlage entzog und eine „Endlösung“ anstrebte, die jeden späteren Rechtsanspruch beseitigt hätte. So bildeten sich in Nordtirol, wo der Anschlußgedanke der natürlichen Gegebenheiten wegen seit 1918 mit am stärksten gewesen war, die ersten aktiven Widerstandsgruppen
Die Männer des 20. Juli hatten vor ihrem Putschversuch auch Verbindung zu österreichischen Widerstandskreisen ausgenommen. Sie glaubten, daß Österreich nach Hitlers Sturz unter Gewährung weitgehender Autonomie bei Deutschland verbleiben wolle. So hatten sie Schuschnigg als Reichserziehungsminister vorgesehen. Die meisten österreichischen Widerstandskämpfer aber wollten die staatliche Selbständigkeit. Die Meinung der Alliierten über Österreichs Zukunft war lange Zeit nicht einhellig. Churchill wollte es gerne mit einem süddeutschen Staatenbund vereinigen. Schließlich setzte sich aber Stalin mit dem Gedanken eines selbständigen Österreich durch
Österreichs Wiedergeburt
Der anfängliche Aufbau des Staates war für die Österreicher 194 5 allerdings schwieriger als 1918. Damals war man übrig geblieben, diesmal war man besetzt, anfangs durch die Russen, die als erste die österreichischen Grenzen überschritten und Wien erobert hatten, wenig später durch die vier Mächte. Kaum hatten die Russen Wien besetzt, als am 17. April christlichsoziale, sozialdemokratische und kommunistische Kreise vereint den Aufbau einer neuen Ordnung begannen.
Am 27. April verkündete die Regierung Renner das Wiedererstehen des selbständigen österreichischen Staates. Der außenpolitische und völkerrechtliche Schwebezustand, in dem sich Österreich sieben Jahre lang befunden hatte, war damit zu Ende. Hitlers Einmarsch und Anschluß waren ja eine Verletzung zahlreicher zwei-und mehrseitiger Verträge gewesen, deren Kündigung oder Auflösung von den anderen Partnern nicht in allen Fällen anerkannt worden war. Mit der Konstituierung einer Regierung in Wien war der Bestand Österreichs freilich noch nicht gesichert. Das weitverbreitete Chaos und die Teilung in Besatzungszonen deckte sich bei weitem nicht mit der formalen Deklaration Renners. Auch jetzt zögerten die Länder wieder mit der Anerkennung der provisorischen Regierung, diesmal aber nicht aus irgendwelchen Anschluß-oder Selbständigkeitstendenzen, sondern aus Sorge darüber, ob die Regierung in Wien dem Druck der russischen Besatzung standhalten könnte. Anfang Oktober aber war die Wiener Regierung in ganz Österreich anerkannt.
Das heutige Österreich Die unter dem Nationalsozialismus erlittenen Opfer und Leiden, die Versuche alles Österreichische, sogar den Namen, auszulöschen, ließen in Österreich ein über Geschichts-und Stammesbewußtsein hinausreichendes Staatsbewußtsein wachsen, das zwischen den Weltkriegen weithin nicht vorhanden gewesen war. Anstelle der Resignation in der ersten Republik steht heute ein gesundes Selbstvertrauen, ohne daß dadurch Charme und Liebenswürdigkeit verschwunden wären. Diesen Eindruck gewinnt man bei einer Reise durch die österreichischen Provinzen, in der LInterhaltung mit verantwortlichen Männern und nicht zuletzt bei der Begegnung mit Wien, die jeden in Erstaunen versetzt, der die Stimmung der „übriggebliebenen Hauptstadt“ zwischen den Kriegen gekannt hat.
