waren, sondern, wie Präsident Herriot sich auszudrücken liebte, „seine minderjährigen Brüder“, und daß sie ihr seltsames Recht, ihre Stimme über Gesetze und Steuern abzugeben, die für ihre eigenen Territorien gar nicht galten, mit Zurückhaltung ausüben sollten.
Es ist kaum möglich, die unentwirrbaren Verwicklungen dieser Situation zwischen den Stühlen besser zu illustrieren als mit dem stenographischen Protokoll der Antrittsrede des algerischen Deputierten Saadane, wie sie das Journal Officiel vom 23. August 1946 für die Geschichte festgehalten hat und wie sie hier wiedergegeben sei, weil sie tiefer als jede theoretische Erörterung in einen Abgrund des Mißverständnisses leuchtet:
Hadj A. Saadane: „Ich fühle mich ein wenig verlegen, wenn ich mich an diese Versammlung wende, die in ihrer Mehrheit aus Franzosen zusammengesetzt ist . . ." (heftige Zwischenrufe rechts und im Zentrum) „. .. weil ich fürchte, mich nicht verständlich machen zu können . .
Rufe von vielen Bänken: „Es gibt hier nur Franzosen!“ Edouard Depreux, Minister des Innern (soz.): „Herr Saadane hat sich versprochen!“ Andre Le Troquer (soz.): „Das läßt sehr tief blicken!“ Hadj A. Saadane: „Ich bin wirklich beschämt über diese Unterbrechungen, denn bis heute weiß ich nicht, was ich bin . . .“ (Zwischenerufe rechts und im Zentrum) „Bin ich französischer Untertan? Bin ich französischer
Bürger?“ (Neue Unterbrechungen auf den gleichen Bänken. Rufe auf der äußersten Linken: „Sehr gut!“)
Der Präsident: „Herr Saadane, Sie befinden sich auf der Tribüne des französischen Parlaments!" (Beifall rechts und im Zentrum).
Andre Maroselli (rad.): „Es kann auf dieser Tribüne nur französische Abgeordnete geben, also sind Sie Franzose!“
Andre Le Troquer: „Wir sind in einer französischen Versammlung!“ Stimmen rechts: „Wenn Sie das nicht wissen, dann gehen Sie!“ (Protest-rufe auf der äußersten Linken).
Hadj. A. Saadane: „Wenn uns Frankreich nicht die Rechte gibt, die es uns gemäß seiner philosophischen Tradition und seiner Geschichte geben müßte, dann werden wir gehen .. .“ („Sehr gut!“ auf einigen Bänken der äußersten Linken). „... Ich wollte sagen, daß, wenn ich von dieser französischen Tribüne spreche, zu einer Versammlung, in der sich Bretonen, Elsässer . ..“ (Heftige Zwischenrufe links, im Zentrum und auf der Rechten. Rufe von vielen Bänken: „Franzosen!“).
Patrice Bougrain (rep.): „Es gibt nur Franzosen in dieser Versammlung!“
Andre Le Troquer: „Die Bretonen sind Franzosen!" Hadj. A. Saadane: . wenn ich zu dieser Versammlung spreche, der ich nicht Worte des Hasses bringen will...“
Marcel Roclore (unabh.): „Etwa der Versöhnung?“ Hadj A. Saadane: „... sondern der Wahrheit, im Bewußtsein, daß trotz der Verschiedenheit der Departements ein Bretone oder Elsässer Franzose ist, dann fürchte ich, daß ich als Mohammedaner arabischer Sprache, wenn ich zu Franzosen spreche, die aus ihrer Bretagne kommen, die katholischen Glaubens sind ...“ (Unterbrechungen rechts und im Zentrum. Protest-rufe auf der äußersten Linken.) „... Es ist zum Verzweifeln!“
Das Protokoll der verunglückten Antrittsrede des Hadj Ahmed Saadane, der „nicht wußte, was er war“, hat alle Eigenschaften einer großen Komödienszene — auch die, eine tiefe Tragik zu verhüllen: die Tragik der gestern noch kühnsten und fortschrittlichsten Ideologie, die plötzlich ins Leere fällt. Denn die grotesken Formen, die der Zusammenprall von Ideologie und Wirklichkeit oft annahm, und die unerträgliche Arroganz oder weltschmerzliche Wehleidigkeit, mit der sie sich manchmal ausdrückt, dürfen nicht darüber täuschen, daß diese Ideologie eine der wenigen reichsbildenden Kräfte der Neuzeit war, ein Mythos, der ein Weltreich zusammenhielt; und sie ist so vollkommen mit dem französischen Nationalbewußtsein verschmolzen, daß ihre Krise zur tiefsten Krise Frankreichs geworden ist: der Universalitätsanspruch der französischen Zivilisation als menschliche Zivilisation schlechthin.
Als dieses Frühjahr die ersten Jahreskontingente französischer Soldaten für den Krieg in Algier mobilisiert wurden, erhielten sie mit ihrer Ausrüstung eine Informationsbroschüre über das algerische Problem und über die Sache, zu deren Verteidigung sie unter die Fahnen gerufen wurden: nicht etwa, wie eine feindliche Propaganda behauptet, für die Behauptung einer kolonialen Vormachtstellung, sondern für die Einheit und territoriale Geschlossenheit ihres Vaterlandes selbst. Algerien, „Schöpfung Frankreichs", „integrierender Bestandteil der einen und unteilbaren Republik", genau so französisch wie die Bourgogne, die Bretagne oder das Poitu, kann für sich überhaupt keine andere als die französische Nationalität fordern. Es handelt sich also nicht um die Bekämpfung einer nationalen Unabhängigkeitsbewegung, sondern um die Verteidigung der Republik gegen eine Handvoll Separatisten, die sich gegen ihr Land empört haben, gegen Agenten einer fremden Macht oder gewöhnliche Banditen. Da die Algerier Franzosen sind, können die sogenannten algerischen Nationalisten nur schlechte Franzosen, Verbrecher und Verräter am eigenen Vaterlande, d. h. an Frankreich sein. Da Algerien ein Stück von Frankreich selbst ist — nicht etwa, ein Teil des französischen Empire oder der Union francaise, sondern der einen und unteilbaren Republik — machen sich diejenigen, die sich gegen die Einheit des Vater-landes empören, des Hochverrats schuldig. Mit
Verrätern verhandelt man nicht, man schlägt sie nieder. Angesichts dieser unversöhnlichen Logik gibt es keinen Ausweg, keinen Kompromiß, keine Verhandlungen. Es bleibt in Algerien nur das zu tun übrig, was einst die Jakobiner während der großen Revolution in der Vende getan haben: den Landesverrat auszurotten.
