Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir das Buch von Alex Weissberg: „Die Geschichte von Joel Brand", erschienen bei KIEPENHEUER & WITSCH, Köln-Berlin 1956. Kürzungen erfolgten im Einverständnis mit dem Verlag.
Kampf gegen Windmühlen
Das Flugzeug machte auf dem Balkan zwei Zwischenlandungen. Grosz zeigte seine Geschicklichkeit. Er kannte jeden kleinen Beamten auf den Flugplätzen. Er hatte schon über ein dutzendmal denselben Weg gemacht. Für jeden hatte er ein kleines Geschenk oder zumindest ein paar freundliche Worte. Während des Fluges selbst las er aufmerksam einen Brief von mehreren Seiten.
„Das sind meine geheimen Instruktionen“, erklärte er wichtig, „ich muß das auswendig lernen und das Dokument vernichten.“
Er wollte nicht sagen, was drinstand. Mich interessierte es auch gar nicht. Ich dachte an meine Aufgabe. Dann zerriß er den Brief in kleine Stücke, sehr demonstrativ, damit ich davon Notiz nähme.
Am frühen Nachmittag landeten wir auf dem Flugplatz von Konstantinopel. Beim Aussteigen ließ Bandi die anderen vorgehen und schaute sich um.
„Siehst du dort das Auto vor dem Gitter, Brand? Dort stehen Barlasz und Brod.“
Chaim Barlasz war der Hauptdelegierte der Jewish Agency in Konstantinopel. Grosz kannte die beiden von seinen früheren Besuchen her. Und nun geschah etwas Seltsames. Die beiden blickten in unsere Richtung, sie mußten Grosz erkannt haben, dann stiegen sie ein und fuhren fort
Die Sache beunruhigte mich nicht. Ich dachte, ich würde die beiden im Warteraum treffen. Aber es sollte anders kommen. Niemand war im Warteraum, um mich zu begrüßen. Ich wurde nervös. Ich konnte nicht verstehen, warum niemand gekommen war. Wir hatten ja Telegramme gewechselt. Jetzt begann eine Kette merkwürdiger Ereignisse.
An der Zollschranke stellte sich nämlich heraus, daß für mich kein Visum deponiert war. Grosz sprach mit den Beamten. Er erkundigte sich nochmals, ob nicht auf den Namen Eugen Brand das Visum gegeben sei. Vergeblich. Es gab kein Visum, es gab keine Landungserlaubnis. Ich war sprachlos. Wir hatten in Budapest mehrere Telegramme aus Konstantinopel bekommen, die Einreiseerlaubnis stehe bereit. Ich hatte von Wien aus mein Pseudonym telegraphisch durchgegeben. Ich war überzeugt. Chaim Weizmann werde midi an der Spitze der Konstantinopeler Vertreter der SodtHUth hier abholen, aber es wartete kein einziger Delegierter.
Der türkische Beamte erklärte mir, ich dürfe nicht in die Stadt, ich müsse auf dem Flugplatz bleiben. Das Flugzeug würde mich in der Frühe nach Wien zurückbringen. Ich war verzweifelt. Ich sah schwarz. Was würde in Budapest geschehen? Eichmann hatte mit uns verhandelt, weil sein Nazigehirn überzeugt war, daß wir die Vertreter einer geheimen Weltmacht seien. Jetzt würde er sehen müssen, daß meine Verbindungsleute nicht einmal die Macht hatten, mir ein türkisches Visum zu besorgen. Die Reaktion der Deutschen war vorauszusehen. Sie würden mich und die ganze Waada sofort verhaften und nach Auschwitz schikken, und damit würde das Massaker der führungslos gebliebenen ungarischen Juden beginnen. Unzweifelhaft hätte man mich ohne viel Federlesens ins deutsche Machtgebiet zurückgeschickt, wenn nicht dieser ungarische Geheimagent, dieser Mensch, der uns fremd war, dieser Bandi Grosz, eingegriffen hätte. Anscheinend waren seine Beziehungen stärker als die unserer Führung. Bandi Grosz hatte es bei den Deutschen durchgesetzt, mit mir fahren zu dürfen, in der festen Absicht, nie mehr zurückzukehren, wie ich mich später überzeugte. Aus diesem Grunde hatte er seiner Frau schon damals ein Visum nach Konstantinopel besorgt und sie noch vor Einmarsch der Deutschen weggeschickt. Sie wartete hier auf ihn. Er rief sie vom Flugplatz aus telefonisch an und befahl ihr, sofort zu Machmed Bey zu fahren. Machmed Bey war der Präsident der halbstaatlichen türkischen Transportgesellschaft und hatte als solcher von jeher die besten Beziehungen zu Bandi Grosz, der in Konstantinopel immer als Direktor der ungarischen staatlichen Transportgesellschaft Ibusz aufgetreten war. Machmed Bey hatte großen Einfluß bei den Regierungsstellen in Konstantinopel. Er bürgte für mich im Innenministerium. Ein halbe Stunde später gaben mir die Türken den Eintrittsstempel. Bandi Grosz brachte mich ins Hotel Palace Pera. Er selbst nahm bei seiner Frau Quartier. Das Pera-Hotel war der Sitz der jüdischen Delegation.
Zwei Minuten nach meiner Ankunft, ich wollte gerade ins Bad, wurde die Zimmertür aufgerissen. Ein junger schlanker Mann stürzte herein und umarmte mich. „Du bist Joel, ich bin Venia. Wann bist du von Budapest weg? Wie war die Reise? Du bist mit dem Bandi Grosz zusammen gekommen? Wie geht es Otto Komoly? Was macht Kastner? Perez? Zwi Goldfarb? Ist es wahr, daß die Deportationen begonnen haben?" Ein paar Minuten später kam der Vertreter der Agudas Israel, Benjamin Griffel, ins Zimmer. Ich komme aus der sozialistischen Bewegung und sympathisiere nicht mit den Anhängern dieser orthodox-religiösen Partei. Aber Griffel machte auf mich einen guten Eindruck-Er war über alles, was bei uns vorging, gut informiert und zweifelte nicht an der Exaktheit unserer Berichte.
Die beiden erklärten mir, die ganze Waada sei versammelt. Man warte in größter Aufregung auf mein Erscheinen.
Idi wusch midi rasch und ging mit den beiden in das Büro von Chaim Barlasz, das sich im selben Stockwerk befand.
Dort war ungefähr ein Dutzend Leute versammelt. Ich übergab den Vertretern der verschiedenen Parteien und Gruppen meine Geleitbriefe. Dann gab man mir das Wort.
Ich sprach einige Stunden. Ich bin kein guter Redner, und ich war erregt. Aber diesmal sprach ich gut. Die Größe meiner Aufgabe faszinierte mich selbst, ebenso wie meine Zuhörer. Bald waren alle ergriffen. Viele weinten. Idi berichtete über das Elend und die Not. über den täglichen Schrecken. Ich erzählte von unseren Hoffnungen, ich schilderte im Detail jede Wendung unserer Verhandlungen mit den Naziführern. Schließlich kam ich zu meiner eigentlichen Mission. „Genossen, ich verstehe nicht, was ihr bisher gemacht habt. Wir haben euch vor drei Wochen telegrafiert. Ihr habt geantwortet, ich solle kommen, Chaim warte. Ich war überzeugt, es handle sich um Chaim Weizmann. Ist kein einziger Mann von der Exekutive hergekommen? Mit wem soll ich verhandeln? Habt ihr die Vollmacht, in einer solchen Sadie, von der das Schicksal von Millionen abhängt, abzuschließen? Wie soll die Sache weitergehen? Es handelt sich um Tage, es handelt sich um Stunden. Eichmann wartet nicht. Täglich werden zwölftausend in die Waggons geschleppt. Eichmann verspricht, sie in Österreich zu halten, bis ich zurückkomme, aber wer garantiert mir, daß sie nicht direkt in die Gaskammern gehen? Könnt ihr es verantworten, wenn auch nur tausend Juden mehr geschlachtet werden, nur deshalb, weil kein maßgebender Mann der Exekutive rechtzeitig in Konstantinopel eintrifft? Gebt ihr euch Rechenschaft darüber ab, worum es sich handelt?“
Die Genossen gaben keine Antwort, sondern begannen, mit südlichem Temperament, heftig gestikulierend miteinander zu streiten, und das auf hebräisch. Ich verstand kein Wort und wurde wütend. Einige Minuten wartete ich, dann fuhr ich auf:
„Genossen, ich verstehe nicht Hebräisch. Ihr könnt deutsch, englisch oder jiddisch reden. Ich muß jedem Wort folgen können. Und ich will euch eines sagen: Ich werde mich keinerlei Mehrheitsbeschlüssen fügen.
Ich fühle mich verantwortlich für die Hunderttausende, die mich geschickt haben. Es geht um deren Köpfe. Ich habe erwartet, daß ein Mann der Exekutive hier sein wird. Ich habe eine Woche Zeit. Telegrafiert, damit sofort jemand kommt. Ich selbst bin überzeugt, daß man nicht in so kurzer Zeit zu einem seriösen Abschluß kommen kann. Wir glauben nicht, daß die Engländer den Deutschen mitten im Kriege Lastautos liefern werden. Aber darauf kommt es auch nicht an. Man muß irgendeinen ernst zu nehmenden Gegenvorschlag machen, um die Verhandlungen in Fluß zu bringen. Ich will morgen bereits nach Budapest telegrafieren und Eichmann sagen lassen, daß die Sache gut steht und prinzipiell sein Angebot angenommen würde, vorausgesetzt, daß die Deportationen sofort eingestellt werden. Wenn Eichmann das tut, dann können Delegierte der Deutschen und der Sodinutlt sich irgendwo im neutralen Ausland treffen und die Sache aushandeln. Man muß keine Lastautos liefern. Man kann Lebensmittel anbieten. Letzten Endes kann man auch nur Geld bieten. Versteht ihr, worum es sich handelt, Genossen? Den Deutschen brennt der Boden unter den Füßen. Sie fühlen das Nahen der Katastrophe. Sie wollen verhandeln. Eichmann hat einen Vorschuß von hunderttausend Juden angeboten. Wißt ihr, was das heißt? Hunderttausend Juden an die spanische Grenze zu evakuieren? Den Schiffsraum zur Verfügung zu stellen, um sie in überseeische Länder zu bringen? Mit den Aufnahmeländern zu verhandeln? Das dauert sechs Monate. Wie die Dinge jetzt liegen, kann man erwarten, daß in einem halben Jahr die Deutschen bereits der Teufel geholt hat. Aber nehmen wir an, sie existieren noch länger, glaubt ihr wirklich, daß Eichmann, wenn er jetzt die Gasöfen in Auschwitz in die Luft sprengt und mit der Sodinuth offiziell verhandelt, wenn er hunderttausend ins Ausland läßt, die in der Welt verbreiten werden, was in Polen geschehen ist — glaubt ihr in der Tat, daß er nach einem halben Jahr mit der Vergasung wieder anfangen kann, nur weil man ihm keine tausend Lastautos liefert? Aber wenn alles scheitert, wenn wir den Deutschen nur versprechen, was wir nicht halten können, dann haben wir hunderttausend Menschen gerettet. Ist das wenig? Dazu kommt noch, daß unsere normale Arbeit weitergeht. Wir können die Leute arisieren, wir können sie verbunkem. Viele werden zu den Partisanen flüchten. Wir geben ihnen Zeit, Genossen. Kostbare Zeit. Jede Stunde, das sind fünfhundert vom Tode Gerettete.“
Die Genossen schwiegen. Dann erhob sich Barlasz und versuchte, mich zu beruhigen.
„Joel, wir sind alle deiner Meinung. Wir denken nur darüber nach, was der beste Weg ist."
Ich verlangte, man solle nach Jerusalem telegrafieren. Weizmann oder Mosche Shertok, der damals der Leiter der politischen Abteilung der Sodinutk war, solle kommen.
„Ich bestehe darauf, Genossen, daß ein Mann kommt, dessen Name in der Welt bekannt ist. Die Deutschen werden uns sicher hier beobachten. Ihr Geheimapparat wird sofort erfahren, wenn Weizmann oder Shertok hier eintreffen. Wenn wir auch nichts Konkretes in der kurzen Zeit meiner Anwesenheit bei den Alliierten durchsetzen können, so kann ich auf jeden Fall zurück und Eichmann sagen, die Sochnuth hätte akzeptiert. Dann wird Auschwitz in die Luft gesprengt, und die Emigration der Hunderttausend beginnt. Später wird man verhandeln. Die Sodtnuth mit den Alliierten, die Sodinuth mit den Deutschen, Vielleicht sogar alliierte Vertreter mit deutschen Vertretern, was weiß ich. Man wird andere Waren anbieten. Vielleicht nur Geld. Aber wir werden Zeit gewinnen. Jetzt brennt uns der Boden unter den Füßen. Die Deportationen müssen aufhören. Ich fühle es, Genossen, unsere Leute gehen nicht nach Österreich, sie gehen ins Gas. Lind ich bin zutiefst überzeugt, die Deutschen nehmen das Angebot ernst. Unsere Leute werden endgültig am Leben bleiben, wenn wir jetzt akzeptieren oder wenn wir nur vorgeben, daß man akzeptiert hat. Vielleicht muß ich jetzt zu einem Bluff greifen. Aber ich kann nicht bluffen, wenn kein verantwortlicher Mann da ist. Die Deutschen werden wissen, ob jemand da war, dem man zutrauen kann, daß er die Vollmacht hat, abzuschließen.“
Menachem Bader ergriff das Wort.
„Joel, die Sache läßt sich nicht so übers Knie brechen, wie du meinst. Man kann solche Sachen nicht telegrafisch erledigen. Wir sind nicht sicher, daß unsere Telegramme rechtzeitig ankommen. Wir wissen nicht, ob sie nicht verstümmelt ankommen.“
Ich griff mir an den Kopf:
„Das verstehe ich wirklich nicht. Wir in Budapest in der Untergrundbewegung waren imstande, über die Grenzen hinweg ins feindliche Ausland Verbindungen zu schaffen. Und ihr könnt hier, in der Türkei, kein Telegramm nach Jerusalem schicken, wo die Engländer sitzen, mit denen die Türkei beinahe verbündet ist?“
Es gab eine ausweichende Antwort, und mich überkam damals zum erstenmal das Gefühl, es gingen hinter den Kulissen Dinge vor, die ich nicht überblicken könne. Ich erinnerte mich in diesem Augenblick an die Direktiven, die man mir auf der letzten Sitzung unserer Waada in Budapest gegeben hatte. „Genossen, ich will euch um eines bitten, erzählt den Engländern vorläufig nichts über die Details des deutschen Angebots. Wenn es denen einfällt, sofort die Lastautos offiziell abzulehnen, dann kann ich den Eichmann nicht lange hinhalten. Aber ich wollte euch etwas fragen: Wir haben in Budapest beschlossen, mit dem amerikanischen Botschafter Steinhardt zu sprechen und ihm alles zu sagen. Steinhardt soll ein guter Jude sein. Und überhaupt ein guter Mann. Er wird seine Regierung für die Sache gewinnen können, und dann sind wir gerettet.“
Ich sah an den Mienen meiner Zuhörer, daß dieser Gedanke sie elektrisierte. Alle stimmten sofort zu.
Barlasz erklärte:
„Das ist eine Idee. Ich werde Steinhardt morgen anrufen und ihn fragen, wann er uns beide empfangen will. Steinhardt kann sehr viel machen."
Man beschloß schließlich doch, nach Jerusalem zu telegrafieren und Mosche Shertok aufzufordern zu kommen. Echud Avriel mengte sich ins Gespräch:
„Es genügt nicht, nach Jerusalem zu telegrafieren. Wir müssen einen Boten schicken. Übermorgen geht ein Zug. Venia soll fahren und soll mit Shertok zurückkommen. In der Bahn wird er ihm alles genau referieren können.“
„Das ist doch eine verlorene Woche, Genossen. Warum nimmt Venia nicht ein Flugzeug, womöglich noch heute Nacht?"
Die Genossen lächelten. „Du stellst dir das so einfach vor, Joel. Wir bekommen keins, Joel." Alle sprachen durcheinander.
„Ich verstehe euch nicht. Ich konnte bei den Deutschen ein Kurier-flugzeug durchsetzen, und ihr könnt keinen Flugzeugplatz bekommen, um nach Jerusalem zu fliegen?"
Aber da war nichts zu machen. Wir hatten in Budapest den Einfluß unserer Konstantinopeler Delegierten anscheinend bei weitem überschätzt. Der nächste Tag verging mit Einzelbesprechungen. Fast ein Dutzend Parteien und Gruppen war in Konstantinopel vertreten. Jeder einzelne hatte eine eigene politische Linie und manchmal mehrere alternativ.
Was mich erschütterte, war, daß diese Leute vor lauter Bäumen den Wald nicht sahen. Jeder nahm mich beiseite und schimpfte auf alle anderen. Das Volk werde zugrunde gehen, wenn man dem andern folge.
Wir hatten ja in Budapest auch Parteikämpfe gekannt, -aber in der Zeit letzten waren alle Differenzen zurückgetreten, angesichts der gemeinsamen Gefahr. Hier aber kämpften alle gegen alle um die Position der Parteigruppen, die sie vertraten. Sie sprachen viel von Alija Beth.
Alija Beth war das Code-Wort für die illegale Einwanderung nach Palästina. Nach dem Erscheinen des Weißbuches der Engländer, das die Einwanderung so sehr einschränkte, hatten unsere Genossen in Jerusalem eine Organisation geschaffen, um Leute gegen den Willen der Mandatsmacht, illegal, ins Land zu bringen. Echud Avriel, Zeev Szind und Mosche Averbuch nahmen mich beiseite und erklärten, das wichtigste sei jetzt, illegale Schiffe zu chartern, um Flüchtlinge aus Kostanza nach Haifa zu bringen. Dabei handelte es sich im besten Fall immer nur um Hunderte im Monat, wo jetzt fünfhundert in der Stunde vergast werden sollten.
Menachem Bader und andere berührten wieder das Problem der Ha-ganah, des militärischen Widerstandes. Ich kannte die Verhältnisse in Ungarn und wußte, daß wir in der jüdischen Untergrundbewegung nichts Entscheidendes tun konnten, um den Deutschen militärisch zu schaden. Alle Sabotageakte konnten meiner Meinung nach nur demonstrativen Charakter haben. Wenn wir aber einen Teil unserer Arbeit diesem Zweck widmen sollten, dann verlangte ich, daß die Objekte, gegen die sich Sabotageakte richten sollten, unseren Interessen gemäß ausgewählt werden sollten. Ich gab den Genossen einen genauen Lageplan des Konzentrationslagers von Auschwitz. Ich verlangte das Bombardement der Gaskammern und Krematorien, sofern dies technisch möglich wäre. Ich verlangte Diversionsakte und Luftbombardements gegen die Knotenpunkte der Eisenbahnlinien, die nach Auschwitz führten. Ich gab unseren Genossen genaue Angaben, wo jüdische Fallschirmspringer landen könnten, und gab ihnen eine Liste der Dokumente und anderer Hilfsmittel, die die Fallschirmspringer unbedingt bei sich haben müßten, um durchzukommen. Ich nannte einige Adressen verläßlicher Helfer auf den Wegen nach Budapest.