Auch innenpolitisch haben die Österreicher aus früheren Fehlern gelernt. Zwar hat die Dreiteilung auch, den Nationalsozialismus und den zweiten Weltkrieg überdauert, aber die politischen Lager haben doch einige schwerwiegende Wandlungen erfahren. Die schlimmen Erfahrungen mit dem Totalitarismus begünstigten überall das Wiederaufleben liberaler Tendenzen. Die Ideologie ist bei der österreichischen Volkspartei, der Nachfolgerin der Christlichsozialen, ebenso zurückgetreten wie bei den Sozialdemokraten. Außerdem unterscheidet sich die heutige SPÖ von ihrer früheren Struktur durch eine deutliche Abgrenzung nach links. Daß damit eine im Vergleich zur ersten Republik stärkere Stellung der Kommunisten verbunden ist, ist kein Anlaß zur Sorge. Nach dem Verbot der SP im Jahre 1934 gelang es nämlich den Kommunisten, einen Teil der linksradikalen Elemente der Sozialdemokratie an sich zu ziehen, darunter auch E. Fischer, der nach 1945 der intellektuelle Führer der Kommunisten Wurde. Durch das gleichzeitige Eindringen in verschiedene „überparteiliche" Organisationen mit meist sozialistischer Anhängerschaft konnten sie sich einen immerhin so starken Stimmen-anhang verschaffen, daß sie bei den Wahlen ein Grundmandat und damit die Vertretung im Nationalrat gewannen, was ihnen in der ersten Republik niemals gelungen war. Das Abwandern der linksradikalen Elemente schuf aber gleichzeitig günstigere Vorbedingungen für die Koalition mit der ÖVP.
Das „nationale“ Lager ist heute so gut wie zerfallen. Der vorübergehende Wahlerfolg des VdU (Verband der Unabhängigen) der bei den Herbstwahlen 1949 16 Mandate errang, kam nicht durch eine etwaige Stärke des „nationalen Gedankens" zustande, sondern war in erster Linie auf die Ausnahmegesetzgebung gegen die ehemaligen Nationalsozialisten zurückzuführen, die hier zum letzten Male von außen her in einer „Notgemeinschaft" zusammengefaßt waren. Wie früher das nationale Lager, so war auch der VdLI von Anfang an in verschiedene Gruppen gespalten. Mit dem Wegfall der Ausnahmegesetzgebung verlor er weiter schnell an Zusammenhalt. 195 3 erlitt er einen empfindlichen Stimmenverlust zugunsten der großen Parteien, die beide hier die einzige Möglichkeit eines Stimmenzuwachses entdeckt hatten.
Österreichs Weg seit 1945 war in mancher Beziehung leichter, in vielen aber auch härter als nach 1918. Daß er zu stabileren Verhältnissen als damals geführt hat, ist neben der amerikanischen Hilfe dem heute sehr entschiedenen Staatsbewußtsein zu danken. Der „Proporz“, wie die paritätische Besetzung der Ämter mit ÖVP-und SPÖ-Leuten kurz genannt wird, wird zwar viel kritisiert und bewitzelt, doch weiß kein Kritiker des Proporz-Systems ein Rezept, wie Österreich bei der nahezu gleichen Stärke der beiden großen Parteien besser zu regieren wäre. Daß die Koalition nun schon zehn Jahre lang gehalten hat, stellt beiden Parteien ein gutes Zeugnis aus. Hiebei gilt es zu bedenken, daß — vergröbert ausgedrückt — auf der einen Seite des Regierungstisches Leute sitzen, welche die auf der anderen Seite Sitzenden zwischen 1934 und 1938 eingesperrt hatten.
Der Anschlußgedanke ist heute so gut wie tot, auch in der schwachen und zerplitterten Mittelgruppe, die man als Rest und Nachfolgerin des nationalen Lagers betrachten darf. Man wünscht hier nur enge kulturelle Beziehungen zu Deutschland und unterscheidet sich damit nicht viel von den beiden Regierungsparteien, die ja beide Österreich dem deutschsprachigen Kulturraum zurechnen. Bei der künstlerischen Begabung der Österreicher ist zu erwarten, daß sie die Palette der deutschen Kultur in Zukunft ebenso maßgeblich bereichern werden, wie das in der Vergangenheit immer der Fall war.
In der Außenpolitik ist Österreich um ein gutes Verhältnis zu allen Nachbarstaaten bemüht. Ein wunder Punkt ist dabei die Südtiroler Frage, in der man eine echte Kulturautonomie für die deutschsprachige Bevölkerung Süditrols erreichen möchte. Daneben erwachsen aus der Grenzlage gegen den sowjetischen Machtbereich vielfältige Schwierigkeiten und Aufgaben.