Die mörderische Ausweglosigkeit der algerischen Situation muß unbegreiflich bleiben, wenn man sich diese grundsätzliche Rechtsthese nicht vergegenwärtigt, die Gesetzeskraft hat und geheiligte Wahrheit ist, und deren Begründung zu einem circulus vituosus geworden ist: Algerien ist Frankreich. Gesetzlich, politisch, verwaltungstechnisch und wirtschaftlich existiert Algerien gar nicht. Es ist weder eine Kolonie, noch ein Protektorat, noch ein Dominium, sondern es besteht aus mehreren französischen Departements, die ebenso unabtrennbare Bestandteile der französischen Republik sind wie irgendein anderes Departement. Die Lostrennung Algeriens würde somit nicht dem Verlust eines auswärtigen Besitzes gleichkommen, sondern die Amputation eines Viertels von Frankreich selbst bedeuten. Es ist daher verständlich, um wieviel schwerer die Erhebung Algeriens wiegt und daß sein Verlust etwas grundsätzlich anderes ist als der Indochinas oder selbst Marokkos und Tunesiens. Nicht das französische Empire, sondern die Grundfesten, das Regime und die Institutionen der französischen Republik selbst werden davon erschüttert. Frankreich hat schließlich seine Besitzungen in Asien aufgegeben, die Unabhängigkeit der ehemaligen Protektorate in Nordafrika anerkennen können, und es konnte sich zur Gewährung der inneren Autonomie seiner Kolonien in West-und Äquatorialafrika entschließen, ohne sich „ins eigene Fleisch zu schneiden". Es ist aber äußerst unwahrscheinlich, daß es eine Lostrennung Algeriens ohne tiefgreifende innere Umwälzungen überstehen könnte. In diesem Kampfe ohne Hoffnung geht es um das Schicksal der Vierten Republik.
Das algerische Drama rührt von einem einzigen Widerspruch her, den die juristische Integrationsfiktion nicht mehr zu verdecken imstande ist: Einerseits ein Land, das der Republik vollkommen einverleibt und für „durch und durch französisch“ erklärt wurde, andererseits aber eine eingeborene Bevölkerung, die nicht in der Republik aufging, die immer noch heimatlos und fremd im eigenen Lande vor der Türe steht, und die heute dafür kämpft, auch ein Vaterland zu haben. Langsam, Stück um Stück, beginnt die Fiktion zusammenzubrechen: seit Beginn dieses Jahres gibt es keine algerischen Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung mehr, weil dort die Wahlen nicht stattfinden konnten, und untersteht Algerien nicht mehr dem französischen Innenministerium, sondern einem Sonderminister für Algerien; doch in der gleichen Zeit sind aus drei französischen Departements in Algerien zehn geworden, um die Verwaltungsintegration voranzutreiben . ..
Weil der Widerspruch heute allen in die Augen springt, fragt man sich, wie er eigentlich übersehen werden konnte, und es besteht die Neigung, die offizielle These „Algerien ist Frankreich“ nur für Heuchelei oder besonders spitzfindigen Imperialismus zu halten. Doch bis vor kurzem erschien die These, wenn nicht als getreues Bild der Wirklichkeit, so doch als Vorwegnahme einer Zukunft, die niemand bezweifelte. Nach und nach — durch Schulbildung, Gewährung des Bürgerrechtes an „fortgeschrittene" Algerier, durch die Assimilationskraft des gemeinsamen Militärdienstes und die gegensei-tige Durchdringung der beiden Bevölkerungsteile — französische Kolonisten in Algier, algerische Arbeiter in Frankreich — wurde die völlige Einschmelzung der algerischen Bevölkerung in die französische Nation zur Tatsache. Daß Algerien durch und durch französisch sei, war keine Realität, jedoch ein Ideal, das auf dem Wege war, Wirklichkeit zu werden, eine Hoffnung für die Zukunft. Diese Assimilationsidee war lange Zeit stark und verlockend genug, um einer ganzen algerischen Elite einen Zustand, der vom Ideal weit entfernt war, annehmbar zu machen. Sie blickte auf dieses Tor zur französischen Gemeinschaft, das sich für eine kleine Zahl „Fortgeschrittener“ schon geöffnet hatte und sich eines Tages für alle Algerier öffnen sollte.
„Frankreich, das bin ich! ”
Dem Informationsbüchlein, das an die nach Algerien aufgebotenen französischen Soldaten verteilt wurde, war als Motto ein Auszug aus dem Glaubensbekenntnis eines heute berühmten Algeriers, Ferhat Abbas, vorangestellt, das eines der schönsten Zeugnisse für diese Assimilationsidee ist und die französische These: „Es gibt kein Algerien — Algerien ist Frankreich" völlig zu bestätigen scheint. Unter der Überschrift „Jenseits des Nationalismus: Frankreich, das bin ich!" schrieb Ferhat Abbas, Apotheker und Finanzdelegierter von Setif: „... Hätte ich die , Algerische Nation’ gefunden, dann wäre ich Nationalist und würde mich dessen nicht als eines Verbrechens schämen. Die Menschen, die für das Ideal des Vaterlandes ihr Leben gaben, werden täglich geehrt und gefeiert. Mein Leben ist nicht mehr wert als das ihre. Und dennoch werde ich nicht für das . algerische Vaterland’ sterben, denn dieses Vaterland gibt es nicht. Ich habe es nicht gefunden. Ich habe die Geschichte befragt, die Lebenden und die Toten; ich habe die Friedhöfe ausgesucht; niemand hat von ihm gesprochen. Gewiß, ich habe , das arabische Reich’ und das , muselmanische Reich’ gefunden, die den Islam und unsere Rasse ehren. Aber diese Reiche sind ausgelöscht. Sie entsprachen dem Römischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation des Mittelalters. Sie haben für Epochen und Menschen bestanden, die nichts mehr mit uns zu tun haben. .. . Man baut nicht auf Staub. Wir haben für immer die Nebel und Trugbilder vertrieben, um unsere Zukunft endgültig mit der des französischen Aufbauwerkes in diesem Lande zu verbinden ...