Das Haupt der Delegation, Chaim Barlasz, beschäftigte sich mit den Fragen der legalen Emigration. Die Agudas-Vertreter verlangten, die legalen Zertifikate nur für orthodoxe Rabbiner und angesehene Häupter der orthodoxen Gemeinden auszunützen. Wir in Budapest hatten es schon längst verlernt, zwischen legalen und illegalen Einreisezertifikaten zu unterscheiden. Für uns war alles halb legal und halb illegal. Ich zeigte dem Vertreter des Palästina-Amtes in Konstantinopel, der die Zertifikate auszustellen und zu unterzeichnen hatte, ein von uns gefälschtes Exemplar. Er war starr vor Staunen. Er konnte seine gefälschte Unterschrift darauf von seiner echten Unterschrift absolut nicht unterscheiden. Alle diese Unterhandlungen waren nicht imstande, mich von meiner Hauptaufgabe abzulenken. Diese beherrschte mich wie eine fixe Idee. Die anderen merkten meine Besessenheit und ließen sich langsam von mir anstecken. Mittags erklärte mir Barlasz, der amerikanische Botschafter sei bereit, uns zu empfangen. Er bitte uns, so schnell wie möglich nach Ankara zu kommen. Wir bereiteten alles für die Reise vor.
Einer einzigen Sache widmete ich mehr Aufmerksamkeit. Idi rechnete mit Menachem Bader, dem Finanzreferenten der Delegation, ab. Wenn ich in Budapest geahnt hätte, daß ich ohne Revision meines Gepäckes nach Wien und später ins Ausland kommen würde, ich hätte die genauen Buchhaltungsbelege mitgenommen. So mußte ich mich auf mein Gedächtnis verlassen. Aber ich konnte später, nach Durchsicht des gesamten Materials, feststellen, daß ich midi kaum geirrt hatte. Idi gab Rechenschaft nicht nur über das Geld, das wir aus Konstantinopel und vom Joint aus der Schweiz erhalten, sondern auch über die Summen, die wir in Budapest selbst aufgebracht hatten. Bader war zufrieden.
Alle diese Einzeldiskussionen ließen einen schalen Nachgeschmack in mir zurück. Es waren ohne Zweifel gute Jungen. Sie lebten bescheiden und kümmerten sich gewissenhaft um die Einzelausgaben, die ihnen von Jerusalem gestellt wurden. Aber sie hatten kein Gefühl für die entscheidenden Schritte, die not taten. Sie hatten nicht, wie wir in Budapest, ständig dem Tod in die Augen gesehen und hatten sich nicht, wie wir, entschlossen, ein gefährliches Leben zu leben. Wir in Budapest hatten längst die Grenzen der Legalität verlassen. Wir kannten den Einsatz, um den es ging, und waren entschlossen, ein großes Spiel zu spielen. Hier, in der Türkei, traf ich Leute, die sich noch nicht befreit hatten von der Attitüde eines Sally Mayer, der bereit war, den Mördern Sperrkonten in Schweizer Banken anzubieten, damit sie ihre Opfer losließen, aber nicht mehr.
Und noch etwas traf ich hier, was mich bedrückte: Wir hatten in Budapest aufgehört, zionistische Parteipolitik zu machen. Die Tatsache, daß ein Hofrat Stern sich von uns beraten ließ und uns unterstützte, war ein Symbol dafür, daß wir die Interessen des ganzen Volkes vertraten. Die Leute in Konstantinopel dachten nur an die Alija nach Erez Israel. Sie wollten als Zionisten das Volk in das Land der Väter zurückführen und bemerkten nicht, daß das Volk auf dem Wege erschlagen wurde.
Am nächsten Tag brachten wir Venia Pommeranz zur Bahn. Er sollte so schnell wie möglich mit Mosche Shertok zurückkommen und diesen auf der langen Reise von Jerusalem nach Konstantinopel über alle Einzelheiten der Situation informieren.
Ich verbrachte den folgenden Tag mit Höflichkeitsbesuchen bei Genossen. Bandi Grosz bat mich, mit ihm Herrn Machmed Bey, den Direktor der Türkischen Transportgesellschaft, aufzusuchen, der uns bei der türkischen Fremdenpolizei geholfen hatte. Barlasz stimmte zu. Am Nachmittag lernte ich einen reichen türkischen Juden, Herrn Simon Brod, kennen. Dieser Mann tat alles, was er konnte, um den zionistischen Delegierten in Konstantinopel zu helfen. Er hatte sehr viel Einfluß bei den türkischen Behörden und setzte ihn ganz für seine bedrängten Volksgenossen ein. Konstantinopel war damals ein Knotenpunkt der Fluchtlinien aus den hitlerischen Ländern. Über Konstanza gingen die legalen und die illegalen Transporte von Emigranten. Von den Türken hing der Zwischenaufenthalt ab, also die Möglichkeit, sich mit irgendwelchen Gesandtschaften in Verbindung zu setzen, um Endvisa als Ersatz für die gefälschten Zertifikate zu bekommen. Brod half überall selbstlos und energisch.
Barlasz hatte unterdessen die Antwort des amerikanischen Botschafters aus Ankara bekommen, er erwarte uns beide mit Ungeduld. Wir sollten sofort kommen. Wieder war kein Flugzeug aufzutreiben. Wir mußten uns entschließen, die lange und beschwerliche Reise im Zug zu machen. Am nächsten Morgen fuhren alle Delegierten mit mir und Barlasz über den Bosporus zum Bahnhof Haider Pascha, der sich auf der asiatischen Seite befand.
Und hier geschah etwas Seltsames. Wir hatten bereits die Fahrkarten gelöst, als Herr Brod ankam und einige Delegierte beiseite nahm. Sie sprachen sehr aufgeregt miteinander, und ich merkte ihre Bestürzung an ihren Mienen. Dann kamen sie zu mir und erzählten mir, ich müsse sofort den Bahnhof verlassen, die türkische Polizei habe einen Haftbefehl gegen mich erlassen. Ich habe nur eine Landeerlaubnis für Istanbul. Diese berechtige mich nicht zur Fahrt nach Ankara. Brod habe von dem erlassenen Haftbefehl erfahren, aber durch seine Beziehungen erwirkt, daß man mir erlaubte, ins Hotel zurückzukehren. Barlasz beschloß, allein zu Steinhardt zu fahren. Akiba Levinski brachte mich ins Hotel zurück.
Kaum waren wir angekommen, klingelte das Telefon, und der Portier teilte uns mit, zwei Detektive der Fremdenpolizei warteten im Foyer auf mich. Erst jetzt ergriff mich die Panik. Ich redete auf Akiba Levinski hastig ein.
„Du mußt mich irgendwie durch einen Nebenausgang aus dem Hotel bringen und mich verstecken. Wenn ich verhaftet werde, dann ist alles verloren. Die Deutschen werden es durch ihren Geheimdienst erfahren, und dann fällt der Nimbus unserer Macht. Sie werden dadurch sehen, wie einflußlos wir alle hier sind. Das darf nicht geschehen.“
Akiba war gutwillig, aber hilflos. Er versuchte, die anderen telefonisch zu erreichen. Band'. Grosz war auch im Hotel. Er war geschickter als ich und verstand es, spurlos zu verschwinden. Die Delegierten versprachen mir, sofort alles für meine Freilassung zu mobilisieren. Während wir noch telefonierten, traten die Detektive ein.
Man brachte mich zur Fremdenpolizei, aber nicht in eine Zelle, sondern in einen Amtsraum, in dem ein lebhafter Publikumsverkehr herrschte. Ich konnte aber das Zimmer nicht verlassen. Als ich zur Toilette wollte, begleitete mich ein Polizist, durchsuchte mich nach Waffen und nahm mir ein schönes Taschenmesser weg, das ich nie wieder-bekam. Schließlich empfing mich der zuständige Beamte. Er erklärte mir:
„Sie werden über Swillengrad noch heute abgeschoben. Haben Sie Ihr ganzes Gepäck bei sich?"
„Herr Kommissar, das Ganze muß ein Irrtum oder ein Mißverständnis sein. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie mich so plötzlich ausweisen wollen. Bitte rufen Sie das Palästina-Amt an und erkundigen Sie sich über mich.“
„Wir wissen alles über Sie. Der Ausweisungsbeschluß ist unwiderruflich. Es gibt keine Stelle, an die Sie appellieren können."
Ich war verzweifelt. Ich befürchtete das Schlimmste und war nicht einmal mehr sicher, daß ich Budapest lebend würde erreichen können.
Wenn ich als Jude mit einem deutschen Paß an der Grenze des deutschen Einflußgebietes erschiene, würde mich die SS verhaften und vielleicht sofort liquidieren, wie es in Swillengrad schon vielen passiert war.
Meine Mission war ja Reichsgeheimnis. Die Grenzstellen der SS wußten nichts davon. Man hätte mir auch diese phantastische Sache nicht geglaubt und mich vielleicht umgebracht, ohne nachzufragen. Wenn ich aber auch Budapest erreichte, so wäre doch Eichmann überzeugt gewesen, daß wir alle völlig schwach und hilflos seien und keinerlei Einfluß bei den Alliierten hätten. Er hätte sich nicht mehr mit uns beschäftigt und die Befehle zur sofortigen Deportation und Vergasung der noch lebenden 800 000 ungarischen Juden gegeben. Ich bettelte und drohte. Es half alles nichts. Der Beamte sagte mir schließlich:
„Sie sind ohne Einreisevisum gekommen. Da können Sie nicht erwarten, daß wir Sie lange hierlassen. Wenn Sie in Wien ankommen, gehen Sie zum türkischen Konsulat und verlangen Sie ein reguläres Visum, das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.“
Der Mann hatte gut reden. Er wußte einfach nicht, wer ich war und was auf dem Spiel stand. Oder wußte er mehr, als ihm zu sagen erlaubt war?
Ich hatte jetzt Zeit zum Nachdenken. Das alles war doch sehr merkwürdig. Wir hatten Wochen vorher aus Budapest telegrafiert. Barlasz hatte geantwortet: „Joel soll kommen, Chaim erwartet ihn." Aber Weizmann war nicht da, und das Einreisevisum war nicht da. Mit Chaim war nicht Weizmann, sondern Barlasz gemeint gewesen. Wir beschließen, zum amerikanischen Botschafter nach Ankara zu fahren:
plötzlich erfährt das die türkische Polizei und erläßt einen Haftbefehl.
Auf rätselhafte Weise erfährt das Herr Brod, wendet die Verhaftung auf dem Bahnhof ab und läßt mich ins Hotel zurückgehen. Die Delegierten lassen mich allein. Was war hier vorgegangen? Welche geheimnisvolle Hand lenkte diese Dinge? Während der letzten Debatten mit verschiedenen Delegierten hatte ich den Eindrude bekommen, daß einige von ihnen mit der englischen Mission in Konstantinopel in ständiger Verbindung waren. Sollte England die Hand im Spiele haben?
Wieder kam mir Bandi Grosz zu Hilfe. Diesmal nicht durch seine Aktivität, sondern durch sein Verschwinden. Er war einfach nicht aufzufinden. Die türkische Polizei suchte ihn den ganzen Tag. Am Nachmittag sagten sie mir, meine Abschiebung sei auf den nächsten Tag verlegt worden. Herr Bandi Grosz sei mit mir zusammen ausgewiesen w’orden, man könne ihn aber jetzt nicht finden. Ich müsse hier übernachten. Ich sei nicht verhaftet, sondern nur angehalten.
Dieses Detail öffnete mir die Augen. Bei mir selber konnte man von einer Verletzung der Einreisegesetze sprechen. Aber Bandi Grosz? Der hatte ein reguläres Visum, er war mehr als ein dutzendmal unter dem Titel eines Direktors der Ungarischen Transportgesellschaft in Konstantinopel gewesen, hatte hier Geschäfte mit dem Direktor der türkischen staatlichen Transportgesellschaft. Was wollte man von ihm? Die türkische Regierung — wenn sie auch von meiner geheimen Mission erfahren hätte — hatte keinerlei Interesse, sie zu hemmen oder zu fördern. Und wie konnte sie davon erfahren? Die einzige Möglichkeit war, daß irgendwer die Engländer informiert hatte und diese am längeren Hebelarm saßen. All das ging mir durch den Kopf, aber es waren damals nur Vermutungen. Immer wieder verwarf ich meinen Verdacht. Ich konnte nicht glauben, daß England, dieses Land, das allein ausgeharrt hatte, als alle Länder Europas vor der Despotie die Waffen gestreckt hatten, daß dieses England, das wir bewundert hatten als unbeugsamen Kämpfer für die Sache der Freiheit, uns, die Ärmsten und Schwächsten aller Unterdrückten, einfach opfern wollte.
Am Abend gelang es den Türken, Bandi Grosz zu finden. Er war wütend.
„Diese deine Freunde, das sind alles Idioten oder Ahnungslose. In welche Situation haben sie uns gebracht? Wenn wir jetzt nach Deutschland zurückgebracht werden, dann erschießen uns die Nazis noch an der Grenze wie tolle Hunde.“
Er zitterte wie Espenlaub. Er beschwor mich, durch meine Freunde alles zu tun, um diese Abschiebung zu verhindern. Ich selber zeigte schon Zeichen der Resignation.
„Weißt du, Bandi, vielleicht gelingt es uns, aus dem Zug zu springen. Im schlimmsten Falle sag’ ich dem Eichmann, die zionistischen Delegierten hätten alles akzeptiert. Wir hätten aber die Türken über den Charakter unserer Mission informieren müssen, um die Aufenthalts-bewilligung verlängert zu bekommen. Und das hätten wir nicht tun wollen, bevor wir Anweisungen aus Jerusalem und Kairo bekommen hätten. Die Verhandlungen würden weitergehen, die Alliierten würden Bevollmächtigte in die Schweiz senden, um dort deutsche Delegierte zu treffen."
Da sagte mir Bandi etwas, was ich damals für bloße Aufschneiderei hielt.
„Joel, du bist blind wie ein Kind, du verstehst einfach nicht, was hinter den Kulissen vorgeht. Glaubst du wirklich, der Eichmann will eine Million Juden freigeben, um Dollars oder Lastwagen zu bekommen? Ich habe mit Herrn von Klages viel gesprochen, und ich weiß, was gespielt wird. Die Nazis wissen, daß sie den Krieg verloren haben. Sie wissen, daß man mit Hitler zu keinem Frieden kommen kann. Der Himmler will alle möglichen Kontakte benützen, um mit den Alliierten ins Gespräch zu kommen. Erinnerst du dich, wie ich dir von meiner geheimen Mission erzählt habe? Die Instruktionen habe ich im Flugzeug zerreißen müssen. Aber jetzt, in dieser Situation, kann ich dir einiges verraten. Ich hatte die Aufgabe, hier mit den Engländern und Amerikanern Verbindungen aufzunehmen, aus denen Separatfriedensverhandlungen hervorgehen sollten. Deine ganze Judensache war eine Nebenfrage.
Die Juden hätten wir gerettet, aber das wäre nur ein Abfallprodukt meiner hiesigen Mission gewesen. Für uns selber allerdings das wichtigste.“ Damals habe ich ihm kein Wort geglaubt. Jetzt, nach den Erfahrungen eines Jahrzehnts, sehe ich viele Dinge in einem anderen Licht.
Er ließ mir keine Ruhe. Er redete unaufhörlich auf mich ein. „Joel, mach dir keine Illusionen. Wenn wir abgeschoben werden und auf deutsches Gebiet zurückkommen, sind wir verloren. Die Nazis sehen dann, daß alle unsere Verbindungen nichts wert sind. Sie werfen uns dann weg wie ausgepreßte Zitronen. Ich habe von denen keine Gnade zu erwarten."
Er schimpfte wüst auf die zionistischen Delegierten.
„Wie kann eure Sodtnuth solche impotenten Leute hier halten? In Konstantinopel, einem Kreuzungspunkt der Weltdiplomatie? Das sind doch Trottel oder Banditen, wahrscheinlich beides zusammen!“
Band! versuchte, mich aufzuhetzen:
„Joel, wenn du jetzt aufgibst, bist du rein ein Selbstmörder, wir sind dann verlorene Leute. Du weißt nicht, welche Bedeutung meine geheime Mission für die Deutschen hat. Himmler glaubt, daß es ihm gelingen kann, einen Keil zwischen den Westen und Rußland zu treiben. Er weiß, daß man mit Hitler zu keinem Separatfrieden kommen kann, aber vielleicht will er Hitler opfern, diesen Ballast ohne Bedenken abwerfen. Und er ist gescheit genug zu wissen, daß man sich von der Judenpolitik Hitlers distanzieren muß. Deshalb gehen diese beiden Sachen Hand in Hand. Die Nazis glauben, wir seien die richtigen Leute, um Kontakte zu schaffen. Wenn wir jetzt wie lästige Ausländer hier abgeschoben werden, dann kommt der ganze Bluff auf, und sie legen uns um, ohne daß ein Hahn danach kräht. Das alles darf nicht passieren, du mußt Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Joel. Eines kann ich dir sagen, ich weiß nicht, was du tun wirst, aber mich bringen diese Türken einfach nicht an die Grenze. Wenn ich meinen Auftrag nicht erfüllen kann, dann sieht mich Budapest nicht mehr.“
„Aber was soll ich tun, Bandi? Ich habe doch keine Möglichkeiten mehr, ich kann niemanden erreichen, und niemand kommt zu mir.“
Der Publikumsverkehr hatte längst aufgehört. Die Beamten hatten den Raum verlassen, der diensthabende Detektiv erklärte uns, wir würden nicht ins Gefängnis gebracht, wir dürften hier übernachten.
Bandi redete auf ihn ein.
„Wie stellen Sie sich das vor, Herr Kommissar? Wo sollen wir hier schlafen? Vielleicht auf dem Boden?“
Der Türke riet uns, ein paar Tische zusammenzustellen. Da war er aber bei Bandi an den Falschen geraten. In einem unwahrscheinlichen Kauderwelsch von Türkisch, Französisch und Deutsch, heftig gestikulierend, erklärte er dem Detektiv, er müsse ihm die Erlaubnis geben, seine Frau zu verständigen. Der Türke gab schließlich nach. Bandi telefonierte. Nach einer halben Stunde schleppte die Frau Decken, Bettzeug, Kissen und ähnliches herbei. Wir richteten uns ein, der Detektiv ging hinaus und sperrte uns ein.
Kaum hatte der Mann das Zimmer verlassen, als sich Bandi aufs Telefon stürzte. In einer Viertelstunde hatte er fast ein Dutzend Gespräche absolviert. Ich habe keine Ahnung mehr, mit wem alles er damals gesprochen hat. Jedenfalls bereitete er die unwahrscheinlichsten Interventionen zu unseren Gunsten vor. Als er sich endlich beruhigte, nahm ich den Hörer. Ich muß gestehen, nicht freiwillig, aber Bandi hetzte mich auf. Ich rief Menachem Bader an. Den rührte fast der Schlag, als er meine Stimme am Telefon hörte:
„Was ist denn los, hat man dich freigelassen?“ „Nein.“
„Dann bist du weg, Joel? Das ist nicht Budapest, du bringst uns alle ins Unglück mit solchen Aktionen. Die Türken können die ganze Delegation ausweisen.“
„Menachem, beruhige dich. Ich sitze hier eingesperrt, aber nicht in einer Zelle, sondern in einem Büro. Der wachhabende Beamte hat uns eingesperrt und ist hinausgegangen. Da habe ich mich einfach an den Schreibtisch gesetzt und dich angerufen.“
Er beruhigte sich schließlich. Ich verlangte von ihm, er solle mich am Morgen hier besuchen. Er konnte sich in die Situation nicht hinein-finden: „Ich verstehe dich nicht, Joel, wie sollen wir dich besuchen, wenn du verhaftet bist. Wir machen alles, was wir können, um dich freizubekommen.“ „Menachem, ich bin nicht so verhaftet, wie ihr meint. Ich sitze hier einfach in einem Büro, in dem ein lebhafter Publikumsverkehr herrscht. Bandi Grosz sitzt auch hier. Der hat schon ein Dutzend Besuche bekommen. Zu mir aber kommt kein Mensch, obwohl es doch wirklich nötig wäre. Ich kann euer Verhalten nicht verstehen!“
Schließlich versprach er, zu kommen und die anderen zu verständigen.
