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Trost im Trostlosen | APuZ 52/1956 | bpb.de

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APuZ 52/1956 Der Friede der Welt Trost im Trostlosen Nicht gestern, Freund, morgen!

Trost im Trostlosen

Manfred Hausmann

verändert? Aber eine Änderung ist überhaupt nicht zu erwarten, wenn sie nicht in einzelnen plötzlich geschieht, wie der Sturz des Paulus vom Pferde, wie im Abb Saint-Pierre, dem sein Reiseunfall Stoff und Zeit zum Nachdenken schenkt. Wenn der Krieg im Kriege nicht aufhöre, woher dann Friede kommen solle, hat Schiller gefragt. Nun, der Krieg hat im Kriege nicht aufgehört. Aber in gewisser Weise haben wir ja noch Krieg: das heißt, wir können noch immer versuchen, ihn in uns und vom Menschen zum Menschen zu beenden. Voraussetzung im Innern ist soziale Gerechtigkeit, die Achtung vor einer jeden reifen Überzeugung, die Würdigung der Arbeit und jeder echten Leistung.

Der deutsche Buchhändler, der deutsche Schriftsteller sind dem Geistesleben eines Volks verpflichtet, das, wider Willen geteilt, sich auf den Brückenköpfen der abgerissenen Brücke gegenübersteht. Es gibt ohne Zweifel noch viele nicht genutzte Möglichkeiten, der drohenden geistigen Entfremdung und Sprachentzweiung entgegenzuwirken. Zum mindesten auf privatem Wege könnte und muß sehr viel mehr geschehen, wie auch die geistige Isolierung und drohende Stagnation West-Berlins vom einzelnen noch viel ernster genommen werden müßte. Das ist nicht Sache der Regierungen allein, sondern eben eines jeden.

Freilich ist es wahr: Friede als solcher ist nicht der höchste Wert; sittlich-personale, geistige, religiöse Werte sind ihm übergeordnet. Friede aber als geschichtliche Darstellung glaubensstarker Liebe zu Gott, der Menschheit und aller Kreatur könnte wohl der höchste Wert sein. Wir sind hier nicht weit vom Grabe Arthur Schopenhauers, und heute ist der 23. September, der Tag, an dem vor vierundneunzig Jahren der Tote im Schmuck eines Lorbeerkranzes hier zur Leichen-kammer getragen wurde. Er war übrigens mit Kant der Meinung, daß man einen jeden Krieg mit einem Bußtag beschließen müßte. Er hat Liebe als Mitleid definiert, und was das Kreatürliche angeht, so hat er recht. Wir haben Grund zu einem grenzenlosen Mitleid mit der gegenwärtigen Welt und aller Kreatur.

Unsere Aufgabe ist: durch unser ganzes Sein und Wirken eine nach Tyrannis strebende Ideologie, eine höchst unzureichende, auf längst überholten Voraussetzungen ruhende Auffassung von Mensch und Geschichte durch eine überlegene Erkenntnis und Haltung zu beantworten. Die Antwort; finden wir leicht, und sogar in Rußland selbst, in dem Geiste, der es vor einem Jahrhundert ahnend und freilich auch irrend geführt hat: in dem, was Dostojewskij als Ergründer der Menschenseele von der ins Metaphysische reichenden Tiefe, dem Ankergrund der Menschenseele, gesagt hat: Es ist der Abgrund der Liebe und des Bösen, dem kein Programm beizukommen vermag. In diesem Sinne ist Geschichte Manifestation des Menschen, des sich wandelnden und bleibenden, in Abhängigkeit und Freiheit zwischen Himmel und Hölle.