In diesem Lande, das seit hundert Jahren französisch geworden ist, leben sechs Millionen Mohammedaner in elenden Löchern — ohne Schuhe, ohne Kleidung und oft ohne Brot. Aus dieser hungernden Masse wollen wir mittels Schulen, Bauernhilfe und sozialer Fürsorge eine moderne Gesellschaft machen. Wir wollen ihnen zur Menschenwürde verhelfen, damit sie würdig seien, Franzosen zu sein ..
Es ist gut, sich diesen Text ins Gedächtnis zu rufen, der beweist, daß der Assimilationsgedanke, über den man heute wie über ein Trugbild lächelt, einstmals ein Glaube, ein Versprechen, eine Hoffnung, ja fast eine greifbare Realität gewesen ist. Fast. . . . Aber man muß sich auch das Datum des Textes ins Gedächtnis rufen: Er wurde am 23. Februar 1936 in der Zeitung von Ferhat Abbas „l'Entente" veröffentlicht, er ist zwanzig Jahre alt — zwanzig Jahre, in denen sich die Welt verändert hat. Das Drama des heutigen Frankreich, in Nordafrika und andernorts, besteht darin, daß es sich an die Welt und die Ideen aus der Zeit vor der Sintflut klammert. Zur gleichen Zeit, zu der dieses Büchlein an die französischen Soldaten verteilt wurde, verließ der Verfasser jenes Textes, Ferhat Abbas, Algerien, um sich in Kairo den Führern des algerischen Aufstandes anzuschließen. Äußere Ereignisse haben das algerische Drama beschleunigt und haben es ausbrechen lassen, bevor es noch reif war. Die Geschichte dieser zwanzig Jahre: der zweite Weltkrieg, die Niederlage, die innere Zerrissenheit Frankreichs; die alliierte Landung in Nordafrika, die Intri-gen, „Säuberungen“ und mörderischen Bruder-zwiste zwischen Darlan — Giraud — de Gaulle, deren Schauplatz 1942/43 Algerien gewesen ist; die algerischen Soldaten, die, von den Schlacht-feldern Europas und Indochinas heimkehrend, den Glauben an die „weißen Götter“ verloren und die Technik des Kleinkriegs erlernt haben; das Erwachen der Kolonialvölker und der panarabischen Agitation, die von den europäischen Zauberlehrlingen selbst ausgelöst worden ist; die-Irrungen und Wirrsale der französischen Politik in den beiden Protektoraten Tunesien und Marokko, diesen beiden Nachbarländern Algeriens, wo Frankreich nach einer unbegreiflichen Reihe von Gewaltmaßnahmen, Staatsstreichen und falschen Schachzügen plötzlich in panischer Überstürzung alles fahren ließ, und von wo der Funke auf Algerien übersprang, das seinerseits von der augenscheinlich unwiderstehlichen Bewegung erfaßt wurde. Aber der Schlüssel des Dramas ist der Zusammenbruch oder die Preisgabe dieser Assimilationspolitik, die allein der Integration Algeriens in die französische Republik, dieser großartigen und einst so machtvollen Idee, an die heute niemand mehr glaubt, nicht die Franzosen und nicht die Algerier, einen Sinn zu geben und das Tor zur Zukunft zu öffnen vermochte. Da die Algerier keine Franzosen geworden sind, und es auch nie sein werden, wird keine Gewalt und kein Krieg — es sei denn, man führe ihn bis zur Vernichtung — verhindern können, daß Algerien aufhört, Frankreich zu sein, um algerisch zu werden, welche Bindungen auch immer zwischen ihm und Frankreich beibehalten werden können. Es ist unmöglich, einem Volke auf die Dauer das Recht auf ein Vaterland absprechen zu wollen. Und gerade das macht diesen Krieg in Algerien, der im Namen einer verklungenen großen Idee geführt wird, die heute nur noch eine tyrannische Rechtsfiktion ist, zu einem Albtraum.
Geburt einer Nation?
Es ist wahr, daß weder Algerien noch viel weniger die „algerische Nation“ historischen Bestand haben. Vielleicht erleben wir heute die schmerzhafte und blutige Geburt einer Nation mit. Sie geht aus dem Zusammenprall dreier Gewalten hervor, die sich heute, nachdem sie lange Zeit eine Synthese anzustreben schienen, auf algerischem Boden gegenüberstehen. Die sich schnell vermehrende Masse der eingeborenen Algerier, eine durchschnittlich sehr junge Bevölkerung von 9 Millionen, von denen 5 5 Prozent unter 20 Jahre alt sind, die lange Zeit hindurch eine formlose Masse ohne andere verbindende Elemente als die der Familien-und Stammesbande und des Islam war, bis sie die Kolonisierung aus ihrer Bewegungslosigkeit riß. ist vom tumultartigen Aufruhr der mohammedanischen Welt erfaßt worden. Die europäische Kolonie, eine kompakte Besiedlung von einer Million .französischer Algerier', zu der die Einwanderer aus anderen europäischen Ländern und die seit 1870 mit dem französischen Bürgenecht ausgestatteten algerischen Juden zu rechnen sind, ist seit mehreren Generationen tief im Lande verwurzelt und — wie jede herrschende Minorität — von der Angst besessen, „in der Masse der Eingeborenen unterzugehen".
Sie hat sich stets mit allen Kräften einer Verwirklichung der Assimilationspolitik und sogar der Schulausbildung und sozialen Emanzipation der Mohammedaner widersetzt. Zwischen diesen beiden Gruppen stand als Schiedsrichter das Mutterland Frankreich, das allein die Autorität besaß, den beiden algerischen Volksteilen — und in erster Linie dem europäischen — die offiziell verkündete Politik aufzuzwingen, dessen Regierungspraxis jedoch im Verlaufe einer vielleicht unvermeidbaren, auf jeden Fall leicht begreiflichen Entwicklung sich mit den Wünschen der französischen Kolonisten identifiziert hat.