Aber Bandi Grosz war mit seinen Erfolgen nicht zufrieden. Er hämmerte dauernd an die Tür und hatte immer neue Wünsche. Ich wunderte mich schon, daß der türkische Beamte ihn nicht grob anfuhr. Aber es sollte noch anders kommen. Er begann mit dem Türken ein Gespräch über dessen Familienangelegenheiten und hatte bald herausgefunden, daß der arme Mann viele Kinder und wenig Geld hatte. Mehr mußte Bandi nicht wissen. Er bot ihm eine kleine Bestechungssumme an. Er solle uns ins Hotel Pera bringen. Der Türke schwankte. „Aber verstehen Sie doch, Herr Kommissar, wir sollen hier auf den harten Tischen schlafen, und Sie müssen draußen sitzen und uns be-wachen. Statt dessen nehmen Sie doch lieber meinen Vorschlag an. Wir nehmen uns zu dritt ein Appartement im Palace Hotel Pera, wir essen ein gutes Abendbrot, legen uns in gute Betten schlafen. Sie sperren die Tür ab, und am Morgen bringen Sie uns hierher zurück, bevor noch irgendein Mensch kommt."
Dem Türken leuchtete seine Logik ein oder vielmehr unsere guten türkischen Pfunde. Wir fuhren ins Hotel. Die Beziehungen wurden immer intimer. Wir aßen und tranken guten Wein. Schließlich gelang es Bandi Grosz, den Detektiv ganz umzustimmen. Er erlaubte mir, mich im Hotel frei zu bewegen.
Jetzt sah ich meine Chance gekommen. Ich telefonierte mit Menachem Bader, Zeev Szind, Echud Avriel und Mosche Averbuch. Ich bat die Leute, sofort ins Büro der Sodinuth im Hotel zu kommen.
Die Reaktion meiner Genossen war unverständliche Angst. Diese jungen Leute, die körperlich sicher sehr mutig waren, hatten anscheinend kein Verständnis für die Notwendigkeit illegaler Aktionen. Einer von ihnen erklärte mir telefonisch:
„Du hast kein Recht, durchzugehen und so die ganze Delegation zu gefährden. Wenn die Polizei das erfährt, werden wir alle ausgewiesen.“
Idi schrie ihn an:
„Das ist das kleinste Malheur, wenn ihr ausgewiesen werdet. Es werden andere an eure Stelle kommen. Wenn ich aber morgen nach Deutschland zurückgeschickt werde, dann wird eine Million Juden nicht nach Israel ausgewiesen, sondern nach Auschwitz.“ Sie versprachen zu kommen. Gegen Mitternacht begann unsere Sitzung. Ich war unterdessen ruhig geworden und erklärte den Genossen eindringlich die Situation. Ich verlangte den Einsatz aller Mittel, um die Abschiebung zu verhindern. Die anderen waren überzeugt, daß das nicht gelingen werde.
Menachem Bader sagte:
„Wir haben heute wirklich alles getan, was in unserer Macht stand, aber es fiel in dieser Sache eine Entscheidung von der allerhöchsten Stelle. Ich muß dir offen sagen, ich bin pessimistisch. Ich glaube nicht, daß es uns gelingen wird, deine Abschiebung zu verhindern.“
„Dann verlassen wir jetzt in der Nacht das Hotel, und ihr versteckt mich irgendwo.“
„Du stellst dir das zu einfach vor, Joel. Die Türkei ist ein Polizeistaat. Wir können so etwas nicht riskieren."
Ich wurde wütend.
„Wir können in Budapest, das von der deutschen Gestapo beherrscht wird, Tausende Leute verstechen, wenn es notwendig ist, und ihr könnt mich nicht für eine Woche illegal unterzubringen?“
Niemand antwortete. „Wir riskieren in Ungarn täglich unseren Kopf. Aber daran sind wir gewöhnt. Daran denkt niemand mehr. Aber wir riskieren auch körperliche Foltern schlimmster Art, und daran denkt jeder von uns dauernd. Denn wehe dem, der in die Hand der Henker fällt. Dessenungeachtet tun wir unsere Pflicht unserem Volk gegenüber, und ihr hier, die ihr in einem freien Lande sitzt, wo euch wirklich nichts Böses passieren kann. ihr zittert vor der Ausweisung?" Sie schwiegen. Ich drang nicht weiter in sie. Ich selbst sann schon über einen anderen Ausweg nach.
„Wenn ihr eines durchsetzen könntet, wäre schon viel gewonnen: nämlich die Erlaubnis, das Land frei mit dem deutschen Kurierflugzeug zu verlassen. Dann könnte ich die Deutschen bluffen. Ich werde sagen, ihr habet als Vertreter der Sodinuth den Eichmannschen Vorschlag prinzipiell akzeptiert, die Einzelheiten müßten mit den Alliierten besprochen werden, man werde für die konkreten Verhandlungen Delegierte in ein neutrales Land senden."
Diese Idee leuchtete den Leuten ein, insbesondere Menachem Bader interessierte sich dafür. Ich weiß nicht mehr, wer den Vorschlag machte, ein provisorisches Übereinkommen zu schließen, das ich den Deutschen vorlegen sollte. Die Diskussion darum ging stundenlang hin und her. Schließlich einigten wir uns auf das nachfolgende Protokoll:
Protokoll
Der Vertreter des Die bevollmächtigten Vertreter Zentralrats der der „Jewish Agency“ ungarischen Juden Chaim Barlasz, Echud Avriel, Joel Brand Menachem Bader Ich verlangte dann noch eine große Geldsumme für unsere illegalen Arbeiten. Menachem Bader versprach, bis zur morgigen Abreise zumindest 100 000 Dollar, aber wahrscheinlich viel mehr aufzutreiben. Man sah ihm die Erleichterung an, mit der er diese Forderung aufnahm. Endlich konnte er etwas erfüllen, was ich verlangte.
Bandi Grosz warnte am nächsten Tag die Delegierten, mir Geld mitzugeben, die Nazis würden schon an der Grenze alles konfiszieren.
Es war Morgen geworden. Ich legte mich nicht mehr hin. In der Frühe fuhren wir mit dem Detektiv — Bandi hatte, wie ich glaube, nicht im Hotel, sondern bei seiner Frau übernachtet — zurück zur Polizei. An diesem Tag ging alles sehr formell zu. Die Türken besorgten mir durch das deutsche Konsulat ein bulgarisches, ein jugoslawisches und ein ungarisches Durchreisevisum. Um die Mittagszeit kam Menachem Bader. Er brachte gute Nachrichten. Meine Abschiebung sei für einige Tage verschoben worden. Ich müsse mich nur jeden Tag bei der Polizei melden. Unterdessen werde Mosche Shertok eintreffen. Ich könne dann mit einem beglaubigten Abkommen nach Ungarn zurück.
Ein Stein fiel mir vom Herzen. Eine Stunde später wurden wir beide — und diesmal ganz offiziell — ins Hotel entlassen. Am nächsten Tag besuchte mich ein amerikanischer Korrespondent namens Levy. Wir warteten auf Shertok, aber der kam und kam nicht.
Barlasz war aus Ankara zurückgekehrt. Er hatte mit Steinhardt gesprochen. Dieser war von den Nachrichten sehr beeindruckt. Er riet Barlasz, mich nicht nach Jerusalem weiterzuschicken, ehe er nicht feste Zusagen von den Engländern erhalten habe, daß ich wieder zurückkommen könne. Barlasz telegrafierte auch in diesem Sinne nach Jerusalem. Wie ich viel später erfuhr, antwortete Mosche Shertok, daß er die größten Anstrengungen mache, nach Istanbul zu kommen, aber bis jetzt noch nicht die notwendigen Papiere erhalten habe. Barlasz solle versuchen, meine Aufenthaltsbewilligung in der Türkei bis zu meiner Ankunft zu verlängern. Wenn das nicht gehe, solle ich unter den jetzigen Umständen nicht nach Jerusalem kommen, sondern nach Ungarn zurückfahren. Steinhardt versprach auch, sofort an seine Regierung nach Washington zu berichten. Wie ich viel später erfuhr, hat er das auch getan. Roosevelt besprach daraufhin mit Stettinius dieses Problem und gab Stettinius den Auftrag, einen speziellen Bevollmächtigten nach Konstantinopel zu schicken. Es war Ira A. Hirschmann
Bandi Grosz entwickelte in diesen Tagen eine ruhelose Aktivität. Ich konnte ihn nicht mehr kontrollieren. Ich wußte gar nicht, wie viele Leute er täglich traf. Er tat sehr geheimnisvoll. Aber eines Tages kam er und erklärte mir entschieden:
„Joel, jetzt habe ich endlich eine Lösung gefunden. Wir gehen beide nach Aleppo und dann nach Jerusalem. Wir stellen direkte Verbindungen mit den Alliierten her. Es hat gar keinen Sinn, mit den hiesigen Delegierten der Sochnuth zu reden. Du kommst mit.“ Ich erschrak. Eichmann hatte mir verboten, etwas ohne Bandi Grosz zu tun. Nach Aleppo oder Jerusalem wollte ich nicht. Es war keine Zeit zu verlieren. Eichmann wartete nicht. Täglich gingen große Transporte ins Vernichtungslager von Auschwitz. Ich mußte zurück. Aber Bandi Grosz war nicht unser Mann. Er fühlte sich nicht verantwortlich für das Schicksal der Hunderttausende, die mich geschickt hatten. Ich versuchte, ihm ins Gewissen zu reden. Es war aussichtslos. Er hatte bereits von den Engländern ein Einreisevisum nach Palästina erhalten.
„Joel, ich habe gute Beziehungen zu den Alliierten. Die Militärattaches Englands und Amerikas hier haben mir geraten, unbedingt nach Syrien zu fahren. Wenn irgendwo, dann entscheidet sich dort das Schicksal unserer Mission. Es hat gar keinen Sinn, daß Du nach Budapest zurückgehst. Wenn wir hier nichts ausrichten, schickt Dich der Eichmann direkt nach Auschwitz. Kein Mnsch hat etwas davon, daß Du Dich selbst aufgibst.“
Ich appellierte an die übrigen Delegierten. Sie sollten Bandi Grosz überreden, nicht zu fahren. Sie taten es nicht oder nur sehr lau.
Etwa zwei Tage später kam eine enttäuschende Nachricht. Mosche Shertok konnte kein Einreisevisum in die Türkei bekommen. Für mich war das unbegreiflich. Für mich war Mosche Shertok schon damals der Außenminister der zionistischen Bewegung, also der Außenminister des entstehenden jüdischen Staates. Die Juden waren Alliierte des Westens, und die treuesten Alliierten. Die Türkei war mit England befreundet. Weshalb verweigerte man jetzt dem Vertreter der Exekutive das Einreisevisum in ein Land, das er während des Krieges bereits oft besucht Bandi Grosz verließ Konstantinopel am 1. Juni 1944, also elf Tage nach unserer Ankunft in der Türkei. Am Nachmittag desselben Tages traten die Delegierten zu einer Sitzung zusammen, um die Lage zu diskutieren, die sich durch das Einreiseverbot für Shertok ergeben hatte. . Man teilte mir nur den Beschluß mit: Ich müsse sofort Shertok entgegenfahren und ihn in Syrien treffen. Sollte es mir nicht gelingen, ihn in Aleppo zu erreichen, dann müsse ich eben nach Jerusalem.
Ich protestierte gegen diesen Entschluß. Damals hegte ich keinerlei Verdacht gegen England und fürchtete keine Provokationen. Aber ich wollte den Zeitverlust nicht auf mich nehmen. Die Genossen beruhigten mich, sie hätten mit den Engländern und den Amerikanern verhandelt. Man habe versprochen, meinen Reisen im Nahen Osten erste Priorität zu geben. Meine Mission sei sehr ernst genommen worden. Ich werde überall Flugzeuge bekommen, auch für meine Rückkehr ins deutsche Gebiet. Aber es sei nötig, daß Delegierte der Alliierten an der Konferenz mit Shertok teilnähmen. Ich müsse deshalb fahren.
Noch am Vortage meiner Abreise verlangte ich eine Aussprache mit Barlasz unter vier Augen. „Herr Barlasz, die Genossen hier können die Lage in Budapest nicht so einschätzen wie ich. Es kommt doch auf jeden Tag an. Ich bin schon zwei Wochen weg. Das ist die Frist, die mir Eichmann gestellt hat. Ich muß zurück. Ein endgültiges Abkommen erfordert, befürchte ich, noch wochenlange Verhandlungen mit der Sodumth, mit den Alliierten, mit den Deutschen, mit den neutralen Durchgangsländern. Darauf kann ich nicht warten. Was ich jetzt brauche, um in Budapest Zeit zu gewinnen, das habe ich bekommen. Das provisorische Abkommen genügt mir. Daß Grosz weggelaufen ist, ist sehr unangenehm, aber irgendwie werden wir das schon in Ordnung bringen. Die Deutschen sind ja an der Sache auch interessiert.“
Barlasz antwortete scharf:
„Das erlaube ich einfach nicht, Herr Brand. Es liegt ein Beschluß der Organisation vor. Sie müssen sich dem fügen. Wir haben mit den Engländern verhandelt. Die Engländer erwarten Sie in Aleppo. Von den Alliierten hängt es ab, ob wir die deutschen Forderungen akzeptieren können oder nicht. Die Engländer wollen aus erster Hand Ihre Botschaft hören. Wir können uns nicht blamieren. Wir haben versprochen, daß Sie kommen."
Ich versuchte, noch einiges einzuwenden. Er schlug alle meine Bedenken in den Wind.
„Wir haben feste Zusagen, daß die Verhandlungen sehr rasch abgeschlossen werden und daß Sie sofort nach Budapest werden zurückkehren können. Alles wird geschehen, um Ihre Reise zu beschleunigen. Aber Ihr Zusammentreffen mit einem Exekutivmitglied ist beschlossene Sache, und Sie müssen sich fügen, Herr Brand.“
Ich gab nach.
Echud Avriel sollte mich begleiten. Ich zeichnete mehrere Blanko-bogen für eventuelle Briefe nach Budapest, die die Genossen in der Zeit meiner Abwesenheit im Notfälle benützen sollten, und gab ihnen unseren Codeschlüssel. In einem Telegramm nach Budapest ließ ich Eichmann verständigen, ich müsse für Verhandlungen mit den höchsten Stellen zu den Alliierten weiterfahren. Ich teilte mit, daß in den nächsten Tagen in Budapest der Text des Interimabkommens eintreffen werde.
Am Morgen des 5. Juni 1944, also am 15. Tag nach meiner Ankunft in Istanbul, bestieg ich mit Echud Avriel den Taurusexpreß nach Aleppo. Alle Delegierten waren zum Bahnhof gekommen. Wir hatten ein gemeinsames Schlafkupee. Avriel sagte mir, die Türken hätten einen Detektiv mitgeschickt, ich dürfe nicht unterwegs aussteigen.
Die Reise war endlos, aber während dieser achtundvierzig Stunden blieb der Detektiv unsichtbar.
In Ankara hatte der Zug etwa eine Stunde Aufenthalt. Klarmann, der Vertreter der Revisionisten, und Griffel von der Agudus Israel erwarteten uns. An ihrem Gesichtsausdrude merkte ich sofort, daß etwas passiert war.
Sie nahmen uns beiseite. Klarmann sagte uns sehr ernst und sehr entschieden: „Wir haben Nachrichten, daß Joel Brand in eine Falle geht. Shertok hat kein Visum bekommen, weil die Engländer Brand auf englisches Gebiet locken wollen, um ihn zu verhaften. Ich warne euch, und ich warne insbesondere Brand, diese Reise fortzusetzen. Die Engländer sind in dieser Frage nicht unsere Verbündeten. Sie wollen nicht, daß Brands Mission Erfolg hat. Brand muß sofort zurück, denn sonst wird er vor Ende des Krieges nicht zurückkehren können. Die Engländer werden ihn verhaften."
Das Gespräch nahm nur eine Viertelstunde in Anspruch. Ich war völlig verwirrt. Ich muß gestehen, daß ich die weltpolitischen Zusammenhänge nicht durchschaute. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß England, das Land, das am mutigsten für die Befreiung der unterdrückten Völker Europas kämpfte, uns nicht helfen werde. Ich hatte große Zweifel gehabt, ob es gelingen werde, von den Engländern mitten im Kriege zehntausend Lastwagen für die Befreiung der Juden zu bekommen. Wir in Budapest wollten selbst nicht den Deutschen kriegswichtige Waren zusichern. Ich war deshalb nicht durchaus davon überzeugt, daß meine Mission in dieser konkreten Form gelingen werde. Aber daß die Engländer den Parlamentär verhaften würden, daß sie dem Delegierten der jüdischen Untergrundbewegung in Europa die Aktionsfreiheit rauben könnten, das wollte mir nicht in den Kopf. Doch Griffel und Klarmann waren ernste Leute. Anfangs war ich zutiefst deprimiert.
Echud Avriel war auch beunruhigt. Wir diskutierten die Angelegenheit, und ich kam zu der Überzeugung, daß die Revisionisten prinzipiell Opposition gegen alle LInternehmungen der Sodtmttlr machten. Die Sochnuth hatte uns offiziell nach Aleppo und Jerusalem bestellt, die Leute dort mußten doch wissen, was sie taten. Mosche Shertok war ja durch Venia Pommeranz über alle Details meiner Mission informiert. Er mußte wissen, daß meine Verhaftung oder auch nur ein Zeitverlust katastrophale Folgen in Mitteleuropa haben würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr beruhigte ich mich. Ich bemerkte nur, und das bedrückte mich ein wenig, daß mein Begleiter viel unruhiger war als ich selber.
Am folgenden Morgen passierten wir die syrische Grenze. Wir waren noch im Bett, als die französischen Kontrollbeamten unsere Pässe verlangten. Sie erschraken fast, als ich ihnen meinen deutschen Reisepaß übergab. Sie drehten ihn hin und her und diskutierten lebhaft miteinander. Aber alles war in Ordnung. Der Paß hatte ein vollkommen reguläres englisches Visum. Schließlich blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Einreisestempel hineinzudrücken. Mein Gepäck ließen sie in Ruhe. Eine halbe Stunde später kam die englische Kontrolle. Die Engländer wußten, das sah man auf den ersten Blick, wer ich war. Ich gab ihnen meinen Paß. Sie warfen keinen Blick hinein, sahen mich durchdringend an und gaben mir den Paß zurück, ohne ein Wort zu sagen. Es war fast peinlich. Echud wurde immer unruhiger.