Und mit dem letzten Wort komme ich abschließend zu dem Königsberger Lehrer der Völker zurück — wie sehr wünschte man, daß er unser Lehrer wäre! Er hat seiner von ungeheurer Anstrengung ermüdenden Kraft ein Jahr nach Veröffentlichung der Friedensschrift ein letztes Wort vom Frieden abgerungen. Da er ihn, wie er wohl wußte, in der Welt nicht herbeiführen konnte, so versuchte er es wenigstens auf seine ironisch-gütige Weise, in der Anmut seiner Humanität, mit der Verkündung eines ewigen Friedens in der Philosophie. Hier spricht er am Ende von der Lüge, die er ausdrücklich vom Vater der Lüge, also dem Fürsten der vorhin erwähnten Hölle — aber, nach, dem Evangelium, auch der Welt — ableitet. Der Friede, sagt er, wäre nicht nur bewirkt, sondern für alle Zukunft gesichert, wenn das Gebot „Du sollst nicht lügen“ Grundsatz werden würde. Und somit bleibt einem jeden von uns das wichtigste Friedenswerk überlassen — und es steht einem jeden frei, die Resonanz zu beobachten, die das Geschehen in uns und um uns, in der ganzen Welt, im Raume solchen Ernstes, solcher Sittlichkeit hat.

Und das ist ja der Inhalt der uns von dieser Stunde auferlegten Einsicht, daß geschehen muß, was noch nie geschehen ist, wenn die Welt, die wir vor uns sehen, die wir lieben, der wir dienen möchten, gerettet werden soll.

Gedenkrede in der Feierstunde des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Plenarsaal des Bundes-hauses zu Bonn am Volkstrauertag 1956. Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages G. m. b. H., Frankfurt/Main veröffentlicht. Die Gedenkrede ist eben unter dem Titel „Trost im Trostlosen" im Verlage S. Fischer erschienen.

Wir würden den Sinn dieser Gedenkstunde nicht erfüllen, wenn wir es uns leicht machten. Leicht machen bedeutet so viel wie ausweichen. Lind gerade das dürfen wir in dieser Sache nicht. Denn, wir wollen sie ja nicht, die schlimme, Grauen und Verzweiflung bringende Sache, die um so mehr Grauen und Verzweiflung bringt, je eindringlicher wir über sie nachdenken, wir wollen sie ja nicht so lassen, wie sie ist, wir wollen vielmehr mit ihr ringen. Nicht als ob wir hoffen könnten, sie jemals zu bewältigen. Kein Mensch, der diesen Namen verdient, wird die Fragen, die das Heer der Toten aus den beiden Weltkriegen, insbesondere aus dem letzten, an ihn richtet, in der Zeit seines Lebens bewältigen. Mit der Sache ringen, heißt so viel wie: sich den Fragen der Toten, sich den stummen, drohenden und anklagenden Fragen immer wieder stellen, immer wieder dem LInbeantwortbaren eine Antwort abfordern, immer wieder im Sinnlosen einen Sinn, im Trostlosen einen Trost suchen. Wenn es uns darum zu tun ist, dann müssen wir uns ein Herz fassen und, ohne nach rechts oder links zu blicken, mitten in die Sache, mitten in die Wahrheit, mitten in die schreckliche Wahrheit der Sache hineingehen.

Gedenken wird in heutiger Zeit nur allzuoft mit Verhüllen, Vertuschen, ja geradezu mit Vergessenmachen verwechselt. Die Erinnerung soll nicht wach gehalten sondern eingeschläfert oder doch vom Eigentlichen abgelenkt werden. In bester Absicht natürlich. Man vermeint, das Los der Hinterbliebenen und aller Verstörten und Gebrochenen zu erleichtern, wenn man einen, wie man es wohl nennt, barmherzigen Schleier über das Furchtbare breitet. Und woraus ließe sich ein solcher Schleier besser weben als aus Worten? Aber es ist nicht die echte Barmherzigkeit, die so handelt, und nicht die echte, die trostvolle Erleichterung, die so gebracht wird. Unabwendbar kommt, morgen oder übermorgen, die Stunde, in der die verschleiernden Worte keinen Bestand mehr haben. Dann stellt sich die Qual nur noch qualvoller ein als zuvor. Denn im Grunde weiß jeder Mensch, der eine deutlicher, der andere dumpfer, daß die Toten diese Verschleierung nicht wollen. Sie haben ein Recht auf die ganze Wahrheit ihres Todes. Je teurer ein Mensch uns gewesen ist, um so tiefer würden wir ihn verleugnen, wenn wir uns weigerten, aus welchen Gründen auch immer, an der letzten und gewaltigsten Erschütterung seines Daseins, so wie sie wirklich war, teilzunehmen. Das getreue Gedenken setzt voraus, daß wir dem Toten auf keinen Fall etwas von dem rauben, was er erlitten hat und was zu seinem ureigenen Tode gehört. Wer das nicht beachtet, gedenkt nicht jenes Toten sondern eines Phantoms.