Die Probleme, die das Zusammenleben einer starken, fest verwurzelten und an Reichtum, Kenntnissen und Macht überlegenen europäischen Minderheit, und einer zehnmal so starken und fruchtbareren eingeborenen Bevölkerung auf gleichem Boden aufwirft, stellen sich in den verschiedensten Formen überall, wo Koloni-sation durch Ansiedlung eines — durchaus nicht immer europäischen — „Herrenvolks" erfolgte, aber sie sind noch nie und nirgends in befriedigender Weise gelöst worden. Dieses Problem der gemischten Bevölkerung ist vielleicht das Grundproblem, das unsere Zeit der Menschheit gestellt hat, die bisher in der Praxis selten humanere Antworten gefunden hat als Unterdrückung, Massendeportation, Umsiedlungen oder Völkermord. Die heute lebende Generation hat ebenso viel und mehr Greuel und Massaker erlebt, die unter allen Breitengraden im Namen des Rassenhasses oder des religiösen Fanatismus begangen worden sind, wie die dunkelsten Zeiten der Geschichte. Es ist leicht, aus der Ferne ein Urteil über das Verhalten derjenigen zu fällen, die mit Haß und Angst zu kämpfen haben. Bevor man ein sinnvolles Urteil fällt, sollte man versuchen, zu verstehen.
Algerien ist wirklich „die natürliche Fortsetzung Frankreichs jenseits des Mittelmeers", und es ist wirklich „eine französische Schöpfung". Frankreich fand hier kein Volk, keine Nation, keinen Staat vor: ein von Janitscharen beherrschtes Seeräubernest unter nomineller türkischer Oberhoheit, das von seinem jahrhundertelang uneinnehmbaren Felsenriff aus die Schiffahrt im westlichen Mittelmeer lahmlegte und das kahle, dünn bevölkerte Hinterland tyrannisierte. Selbst der Name „Algerien" ist erst von den Franzosen diesem öden, namen-und geschichtslosen Land gegeben worden. Die Geschichte Algeriens bis zur fransösischen Kolonisation ist die monotone Geschichte eines endlosen Fiaskos: dieses unwirtliche Hochland, durch seine Steilküste fast auf ihrer ganzen Länge vom Meer abgeschnitten, doch allen Eroberungszügen und Nomadeneinfällen aus Osten, Süden und Westen preisgegeben, hat nie zuvor eine innere Einheit, ein eigenes Zentrum, einen Anfang historischer Kontinuität, einen Augenblick selbständiger Existenz gefunden: keiner der Ansätze städtischer Kultur, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf diesem rauhen Boden festzuklammern suchten, hat auch nur drei Generationen überdauert, ehe ihn ein Nomadenzug wieder dem Erdboden gleichmachte, und seine einzigen historischen Denkmäler sind die Spuren ständig wechselnder Fremdherrschaften. Es hatte der Kolonisation keine .organisierte Kraft entgegenzustellen als den wilden, anarchischen Widerstand seiner Berg-und Wüstenstämme gegen jede Herrschaft und jede staatliche Ordnung, und dieser Widerstand wurde in dreißigjährigen Feldzügen mitsamt der Stammesorganisation selbst mit der ganzen Brutalität einer rein militärischen Niederwerfung vernichtet. „Siehst du das Meer sich kräuseln, wenn der Vogel es mit seinem Flügelschlag berührt? Das ist das Bild eures Zuges durch Afrika“, schrieben die arabischen Stammeschefs nach der Niederlage Abd-el-Kaders an den General Lamoriciere, und die Geschichte schien ihnen recht zu geben: so war bisher jede Eroberung über Algerien weggegangen. Doch die französische Kolonisation begann dieses Land mit römischen Methoden, den einzigen, die hier helfen konnten, zu organisieren und bis auf den Grund umzupflügen: Annexion und fortschreitende administrative Eingliederung in das Mutterland, staatlich organisierte Ansiedlung von Militär-kolonien, französischen Städten und Dörfern, die auch äußerlich geradewegs aus Frankreich hierher verpflanzt scheinen, Konfiskation, Urbarmachung und Zuteilung des „herrenlosen", d. h. nicht in Privatbesitz nach französischem Zivilrecht befindlichen Bodens und der Ländereien aufständischer Stämme: die Hälfte des bebauten, größtenteils aus Salzwüsten, Steppe und kargem Weideland gewonnenen fruchtbaren Bodens ist in Algerien französisches Bauernland. Erst durch die wirtschaftliche Eroberung, die der militärischen folgte, ist Algerien wirklich ein Teil Frankreichs geworden.
Die Assimilationspolitik konnte, als sie 1865 einsetzte, wirklich von der „fable rase“ ausgehen: da war kein Rest einer Vergangenheit, an die sich ein algerisches Nationalbewußtsein klammern konnte, und es schien keine denkbare Zukunft außer dem völligen Aufgehen in Frankreich zu geben. Lind tatsächlich ist das Amalgam zwischen Europa und Orient nirgends so weit gediehen wie hier. Doch das Amalgam ergab keine Synthese. Hier war Frankreich; doch die Masse der eingeborenen Bevölkerung blieb außerhalb seiner Schulen, seiner Justiz, seiner demokratischen Institutionen, in der tragischen Situation eines Volkes, das im eigenen Lande etwa den Status von heimatlosen Ausländern hat — weder „Untertanen", die das französische Staatsrecht nicht kennt, noch „Bürger" im vollen Sinn des Wortes —, dessen Sprache offiziell als Fremdsprache und dessen Religion als Sekte galt, ein „inneres Proletariat" im vollen LImfang der Definition Toynbees, gleich fremd am Rande der französischen Städte Algeriens wie in der proletarischen Randzone von Paris, Lyon und Saint-Etienne.