„Joel, wenn wir wider Erwarten doch getrennt werden sollten, dann geb'ich dir jetzt eine Verhaltungsmaßregel, die du unbedingt beachten mußt. Laß dich von niemandem verhören ohne Anwesenheit eines Vertreters der Sodinutlt. Verlange, daß Mosche Shertok verständigt wird, und gib keinerlei Antworten, bevor er eintrifft."
Wir glaubten, am Bahnhof würden uns irgendwelche Genossen erwarten. Es gab einen ständigen Vertreter der Sodmuth in Aleppo. Aber wir sahen kein bekanntes Gesicht.
Wir hatten unsere Koffer fertiggemacht. Echud stieg aus, um einen Gepäckträger zu holen. Ich sah vom Fenster aus, wie er nervös auf dem Bahnsteig herumlief. Schließlich fand er einen Gepäckträger und schickte ihn in mein Abteil. Er selbst suchte nach dem Vertreter der Sochnuth. Ich gab dem Träger mein Gepäck und wollte ihm auf den Bahnsteig folgen, als ein Engländer in Zivil ins Abteil trat und mich ansprach.
„Mister Brand?“
„Oh yes.“
„This way please!“ Idi wollte meinem Träger folgen, aber der Engländer verstellte mir den Weg und zeigte nach der anderen Seite. In diesem Augenblick kamen noch einige andere und drängten mich nach der entgegengesetzten Richtung. Das Ganze ging so schnell, daß ich keine Zeit fand, midi zu orientieren. Vor der Waggontür hielt ein Jeep, der Motor lief. Die Engländer drängten mich hinein. Erst jetzt versuchte ich, mich zu wehren. Idi drehte midi um und rief nach Echud, aber der war nirgends zu sehen. Der Jeep fuhr an. In schneller Fahrt verließen wir die Stadt. Draußen hielt der Wagen vor einer leerstehenden Kaserne. Kein Mensch. Keine Wachen. Auch sonst keine Soldaten. Man führte mich in einen großen Schlafraum. Dort saßen einige englische Sergeanten um einen Tisch und lasen Zeitung. Sie kümmerten sich kaum um midi und begrüßten nur meine Begleiter ganz unmilitärisch mit „Hailoh boys!“
Idi konnte mir eines von den Dutzenden von Betten an den Wänden aussuchen und es mir bequem machen. Niemand sprach ein Wort mit mir. Ein Soldat brachte mein Gepäck, stellte es an mein Bett und ging, ohne zu reden. Etwas später rief man mich zu den Unteroffizieren an einen gedeckten Tisch. Idi bekam ein ausgezeichnetes Frühstück. Die Engländer sprachen über das Wetter. Keiner versuchte auch nur zu erfahren, wer ich sei. Es waten überhaupt merkwürdige Sitten. Ich konnte in keiner Weise feststellen, ob ich verhaftet sei. Sicher war ich nicht frei. Idi glaubte einfach, man prüfe meine Papiere und werde midi dann zu Mosche Shertok bringen.
Am nächsten Tag holte man mich endlich zu einem Offizier. Er fragte mich höflich nach meinem Namen. Jetzt faßte ich mir ein Herz.
„Idi kann und darf Ihnen keinerlei Antwort geben. Idi bin ein Jüdischer Abgesandter. Meine Aufgabe erlaubt es mir nicht, ohne Anwesenheit eines Vertreters der Jewish Agency Aussagen zu machen.“
Die Offizier nahm diese Auskunft gleichmütig hin. Er fragte noch, ob ich nicht sonst etwas den englischen Behörden mitzuteilen habe. Idi verneinte. Er ging. Nadi einer gewissen Zeit kam er wieder und brachte mir eine gute Nachricht.
„Wir haben beschlossen, Ihren Wunsch zu erfüllen. Morgen früh werden Sie Herrn Shertok sehen und sich mit ihm in unserer Gegenwart unterhalten können."
Die Erfüllung meines Wunsches und die große Höflichkeit der Engländer beruhigten mich sehr. Idi war schon überzeugt, daß meine An-haltung keine Verhaftung bedeute. Schließlich war ich aus dem feindlichen Ausland gekommen, und das mit einem deutschen Paß. Es ist doch das Recht einer kriegführenden Nation, einen solchen. Mann zu verhören, wenn auch nur, um Informationen zu erhalten.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück brachte mich ein Jeep in eine arabische Villa. In einem Raum, der ein wenig überladen mit orientalischer Eleganz möbliert war, saßen einige englische Offiziere und auch mehrere Zivilisten.
Bei meinem Eintritt erhob sich ein schlanker Mann in mittleren Jahren und ging auf mich zu. Es war Mosche Shertok. Er begrüßte mich unendlich herzlich. Wir nahmen einen Drink. Dann eröffnete Mosche Shertok das Gespräch. Die Engländer blieben die ganze Zeit stumm, verfolgten aber die Verhandlungen mit gespanntem Interesse. Außer Mosche Shertok waren, glaube ich, zwei Vertreter der Sochnath da. Wenn ich mich recht erinnere, waren es Zwi Jechieli und Ruven Zaslany.
Mosche Shertok nahm das Wort.
„Genosse Brand, ich kenne Ihre Geschichte, aber ich bitte Sie, hier alles sehr genau mit allen Details zu erzählen. Sie können vollkommen offen sprechen. Unsere englischen Freunde sind an Ihrem Bericht sehr interessiert. Wir haben vor ihnen nichts zu verheimlichen. Sprechen Sie frei Englisch?"
„Ich verstehe sehr gut Englisch, aber ich habe es lange nicht gesprochen. Deutsch kann ich mich viel besser ausdrücken.“
„Dann sprechen Sie ruhig deutsch.“
Ich sprach zehn bis zwölf Stunden lang. Ich schilderte unsere Not. Die Katastrophe unserer Brüder in Polen und im Baltikum. Ich erzählte von dem Aufbau unserer Organisation, von der illegalen Arbeit, von der Durchsetzung des ungarischen und des deutschen Apparats mit unseren Agenten, von den Verhandlungen der Gisi Fleischmann in Bratislava, von den ersten Tagen der deutschen Invasion und von unseren Gesprächen mit Wisliceny und Eichmann. Auch die Engländer waren ergriffen. Sie sagten aber kein Wort; man hörte nur das Kritzeln ihrer Stenotypistinnen. Hier und da unterbrach mich Mosche Shertok mit einer Frage oder mit der Bemerkung, daß er über diesen oder jenen Punkt bereits genügend informiert sei, ich solle daran keine Zeit verschwenden. Wir unterbrachen einige Male die Sitzung, um zu essen. Ich war aber noch immer nicht zu den aktuellen Fragen gekommen: Was sollte ich den Deutschen antworten, welche Gegenvorschläge sollte ich ihnen machen? Mosche Shertok unterbrach mich.
„Genosse Brand, ich werde an dich jetzt drei Fragen richten. Überlege genau und gewissenhaft deine Antwort.
Erstens: Was wird in Budapest geschehen, wenn du mit einer positiven Antwort zurückkehrst?
Zweitens: Was wird geschehen, wenn du mit einer ablehnenden Antwort zurückkommst?
Drittens: Was wird geschehen, wenn du überhaupt nicht zurückkommst?" Ich dachte eine Zeitlang nach, und wie ich jetzt weiß, dachte ich zu lange nach.
„Genosse Shertok, noch vor einer Woche hätte ich die erste Frage klar und eindeutig beantwortet, und zwar folgendermaßen: Eichmann wird, wenn wir sein Angebot annehmen, die Gaskammern in den Konzentrationslagern sprengen lassen. Er wird die Deportationen einstellen und hunderttausend Juden über die spanische Grenze schicken.
Jetzt hat mich dieser Bandi Grosz ein wenig unsicher gemacht. Vielleicht verbinden die Deutschen mit der Erlaubnis zu unserer Reise noch andere Absichten. Vielleicht ist ihnen der Kontakt mit den Alliierten wichtiger als die Verhandlungen mit uns.“
Mosche Shertok nahm dazu keine Stellung. Ich ging zur zweiten Frage über. Hier erklärte ich entschieden: „Diese zweite Möglichkeit existiert für mich nicht. Ich werde, wenn ich nach Budapest zurückkehre, niemals zugeben, daß meine Mission gescheitert ist und daß ihr Eichmanns Angebot abgelehnt habt, ohne Gegenvorschläge zu machen. Denn das wäre Mord und Selbstmord zugleich. Es gäbe dann für die noch lebenden Juden in Mitteleuropa eine fürchterliche Katastrophe."
Die dritte Frage, die nach der Reaktion der Deutschen auf mein Ausbleiben, beantwortete ich ebenso scharf.
„In diesem Fall wird Eichmann sofort meine Frau, meine Verwandten und die ganze Leitung der Waada verhaften. Es werden täglich zwölftausend Menschen nach Auschwitz deportiert werden. Nach zwei Monaten wird von uns ebensoviel übrigbleiben wie vom Warschauer Getto.“
Rückdenkend muß ich zugeben, daß ich damals zu schwarz gesehen habe. Ich hatte den Mut und die Geschicklichkeit meiner Genossen in der Waada unterschätzt und ebenso die Differenzen in den führenden Kreisen der SS. Hunderttausende gingen nach meiner Verhaftung den Weg in die Gaskammern. Aber Hunderttausende, insbesondere die Juden in der Hauptstadt, wurden gerettet. Unsere Arbeit und die Opfer unserer besten Leute waren nicht ganz umsonst gewesen.
Die Engländer waren sichtlich beeindruckt, aber es stellte sich bald heraus, daß sie nur ein Amt hatten und keine Meinung. Mosche Shertok zog sich mit ihnen in eine Ecke zurück und diskutierte mit ihnen leise, aber heftig. Dann kehrte er zu mir zurück. Er legte mir die Hand auf die Schulter.
„Lieber Joel, ich muß dir leider etwas Bitteres sagen. Du mußt jetzt nach Süden weiterfahren. Die Engländer verlangen das. Ich habe alles getan, um diese Entscheidung zu ändern. Aber es ist ein Beschluß von höchster Stelle. Ich konnte ihn nicht ändern.“
In der ersten Sekunde verstand ich gar nicht die ganze Bedeutung seiner Worte. Als ich endlich begriff, daß ich verhaftet wurde, bekam ich einen Nervenzusammenbruch. Ich schrie:
„Wißt ihr, was ihr tut? Das ist doch einfach Mord! Das ist Massenmord! Wenn ich nicht zurückgehe, werden unsere besten Leute geschlachtet! Meine Frau! Meine Mutter! Meine Kinder kommen als erste dran! Ihr müßt mich zurück lassen. Ich bin als Parlamentär hergekommen. Ich habe eine Botschaft überbracht. Ihr könnt annehmen oder nicht, aber ihr habt kein Recht, den Abgesandten festzuhalten. Dabei bin ich nicht der Abgesandte des Feindes. Die Deutschen sind meine Feinde ebenso wie die der Alliierten und noch viel bitterere Feinde. Ich bin hier der Abgesandte einer Million zum Tode verurteilter Menschen! Von meiner Rückkehr hängt ihr Leben ab. Wer gibt euch das Recht, Hand an mich zu legen? Was habe ich gegen England getan? Wir haben, soweit wir konnten, den Alliierten geholfen, obwohl wir wahrlich genug damit zu tun hatten, unsere eigenen Köpfe zu retten. Wir haben den Nazis geschadet, wo wir konnten. Was wollt ihr von uns? Was wollt ihr von mir?"
Ich bettelte, ich drohte, ich weinte. Das Schicksal meiner Kinder stand mir vor Augen und machte mich beredt. Die Engländer blieben stumm, aber ich fühlte, daß ich zu ihren Herzen gesprochen hatte.
Mosche Shertok und die beiden anderen Vertreter der Sochnutk waren erschüttert. Aufgeregt redeten sie auf die Engländer ein. Aber die hatten ihren Befehl und konnten selbst nichts ändern. Ich wurde einfach hysterisch. Mosche Shertok versuchte, mich zu beruhigen.
„Joel, die Sache mir ebenso schwer wie dir. Ich werde nicht ruhen ist und nicht rasten, bis du wieder frei bist. Ich fliege unmittelbar nach London und bespreche die Frage an allerhöchster Stelle. Du wirst frei-kommen. Du wirst die Verhandlungen weiterführen. Wir werden die Sache durchsetzen. Aber jetzt, im Augenblick, haben wir keine Macht. Wir müssen uns fügen. Du ebenso wie ich."
Mosche Shertok machte sich erbötig, mich persönlich in seinem Auto zu den alliierten Behörden nach Jerusalem zu bringen. Die englischen Offiziere lehnten das ab. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich midi von Shertok und den anderen Genossen verabschiedete. Ein Taumel hatte mich ergriffen. Ich weiß nur, daß man mich direkt zur Bahn brachte. Ich bekam wieder einen Schlafwagen. Ein junger englischer Offizier begleitete mich.
(_ Er behandelte mich mit vollendeter Courtoisie. Nie ließ er mich merken, daß ich Gefangener sei. Ich hatte Geld, ich konnte an den Stationen frei ins Bahnhofsbüfett gehen. Idi dachte sogar an die Möglichkeit der Flucht. Aber nur Leute, die wissen, was eine durch eine starke Ideologie gebundene Partei ist, werden meine Haltung damals begreifen. Ich war Zionist, ich war Parteimann, die Mitglieder der Exekutive waren meine Führer. Idi war zur Disziplin verpflichtet. Ich wagte es nicht, mich aufzulehnen. Sehr oft kam mir der Gedanke, ich habe die Pflicht, zu flüchten, illegal ins deutsche Machtgebiet zurückzukehren und zu versuchen, in Budapest zu retten, was noch zu retten war. Vielleicht war das meine wirkliche Bestimmung. Aber ich fühlte midi als kleiner Mann, der durch Zufall in die Weltgeschichte geraten war. Idi wagte es nicht, die Verantwortung für das Schicksal von Hunderttausenden auf mich zu nehmen. Ich wagte nicht, die Disziplin zu brechen, und das war meine wirkliche Schuld.
Wir übernachteten in Beirut. Am nächsten Nachmittag ging es mit dem Zug weiter nach Haifa. Ganz in der Frühe berührten wir den Boden Palästinas. Ich saß auf den Stufen des Waggons und schaute die ganze Zeit in die Ferne. Das war also das Land unserer Sehnsucht. Mein englischer Begleiter fürchtete ein wenig, ich wolle abspringen. Er wechselte mit mir einige Worte, fühlte anscheinend meine sentimentale Stimmung und beruhigte sich.
In Haifa hatten wir längeren Aufenthalt. Wir ließen das Gepäck am Bahnhof und wanderten in das neue Hafenviertel. Vor dem Gebäude von Barclays Bank ließ mich mein Begleiter stehen. Er hatte dort etwas zu tun. Ich dachte wieder an Flucht. Hier bin ich doch unter meinen Leuten. Es wird doch Menschen geben, mir helfen zu die werden, mich verstecken. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann in den Dreißigern mit einem großen Hund. Nun hatte ich in Haifa einen Bekannten, Alfred Marchand, ich hatte ihn schon fünfzehn Jahre nicht gesehen und würde ihn kaum erkannt haben. Wie ich in Budapest erfahren hatte, war er Hundezüchter, und nun rechnete ich mir aus, der Mann mit dem Hund müsse mein alter Freund sein. Ich ging auf ihn zu und erkannte sofort meinen Irrtum. Dessenungeachtet sprach ich ihn an. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, und Sie wissen nicht, wer ich bin. Aber Sie müssen mir helfen. Ich komme unmittelbar aus Budapest und bin ein Delegierter der illegalen zionistischen Organisationen dort. Ich habe wichtige Nachrichten für die Sochnutk. Die Engländer aber haben mich in Aleppo verhaftet und führen mich nach Kairo. Der Offizier, der mich bewacht, ist momentan da in der Bank. Bitte laufen Sie zur Socknuth und verständigen Sie die Leute, daß ich mit dem Nachmittagszug nach Kairo weiterfahre. Man soll um jeden Preis versuchen, mich herauszuholen.“ Kein Mensch hatte uns beobachtet. Einige Minuten später kam mein Offizier. Ich war überzeugt, er habe nichts davon bemerkt. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken. Aber einige Monate später fragte mich derselbe Offizier im Gefängnis von Kairo, wer der Mann gewesen sei, den ich in Haifa angesprochen hätte.
Secret Service
In der Frühe kamen wir in Kairo an. Niemand erwartete uns. Wir nahmen eine Droschke und fuhren in die Stadt. Vor einem kleinen Häuschen hielten wir. Mein Begleiter stieg aus und ließ mich über eine Stunde warten. Ich wollte schon weg, als er wiederkam. Sein Gesicht war völlig verändert. Ich hatte den Eindruck, daß er mir nicht mehr in die Augen schauen wolle. Stumm setzte er sich und rief dem Kutscher einige Worte zu. Wir fuhren aus der Stadt hinaus. Vor einem schloßähnlichen Gebäude hielt der Wagen. Keine Wachen, überhaupt kein Mensch. Als sich das eiserne Tor öffnete, sah ich im Vorhof einige Dutzend Bewaffnete. Es waren abessinische Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren.
Ein englischer Unteroffizier empfing uns. Er fragte nach meinem Namen.
„Joel Brand.“
„Hier im Paß steht etwas anderes.“
„Der Paß ist falsch. Ich bin kein Deutscher, und ich habe nie Eugen Band geheißen.“
Er beachtete meinen Einwand nicht und notierte einfach meine Personalien aus dem Paß. Dann reichte er mir den Bogen zur Unterschrift. Ich lehnte ab.
„Ich unterschreibe hier im alliierten Gebiet keinerlei Fälschungen. Mein ehrlicher Name ist Joel Brand. Es besteht für mich kein Grund, ihn weiter geheimzuhalten.“ „Aber ich kann doch keinen Namen ins Protokoll nehmen, der nicht in Ihren Dokumenten steht.“
„Machen Sie das, wie Sie wollen. Ich unterschreibe nur mit meinem richtigen Namen.“
Es kam zu einem Kompromiß. Er änderte den Namen im Protokoll nicht, aber ich unterschrieb mit meinem wahren Namen und überließ es der englischen Administration, diesen Widerspruch aufzuklären.
Ein freundlicher Korporal führte mich in meine Zelle. Es war eigentlich keine Zelle, sondern ein großes und recht bequem eingerichtetes Zimmer. Er ließ die Tür offen, war aber immer in der Nähe. Wenn jemand draußen vorbeiging, sperrte er vorübergehend die Zellentür ab.
Das brachte mir erst zu Bewußtsein, daß ich verhaftet war, und ich beschloß, aus formellen Gründen dagegen zu protestieren. Mein Wächter hatte anscheinend sein Instruktionen.
„Wie können Sie behaupten, Sir, daß Sie eingesperrt sind. Sieht ein Gefängnis so aus? Man hat Sie einfach für einige Tage hierhergebracht in Ihrem eigenen Interesse. Ich weiß selber nicht, warum, aber haben Sie Geduld, alles wird sich aufklären, und Sie können dann gehen, wohin Sie wollen. Es ist eben Krieg."