Als Perikies im Jahre 431 vor Christus seine berühmte Rede auf die athenischen Bürger hielt, die im Kampf gegen Sparta gefallen waren, konnte er ausrufen, er wolle, statt die Toten zu loben, den Staat und den Geist des Staates preisen, durch den die einzelnen groß seien. Und dann beschrieb er die gerechte Verfassung, den Reichtum, die heitere Lebensart, die Schönheitsliebe und den sittlichen Ernst des athenischen Staatswesens. Die beste Totenfeier, sagte er, bestünde darin, daß die Überlebenden den Männern nacheiferten, die für diesen Staat gestorben seien.

Beneidenswerter Perikies! Wie einfach, wie klar lagen die Dinge damals, und wie verworren werden sie, wenn wir uns der Gegenwart zuwenden! Es ist sehr schwer, es ist unmöglich, in einem bündigen Satz zu sagen, wofür die Soldaten in den Jahren 1939 bis 1945 ihr Leben gelassen haben. Durch eine Verkettung von besonderen Umständen wissen wir, wie den Angehörigen einer bestimmten Wehrmachtsgruppe in einer bestimmten Lage zumute war, einer beispielhaften Gruppe, die an einem fast mythisch gewordenen Brennpunkt des Krieges mit einer alles Menschenmaß übersteigenden Verbissenheit und Unerschüttertheit gekämpft hat. Die letzten Briefe, die aus dem schneesturmüberheulten, todgeweihten Stalingrad herausgeflogen wurden, durften damals denen, für die sie bestimmt waren, nicht zugestellt werden. Sie blieben aber insgesamt erhalten. Und so sind uns die Gedanken und Gefühle bekannt, die das Herz dieser Männer vor ihrem LIntergang bewegt haben. Widerspruchsvolle Gedanken, unvereinbare Gefühle. Neben der Verzweiflung das Verantwortungsbewußtsein, neben dem Zynismus das Vertrauen, neben dem Haß die Kameradschaft, neben dem haltlosen Sichfallenlassen die unaufhörliche Sorge um die Angehörigen zu Hause, neben der Kopflosigkeit das Nachsinnen über das Schicksal des Vaterlandes und des Menschengeschlechts, neben der Verfluchung aller Welt das Gebet, neben dem Trotz die Reue, neben der Gier die Zucht. Nach außen hin kämpften sie alle in einer geschlossenen Front, aber in ihrem Inneren wogten und brandeten die Gegensätze wild durcheinander. Es sieht nicht so aus, als könnten wir uns aus den Briefen eine gemeinsame Antwort auf das Wofür und Warum herauslesen. Was wir herauslesen, sind Fragen und immer nur Fragen, entsetzte oder gedankenvolle, geschriene oder geflüsterte. Der Sinn dieses Sterbens, sofern es ihn überhaupt gibt, muß in etwas bestehen, was die frierenden, blutenden, hungernden, kranken Männer nicht wußten, vielleicht deshalb nicht wußten, weil sie es noch nicht wissen konnten.

Aber die Soldaten, die im Kampf geblieben sind, geben uns nicht einmal die bedrückendsten Rätsel auf. Es hilft nichts, wir müssen auch jenen in die toten Augen zu sehen wagen, die von ihren eigenen Kameraden, nach einem Urteilsspruch oder auch ohne LIrteil, erschossen oder gehängt wurden. Auch sie gehören zu den Toten des grauenvollen Krieges. Lind es steht fest, daß unter ihnen nicht weniger waren, die furchtloser nachgedacht und mehr Courage aufgebracht haben als ihre Richter und Henker.