Die österreichische Neutralität Nach dem Abzug der Besatzungstruppen wurde im Ausland die österreichische Neutralität vielfach mißverstanden. Die einen sahen in ihr eine aufgezwungene Neutralisierung, gewissermaßen eine völkerrechtliche Einschränkung der Souveränität, die andern mit einem schon etwas vorwurfsvollen Unterton einen selbstauferlegten Neutralismus ode» gar eine bewußte Distanzierung vom Westen.
Unbestritten ist die österreichische Neutralität mit der Kaufpreis für die Freiheit. Sie besteht in dem Verzicht auf militärische Bündnisse. Die österreichische Diplomatie, die nach Stalins Tode mit großem psychologischem Geschick und zäher Geduld einige Risse in der Moskauer Außenpolitik zu nützen verstand, vermochte aber die Festlegung der Neutralität im Staatsvertrag zu vermeiden. Im Gegensatz zur Neutralität der Schweiz ist die Neutralität Österreichs nicht in einem multilateralen völkerrechtlichen Vertragssystem festgelegt, sondern sie ist ein innerstaatlicher Willensakt, österreichisches Verfassungsgesetz. Eine, theoretisch durchaus mögliche, freiwillige Aufhebung (durch Zweidrittel-Mehrheit) wäre keine Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages. Die Unterzeichner des Staatsvertrages garantieren nur die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität Österreichs. Im Gegensatz zur absoluten Neutralität der Schweiz ist also die Österreichs relativ, vor allem auch infolge der Mitgliedschaft Österreichs bei den Vereinten Nationen. Die Satzung der Vereinten Nationen verpflichtet ihre Mitglieder, bei der Bekämpfung von Angriffsaktionen mitzuwirken.
Öster-
reich darf sich weder der direkten noch der indirekten Unterstützung eines Angreifers schuldig machen, beispielsweise durch die Verweigerung des Durchmarschrechtes für die zur Bekämpfung des Friedensstörers aufgebotenen Truppen der Vereinten Nationen. Hierbei ist auch der geschichtliche Vorrang von Österreichs Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen zu bedenken.
Die ersten Schritte dazu hat Österreich nämlich bereits im Jahre 1947 unternommen und in der Präambel des Staatsvertrages haben sich die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, Österreichs Aufnahme in die Gemeinschaft der Vereinten Nationen zu unterstützen. Damit hat auch die Sowjetunion die etwas komplizierte Bereichsabgrenzung zwischen Neutralität und Verpflichtung zu kollektiver Abwehr nach der Satzung der Vereinten Nationen anerkannt.
Österreichs Innenpolitik war zwischen beiden Weltkriegen zum Aktionsfeld der einander konkurrierenden außenpolitischen Interessen Italiens, Deutschlands und der Kleinen Entente geworden. Ohne allen Zweifel kommt seine jetzige Neutralität einem ohnehin allgemein menschlichen, in diesem Falle durch Erfahrungen aber noch gesteigertem Ruhebedürfnis entgegen. Der innere Schwerpunkt Österreichs aber liegt, im Gegensatz zu manch anderem Neutralen, einwandfrei im
Westen, kraft seiner Geschichte, kraft seiner Kultur im privaten und öffentlichen Bereich. So war auch Österreichs Beitritt zum Europarat eine Frage, die vom Volke eigentlich schon während der Besatzungszeit entschieden worden war. Österreich ist ein kleines und an materiellen Machtmitteln schwaches Land auf dem internationalen Schachbrett, ein Umstand, der übrigens wesentlich zu seinem großen außenpolitischen Erfolg von 195 5 beigetragen hat. Ungleich höher aber sollte man es in seiner geistigen Potenz und deren Auswirkung auf dem Felde der europäischen Politik einschätzen, und zwar nicht nur für das Europa diesseits des Eisernen Vorhangs.
Anmerkung:
Rudoll Renkl, geb. 15. 5. 23, Dr. phil., Geschichte öffentl. Recht, Freier Publizist.