Man behandelte mich wie eine wichtige Persönlichkeit. Das Essen war ausgezeichnet. Ein arabischer Diener deckte den Tisch sehr sorgfältig und fragte, was für Wein ich trinken wolle.
Er trug immer erlesene Speisen auf. Ich konnte nicht soviel aufnehmen. Während des ganzen Tages stand eine Schüssel mit frischem Obst in meinem Zimmer. Zweimal am Tag wuschen die arabischen Diener den Fußboden, um Kühlung zu bringen. Niemand betrat mein Zimmer, ohne vorher zu klopfen und auf mein „Herein“ zu warten. Ich konnte Bücher haben, meine Koffer hatte man mir, ohne sie zu untersuchen, gelassen. Nur meinen Mantel und meinen Hut hatte ich im Vorraum gelassen, und diese Kleinigkeit führte zum Kontakt mit einem alten Freunde.
Samu Springmann hatte, wie der Leser sich erinnern wird, um die Jahreswende 1943/44 Ungarn mit einem legalen Ausreisezertifikat verlassen. Seine Nerven hatten die Spannung der letzten Wochen nicht mehr ausgehalten. Die Polizei war ihm auf den Fersen. Konstantinopel wünschte sein Kommen. Wir in Budapest hatten ihm die strikte Weisung erteilt, nicht nach Palästina zu fahren, sondern in Konstantinopel zu bleiben. Wir wollten dort in der Delegation der Sodmuth unseren Vertrauensmann haben. Samu Springmann hatte den Aufbau unserer Organisation von den ersten Stunden an mitgemacht, kannte die illegalen Bedingungen genau und konnte deshalb den Genossen in Konstantinopel unsere halbchiffrierten Briefe erklären.
Wir schrieben von Budapest aus mehrmals an Barlasz und die anderen und baten, man solle Springmann helfen, in Konstantinopel zu bleiben. Wie ich aber später erfuhr, haben die Genossen das nicht getan. Schließlich wiesen ihn die Türken aus. Sein Rekurs wurde abgelehnt. Er-war wütend. Er stürzte noch in die letzte Sitzung und schrie den Delegierten zu:
„Ich danke euch, Genossen, für eure Hilfe!"
Keiner antwortete ihm. Er verließ die Sitzung und Konstantinopel. In Aleppo wurde er verhaftet und sechs Wochen vor meinem Eintreffen hier in dasselbe Gefängnis von Kairo gebracht
Das alles erfuhr ich erst viel später. Ich hatte in diesem Augenblick keine Ahnung davon, daß Samu Springmann so nahe war. Er aber erkannte meinen Mantel und meinen Hut im Vorraum. Am Tag nach meinem Eintreffen hörte ich plötzlich ungarische Lieder im Hof. Dann kamen Pfiffe, die ich eindeutig erkannte. So konnte nur Samu pfeifen. Ich stürzte zum Fenster und beugte mich vor. Samu hob den Kopf. Wir erkannten einander.
Im ersten Augenblick konnte ich mich vor Freude nicht fassen. Dann analysierte ich die Situation, und eine tiefe Depression bemächtigte sich meiner. Die Genossen in Konstantinopel mußten gewußt haben, daß Samu von den Engländern verhaftet worden war. Warum hatten sie mich nicht gewarnt? Was ging hier vor? Welches Interesse hatte England, uns zu schaden? Wir waren doch sicher verläßliche Bundesgenossen gegen Hitler. Die Westmächte führten den Kampf gegen Hitler im Namen der Menschlichkeit. Warum wollten sie Hilflose in den Vernichtungslagern der Nazis zugrunde gehen lassen, wenn es auch nur eine kleine Chance gab, sie zu retten?
Ich verstand gar nichts mehr.
Am nächsten Tage erfanden wir beide ein System von Pfiffen und Liedern, um einander Nachrichten zu geben, jedoch die volle Wahrheit über Samu Springmanns Schicksal erfuhr ich erst fünf Monate später in Jerusalem.
Drei Tage ließ man mich völlig allein; dann kam ein englischer Offizier in meine Zelle, sprach einige Worte und ordnete in scharfem Ton an, meine Koffer wegbringen zu lassen. Ich protestierte. Er wurde unhöflich. Ich wurde grob. Ich erhob Einspruch gegen meine Verhaftung. Er merkte an meinem Ton, daß ich mich nicht einschüchtern ließ, und wurde höflicher. Er habe leider noch keine Zeit gehabt, das Dossier über meinen Fall durchzulesen.
Am nächsten Tag ließ er mich in das Untersuchungszimmer führen. Er saß auf einem erhöhten Podium, ungefähr 30 cm höher als ich.
Jetzt war er die Höflichkeit selbst. Er entschuldigte sich, daß er mich in dieser Position verhören müsse. Es sei Vorschrift.
„Sie werden verstehen, Herr Doktor."
Ich unterbrach ihn:
„Ich bin kein Doktor. Ich heiße Joel Brand."
„Sie werden verstehen, Mister Brand, daß wir alles hier in Ihrem Interesse tun. Nehmen Sie Zur Kenntnis, daß Sie hier nicht verhaftet sind. Wir hätten keinerlei Recht dazu. Sie sind keines Vergehens angeklagt. Wenn wir Sie hergebracht haben, dann aus Erwägungen, die die Gesetze der Kriegsführung uns vorschreiben.“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Captain.“
„Mister Brand, Sie werden binnen kurzem nach Ungarn zurückkehren. Es kann dazu kommen, daß die Deutschen Sie mit allen Mitteln werden erpressen wollen, ihnen zu beschreiben, was Sie im englischen Kriegs-gebiet gesehen haben. Da ist es besser, wenn Sie behaupten können. Sie hätten nichts gesehen, Sie seien eingesperrt gewesen. Sonst wird man Sie foltern, um Aussagen zu erzwingen.“
Der Engländer weiß wahrscheinlich bis heute nicht, wie sehr mich seine Antwort beruhigte. Ich wollte glauben, und ich glaubte. Für mich war England der Hort der Freiheit und unser Verbündeter. Es war für mich unerträglich, dieses Fundament meiner politischen Anschauungen in die Brüche gehen zu sehen. Ich verdrängte alle diese Gedanken.
Der Engländer sprach mich noch mehrere Male mit „Herr Doktor“ an und entschuldigte sich regelmäßig. Schließlich sagte er mir:
„Ich habe Ihr Dossier durchgelesen und bin sehr davon beeindruckt. Sie können dessen sicher sein, daß Ihre Sache sehr ernst genommen und von den höchsten Stellen behandelt wird. Mister Shertok ist in dieser Angelegenheit von meiner Regierung nach London gerufen worden. Ich selbst bin verpflichtet, hier alles mit Ihnen aufzunehmen und die Protokolle unserer Unterhaltungen täglich nach London zu kabeln."
Und nun begann eine Untersuchung, deren Sinn mir bis jetzt unverständlich ist. Ich hatte in Aleppo in Gegenwart Mosche Shertoks den englischen Offizieren einen genauen Bericht unserer Situation in Ungarn gegeben. Ich hatte dort zwölf Stunden lang gesprochen und hatte geglaubt, das Thema damit restlos erschöpft zu haben. Aber hier in Kairo sprach dieser Mann täglich acht Stunden mit mir, und das durch Monate. Ich weiß gar nicht, wie ich ihm da nach einer Woche noch etwas Neues sagen konnte und ob er noch etwas Neues erwartete. Fiel irgendein Name — und es gab ja viele Namen in meiner Geschichte, bedeutende und unbedeutende —, dann verlangte er gleich die Lebensbeschreibung des Betreffenden, die Geschichte seiner Familie und der Leute, mit denen er verkehrte. Ich weiß nicht, ob er mir mißtraute und ob er durch ein solches Verhör Widersprüche entdecken wollte. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich gewann nach einigen Tagen den Eindruck, daß er von meiner Ehrlichkeit überzeugt sei. Schließlich hatte ich nichts zu verheimlichen. Es war die ganze Zeit über meine tiefste Überzeugung, daß England und wir gemeinsame Interessen hatten und daß es letzten Endes nur ein Mißverständnis sein könne, wenn wir einander als Untersuchungsrichter und als Angeklagter gegenüberstanden. In den ersten drei Verhören ließ er im wesentlichen mich reden. Er äußerte selbst kaum eine Meinung. Er bemühte sich, sich ein Bild von der Entstehung unserer Budapester Organisation zu machen. Ich hatte das Gefühl, daß die Entscheidung der Fragen, die mich zutiefst berührten, für ihn zweitrangig sei. Es schien ihm nicht wichtig zu sein, die Verurteilten in letzter Minute vor dem Tod zu bewahren. Es war ihm wichtig, Material zu sammeln, das irgendwann für die Arbeit des englischen Geheimdienstes ausgewertet werden konnte. Aber beim vierten Verhör stießen wir auf das eigentliche Problem. Er fragte:
„Glauben Sie, daß die Deutschen dieses Angebot ernst gemeint haben?“
„Durchaus ernst.“
„Glauben Sie, daß das Ganze eine Privataktion von Eichmann, Wisliceny und Krumey ist? Oder steht die deutsche Regierung dahinter?“
„Ich weiß nicht, ob die deutsche Regierung dahintersteht. Aber sicher handeln diese Leute im Auftrage des Reichsführers SS Himmler."
„Woraus schließen Sie das?"
„Der ganze Sicherheitsdienst in Budapest, in Wien, in Bratislava machte mit. Herr von Klages scheint mir ein sehr wichtiger Mann in der deutschen Hierarchie zu sein. Er war informiert und unterstützte die Sache. Man gab mir einen deutschen Paß und ein deutsches Kurier-flugzeug. Man erlaubte einem Juden, während des Krieges offiziell den deutschen Machtbereich zu verlassen. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel war informiert. Diese SS-Offiziere sind allesamt Mörder, aber sie sind keine Kinder. Sie wissen, daß nach einem Abkommen der Transport von hunderttausend Menschen keine Privatsache einiger SS-Leute bleiben kann. Ich hatte während der Verhandlungen immer das Gefühl, daß sie dauernd Instruktionen von Himmler aus Berlin erhielten.“ „Sie sind also überzeugt davon, Mister Brand, daß die Deutschen den Rest der Juden freigeben, wenn man ihr Angebot annimmt.“
„Wenn man Eichmann glauben darf, dann nicht den ganzen Rest. Es leben vielleicht noch 11/2 Million im deutschen Machtbereich. Eine Million will er freigeben.“
„Und all das für 10 000 Lastwagen?"
„Für weniger. Für einige Millionen Dollar. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ „Dann erklären Sie mir bitte, Mister Brand, wieso das möglich ist. Da haben diese Leute die ganze Welt herausgefordert, um eine wahnsinnige Idee, die Exterminierung der Juden, zu Ende zu führen. Fünf Millionen haben sie umgebracht, und die letzte Million wollen sie freigeben, um einige Millionen Dollar zu bekommen? Was sind sogar 100 Millionen Dollar angesichts ihrer täglichen Kriegsausgaben? Wie kann man denn eine solche Politik überhaupt verstehen?“
„Ich habe darüber meine Gedanken. Aber ich bin nicht hierhergekommen, um Theorien über die Deutschen zu machen. Ich bin der Meinung, man soll das Angebot annehmen oder soll zumindest mir erlauben weiterzuverhandeln. Was riskiert England dabei? Vielleicht werden die Nazis mich umbringen. Dann sind nicht nur fünf Millionen in den Tod gegangen, sondern noch ein Mann mehr.“
„Bevor wir uns auf so etwas einlassen, müssen wir versuchen, die Absichten der Nazis bei dieser Aktion zu erraten.“
„Lim ihre Absichten festzustellen, soll man die Nazis einladen, Delegierte zu Verhandlungen in ein neutrales Land zu entsenden. Die Sodt-nuth soll ihre Leute schicken, wobei ein alliierter Beobachter dabeisein kann.“
„Das wird sicher geschehen, Mister Brand, aber das fällt nicht in meine Kompetenz. Ich habe hier die Aufgabe, Ihre Ansichten festzuhalten. Scheuen Sie sich daher bitte nicht, mir Ihre Theorien übei das Verhalten der Nazis mitzuteilen."
„Die Sache ist komplizierter, als Sie denken. Man begeht im allgemeinen einen Fehler, wenn man sich den deutschen Machtapparat als monolithen Block vorstellt. Es gibt da die verschiedensten Gruppen und Cliquen, die gegeneinander kämpfen. Solange es den Nazis gut ging, wurden diese Gegensätze immer vertuscht. Jetzt werden sie zusehends schärfer. Ich werde Ihnen die Gründe aufzählen, die diese SS-Offiziere zu ihrem Vorgehen bewegen könnten.
Erstens: Die Leute sehen die nahede Katastrophe voraus. Sie versuchen einen Pardon für ihre Verbrechen zu erhalten. Sie haben unzählige Verbrechen auf sich geladen — gegen alle Völker Europas. Aber keine Schuld drückt sie so wie die gegen die Juden. Dazu müssen Sie eines wissen: Sie schreiben uns Juden eine ungeheure Macht zu. Das Märchen von den Weisen von Zion, von der geheimen Weltregierung, spukt wirklich in ihren Köpfen. Wenn das, was Bandi Grosz erzählt, wahr ist, dann hoffen sie, durch uns Verbindung zu den Alliierten zu bekommen. Mir wird immer klarer, daß Himmler versuchen will, einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten zu schließen, eventuell unter Opferung Hitlers. Er hat wahrscheinlich die Vorstellung, daß es ihm gelingen wird, mit dem Westen gegen Rußland zu manövrieren und dadurch einen Generalpardon für seine Leute zu bekommen. Aber das alles ist hohe Politik, die midi nichts angeht. Ich habe einen konkreten Auftrag. Ich will eine Million Juden loskaufen lassen.
„Sie sprachen von mehreren Gründen, die die Nazis haben könnten.
„Die Clique, mit der ich verhandelt habe, will vielleicht Geld verdienen und persönlich Pardon erhalten.“ „Wozu brauchen dann die Leute Lastwagen? Sie können sich doch nicht Lastwagen für die Zeit nach dem Kriege beiseite legen?“
„Vielleicht brauchen sie das nur, um bei Hitler das Einstellen des Judenmordens durchzusetzen. Hitler ist ein Maniak. Die Ausrottung der Juden ist seine fixe Idee. Sie müssen also mit kriegswichtigen Argumenten kommen, um ihm in den Arm zu fallen, obzwar die Sache jetzt schon anders aussieht als im Jahre 1942.“
„Inwiefern, Mister Brand?"
„Als die Reichsregierung Ende 1941, nach dem Kriegseintritt Amerikas, die Liquidierung der Juden beschloß, da hatten die Deutschen die Hoffnung, zu siegen und die Neuordnung Europas durchzuführen. Damals wollten sie Europa judenrein machen. Nicht nur das Deutsche Reich. Sie halten uns Juden für gemeingefährliche, ansteckende Geisteskranke. Sie wollen uns in den Ländern beseitigen, die sie kontrollieren. Jetzt aber, nach den Siegen der Alliierten, haben sie keine Hoffnung, in einem eventuellen Frieden mehr zu behalten als das eigentliche Reichsgebiet. Es kann ihnen deshalb nur angenehm sein, wenn wir feindliche Länder anstecken. Nehmen Sie zum Beispiel Eichmann. Der hat immer die Massenauswanderung der Juden forcieren wollen. Er glaubte, daß die Gegner durch eine jüdische Masseneinwanderung geschwächt werden. Es kann aber auch sein, daß hinter der jetzigen Aktion Eichmanns die Absicht einer Provokation steckt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Vielleicht glaubt er, daß ihr ablehnen werdet. Und dann hat er es leicht, die Schuld für den Massenmord auf euch abzuwälzen oder zumindest mit euch zu teilen.“
„Wie stellen Sie sich das vor, Mister Brand? Wenn die Deutschen die Juden vergasen, dann tun sie es doch nicht auf unseren Befehl.“
„Nein, die Nazis sind Mörder aus eigener Wahl. Ihre Schuld vor der Weltgeschichte nimmt ihnen niemand mehr ab. Aber sie können dann behaupten: Wir wollten die Juden loswerden, ausweisen, die andern wollten sie nicht nehmen. Da mußten wir sie vernichten.“
„Ich finde das eine seltsame Logik, und ich habe fast den Eindruck, daß Sie sich diese Gedankengänge zu eigen machen, Mister Brand.“
„Sie tun mir unrecht, Captain. Ein Mörder bleibt für mich ein Mörder. Aber ein anderer, der zuschaut, ohne ihm in den Arm zu fallen, trägt auch eine gewisse Schuld, wenn auch keine so große.“
„Wir sind ihnen in die Arme gefallen. Wir waren die ersten. Und wir werden den Kampf nicht aufgeben vor der völligen Kapitulation der Nazis.“
„Aber für uns kommt der Sieg zu spät. Die Erschlagenen des deutschen Faschismus werdet ihr nicht mehr aufwecken. Ihr könnt den letzten Rest retten, wenn ihr mich zurückschickt und mir Vollmacht zum Verhandeln gebt, statt mich hier gefangenzuhalten.“
„Sie sind kein Gefangener, Mister Brand.“
„Das sind alles nur Worte. Ich kann nicht dorthin zurück, wo ich etwas zu tun habe."
„Aber haben Sie sich wirklich vorgestellt, daß wir den Deutschen jetzt, mitten im Kriege, zehntausend Lastautos liefern werden?“
„Ich sage es jetzt bereits das zehnte Mal. Wir brauchen von euch keine Lastautos. Gebt uns ein Versprechen, das ihr nicht einmal halten müßt. Damit allein kann ich hunderttausend retten.“
„Aber wie stellen Sie sich das vor, Mister Brand? Sie können doch nicht annehmen, daß die Allierten offiziell ein Versprechen geben und es dann nicht halten.“ „Wir brauchen die Alliierten nicht dazu. Es genügt, wenn die Sodwuth den Vertrag mit den Deutschen unterschreibt. Wir werden dann hunderttausend Menschen freibekommen, und nachher wird die Sodinuth den Vertrag brechen und den Deutschen nichts liefern. Mördern muß man nicht das Wort halten.“
„Aber diese hunderttausend müssen doch die Alliierten an irgendeiner neutralen Grenze übernehmen und dann verschiffen. Haben Sie eine Ahnung, was eine solche Operation mitten im Kriege bedeutet? Wieviel Schiffsraum wir dazu brauchen?“
„Die Deutschen sind ärmer als ihr, sie haben die Eisenbahnwagen aufgebracht, um Millionen zu den Gaskammern in den Osten von Polen zu führen. Quer durch Deutschland. Mitten im Kriege, als ihr Eisenbahnnetz ohnehin durch die Anforderungen der Ostfront überlastet war, und ihr könnt jetzt, wo der Feind schon am Boden liegt, keine Schiffe aufbringen, um hunderttausend, die der Hölle entronnen sind, abzutransportieren?"
„Ich will das nicht behaupten, Mister Brand, und wahrscheinlich wird unsere Regierung eine Lösung finden. Ich will nur sagen, daß eine solche Operation nicht im privaten Bereich in einem Vertrag zwischen Eichmann und der Sockmith durchgeführt werden kann. Die Übernahme dieser Leute an der spanischen Grenze erfordert ein Abkommen mit mehreren Staaten. Wenn wir daran teilnehmen, können wir unser Wort nicht brechen."