Unübersteigbare Grenze -der Islam
Man mag viele Gründe für dieses Scheitern anführen, und als der entscheidende erscheint auf den ersten Blick der Abgrund, der die Lebenshaltung der arabischen Bevölkerung von der europäischen trennt Doch es gibt in Algerien ein europäisches Proletariat und eine wohlhabende arabische Bourgeoisie; die Scheidung folgt nicht diesen Linien. Von einer Rassen-grenze zu sprechen ist in Nordafrika sinnloser als irgendwo — die arabisierten Berber Nordafrikas sind keine „Farbigen", sondern „Weiße“, und von Segregation war hier niemals auch nur die Rede. Die einzige, doch unübersteigbare Grenze ist der Islam. Das nachrevolutionäre Frankreich hat nicht nur ganze Kolonien, sondern eine ganze Tradition von der katholischen Mission geerbt: es kennt wie die Kirche grundsätzlich keine Rassengrenzen, sondern nur die durch individuellen Entschluß übersteigbare Grenze des Bekenntnisses, und es hat diese Tradition nur säkularisiert, indem es an Stelle des religiösen den „Übertritt der Zivilisation“, juristisch umschrieben durch Schulzeugnis und französisches Zivilrecht, setzt. Doch die Grenze blieb unübersteigbar. Es gibt in Nordafrika keine „Farbenschranke“ und keine „Rassendiskrimination“, sondern etwas grundlegend anderes, das jeden Vergleich mit anderen Gebieten gemischter Bevölkerung verbietet: den Zusammenstoß zweier Zivilisationen mit gleichem Universalitätsanspruch, gleichem Stolz und gleicher Kohäsion. Und hier gilt es, ein weiteres Mißverständnis zu vermeiden: es handelt sich um den Zusammenstoß zweier Zivilisationen, nicht zweier Religionen. Die Kolonisationspolitik der französischen Republik ist streng „laizistisch“ und hat jeden religiösen Missionsversuch vermieden; und der Islam ist zwar ein religiöses System, doch weit mehr als das: ein granitener Blöde, an dem die „Europäisierung“ ebenso abprallt wie die Christianisierung.
Es ist ein geläufiges Schlagwort geworden, den modernen Totalitarismus als den „Islam des 20. Jahrhunderts“ zu bezeichnen. Es ist — hauptsächlich zugunsten des Islam — viel gegen diesen Vergleich einzuwenden, doch soweit es zutrifft, läßt er sich umkehren: der Islam ist ein alt gewordener und versteinerter Totalitarismus. Islam heißt „Unterwerfung", und Unterwerfung nicht nur unter ein religiöses Bekenntnis, sondern unter ein totales religiöses, politisches, juristisches und soziales System, das alle Bereiche des Verhaltens umfaßt und regelt.
Die radikale Einfachheit seines Bekenntnisses, ein aus Judentum und Christentum abstrahierter, doch aller ihrer Mysterien entkleideter, streng rationaler Monotheismus, der sich in die eine Formel „Gott ist Gott“ fassen läßt, und seine auf wenige Formeln und Riten reduzierbare Ausübung gibt seiner Mission noch heute eine unvergleichliche Durchschlagskraft bei Völkern, deren Entwicklungsstufe etwa der Arabiens zur Zeit des Propheten entspricht; die Eroberung ganz Afrikas durch den Islam ist eine durchaus plausible Perspektive. Doch das Bekenntnis bedeutet zugleich die Einbeziehung in ein soziales System, das keine Gemeinschaft außer der religiösen Gemeinschaft des Islam, kein Gesetz außer dem Koran und der Sunna, keine Wahrheit außer der offenbarten Wahrheit des Propheten und keine Wissenschaft außer der Auslegung dieser Wahrheit kennt und anerkennt. Gewiß ist alle Religion in gewissem Sinne ein „totalitäres System“; doch was den Hiam sowohl in seiner Gründung wie in seiner ganzen Geschichte auszeichnet, ist die beharrliche Negation jeder Unterscheidung zwischen geistigem und weltlichem Bereich, geistlicher und weltlicher Autorität, geistlichem und weltlichem Recht — zwischen Physik und Metaphysik. Das Reich des Propheten war durchaus „von dieser Welt“: er war ein politischer Religionsstifter, Prophet, Staatschef und Eroberer in einem.
Die arabische Kolonisation war denn auch wirklich total und dauerhaft wie keine zuvor und seitdem; nicht weil sie besonders grausam oder intolerant gewesen wäre — im Gegenteil, sie übte von Anbeginn eine Toleranz grenzen-loser Verachtung für jene, die außerhalb der Gemeinschaft blieben, in den Ghettos und den Christenvierteln, und diese Verachtung war wirksamer als alle Mission oder Verfolgung —, sondern durch ihre monolithische Wucht. Doch was die Kraft und die Größe dieser politischen Religions-oder religiösen Reichsgründung war, wurde auch ihre Schwäche: die Gesellschaft, die sie schuf, und das Gesetz, das sie ihr gab, waren unabänderlich, und in diese Unabänderlichkeit waren alle Bereiche des geistigen und des materiellen, des politischen und privaten Lebens eingeschlossen. Die Hochblüte der arabischen Kultur und Wissenschaft des Hochmittelalters in ihren Zentren Bagdad und Cordoba, der gegenüber das damalige Europa in tiefster Barbarei lag, ist wie ein Feuerwerk zersprüht: sie war der Feuerregen, der das Einschmelzen der ältesten Kulturzentren des Mittelmeers in den islamischen Block begleitete, und sie erlosch, als diese vorgefundene Substanz aufge-zehrt war. Seit dem 14. Jahrhundert hat die arabische Zivilisation — und nur für ihren Bereich, für den westlichen Zweig des Islam, in dem sich die religiöse Eroberung und arabische Kolonisation deckten, gelten diese sehr summarischen Bemerkungen — buchstäblich keine schöpferische, künstlerische, literarische, philosophische, wissenschaftliche, politische Leistung mehr hervorgebracht und außer Kriegsführern, Despoten und Imams keine Persönlichkeit mehr hervortreten lassen, weder eine individuelle noch eine nationale. Wie der Stil zur Arabeske erstarrte, so erstarrte die arabische Schriftsprache, unwandelbar an den Koran gebunden, zur Gelehrten-und Kirchensprache, den „arabischen Völkern“ so unverständlich wie das Latein den „lateinischen", und Jurisprudenz und Philologie, die einzigen als Hilfsfächer der Theologie an den arabischen Universitäten gelehrten Wissenschaften, zur Exegese der koranischen Tradition.