Lind weiter gehören zu den Toten des Krieges die Unzähligen, die hüben und drüben in Lagern oder schon auf der Fahrt dorthin jammer-voll umgekommen sind, teils durch die Schuld derer, die sie gefangen hielten, teils durch die Schuld von Mitgefangenen. Der Krieg kann die Menschen dazu bringen, einander wie Tiere zu begegnen und schlimmer noch. Immer mehr schwindet die Hoffnung, einen Sinn zu finden. Denn es sind Dinge geschehen, die sich, wir mögen sie betrachten, wie wir wollen, in nichts vom hellen Wahnsinn unterscheiden. Zu den Toten des Krieges gehören ja auch die Frauen und Kinder, die Greise und Säuglinge, die im Feuersturm der bombardierten Städte wie Fackeln verbrannt oder von den Gesteinsmassen der in sich zusammenstürzenden Häuser zerdrückt sind. Und es gehören, schauerlicher noch, wenn es denn etwas noch Schauerlicheres gibt, jene dazu, die um ihrer Gesinnung, um ihrer sauberen, aufrechten, adeligen Gesinnung, um ihres Glaubens, um ihres durchgeisteten Menschentums, um ihres Erbarmens, um ihrer politischen Haltung, um ihrer Geburt willen bedachtsam gequält, erschlagen, erschossen, enthauptet, gehängt, in Gaskammern erstickt, in Reihenöfen verglüht wurden.

Das ist das Gesicht des Krieges, der auf der einen Seite Taten von solcher Größe und Härte hat geschehen lassen, daß einem der Atem stockt, wenn man sie vernimmt, der Bewährung und Treue, Unerschrokkenheit und Leidensbereitschaft, Entschlußkraft und Einsatzwillen ins Unfaßliche gesteigert hat und der auf der anderen Seite eine Bestialität ohnegleichen, die irrseligste Schändung des Menschenbildes, die Hölle auf Erden mit sich gebracht hat.

Und das sind die Toten, die alle, Freunde wie Gegner, unter dem Wort Opfer stehen, sei es, daß sie sich, bewußt handelnd selbst geopfert haben, sei es, daß sie sich ratlos leidend, opfern ließen.

Wie seit eh und je der einzelne Tote für die, mit denen er zu seinen Lebzeiten zusammen war, eine Aufgabe bedeutet hat, so sind auch die Kriegstoten den Völkern dieser Erde, so sind ganz besonders die Toten des totalen Krieges unserem Volk als eine schwere und heilige Aufgabe aufgegeben.

Weh dem Volk, das die Aufgabe nicht erkennt und nicht anerkennt! Und weh dem Volk, das sie nicht anpackt! Vielleicht wird keinem Volk das Anpacken so schwer gemacht wie unserem. Es liegt nicht nur daran, daß wir zwei Weltkriege verloren haben — nach einem verlorenen Krieg ist die Neigung, die gebrachten Opfer für vergeblich zu halten, begreiflicherweise besonders groß — es liegt vor allem daran, daß der letzte Krieg für uns beides war, ein offener Krieg nach außen und ein versteckter Krieg nach innen. Wenn eine politische Führung so verblendet ist, den Menschen total, das heißt bis in die Mitte seines Wesens, zu beanspruchen, entstehen Spannungen von unheimlicher Wirkungskraft. Sie zerreißen nicht nur den Volkskörper, sie reißen auch den Freund vom Freunde, und zwar gleichfalls total, nämlich bis in einen gegenseitigen Vernichtungswillen hinein, sie reißen den Sohn vom Vater, die Schwester vom Bruder, den Liebenden von der Geliebten, die Ehefrau vom Ehemann. Ja, nicht selten geht der Riß mitten durch den einzelnen Menschen hindurch und vernichtet ihn. Jeder von uns weiß darum.

Unter welchem Blickwinkel wir die unheilvolle Sache auch betrachten und auf welche Weise wir sie auch angehen, es scheint immer unsinniger zu werden, nach einem Sinn zu suchen. Und doch dürfen wir uns unter keinen Umständen mit einem Achselzucken begnügen. Das hieße uns selbst aufgeben. Kein Geborenwerden, das nicht unter dem Zeichen des Sterbenmüssens stünde, kein Leben auf dieser Erde, zu dem nicht wesenhaft der Tod gehörte. Wer dem geheimnisvollen Vorhandensein des Todes nicht gewachsen ist, der ist auch dem nicht minder geheimnisvollen Vorhandensein des Lebens nicht gewachsen. Es liegt an uns, an unserer Feigheit oder Entschlossenheit, an unserer Gleichgültigkeit oder Liebe, ob das millionenfältige Opfer vergeblich war oder nicht.