„Beginnt einmal zu verhandeln. Die Verhandlungen werden Monate in Anspruch nehmen, der Abtransport weitere Monate, unterdessen wird Deutschland zusammenbrechen. Versteht ihr nicht, worum es sich handelt? Um Zeitgewinn, um nichts anderes. Im Augenblick, wo ihr die Verhandlungen beginnt, stellt Eichmann die Deportationen ein und sprengt die Gaskammern in die Luft. Sie werden nie wiedererbaut werden. Audi wenn die Verhandlungen scheitern. Dazu ist es dann zu spät. Übrigens bin ich davon fest überzeugt, daß man ohne Lastwagen auskommen wird. Die Leute werden Geld nehmen."
„Jetzt sagen Sie mir noch eines, Mister Brand: Wenn wirklich die Reichsregierung hinter diesem Angebot steht, warum wendet sie sich dann nicht durch Vermittlung einer neutralen Macht offiziell an die Alliierten?"
„Idi sagte schon, es kann sein, daß vorläufig nur Himmler dahinter-steckt und daß die Führung der SS noch Hitler und Goebbels für die Sache zu gewinnen hofft. Aber es gibt noch einen anderen Grund für das Vorgehen der Deutschen.“
„Und der wäre?"
„Die Deutschen können doch nicht zwischenstaatliche Verhandlungen führen mit der Forderung: Gebt uns 10 000 Lastwagen, sonst vergasen wir anderthalb Million Menschen. Die Nazis geben doch offiziell nie zu, daß sie das gemacht haben und weitermachen. Wir Juden wissen es, aber sogar im Verkehr mit uns haben die Nazis zumeist euphemistische Ausdrücke gebraucht. Außerdem schreiben sie uns Juden, wie gesagt, eine ungeheure Macht zu. Sie glauben, daß unsere Sodinuth so ganz im geheimen die alliierten Regierungen lenkt. Von der Machtlosigkeit der Sodtnuth, wie ich sie in Konstantinopel zu spüren bekam, wissen sie nichts. Und sie dürfen das um Gottes willen nie erfahren. Sonst sind unsere Leute in Budapest verloren. Sie werden das aber erfahren, wenn ihr mich noch lange hierbehaltet."
„Es wird nicht mehr lange dauern, Mister Brand. Ich kann Sie beruhigen. Mister Shertok ist jetzt in London bei Mister Eden. Die Entscheidung wird bald fallen.“
All diese Argumente mußte ich dutzendmal wiederholen. Die Verhöre begannen eintönig zu werden. Man fragte immer dasselbe. Ich antwortete dasselbe. Ich wurde immer ungeduldiger. Aber eine Woche nach meiner Ankunft passierte etwas Aufregendes. Mein Untersuchungsrichter teilte mir mit, ein Delegierter an den USA werde mit mir sprechen, und nachher werde sich meine Sache sehr bald entscheiden. Man brachte mich in ein Haus am Nil. Es war anscheinend die Privatwohnung eines englischen Offiziers. Über ein Dutzend Leute waren im Raum, auch einige Stenotypistinnen. Ich wurde einem mittelgroßen, schmächtigen Mann in den Dreißigern vorgestellt.
„Ich bin Ira Hirschmann. Präsident Roosevelt hat mich hierhergeschickt, um mit Ihnen zu sprechen, Herr Brand. Ich flog von New York nach Konstantiopel, kam aber zu spät. Idi fuhr Ihnen nach Aleppo nach, verfehlte Sie dort und in Jerusalem und bin endlich hier, um mit Ihnen zu reden.“
Viel später erfuhr ich von den Schwierigkeiten, die ihm die Engländer gemacht hatten. Er schreibt darüber in seinem Buche Life Line to a Pro-mised Land:
„.. . Ich erhielt daher den Auftrag, mit den Agenten in Kontakt zu kommen. Am 11. Juni 1944 flog ich von New York ab. Direkt nach Ankara. Ich erkundigte mich sofort bei unserem Botschafter Steinhardt über die beiden Lingam (Bandi Grosz und midi, J. B.) und erhielt den Bescheid:
„Die Engländer haben sie geschnappt und sie über die Grenze nach Syrien gebracht. Sie sind jetzt außerhalb meiner Amtsgewalt."
„Wo in Syrien?"
„Das scheint niemand zu wissen."
„Ich habe Auftrag, diese Leute unter allen LImständen zu sprechen, und Sie werden die Engländer ersuchen müssen, sie nach der Türkei zurückzuschicken, sonst werde ich mich auf die Beine machen."
Am nächsten Tage hatten wir eine Unterredung mit dem britischen Geschäftsträger Bennet, den ich dringend um Informationen über den Verbleib der beiden mysteriösen Vermittler ersuchte. Nach einstündigem hartnäckigem Widerstand holte ich aus ihm das Geständnis heraus, daß sie nach Kairo geschafft worden seien, wo sie jetzt unter Schutzaufsicht des britischen Intelligence Service stünden, und daß die ganze Angelegenheit in die Hände von Lord Moyne, damaligen stellvertretendem Staatsminister im Nahen Osten, gelegt werde. So blieb mir nichts anderes übrig, als nach Kairo zu fahren. Mit Lord Moyne zusammenzukommen, war schwierig. Die Engländer wollten keine Interventionen in dieser Angelegenheit. Unsere Gesandtschaft in Kairo hatte inzwischen Lord Moynes Vertreter, John Hamilton, mitgeteilt, Anthony Eden (der damalige britische Außenminister) lade mich ein, sofort im Sonderflugzeug nach London zu kommen, da die Angelegenheit an höchster Stelle in London behandelt werde und so kein Grund zu einer Zusammenkunft mit Lord Moyne oder mit diesen Mittelsmännern in Kairo vorliege.
Instinkt und vollständige Erschöpfung hielten mich jedoch von einem weiteren Flug ab ... und ich entschloß mich, den Engländern nicht zu erlauben, meine Instruktionen noch mehr umzumodeln. Ich teilte meinen Entschluß unserem Gesandten mit und bestand darauf, daß er eine sofortige Unterredung mit Lord Moyne zustande bringe.
Pünktlich um zwölf Uhr mittags fand ich mich vor Lord Moynes Arbeitszimmer ein. Die Tür öffnete sich, und ich wurde zu einem großen, schlanken, breitschultrigen Mann von etwa 65 Jahren geführt. Die ganze Atmosphäre schien grau in grau. Seine Augen waren kalt und stechend ...
Ich ließ mich durch diese Atmosphäre nicht beirren, die kühler war, als ich sie in dieser Situation erwartet hatte. Lord Moyne sprach ruhig, überlegen, reserviert, etwa zwanzig Minuten lang, ohne sich auf irgend etwas festzulegen. Es lief darauf hinaus, daß die britische Regierung sich nicht dazu bereit finden wolle, eine Bestechung zu akzeptieren oder sich in ein Netz verzwickter psychologischer Kriegsführung zu verstricken, und daß gerade dies einer der vielen teuflischen Tricks der Nazis sein könne. Schon der bloße Gedanke eines Austausches von Geld oder Material mitten im Krieg sei widerwärtig.. .
Seine Erklärung war darauf berechnet, die Angelegenheit loszuwerden, indem er mich nach London abschob, um mit Eden über die Sache zu sprechen ...
... Da ich indessen über einen der Ungarn, Gorgey mit Namen (Bandi Grosz, J. B.), selbst schon Informationen eingezogen hatte, ließ ich ihn fallen, bestand jedoch darauf, den anderen, Joel Brand mit Namen, zu sehen. Wiederum drängte Lord Moyne mich, doch Edens Einladung anzunehmen, unter Hinweis darauf, daß auch Mosche Shertok, der in derselben Angelegenheit nach Kairo gekommen war, bereit-willigst auf Edens Vorschlag eingegangen war.
„Ich bin sehr geschmeichelt,“ erwiderte ich, „aber ich habe meine Instruktionen aus Washington, und ich muß es ablehnen, nach London zu fahren.“
So zogen sich Rede und Gegenrede etwa anderthalb Stunden hin, bis ich mich schließlich erhob und erklärte:
„Herr Minister, ich bin der Sohn eines sportlichen Volkes, genau wie Sie. Ich bin bereit, meine Instruktionen von Mister Eden entgegenzunehmen, wenn Sie bereit sind, nach Mister Hulls (damals USA-Außenminister) Weisungen zu handeln. Idi werde nach London fliegen, wenn Sie nach Washington fahren.“ Lord Moyne leuchtete diese Logik offenbar ein, und nachdem ich ihm das Schreiben Präsident Roosevelts gezeigt hatte, das meine Mission verbriefte, wandte er sich schroff an Brigadier Maunsell:
„Mister Hirschmann wird Joel Brand heute nachmittag um drei Uhr treffen.“
Als ich ihn damals in jener Wohnung in Kairo traf, hatte ich nicht gleich erfaßt, daß dieser Mann einen Spezialauftrag Präsident Roosevelts durchführte. Er erschien mir ein wenig eitel und wichtigtuerisch. Im Laufe des Gesprächs aber sah ich, daß meine Geschichte auf ihn Eindruck machte. In seinem Buch gibt er das Gespräch mit mir mangelhaft wieder. Er fragte mich, ob ich ein schriftliches Angebot Eichmanns habe. Ich verneinte. Ich versuchte ihn aufzuklären, daß es jetzt doch gar nicht darauf ankomme, den Deutschen irgendwelche Waren zu liefern. Es komme darauf an, die Verhandlungen weiterzuführen, Zeit zu gewinnen, den Vorschuß von 100 000 Juden zu nehmen, dann werde sich das Schicksal aller Juden, die noch lebten, wenden. Ich müsse sofort zurück, denn sonst verlören wir die Möglichkeit zu manövrieren.
Er versprach sehr viel. Er sagte sogar einen Satz, der mir auffiel:
„Ich bitte Sie, wir zu glauben, Herr Brand, daß weine Regierung durchaus nicht einverstanden ist wit der Art, wie die Engländer diese Sache behandeln. Ich werde nach London fliegen und dort ebenso wie in Washington für Ihre sofortige Freilassung eintreten. Sie werden Gelegenheit haben, Ihre Mission weiterzuführen.“
Aber nichts geschah. Dieselben Verhöre. Dieselben Fragen. Dieselben Antworten. Ich verlor den Mut.
Einige Tage nach dem Zusammentreffen mit Ira Hirschmann erklärte ich den englischen Offizieren:
„Ihr habt kein Recht, mich hier festzuhalten. Ich bin ein Parlamentär. Das, was ihr tut, widerspricht den Regeln des Völkerrechts. Und ihr solltet als erste euch daran halten. Es widerspricht unserem und auch eurem Interesse. Aber darüber will ich mit euch nicht reden. Ich erkläre euch nur, wenn ihr mich nicht in drei Tagen freilaßt, dann trete ich in den Hungerstreik.“
Sie versuchten, mich zu beruhigen, aber ich glaubte ihnen kein Wort.
Am Morgen des vierten Tages lehnte ich die Nahrung ab. Die Engländer nahmen das anfangs nicht zur Kenntnis. Sie servierten mir in diesen Tagen besonders leckere Speisen und servierten nach einer gewissen Zeit wieder ab. Mein Untersuchungsrichter redete mir ernst und freundlich zu.
„Herr Brand, haben Sie doch Vertrauen zu uns. Es geschieht alles zu Ihrem Besten. Man berät diese Sache jetzt in London. Nach einigen Tagen werden Sie freigelassen werden und können die Arbeit für die Rettung Ihrer Volksgenossen fortsetzen. Wenn Sie aber jetzt noch lange hungern, dann verlieren Sie Ihre Kräfte und werden für die Lösung Ihrer Aufgabe physisch unbrauchbar.“
In den ersten drei Tagen brauchte ich meine ganze Energie, um der Versuchung zu widerstehen, etwas von den Speisen anzurühren. Später spürte ich keinen Hunger mehr.
Am neunten Tag brachte mir mein Offizier einen Brief von Echud Avriel.
Joel, ich habe heute Gelegenheit, Dir ein paar Zeilen zu sdtreiben, und ich wöchte Dich über den Fortgang der Angelegenheit auf dew laufenden halten.
Du weißt, daß Shertok in London ist. Wir haben von ihw ständige und optiwistische Nachriditen. Das gleiche kann von Awerika ge-sagt werden, und wir glauben, daß die Grundvoraussetzungen unsererseits so gut wie erfüllt sind. Venia ist schon in Istanbul. Wir haben fortlaufend Nachrichten von Hansi und ab und zu auch von Rezsö. Nach dein bitteren Anfang sind die Dinge endlich zum Stillstand gekommen, und wir haben Grund zur Annahme, daß noch nicht alles verloren ist. Gestern erhielten wir Nachricht aus Instanbul, daß jemand, der dort angekommen ist, Hansi und die Kinder gesehen hat und berichtet, daß sich bei ihnen nichts verändert hat und daß es ihnen gut geht. In unveränderter Treue und Gesinnung 14. 7. 44 Dein Eschud.
Dieser Brief brach meinen Willen. Idi gewann den Eindruck, die Arbeit werde auch ohne mich fortgesetzt. Die Sache sei in guten Händen. Schließlich ist jedermann ersetzbar. Und wenn die Leute Kontakt mit Eichmann hielten, dann war es ja nicht unbedingt nötig, daß ich dort sei. Idi brach den Hungerstreik ab. Aber eine Woche später traf midi ein furchtbarer Schlag. Idi las folgende Reuter-Notiz:
Von zuständiger Quelle erfahren wir, daß die Deutschen in der letzten Zeit einen Erpressungsvorschlag gemacht haben. Sie wollen die ungarischen Juden am Leben lassen, falls die Alliierten einer teilweisen Aufhebung der Blockade zustimmen. Man gibt bekannt, daß von 800 00 ungarischen Juden schon 400 000 nach Polen deportiert und dort von den Nazis vergast wurden. Dasselbe Schicksal erwarte fetzt auch die 400 000 übriggebliebenen Juden. Und diesen Moment haben die Deutschen gewählt, um zwei Abgesandte aus Ungarn nach der Türkei zu schicken, mit Vorschlägen, die angeblich von der Gestapo stammen. Vorschläge, die die Befreiung der noch verbliebenen ungarischen Juden und die Liquidierung der Vernichtungspolitik an bieten, gegen gewisse Konzessionen, nämlich gegen die Erlaubnis, durch den Blokadering Lastautos und andere Waren einzuführen.
Die zwei Abgesandten haben zu verstehen gegeben, daß die Ausrottungspolitik gegen die Juden fortgeführt werden wird, falls diese Forderungen nicht erfüllt werden. Nach Prüfung der Vorschläge hat sich herausgestellt, daß sie keine ernste und solide Grundlage haben und daß sie ein Gemisch von Erpressungen und Drohungen darstellen, mit dem Zwecke, bei den Alliierten Verwirrung zu stiften, um eine erfolgreiche Kriegführung zu lähmen. Es ist zur Zeit klar, daß die Alliierten durch keinerlei deutsche Drohungen oder Kombinationen davon abgehalten werden können, alle Bemühungen fortzusetzen, um das Schidcsal der Juden zu erleichtern, wann und wo immer es nur möglich ist.
Zur Zeit, als dieser deutsche Vorschlag gemacht wurde, sind bereits Nachrichten eingetroffen, daß Admiral Horthy, wahrsdreinlich unter dem starken Druck der Regierungen Schwedens und der Schweiz, befohlen hat, zeitweilig die Tötung der Juden einzustellen. Es ist jetzt noch zu früh zu beurteilen, was diese Meldung bedeutet.
Die Darstellung, die das offizielle englische Büro unserer Mission widmete, war schon empörend. Die ägyptische Presse brachte die Sache ohne Kommentar. Das konnte ich begreifen. Diese Leute waren Feinde unseres Volkes. Was mich aber zutiefst traf, waren die Tatsachen, die ich später erfuhr: Die offiziellen zionistischen Organe in Erez Israel brachten die Reutermeldung ebenfalls ohne irgendeinen Kommentar. Die Sochnuth mußte doch wissen, um was es ging. Weshalb nutzte sie nicht die Gelegenheit, um in der ganzen Welt gegen die englische Darstellung ihre Stimme zu erheben? Warum mobilisierte sie nicht, soweit möglich, die amerikanische Presse, wo es sich doch um das Schicksal des letzten Restes unseres Volkes in Europa handelte? Idi konnte es nicht fassen.
Ägyptische Verschleppung
Nadi meinem Hungerstreik wurden die Engländer immer freundlicher. Sie boten mir alle nur möglichen Erleichterungen an. Idi aß mit ihnen in ihrer Offiziersmesse. Sie unterhielten sich mit mir. Der Kommandant lud midi ein, mit ihm ins Kino zu gehen. Kurz, sie versuchten mit allen Mitteln zu zeigen, daß ich kein Gefangener sei, sondern eine geachtete Persönlichkeit, die aus Sicherheitsgründen eben hier leben müsse.
In dieser Zeit luden mich die Engländer oft zu Gesellschaften in die Hotels und Clubs von Kairo ein. Manchmal auch in Privatwohnungen höherer Offiziere. Es gab zwanglose Gespräche, aber immer hatte ich das Gefühl, daß all das nur eine sehr elegante Form des Verhörs war.
Diese Soireen hörten nicht auf. Der Kommandant überbrachte mir meistens die Einladungen. Ich erfuhr nur sehr selten Rang und Namen der Leute, die mit mir sprechen wollten. Meistens waren es englische Generale, aber auch hochgestellte Leute in Zivil. Einmal waren auch französische Offiziere dabei. Anfangs nahm ich jede Einladung mit Enthusiasmus an. Ich hoffte immer, diese Leute für unsere Sadie gewinnen zu können. Ich hielt sie für einflußreich genug, eine Entscheidung zu unseren Gunsten herbeiführen zu helfen. Später gewann ich den Eindruck, man führe mich hohen englischen Offizieren, die gerade in Kairo eingetroffen waren, als Wundertier vor. Meine englischen Begleiter nannten mich „Heß Nummer zwei“.
Aber es gab auch andere Einladungen, die ernster waren und die mich sehr aufregten. Das waren die Zusammenkünfte mit den offiziellen Vertretern der Sochnuth, in Shephards Hotel in Kairo.
Die Sadie war so gekommen. Anfang August rief mich mein Untersuchungsrichter und teilte mir mit:
. Mister Brand, ich kann Ihnen eine angenehme Nachricht bringen. Es ist beschlossen worden, Sie nach Ungarn zurückfahren zu lassen. Idi danke Ihnen für die Auskünfte, die Sie uns gegeben haben. Sie waren uns sehr nützlich. Idi wünsche Ihnen Glück und hoffe, daß Sie Ihre Mission zu Ende führen können."
. Und welche Direktiven bekomme ich? Was soll ich Eichmann sagen? Ist sein Angebot grundsätzlich akzeptiert?“ „Dies Fragen fallen nicht in meine Kompetenz. Sie besteigen hier ein Flugzeug nach Konstantinopel, das in Jerusalem anhält. Dort steigt ein Delegierter der Sochnuth zu Ihnen ein und instruiert Sic über alles genau. Von Konstantinopel müssen die Deutschen Sie nach Budapest transportieren. Meine Arbeit hier ist beendet."