Die Klaustration der Frau
Es ist wohl das eindrücklichste Symptom dieser Erstarrung, daß das arabische Reich und seine Nachfolger sich als unfähig erwiesen, eine staatliche Verfassung herbeizubringen: es blieb bei dem Versuch, ein Universalreich unverändert mit den Institutionen und Organisationsformen der kareischitischen Stammesverfassung zu regieren, mit denen Mohammed und seine Gefährten aus Südarabien auszogen, um die Welt zu erobern. Die Machtsphären, die der Prophet und seine unmittelbaren Nachfolger in ihrer Hand vereinigt hatten — Staatschef, Kriegsführer, Anführer des Gebets, religiöser, politischer und ziviler Gesetzgeber und Richter zugleich —, wurden nie oder höchstens von Fall zu Fall nach unmittelbar praktischen Notwendigkeiten getrennt. Keine der arabischen Dynastien, in die das Reich zerfiel, hat je auch nur eine verbindliche Thronfolgeordnung geschaffen: die Staatsmacht blieb Eigentum der Familie des Propheten, des kareichitischen Stammes, auf den noch heute jeder arabische Herrscher oder Bandenchef seinen Stammbaum zurückführen läßt, geregelt nach dem gleichen kollektiven Erbrecht, das für ein Weideland galt, und praktisch nach dem Recht des Stärkeren: „Despotie gemildert durch Meuchelmord". Die islamische Gemeinschaft, ob sie als Staat, Kirche, Stamm, Bruderschaft, mahdistische Kriegerschar oder politische Partei auftritt, ist über dreizehn Jahrhunderte dasselbe geblieben: ein Chef und seine Gefolgschaft von Gläubigen. Mit Begriffen aus einer anderen historischen Welt wie „Staat", „Nation", „Demokratie“, „Monarchie", „Feudalismus zu operieren, führt hoffnungslos in die Irre. Die unheimliche Beharrungsfähigkeit einer solchen scheinbar zur Anarchie und Untergang verurteilten religiös-politischen Organisationsform liegt darin, daß sie sich, ob auch zerschlagen oder zersprengt, stets und überall spontan rekonstituieren kann, im entlegensten Bergtal des Atlas wie in einer Barackensiedlung vor Paris: es genügt ein Chef und eine Gefolgschaft von Gläubigen. Und nicht vergessen sei ein anderer Faktor dieser Beharrungskraft: die Kiaustration der Frau, die verschleiert, unwissend und untertänig aus dem öffentlichen Leben verbannt bleibt. Wie revolutionär sich auch die äußere Welt ändert, die Frau und damit die Familie bleibt vor jeder Anfechtung durch das moderne Leben bewahrt, und jede neue Generation wird im Schoße der Unwissenden in die Unterwerfung unter die Tradition geboren.
Diese Abschließung der Frau ist eines der entscheidenden Hindernisse für eine wirkliche gegenseitige Durchdringung der beiden algerischen Bevölkerungsteile gewesen. Selbst wenn sich ein Kontakt, eine wirkliche Freundschaft und Kameradschaft zwischen europäischen und mohammedanischen Männern entwickelt, so erstreckten sie sich fast niemals auf ihre Familien: sie bleiben eine Sache der Männer, beschränken sich auf die Armee, die Fabrik, die Straße, das Cafe, aber sie enden vor der Tür des mohammedanischen Hauses, d. h. sie werden niemals zur familiären Vertrautheit. Der mohammedanische Freund lädt nicht zu sich in sein Haus ein, und wenn er eingeladen wird, dann kommt er allein. Die Frage, ob die Frau an den Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen verschiedenen Ursprungs teilnimmt, oder ob sie davon ausgeschlossen ist, war stets das Kriterium ihres Zusammenlebens. In Nordafrika behielt die Ausschließung der Frau die Kraft eines religiösen Tabus, und zwar nicht von Seiten der Europäer, sondern der Mohammedaner. Welche Beziehungen auch immer zwischen den Männern als Individuen bestehen mochten, in ihrem Privatleben blieben die beiden Bevölkerungsgruppen getrennt wie Öl und Wasser. Tatsächlich war die „Europäisierung“ fast nur bei den als Studenten oder Arbeiter nach Frankreich ausgewanderten Nordafrikanern wirksam, die dort ohne Frauen und Familien lebten, oft genug freilich unter den übelsten und schmutzigsten Umständen. Viele von ihnen — darunter zahlreiche nationalistische Führer, wie Messali Hadj, Ferhat Abbas oder Habib Bourgiba —, die sich nicht mehr in die archaischen Formen des islamischen Familienlebens schicken konnten, haben Französinnen geheiratet. Es geht da um ganz andere Dinge als um Herzensangelegenheiten und Alkovengeheimnisse. Denkt man darüber wirklich nach, so wird man hier einen der Schlüssel zum Verständnis der inneren Zerrissenheit einer ganzen mohammedanischen Elite Nordafrikas finden. Diese Elite steht im Zwiespalt zwischen Frankreich, das ihnen den Weg zur individuellen Emanzipation wies und sie mit einer freiheitlichen Zivilisation in Berührung brachte, und ihrem mohammedanischen Volke, dem anzugehören sie niemals aufgehört haben und von dem sie sich nicht lossagen können und auch nicht wollen. In den französisch-mohammedanischen Beziehungen spielt dieses leidenschaftliche Element, das von einer enttäuschten Liebe und Hoffnung herrührt, eine bedeutende Rolle — ein Element, das man anderswo, z. B. in den anglo-mohammedanischen Beziehungen, vergeblich suchen würde.