In dem italienischen Film „La strada" kommt eine Szene vor, die, obwohl sie nicht besonders herausgehoben wird, das unvergeßliche Herzstück dieses Streifens ist. Ein Mädchen, halb noch ein Kind, zieht mit einem Schausteller über die Straßen Italiens. Er mißhandelt und mißachtet es in einem Maße, daß es schließlich an sich selbst verzweifelt und nicht mehr weiß, wozu es eigentlich auf der Welt ist. Da sagt ein zigeunerischer Seiltänzer zu ihm, er glaube, daß alles und jedes einen Sinn habe, auch das Allerarmseligste. Wir könnten den Sinn nicht immer, wir könnten ihn fast nie erkennen, aber es gebe ihn. Sogar das unbeachtete Steinchen hier auf der Straße sei sinnvoll. Wie von ungefähr hebt er so einen kleinen Stein auf, spielt ein bißchen Fangball damit und überreicht ihn dem Mädchen, das ihn wie einen kostbaren Schatz annimmt und behält. Lind wenn später wieder diese Augenblicke kommen, an denen es sein Dasein für sinnlos hält, dann holt es den kleinen Stein hervor und betrachtet ihn. Und dann entsteht in den grüblerischen Augen, die schon so viel wissen und noch so wenig begreifen, die Andeutung eines Lächelns.

//Friede auf Erden"

Wenn das von einem Steinchen gilt, wenn ein Steinchen das vermag, um wie unendlich viel mehr muß es für die Toten gelten, an die wir heute denken, wie unendlich viel mehr müssen sie vermögen! Vorausgesetzt allerdings, daß wir uns zu ihnen bekennen. Nicht mit allgemeinen Redensarten, wie es so oft geschieht, die an das Wesentliche überhaupt nicht herankommen, sondern in einer persönlichen Entscheidung. Es geht hier nicht um das Allgemeine, dem immer etwas Unverbindliches innewohnt, es geht vielmehr um das Besondere im Doppelsinn des Wortes, einmal um das Abgesonderte, um das Einzelne und Einmalige, und ferner um etwas Besonderes, um etwas überaus Wichtiges. Es geht hier auch nicht um das Redensartliche sondern um das Verbindliche, es geht daraum, daß wir uns verbindlich, als unmittelbar Betroffene, Erschütterte, Entschlossene, zu den Toten, zum einzelnen, dessen besonderes Schicksal uns besonders berührt, und zu allen, bekennen. In gesicherten Zeiten richtet sich das Bestreben nur allzu oft darauf, den Tod zu verklären, zu ästhetisieren, ihn mit Kränzen, Orgelspiel und poetischen Worten zu verdecken. Aber diesen Tod, diese Toten, die von Geschossen Zerfetzten, die Ertrunkenen, die Erfrorenen, die Gehenkten, die Verbrannten, die Erschlagenen, diese Toten können wir nicht mit bloßer Feierlichkeit und Poesie abtun. Wenn wir es täten, würden wir sie verraten. Und wer diese Toten verrät, verrät sich selbst. Wir ehren sie, indem wir die Bitterkeit ihres Todes ernstnehmen. Dann, aber auch nur dann, wird gerade im Dunkel der Trostlosigkeit und der Sinnlosigkeit ein Trost und ein Sinn aufzuleuchten beginnen. Wenn wir die Toten so sehen, wie sie wirklich sind, dann sehen wir auch uns, die Lebenden, so, wie wir wirklich sind. Lind dann können wir nicht umhin, ein Ende zu machen mit der bewußten oder unbewußten Heuchelei, mit dem bewußten oder unbewußten Theaterspielen, mit dem ganzen scheinhaften Wesen. Die Toten warnen uns vor uns selbst. „So ist das Bild des Menschen“, rufen sie uns zu, „so gebrochen, so schwankend zwischen Großartigkeit und Abscheulichkeit, nicht nur im Krieg sondern auch im Frieden, immer. Der Krieg verändert das Menschsein des Menschen ja nicht, er entlarvt es nur. Der Mensch ist nicht gut, der Mensch ist nicht schlecht, der Mensch ist der Mensch, erschaffen zum Bilde Gottes hin, aber abgewichen von seiner Bestimmung und einbezogen in das Walten des Nichtendenden, des Durcheinanderwerfers, des Diabolos. Davon müßt ihr ausgehen bei allen euren Entschlüssen und Handlungen. Ihr kennt den morgendlichen Glanz und die erblühte Herrlichkeit der Schöpfung, ihr kennt das unaufhörliche und unstillbare Verlangen des Menschen nach Klarheit, Geordnetheit, Frieden und Gesang. Aber ihr kennt auch die rohe, düstere, fürchterliche, von allem aufklärerischen Optimismus unberührte Vernichtungswut in Mensch und Schöpfung, ihr kennt das immer neue Unvermögen des Menschen, die Mächte des Abgrunds zu besiegen. Haltet ein auf eurem Weg, besinnt euch auf euren Llrsprung, ändert euer Selbst von Grund auf! Weicht nicht aus, weicht um Gottes willen nicht aus! Denkt an uns und weicht nicht aus! Weicht auch der letzten Frage nicht aus, die wir an euch richten, der Frage nach der Schuld! Sagt nicht, der sei schuld und das sei schuld, der Andere, das Schicksal, die Politik, die Unfähigkeit der Führenden, die anonymen Mächte, die Umstände, die Demokratie, die Diktatur, die Wirtschaft, die da oben, die da unten! Sagt das nicht! Wir beschwören euch, wir beschwören dich! Ich, der Tote, den du lieb hast, beschwöre dich, den Lebenden, den ich lieb gehabt habe: Sag nie mehr, wenn von Schuld die Rede ist: du! Sag endlich: ich! Erst wenn du das sagst, wenn du einsiehst, daß du in deinem Bereich immer wieder versagt hast, daß du dich versagt hast, erst wenn du davon bis in dein Allerinnerstes durchdrungen bist, kann mein Opfer einen Sinn haben. Denn erst dann bist du ein wirklicher Mensch geworden.“