Idi konnte mich vor Glück nicht fassen. Die nächsten Tage verlebte ich wie in einem Taumel. Täglich gab es Bankette in den Hotels und Clubs von Kairo. Die englischen Offiziere tranken mir zu; sie machten mir unwahrscheinliche Komplimente und wünschten mir Glück. Sie hielten mich deshalb für einen Helden, weil ich es wagen wollte, in die Höhle des Löwen zurückzugehen. Idi selber wußte, daß dazu kein besonderer Heldenmut gehörte. Denn ich glaubte fest daran, mit Eichmann ein brauchbares Abkommen schließen zu können.
Am letzten Tag vor der Abreise bekam ich meine Koffer zurück.
Meine Wäsche war gewaschen, meine Anzüge waren gebügelt, mein Geld hatte ich zurückerhalten. Ich war reisefertig. Ich bat den Kommandanten, mir zu erlauben, in die Stadt zu fahren, um einige Kleinigkeiten für meine Frau und meine Kinder zu kaufen. Er stellte mir seinen Wagen zur Verfügung. Ich kaufte eine türkische Kaffeemaschine für meine Frau und Spielsachen für die Kinder.
Am Abend gab es eine Abschiedsfeier für mich in der englischen Offiziersmesse. Idi schenkte den Offizieren die Bücher, die ich aus Istanbul mitgebracht hatte. Die Stimmung war froh und erregt. Um halb sechs Uhr in der Frühe sollte ich fahren. In der Nacht konnte ich nicht eine Minute lang schlafen. Schon um drei Uhr erhob ich mich, machte mich fix und fertig und wartete. Um halb sechs Uhr kam niemand.
Es wurde sieben. Es wurde acht. Es wurde neun. Um halb zehn Uhr betrat ein Offizier mein Zimmer.
„Mister Brand, 1 am so sorry. Wir bekamen eben ein cable von Jerusalem. Die Sochnuth bittet uns, Ihre Abreise zu verschieben."
Mich rührte fast der Schlag. „Was bedeutet das? Die Sodrnuth? Ich verstehe das nicht?“ „Beunruhigen Sie sich nicht, Mister Brand, es heißt hier , postpone'. Das bedeutet nur eine kurze Verschiebung. Wir können noch heute ein neues Telegramm erhalten. Und Sie fahren dann.“
Ich war verzweifelt. Ich glaubte den Beteuerungen der englischen Offiziere nicht. Es waren gute Jungen, die mich beruhigen wollten. Ich wußte nicht mehr, was ich glauben sollte. Hatten die Engländer mich in der Tat freilassen wollen? Oder war das Telegramm eine Erfindung? Wie konnte die Sochnuth meine Abreise verschieben? Meine Genossen hatten ja immer versichert, daß sie mir helfen wollten, aber von England abhängig seien. Hatte man die Rollen getauscht? Ich verstand gar nichts mehr.
Ich dachte schon an Selbstmord. Aber die Engländer mußten meine Absicht erkannt haben. Sie ließen mich in den folgenden Tagen nie fünf Minuten allein. Dann legten sie mich in eine andere Zelle, in der ich nicht mehr allein war.
Ich beschloß, wieder in den Hungerstreik zu treten, und lehnte die Nahrung ab. Zwei Tage darauf kam der Kommandant zu mir.
„Mister Brand, Sie sind heute mittag ins Hotel Shephard zu einem Essen mit den Delegierten des Jewish Agency eingeladen. Das sind Ihre Leute. Die werden Sie über alles aufklären, mit denen können Sie den Tag Ihrer Abreise festlegen.“
Ich atmete auf. Endlich würde ich den eisernen Ring durchbrechen können, der sich um mich gelegt hatte. Man brachte mich in Shephards Hotel. Dort empfing mich Teddy Kollek. Kollek war Mitarbeiter Ben Gurions, des späteren Premierministers von Israel. Ben Gurion war damals Vorsitzender der Exekutive der Sochnuth. Kollek war seine rechte Hand. Er bekleidet jetzt die Stelle eines Generaldirektors im Ministerpräsidium.
Mein englischer Begleiter stellte mich vor und verabschiedete sich dann. Wann er wiederkomen solle? Kollek bestellte ihn für den Abend. Wir hatten also den ganzen Nachmittag frei, um uns auszusprechen. Ich kämpfte gegen eine Wand. Aber es war eine weiche und elastische Wand. Niemand nahm brüsk gegen mich Stellung. Alle waren von der Wichtigkeit der Aufgaben, die ich gestellt hatte, überzeugt. Aber nichts Durchgreifendes geschah.
„Genosse Joel, du hast eine große Sache begonnen. Wir führen sie zu Ende. Die Deportationen sind eingestellt. Man verhandelt. Man wird die ungarischen Juden retten.“
„Sagt mir endlich, was los ist. Warum werde ich denn hier festgehalten? Die Engländer wollten mich Freitag freilassen. Warum habt ihr telegrafiert, daß man meine Rückfahrt verschieben solle? Seid ihr wahnsinnig geworden?“
„Da handelt es sich um eine Verschiebung von einigen Tagen. Die Sache geht von Konstantinopel aus. Ich selbst kenne nicht die letzten Telegramme, die dort aus Budapest eingetroffen sind. Aber es sieht so aus, als ob deine Budapester Genossen eine Verschiebung deiner Rückkehr wünschten."
Seine Worte regten mich furchtbar auf; ich glaubte nicht, daß in der Tat Budapest meine Rückkehr hinausschieben wollte. Ich ließ mich nicht mehr halten.
„Was geht hier vor? Warum informiert man mich nicht? Warum kann ich nicht zurück? Ich sage nicht, daß ich der beste Mann bin, um diese Verhandlungen zu führen, aber zumindest teilnehmen wollte ich an ihnen. Dabei bin ich davon überzeugt, daß wir weder in Jerusalem noch in Konstantinopel Leute haben, die die Sache genau kennen und übersehen können. Warum hält man mich gefangen? Bin ich ein Verbrecher?“
„Beruhige dich, Joel, hab Vertrauen zu uns. Uns ist jüdisches Leben ebenso heilig wie dir. Es wird nur einige Tage dauern, und du wirst frei sein.“
„Es kommt nicht auf mich an, aber während ich hier sitze, kann die große Chance, die wir haben, verlorengehen. Ich bin überzeugt, daß täglich Tausende deportiert und vergast werden. Ich glaube einfach nicht, daß ihr ohne mich die radikalen Schritte tun konntet, die nötig waren, um den Mördern in den Arm zu fallen.“ „Joel, du tust uns unrecht. Ich kann dir versichern, die Deportationen sind eingestellt. Man verhandelt.“
Er sagte das so eindringlich, daß ich mich beruhigte. Ich war zwar zutiefst davon überzeugt, daß ich für diese Sache nötig war. Aber die Sache selbst war mir viel wichtiger als mein Anteil an ihr.
„Und dann kann ich dir noch etwas sagen, Joel. Dein Eintreffen hier, deine Vorschläge und die der Deutschen, die du gebracht hast, haben die Alliierten gezwungen, endlich zu dieser Frage ernsthaft Stellung zu nehmen. Das, was uns nicht gelungen war, gelang uns jetzt mit deiner Hilfe. Das Weltgewissen ist erwacht. Man interveniert von allen Seiten, um das Schicksal der letzten Juden zu wenden. Hab noch Geduld, Joel, es ist eine große Sache, die du begonnen hast, sie muß gelingen und sie wird gelingen.“
Ich hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln, und glaube auch jetzt noch, daß er es ehrlich gemeint hat. Aber die Nachrichten, die er und Zwi Jechieli mir in den nächsten Wochen brachten, waren zumindest gefärbt, wenn nicht einfach erfunden. Sie wollten mich beruhigen, denn sie hatten den Nervenzustand erkannt, in dem ich mich befand.
Ich hatte diesmal meinen Hungerstreik nicht deklariert, sondern einfach die Nahrungsaufnahme abgelehnt. Ich wollte durch diese Demonstration die Engländer zwingen, mich freizulassen. In den nächsten Wochen hatte ich aber fast ein Dutzend Zusammenkünfte mit den Delegierten der Sochnuth in den Hotels von Kairo. Dort aß ich selbstverständlich, in der Meinung, die Engländer würden diesen Streikbruch nicht bemerken. Jetzt erst weiß ich, wie naiv ich war. Die englischen Offiziere wußten alles genau und brachten mich deshalb so oft zu meinen Genossen ins Hotel Shephard und ins Metropol. Ich lebte damals in einer Zelle mit einem Engländer, der angeblich als Deserteur verhaftet war. Dieser Mann erzählte phantastische Geschichten. Jetzt habe ich den Eindruck, daß er ein Agent der Gefängnisleitung war und gleichzeitig auf mich aufpassen sollte. Schließlich brach ich den Streik, der gegenstandslos geworden war, ab.
Die Gespräche mit der Sochnuth brachten nichts Neues mehr. Ich machte den Leuten dauernd Vorwürfe, sie brachten mir optimistische Nachrichten. Ich glaubte sie zum Teil, denn ich wollte glauben. Sie erzählten mir viel vom Heldenmut meiner Frau. Kastner habe die Führung der Verhandlungen mit Wisliceny und Eichmann übernommen. Alles gehe gut. Sie gaben mir aber keine Erklärung für die Tatsache, daß ich hier noch festgehalten wurde.
Eines Tages wurde ich ins Hotel Metropol zu Zwi Jechieli gebracht. Zwi Jechieli war damals der offizielle Vertreter der Sochnuth in Kairo. Jetzt ist er der Direktor der Israel-Schiffahrtsgesellschaft ZIM. Im Gespräch mit ihm bot sich mir eine faszinierende Möglichkeit. Er verlor kein Wort für die Einleitung.
„Joel, ich bin Kommandant einer Abteilung jüdischer Fallschirmspringer. Wir bilden hier in der Nähe von Kairo Genossen für derlei Aktionen aus. Könntest du irgendwelche Landepunkte in Ungarn Vorschlägen?“ Ich dachte nach.
„Bevor ich antworte, Genosse Zwi, möchte ich eine Frage stellen.“
„Das ist gut jüdisch. Was willst du?“
Ich erhob mich. „Ich will mit abgesetzt werden.“
„Ich kann das nicht allein entscheiden, aber ich glaube, es liegt kein Grund vor, es abzulehnen. Ich bringe dir nächstesmal die Antwort. Aber jetzt setz dich und besprich mit mir die Landungsmöglichkeiten.“
„Wenn ich mit den anderen abgesetzt werden soll, dann ist es am besten, wir springen in der Nähe von Siofok am Plattensee ab. Wir haben dort ein Haus und gute christliche Helfer. Wir erreichen Budapest in einer Stunde.“
„Soll man unsere Leute in englischer Uniform abspringen lassen? Du mußt wissen, daß die Uniform gegen eine sofortige'Exekution schützt.“
„Ja, aber in Uniformen können die Leute doch nichts machen. Sie werden auf der Straße sofort angehalten werden."
„Man setzt sie bei Nacht ab, und so, daß sie einen Punkt erreichen können, wo sie sich umkleiden.“ „Idi halte das für Unsinn; bei mir kommt es ohnehin nicht in Frage. Ich würde mich sofort bei Eichmann melden. Wenn ich mit abgesetzt werde, so werde ich natürlich warten, bis die anderen in Sicherheit sind."
Aber all das war nur Augenauswischerei. Sie wollten midi beruhigen, und sie wollten mich hinhalten. Und es gelang ihnen. Sie schoben meine Abreise nie für einige Wochen oder gar Monate hinaus. Immer ging es nur um die nächsten drei Tage. Ich lebte dauernd in einem Zustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Anfang September ließ midi mein Offizier kommen.
„Wir haben unsere Arbeit mit Ihnen abgeschlossen. Wir sind an Ihrem Aufenthalt hier nicht länger interessiert. Wann und ob Sie nach Ungarn zurückkehren, das machen Sie bitte mit der Sochnuth aus. Wir entlassen Sie jetzt in ein Militärlager, wo Sie vollkommen frei sind. Sie werden dort im Rang eines Leutnants leben und erhalten den Sold Namen eines englischen Leutnants. Wir bitten Sie, Ihren und ihre Geschichte vor Ihren Kameraden dort geheimzuhalten. Sie sind von nun an bis auf weiteres Leutnant Jakobsen. Ich danke Ihnen für die Mühe, die Sie sich gegeben haben, und wünsche Ihnen viel Glück auf Ihrem weiteren Weg. Leben Sie wohl, Leutnant Jacobsen."
Das Auto brachte midi an einen Punkt in der Nähe der Pyramiden.
Es war ein bequem eingerichtetes Speziallager für ungefähr dreißig Leute. Dort hielten sich Agenten des englischen Intelligence Service auf, die darauf warteten, mit einer neuen Aufgabe betraut zu werden.
Es waren Leute, die mit Fallschirm oder mit Unterseebooten ins Feind-gebiet gebracht werden sollten. Es gab Leute der verschiedensten Nationalitäten, Engländer, Deutsche, Franzosen, Inder usw. Alle hatten schon waghalsige Aufgaben im Feindgebiet übernommen und durchgeführ und waren auf phantastischen Wegen zurückgekehrt. Es gab zwei hübsche Frauen, die ebenfalls dazugehörten, aber angeblich mit anderen Agenten verheiratet waren.
Wir waren vollkommen frei. Die Wache hatte nur dafür zu sorgen, daß kein Fremder den Platz betrat. Wir selbst konnten hinaus, mußten uns aber verpflichten, nicht nach Kairo zu gehen. Wir besuchten die ägyptischen Dörfer in der Umgebung und besichtigten die Pyramiden.
Man gab uns luxuriöses Essen, verbot aber den Alkohol. Nirgends habe ich so viel getrunken wie an diesem Ort. Jeder Insasse fühlte sich verpflichtet, soviel Alkohol einzuschmuggeln, wie er nur konnte.
Ich wartete zehn Tage. Als ich sah, daß nichts geschah, mich niemand rief und ich nicht einmal einen Brief bekam, entschloß ich mich, einen Brief offiziell an die Sochnuth zu schicken. Ich hätte diesen " Brief ohne weiteres in irgendeinem ägyptischen Dorf aufgeben können. Ich wollte aber, daß er die Lagerzensur passierte. Ich schrieb ungefähr:
„An die Exekutive der Sochnuth.
Bisher hatte ich geglaubt, daß ich von Freunden unseres Volkes im Interesse unserer gemeinsamen Sache zurückgehalten werde. Die langen Monate meiner Haft haben mich davon überzeugt, daß es anders ist. Ich habe es mit Feinden zu tun. Unter diesen Umständen bin ich gezwungen, Euch mitzuteilen, daß ich die Disziplin, zu der mich Mosche Shertok in Aleppo verpflichtet hat, nicht mehr länger halten werde. Wenn ich binnen acht Tagen nicht befreit werde, dann werde ich trotz der Bajonette der Engländer alles versuchen, um zu flüchten und auf illegalen Wegen zu meinen Genossen nach Budapest zurückzukehren. Für alle Folgen, die sich aus meiner Handlungsweise ergeben, mache ich Euch verantwortlich.
Mit kameradschaftlichem Gruß Joel Brand."
Am dritten Tag kam ein fremder Offizier ins Lager. Er gab mir den Brief zurück.
„Wir befördern solche Briefe nicht. Wir wollen überhaupt mit Ihrer Sache nichts mehr zu tun haben. Wir haben beschlossen, Sie in den nächsten Tagen nach Jerusalem zur Sochnuth zu schicken. Machen Sie dort mit Ihren Leuten Ihre Sachen selber aus. Bereiten Sie sich zur Reise vor.“
Am 6. Oktober, es war der Tag, an dem mein Ultimatum ablief, wurde ich abgeholt. In Kairo, in dem Haus, vor dem ich bei meiner Ankunft vor vier Monaten so lange warten mußte, erklärte man mir, ich werde mit dem Nachtzug nach Jerusalem gebracht. Ein Offizier werde mich begleiten. Bis zur Ankunft in Jerusalem müsse ich den Namen „Leutnant Jacobsen" beibehalten.
Zu meiner Überraschung traf ich im Waggon die Frau von Bandi Grosz, die auch entlassen wurde. Sie wußte nichts von ihrem Mann.
Am nächsten Morgen erreichten wir Jerusalem.
In Jerusalem
Mein englischer Begleiter brachte mich ins King David Hotel, das Hauptquartier des britischen Intelligence Service.
Er ließ mich im Korridor stehen und ging in irgendeinen Büroraum. Einige Minuten später kam es zu einem Auflauf im Korridor. Aus allen Zimmern stürzten die englischen Offiziere heraus, um mich zu betrachten wie ein seltsames Tier. Dann führten sie mich durch verschiedene Räume zu verschiedenen Beamten, die mir alle irgendwelche freundlichen Worte sagen wollten. Schließlich eröffnete mir ein höherer Offizier:
„Mister Brand, Sie sind jetzt frei. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie können nach Konstantinopel gehen, nach Budapest, nach Zürich, wohin Sie wollen. Besprechen Sie das mit der Sochnuth. Wir werden Ihnen nur beihilflich sein. Ich rate Ihnen aber, einige Zeit auszuruhen, sich zu erholen und mit Ihren Freunden zu erwägen, wie Sie Ihre Arbeit am wirksamsten fortsetzen können. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
„Ich danke Ihnen, Major, aber ich glaube, Ihre Leute in Kairo haben mir genug Gelegenheit gegeben mich auszuruhen. Jedenfalls ist mein Bedarf nach Ruhe gedeckt. Es ist Zeit, daß ich endlich wieder etwas tue.“
Er schickte mich in Begleitung eines Offiziers zum Hauptquartier der Polizei. Dort empfing mich ein Inspektor, der auf den hebräischen Namen Chaluz hörte, obwohl er durchaus englisch aussah.
„Mister Brand, wir wollen jetzt Ihre Dokumente ausstellen. Kommen Sie am Nachmittag wieder und holen Sie sich Ihre Identitätskarte. Haben Sie Geld? Oder sollen wir Ihnen welches besorgen?“ hatte noch fast vollzählig die zweitausend Dollar bei mir, mit ich nach Aleppo gekommen war. Außerdem hatte ich im Gefängnis Lohn erhalten.
„Mister Brand, ich rufe jetzt die Sochnuth an und mache für Sie ein Rendezvous aus.“
Zu meinem Erstaunen ließ sich der Polizeioffizier mit Teddy Kollek verbinden. Er war also anscheinend eingeweiht. Teddy Kollek rührte fast der Schlag, als er meine Stimme im Telefon hörte.
'„Joel Brand? Du bist hier? Hat man dich freigelassen? Nimm dir ein Taxi und komm sofort her!“
Der arabische Taxichauffeur stellte sich dumm, als ich ihm das Wort Sochnuth zurief. Auch Jewish Agency habe er nie gehört. Er führte mich schließlich auf allerlei Umwegen in die King George Street. Vor der Tür der Sochnuth erwartete mich Teddy Kollek. Das Haus war leer. Es war der Vorabend des Laubhüttenfestes.
„Daß du da bist, Joel, das ist doch eine Sensation! Wir wußten ja von nichts. Du mußt sofort zu Ben Gurion. Der Alte erwartet dich.“
Endlich stand ich einem Manne gegenüber, der zur obersten Führung gehörte. Ben Gurion war der Vorsitzende der Exekutive und der Vorsitzende meiner eigenen Partei, der Mapei. Im Gespräch mit ihm machte sich die Bitterkeit Luft, die in den langen Monaten der Gefängnishaft sich in mir angesammelt hatte.