„Nationalismus"
Man nennt das Fieber, das die arabischen Länder seit Jahrzehnten zunehmend schüttelt, „Nationalismus“. Auch das ist eines der Worte, die unbedacht aus der westlichen in eine völlig fremde Begriffswelt verpflanzt worden sind. Es gibt außerhalb Arabiens kein arabisches Volk, sondern eine arabische Zivilisation, der nichts fremder ist als der Begriff der Nation: der Islam ist ein übernationaler Universalismus, und die arabische Kolonisation hat die Individualität der Nationen, die sie überrannte, radikal ausgelöscht und eingeebnet. Was man arabische Nationalismen nennt, war denn auch meist kein Ausdruck eines Nationalgefühls, kein Bekenntnis zu einer Nation, sondern ein Bekenntnis zur arabischen Zivilisation und zum Islam, und sein Inhalt war nicht nationale Emanzipation, sondern ein zufällig auf verschiedenen staatlichen Territorien sich abspielender, doch tief einheitlicher Aufstand gegen den Westen, neu nur dem Namen, nicht der Sache nach. Es gehört zu den verheißungsvollsten Erscheinungen der allerletzten Zeit, daß im Mittleren Osten auf die Ära der panislamischen Derwische eine Ära innerer Reformer nach kemalistischem Vorbild zu folgen scheint; doch noch schwankt die Waage zwischen einer Selbsterneuerung, die dem Islam so schrecklich schwer gemacht ist, und dem immer lockenden „Heiligen Krieg“.
In Französisch-Nordafrika finden sich heute alle Varianten der Opposition gegen die französische Vorherrschaft, von den stets mobilisierbaren atavistischen Fanatismen bis zum modernen Nationalismus meist jungtürkischer Inspiration, die eine rückwärts, die andere vorwärts gerichtet, die eine geistig nach Kairo, die andere nach dem Westen orientiert. Bewegungen wie die Partei des Algerischen Manifestes und die des tunesischen Neo-Destur beweisen, daß hier eine Elite durch die Schule französischen politischen Denkens gegangen ist. Denn es gehört zu den Paradoxien des französischen Reiches, daß fast alle antikolonialen Emanzipationsbewegungen ihre Wurzel in Paris haben; die Algerische Volkspartei des Messali Hadj wurde nach dem ersten Weltkrieg als Etoile Nord-Africaine in Paris gegründet und hat noch heute ihre stärkste Basis unter den algerischen Arbeitern in Frankreich; der Gründungsakt des marokkanischen Istiqlal war ein Manifest marokkanischer Studenten in Paris; die „Partei des Algerischen Manifests" und der Neo-Destur sind von der europäisierten, von französischem Geist durchtränkten Bildungsschicht dieser beiden Länder getragen, die, wie sie sagt, „die französischen Schulbücher ernstgenommen hat“. Das ist ein Grundzug, der für alle Teile des französischen Reiches gilt: nicht aus Moskau, sondern aus Paris wurde der Kommunismus nach Indochina importiert, und in Paris, dem Brutherd aller aufrührerischen Ideen, absolvierte Ho Chi Minh seine Lehrzeit als politischer Agitator. Daher die auf den ersten Blick erstaunliche Erscheinung, daß auch die radikalsten Unabhängigkeitsbewegungen der französischen Kolonialländer immer wieder ihre Liebe zu Frankreich beteuern — zu einem anderen Frankreich als dem, das durch seine Generalgouverneure und Residenten in Übersee vertreten ist, zum Frankreich der „Ideen von 1789“.
Die „neuen Männer” in Kairo
Es wäre ein Irrtum, das nur für Phrase und Tünche zu halten. Bei aller Verschiedenheit der Situation und der Partner reproduziert die Auseinandersetzung zwischen Kolonisten und Eingeborenen in Stil, Terminologie und geistiger Haltung in geradezu verblüffendem Maße die Auseinandersetzung zwischen den „beiden Frankreich“ im Mutterland selbst, mit den Kolonisten als der konservativen Rechten und den eingeborenen Nationalisten als radikaler Linken — so sehr, daß ein oberflächlicher Beobachter immer wieder in Gefahr ist, zu vergessen, daß er sich nicht in Europa befindet. Außer dem greisen Abd-el-Krim, dem Helden des Rif-Krieges, dessen Erfahrung und Denken beim Heiligen Krieg stehengeblieben sind, hat sich keiner der nordafrikanischen Führer lange mit den panarabischen, und panislamischen Chefs in Kairo vertragen.
Zwischen diesen Fanatikern und Predigern des Heiligen Krieges, diesen Mystikern und Mystifizierern, die von einer Restauration des arabischen Kalifenreiches träumen, fühlten sich selbst die nordafrikanischen Extremistenführer zu westlich. Sie nahmen ihre Zuflucht zu den Liberalen und Sozialisten Frankreichs und nicht zu den Neo-Imperialisten der Arabischen Liga — und auch nicht, was wir nicht übersehen sollten, zu den Kommunisten. Heute steht der Leiter und Gründer der „Partei des algerischen Volkes", Messali Hadj, der seine Anhänger stets im algerischen Proletariat Frankreichs, d. h. bei der mehr oder weniger „europäisierten“ Arbeiterelite gefunden hat, in einem Kampf auf Leben und Tod mit den Führern der „nationalen Befreiungsfront“ in Kairo und mit seinen eigenen Unterführern, die zur Arabischen Liga übergelaufen sind. Noch ist sein legendärer Name für die algerischen Massen ein Symbol des Befreiungskampfes; doch die politischen Kader, die er seit dreißig Jahren aufgebaut hatte, waren der Polizei bekannt und sitzen längst hinter Schloß und Riegel, und Messali selbst, in Frankreich interniert, jeder Bewegungsfreiheit und Kontakte beraubt, verbraucht sich in hoffnungslosen Bemühungen, seinen Einfluß aufrechtzuerhalten, indem er den Exhemismus der Banden-führer aus Kairo noch überbietet. Auch der Versuch, die „messalistische" Gewerkschaftsbewegung auf legaler Basis zu organisieren und sie dem Internationalen Verband freier Gewerkschaften anzuschließen, um ein Gegengewicht gegen die Agitatoren der Arabischen Liga zu bilden, ist am starren Widerstand der französischen Regierung gescheitert, die unterschieds-los und blind nur an Krieg denkt und gerade dadurch die Führung des algerischen Nationalismus den „neuen Männern" in Kairo in die Hände spielt, von denen vor einigen Jahren niemand etwas wußte. Im benachbarten Tunesien sind Habib Bourgiba und die Neo-Destour in den gleichen gnadenlosen Kampf gegen die Verkünder des Heiligen Krieges in Kairo verstrickt, die dem tunesischen Führer vorwerfen, seinen Frieden mit Frankreich gemacht und seine algerischen Brüder verraten zu haben; in Marokko, wo die Protektoratsmacht das Land am Rande des Bürgerkrieges zurückließ, steht der Sultan noch machtloser der mit den algerischen Aufständischen solidarischen „nationalen Befreiungsarmee“ gegenüber.