Der wirkliche Mensch kennt keine allgemeingültigen, zu jedem Zeitpunkt anwendbaren Richtlinien für sein Tun. Er muß sich in jedem einzelnen Fall und in jedem einzelnen Augenblick neu entscheiden, auf eigene Gefahr und im Bewußtsein seiner unabdingbaren Verantwortung für das Ganze, er selbst. Der Christ nennt eine solche einsame, lebendige Entscheidung, bei der es nicht um ein Wissen sondern um ein Sein geht, eine Glaubensentscheidung, eine Entscheidung vor dem Angesicht des Höchsten.

Wenn die Toten das vermöchten, die Menschen, den einzelnen Menschen, an der Flucht in die Kollektivverantwortung, die keine echte ethische Verantwortung ist, zu hindern, ihn wieder und wieder zu unnachsichtiger Gewissenserforschung zu zwingen, ihn vor das Angesicht Gottes zu führen, nicht nur am Sonntagvormittag sondern bei allem Tun und Lassen, dann wäre ihr Sterben nicht vergeblich gewesen, auch das schrecklichste nicht. Dann brauchten wir uns auch nicht so tief zu ängstigen wie in diesen Tagen, da Kräfte, vor denen uns graut, sich wiederum anschicken, die Welt in einen blutrauchenden Abgrund zu reißen.

„Friede auf Erden“ — überall schreibt man es, ruft man es, denkt man es, hofft man es. Aber das Rufen und Hoffen muß im Leeren verhallen, wenn man sich mit diesem Satz begnügt. Die Botschaft der Engel lautete und lautet anders. Sie nennt ausdrücklich die Voraussetzung, ohne die nirgends und nie Friede sein wird: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ Nur da, wo Gott mit dem ganzen Sein des Menschen geehrt wird, kann der Friede walten. Ist es nicht, als stimmten die Toten aus der Tiefe ihrer Gräber in den Ruf ein, der aus den Himmeln herniedertönt: „Ehre sei Gott in der Höhe, auf daß die Erde den Frieden habe!“

Fussnoten

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