„Beruhige dich, Joel Brand, alles ist in bester Ordnung. Wir haben die Verhandlungen ausgenommen, und wir führen sie zu einem guten Ende.“ „Wer verhandelt?“
„Der Vertreter des Joint in der Schweiz, Sally Mayer, ein sehr erfahrener Mann.“
Jetzt wurde ich wütend.
„Und das sagen Sie so in aller Ruhe, Genosse Ben Gurion? Wissen Sie, was Sally Mayer bedeutet? Das ist doch ein alter Mann, der einfach unfähig ist, derlei Verhandlungen zu führen. Sally Mayer, das ist doch ein Nationalunglück."
Ich hatte die weißen Haare Ben Gurions nicht beachtet. Zu spät bemerkte ich meine Taktlosigkeit.
„Für manche Aufgaben ist ein alter Mann besser als drei Junge", sagte Ben Gurion, mich zurechtweisend. Ich gab keine Ruhe.
„Was ist in Ungarn geschehen in dieser langen Zeit?“
„Die Sache steht besser, als du glaubst. Wir haben vieles durchgesetzt. Hunderttausende werden endgültig gerettet sein.“
„Ich muß sofort zurück. Ihr müßt mich jetzt fahren lassen. Mein Platz ist dort.“
„Teddy Kollek wird alles in Ordnung bringen, besprich mit ihm die Sache. Wir werden dir helfen."
Teddy Kollek besorgte mir vorerst ein Zimmer im Hotel.
Die nächsten Tage brachten ein verwirrendes Durcheinander. Ich hatte zwei Aufgaben. Erstens mußte ich mich über all das informieren, was in den Monaten meiner Haft in Ungarn geschehen war. Zweitens mußte ich Rechenschaft fordern für all die Fehler und Versäumnisse des letzten halben Jahres. Aber vergeblich suchte ich die Verantwortlichen. Ich suchte den Mann, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Es gab keinen. Es gab kein Amt in der zionistischen Exekutive oder in der Jewish Agency oder in der Gewerkschaftszentrale, das die Arbeit der HazalaJt kontrollierte. Es gab eine Unzahl Ämter, deren Kompetenzen sich überschnitten. Informationen, die aus Budapest kamen, wurden verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen zugeleitet, die einander nicht unterrichteten. Ich lief tagaus, tagein in unzähligen Ämtern umher, und langsam mußte ich erkennen, daß ich in Gefahr stand, ein Michael Kohlhaas zu werden, der um sein Recht kämpft und einem Phantom nachjagt. Ich will es mir und dem Leser ersparen, den Leerlauf zu schildern, den ich in diesen Ämtern antraf. Nur einige wenige Ereignisse und Gespräche dieser Monate muß ich anführen.
Da gab es eine Abteilung der Jewish Ageacy, Waada Ezra we Ha-zalah, einen Rat für Hilfe und Rettung: also ein Amt mit demselben Namen wie unser Komitee in Budapest. Es war die Zentrale der Rettungsarbeit, der alle Sektionen, wie die in Konstantinopel, in Budapest, Bratislava oder anderswo in der Welt, unterstanden. Ich erwartete, einen Generalstab der geheimen Rettungsarbeit zu finden. Wie sehr wurde ich enttäuscht!
An der Spitze dieses Amtes stand Jizchak Grünbaum. Dieser ehemalige Abgeordnete des polnischen Sejm sprach mit mir nur einige Minuten über die Dinge, die mir am Herzen lagen. Ich mußte annehmen, daß er, der Zugang zu allen unseren Berichten hatte, das Problem allseitig studiert habe. Einige Wochen später stellte ich aber fest, daß er überhaupt keine Stellung nahm zu dem, was in Ungarn geschehen war. Er hatte nur eine Sorge, das Schicksal seines Sohnes, der in Polen geblieben war. Die Tragödie der Hunderttausende berührte er nicht. Das Gespräch hinterließ in mir einen peinlichen Eindruck.
„Warum haben Sie meinen Sohn nicht gerettet, Herr Brand? Sie hatten doch die Möglichkeit dazu, ihn aus Polen nach Ungarn bringen zu lassen?“
„Wir haben uns im allgemeinen nicht mit der Rettung von Einzelpersonen beschäftigt.“
„Um meinen Sohn hätten Sie sich kümmern müssen, Herr Brand. Das war Ihre Pflicht.“
Ich antwortete nicht mehr. Ich hatte Respekt vor seinen grauen Haaren ...
An demselben Tage besuchte ich noch Eliahu Dobkin, den Leiter der Einwanderungsabteilung der Jewish Agency. Dieser Mann war der bestinformierte von allen und hatte hinter den Kulissen großen Einfluß. Er war in dieser Phase ausersehen, mit dem Direktor des Joint, Dr. Joe Schwarz, nach Portugal zu fahren, um dort Kastner und den Vertreter der Deutschen, den Standartenführer Becher, zu treffen. Dort in Portugal sollten die Verhandlungen, die wir in Budapest mit der SS begonnen hatten, endlich abgeschlossen werden.
Dobkin sprach lange mit mir, aber ich hatte nicht den Eindruck, daß er aufrichtig war. Er glaubte, es sei am besten, wenn ich mit ihm nach Portugal führe. Er fürchtete aber, die Engländer würden mir keine Reisedokumente geben. Die Engländer waren zu allem bereit, aber letzten Endes verhinderte es Eliahu Dobkin, daß ich ein Auslandsvisum bekam. Ich bemühte mich lange Zeit, einen Paß zu bekommen. Endlich gaben mir die englischen Behörden ein Reisedokument auf den Namen Eugen Band, auf den mich Eichmann getauft hatte.
Die Zusammenkunft in Portugal war längst inaktuell, die Verhandlungen waren in die Schweiz verlegt worden. Das Schweizer Konsulat war bereit, mir ein. Visum zu geben, verlangte aber zwei Bürgen der Sochnuth. Dobkin lehnte ab.
„Du wirst verstehen, Joel, ich kann doch nicht für einen Eugen Band bürgen, wo du doch Joel Brand bist.“
„Weißt du, Eliahu, bei uns in Mitteleuropa sind viele Juden ins Gas gegangen, weil gewisse Beamte es abgelehnt haben, falsche Papiere zu unterschreiben.“ Die Zentrale der illegalen Arbeit war der Moszad Alija Beth (Büro für illegale Einwanderung). Rein formell unterstand dieses Amt der Gewerkschaftszentrale. In Wirklichkeit übernahm dieses Organ alle illegalen Aufgaben der Gesamtbewegung. Es führte den Kampf gegen die Engländer und durchkreuzte die Bestimmungen des Weißbuches. Die Leute der Alija Beth waren von unserem Typ. Es waren junge Menschen, die die wirklichen Aufgaben einer außergewöhnlichen Zeit erkannt hatten und bereit waren, alle Mittel zu benutzen, um sie zu erfüllen. Es gab dort keine Leute vom Schlage eines Sally Mayer.
Nach den Feiertagen fuhr Teddy Kollek mit mir nach Tel Aviv. Neben dem repräsentablen Neubau der Gewerkschaftszentrale befand sich ein halbverfallenes Haus. Der Zugang war fast konspirativ. Man öffnete mir die Tür, die zu einer versteckten Treppe führte. Hier befand sich das Hauptquartier der Alija Beth. Alles war sehr geheimnisvoll. Fast jedes Möbelstück hatte verborgene Geheimfächer. Alles erinnerte mich an unsere illegalen Büros in Budapest.
Die Genossen liefen zusammen, als sie von meiner Ankunft hörten. Sie umringten mich, jeder wollte etwas hören. Wir setzten uns ganz unformell in einen großen Büroraum und tranken Kaffee und Tee. Nach einer Stunde zwangslosen Gespräches gingen wir in das Gebäude der Gewerkschaft. Im großen Saal waren etwa hundert Personen versammelt. Josef Sprinzak, der jetzige Präsident des israelischen Parlaments, führte den Vorsitz.
„Ich begrüße hier unseren Genossen Joel Brand, den Führer der jüdischen Arbeiterbewegung in Ungarn. Er überbringt uns die Grüße des ungarischen Judentums. . ."
Der Ton dieser Ansprache, der mich an sozialdemokratische Versammlungen der Vorkriegszeit erinnerte, erschien mir ungeheuerlich. Wo ist das ungarische Judentum jetzt, das irgendwem Grüße übersendet? dachte ich. Ich sah vor mir im Geiste die armen Menschen, die in den ungarischen Provinzstädten mit Hunden in die Waggons gejagt wurden. Ich dachte an die Transporte nach Auschwitz, auf denen ein Teil starb, bevor das Vernichtungslager erreicht wurde. Ich hatte es satt, glatt und höflich zu antworten, wo das Herz mir schrie. Ich begann:
„Genossen, niemand hat mich beauftragt, euch die Grüße des ungarischen Judentums zu überbringen, und ich lehne es ab, von euch begrüßt und gefeiert zu werden. Ich kam nach Konstantinopel, um den letzten Rest unseres Volkes in Mitteleuropa vor der Vernichtung zu retten. Ihr hier wart die einzige Hoffnung von Hunderttausenden, die zum Tode verurteilt waren. Ihr habt versagt. Ihr habt zugelassen, daß ich im Gefängnis von Kairo sitzen mußte, während die Menschen, deren Abgesandter ich war, in den Gaskammern von Auschwitz sterben. Ihr habt euch an die Legalität gehalten. Ihr habt keinen Generalstreik erklärt. Wenn es nicht anders ging, hättet ihr mich mit Gewalt aus dem Gefängnis holen sollen. Ich mußte zurück nach Ungarn, um zu retten, was zu retten war. Ihr habt mir nicht geholfen und habt dadurch diejenigen verraten, die mich geschickt haben."
Die festliche Stimmung schwand; betretenes Schweigen verbreitete sich im Saal. Zwei Genossen von der Alija Beth, Saul Meyeroff und Zwi Jechieli, nahmen mich beiseite.
„Joel, du darfst hier so nicht reden. Wir wissen nicht, wer im Saal ist. Irgend jemand könnte die Engländer informieren. Das größte Unglück kann dadurch geschehen.“
Sie liefen zu den anwesenden Journalisten und baten sie, die Sache geheimzuhalten.
Schließlich nahm Eliahu Galamb das Wort. Galamb war damals der Leiter der Haganah, also der geheimen Militärorganisation. Er war auch einer der Organisatoren der jüdischen Brigade in der englischen Armee, ein besonnener Mann, der allgemeine Achtung genoß. Er sprach ruhig und überlegt.
„Joel, du tust unrecht. Wir alle haben Fehler gemacht, und alle, die kämpfen und handeln, müssen dauernd Fehler machen. Aber es ist nicht wahr, daß alles verloren wurde. Hunderttausende sind in Ungarn am Leben geblieben, und wir tun, was in unserer Macht steht, um sie bis zum Ende des Krieges am Leben zu erhalten. Du tust dir selbst unrecht, Joel Brand, wenn du das nicht siehst. Deine Mission ist nicht fehlgeschlagen. Daß du zu uns gekommen bist, hat uns geholfen, eine Bresche in die Mauer des Schweigens zu schlagen. Wir sind jetzt nicht mehr allein. Das Weltgewissen, das so lange geschlafen hat, ist endlich erwacht. Präsident Roosevelt hat interveniert, der Papst, der schwedische König. Wir haben das in London und New York durchgesetzt, und deine Mission hat diese Aktionen letzten Endes ausgelöst. Darauf darfst du mit Recht stolz sein. Wir haben vielleicht zu spät gehandelt.
Das beklagen wir bitter. Es ist aber ein Unrecht, uns vorzuwerfen, wir hätten nichts getan, und es ist ein Unrecht dir selbst gegenüber, wenn du glaubst, deine Aufgabe sei gescheitert. Ich freue mich, daß du jetzt unter uns bist, Joel. Wir verstehen vieles nicht, was unsere Genossen aus Mitteleuropa uns berichten. Du kannst uns helfen, diese Meldungen zu dechiffrieren. Wir werden alles dazu tun, damit du an den Verhandlungen teilnehmen kannst, die jetzt mit dem Feinde geführt werden sollen. Sei nicht ungeduldig, Joel, sei nicht unzufrieden und freue dich, daß du die Arbeit wieder aufnehmen kannst.“
Diese besonnenen und gütigen Worte taten mir wohl. Es sprach noch Melech Neustadt, der Leiter des Weltverbandes der jüdischen Arbeiterpartei. Er schlug vor, eine Kommission zu gründen, die meine Anklagen und Vorschläge untersuchen solle. Man nahm seinen Antrag einstimmig an.
Die Kommission wurde gebildet, tagte ein einziges Mal und schlief dann ein.
Mosche Shertok war in London, als ich befreit wurde. Einige Wochen später kam er zurück. Er sollte in einer großen Versammlung in Haifa sprechen. Ich fuhr hin. Ich kam spät. Der Saal war bereits überfüllt.
Aber Mosche Shertok bemerkte mich sofort vom Rednerpult aus. Er unterbrach seinen Vortrag.
„Genossen, ein Mann ist jetzt in den Saal getreten, um dessentwillen ich mehrere Male nach London gefahren bin. Dieser Mann hat uns eine große Aufgabe gestellt. Mir ist es leider nur gelungen, einen sehr kleinen Teil dieser Aufgabe zu lösen. Ich konnte bei den Alliierten nicht durchsetzen, was dieser Mann verlangt hat. Wäre das gelungen, Hunderttausende unserer Brüder wären am Leben geblieben.
Man hat uns nicht gegeben, was wir brauchten. An dessen Stelle gab man uns die Jüdische Brigade in der englischen Armee. Genossen, ihr wißt, wie sehr mir die Schaffung der Jüdischen Brigade am Herzen liegt. Aber ich erkläre hier vor aller Welt: Hätte ich nur einen kleinen Teil dessen durchführen können, was dieser Mann da gewollt hat, ich hätte gern auf die Jüdische Brigade verzichtet."
Ich wußte damals bereits, wie sehr Mosche Shertok sich um die Gründung der Brigade bemüht hatte, und konnte deshalb seine Worte schätzen. Ich begann einzusehen, daß das Schicksal und die Mächtigen dieser Erde stärker waren als die Führer unserer Bewegung und daß unser Einfluß in dieser Welt sehr gering war. Die Wirklichkeit sah anders aus, als sie sich in den kranken Hirnen der deutschen Nazisten malte.
„Die Weltregierung der Weisen von Zion“ existierte nur im Stürmer.
Nach Tel Aviv zurückgekehrt, schrieb ich an Professor Chaim Weizmann, den Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation und der ]ewish Agency. Nach vierzehn Tagen erhielt ich eine Antwort.
Der Präsident entschuldigte sich, er sei zu sehr beschäftigt, um mich jetzt zu empfangen. Er würde in einiger Zeit darauf zurückkommen. Zwei Wochen später rief mich seine Sekretärin, Fräulein Itkin, an und bestellte mich für den nächsten Tag zum Präsidenten.
Weizmann empfing mich freundlich. Ich wiederholte meine Anklagen. Er hörte sie schweigend an. Manchmal stimmte er mir zu. Er bat mich, in einem Memorandum meine Ansichten festzulegen. Er versprach, mir zu helfen, nach Europa zurückzukehren.
Ich schrieb das Memorandum. Ich wiederholte ein sechstes Mal, was ich in andern Denkschriften gesagt hatte. Der Präsident las es und legte es zu den Akten. Eine Antwort erhielt ich nicht.
Ich schrieb nachher an die Jewish Agency, an die Gewerkschaftszentrale, an die Führung der Arbeiterpartei, an die meisten führenden Leute. Ich klagte an, ich forderte. Man reagierte nicht darauf. Ich hatte es mit einem unpersönlichen Kollektiv zu tun. Ich konnte keinen Schuldigen fassen. Niemand bestritt die Fehler, die gemacht worden waren. Niemand tat etwas, um in letzter Stunde noch etwas zu korrigieren. Meine Bemühungen, nach Ungarn oder zumindest nach Europa zurückzukehren, schlugen fehl. Über all meiner Aktivität aus dieser Zeit lag ein Hauch von Donquichotterie. Langsam resignierte ich.
Im März 1945 flackerte noch einmal die Hoffnung auf. Ein Vertreter der orthodoxen Partei Agudas Israel, Griffel, kam zu mir.
„Joel, ich habe dir in Konstantinopel die ganze Wahrheit gesagt, und du siehst, ich habe recht behalten. Du hast auf uns nicht gehört und bist nach Aleppo in dein Unglück gefahren. Jetzt komme ich wieder zu dir. Ich weiß, wie du kämpfst, du bist einer von denen, die nicht schlafen können, aber mit der Mapei wirst du dein Ziel nie erreichen. Ich mache dir einen Vorschlag. Komm zu uns. Ich lasse dich mit einem französischen Kriegsschiff nach Marseille bringen. Illegal. Von Frankreich aus kannst du die Schweiz erreichen. Unsere Leute bemühen sich jetzt, dort die Verhandlungen mit den Deutschen dem Sally Mayer aus der Hand zu nehmen. Du kannst uns helfen. Es ist die letzte Chance für dich.“
Aber ich war bereits abgekämpft. Eine ganze Nacht lag ich schlaflos da und überlegte seinen Antrag. Ich hatte nicht die Kraft, die Partei und die Arbeiterbewegung, in der ich mein ganzes bewußtes Leben verbracht hatte, zu verlassen. Es erschien mir wie Verrat. Der Gedanke, selbst noch in die Arbeit der Budapester Waada einzugreifen, trat zurück. Um so heißer war mein Bemühen, all das festzustellen, was in der Zeit meiner Gefangenschaft in Ungarn vor sich gegangen war. Ich studierte das gesamte Material, das sich in den verschiedenen Ämtern angesammelt hatte. Ich stürzte mich auf die einlaufenden Depeschen aus Konstantinopel und aus der Schweiz.
Die Meldungen trafen in vielen Büros ein, die miteinander keinen Kontakt hatten und die zum Teil in verschiedenen Städten lagen.
In Jerusalem saß die Sochmtth, in Tel Aviv die Alija Beth, in Haifa kamen die Schiffe aus Konstantinopel mit Einwanderern und mit Briefen an. Die Neueinwanderer wurden von den Engländern in ein geschlossenes Auffanglager nach Athlit gebracht. Ich mußte mir dort eine fiktive Stelle als Latrinenräumer verschaffen, um das Lager betreten zu können. Ich brachte den Menschen, die aus den Hitlergebieten kamen, etwas Obst und Zigaretten mit, um sie zum Reden zu bringen. Ich fuhr manchmal zweimal am Tag den Weg von Tel Aviv nach Jerusalem, um die letzten Depeschen aufzufangen.
In den Ämtern wurde man müde, mich zu empfangen. Man hielt mich für einen Monomanen, der von einer fixen Idee besessen war. Die kleinen Beamten und Sekretärinnen antworteten mir hochfahrend. Manchmal mußte ich eine Stunde auf ein Telegramm warten, manchmal bekam ich es überhaupt nicht.
Aus Hunderten von Einzelmeldungen gelang es mir, die Geschichte der ungarischen Juden im letzten Jahr des Krieges zu rekonstruieren.