Wenn der Krieg in Algerien in einen Rassen-und Religionskrieg ausartet, droht er tatsächlich jede Art des Ausgleichs zwischen Frankreich und seinen einstigen nordafrikanischen Protektoraten unmöglich zu machen und sowohl Bourgiba wie Sultan Mohammed Ben Yussef gegen ihren Willen und gegen ihr besseres Wissen in die Gefolgschaft der arabischen Liga zu zwingen: kein nordafrikanischer Politiker kann sich lange der Solidarität mit den „algerischen Brüdern“ entziehen. Der Anschluß eines so reformwilligen und gemäßigten algerischen Führers wie Ferhat Abbas an das Kairoer Komitee zeigt, in welchem Maße sich die Lage in den letzten zwei oder drei Jahren verschärft hat. Selbst dieser Politiker, der ideologisch und gefühlsmäßig so weit vom „Pan-Arabismus“ entfernt ist und der sich bei seiner Ankunft in Kairo entschuldigen mußte, die französische Sprache besser zu beherrschen als die arabische, sah keine Möglichkeit mehr, außerhalb der von der Arabischen Liga geleiteten Bewegung politisch tätig sein zu können. Aus Kairo, dessen Einfluß in Nordafrika bis vor einigen Jahren noch gleich null war, die Hauptstadt des algerischen und morgen vielleicht des nordafrikanischen „Nationalismus“ gemacht zu haben, das ist das bestürzendste Ergebnis einer französischen Politik, die in ihrer perspektivenlosen Kurzsichtigkeit systematisch alle Chancen Frankreichs verschleudert.
Die Entwicklung von Ferhat Abbas kann als repräsentativ für die algerische Elite gelten, die Frankreich am nächsten steht. Wir haben sein ehemaliges, zwanzig Jahre altes Glaubensbekenntnis, „Frankreich, das bin ich“, zitiert, so wie es in der an die französischen Truppen verteilten Broschüre abgedruckt ist. Leider ist das Zitat unvollständig. Schon damals wurde Ferhat Abbas von den Wortführern der französischen Kolonie in Algerien des „Nationalismus" angeklagt — von denen, wie er sagt, „die uns vorwerfen, unsere Schulbücher ernst zu nehmen" — denn für die französischen Sieger war ein Araber schon dann „Nationalist“, wenn er, nicht etwa die Unabhängigkeit Algeriens, sondern jene Gleichberechtigung als Bürger forderte, die ihm in allen öffentlichen Reden unaufhörlich versprochen wurde. Sein Artikel „Frankreich, das bin ich“ wandte sich gerade gegen diese Anschuldigung: „Niemand glaubt übrigens ernsthaft an unseren Nationalismus. Dieses Wort wird nur als Vorwand benutzt, um unsere wirtschaftliche und soziale Emanzipation zu bekämpfen, die wir mit der ganzen Kraft unseres Willens anstreben. Vergessen wir nicht: Ohne die Emanzipation der eingeborenen Algierer gibt es auf die Dauer kein französisches Algerien!“ Was zum algerischen „Nationalismus“ geworden ist, war anfangs tatsächlich nur dieser Wille zur Emanzipation, der sich schließlich gegen Frankreich gewandt hat, nachdem die Hoffnungen und Illusionen geschwunden waren, die Emanzipation innerhalb der französischen Gemeinschaft zu erreichen.
Der Gesetzentwurf Blum-Viollette
Der historische Zusammenhang ist ebenso wichtig wie der Text. Der Zeitpunkt seiner Abfassung war ein entscheidender Wendepunkt der Assimilationspolitik. Einige Monate später legte die Regierung Blum, gestützt auf eine starke Mehrheit im Parlament, der Deputiertenkammer einen vom ehemaligen Generalgouverneur in Algerien, Viollette, ausgearbeiteten Gesetzesentwurf über die Gewährung des französischen Bürgerrechts an die „fortschrittliche Elite“ Algeriens vor. Der Entwurf, beschränkt in seiner praktischen -Auswirkung, war revolutionär im Prinzip. Bis dahin konnte jeder Algerier, so gut wie jeder Ausländer — mit dem einzigen Unterschied, daß die französischen Behörden in Algerien für eingeborene Bürgerrechtskandidaten bedeutend weniger Entgegenkommen zeigten, als für solche europäischer Abstammung — unter bestimmten Bedingungen individuell seine Naturalisation als Franzose beantragen. Zu diesen Bedingungen gehörte die Absage an die zivilrechtlichen Vorschriften des Korans und die Anerkennung des französischen bürgerlichen-Gesetzbuches. Diese Bedingung hatte sich als ein unübersteigbares Hindernis für die meisten Mohammedaner erwiesen, für die das koranisehe Familien-und Eigentumsrecht zugleich juristisch und religiös verbindlich war. Diese Klausel, die der Theorie einer „Assimilation“ im strengen Sinne des Wortes entsprach und den völligen Brudi mit der arabischen, zugunsten der französischen oder „westlichen" Zivilisation verlangte, bedeutete schlicht und einfach, daß die französische Gemeinschaft wohl individuell einige „assimilierte" Mohammedaner in ihr Bürgerrecht aufnehmen wollte, die sich von ihrem Volk und ihren religiösen Bindungen lossagten, daß sie aber keineswegs gewillt war, eine mohammedanische Bevölkerung als solche in sich aufzunehmen. Der Gesetzentwurf Blum-Viollette sah nun zum ersten Male die Gewährung des Bürgerrechts bei Beibehaltung des zivilrechtlichen Status —, das heißt ohne Preisgabe der koranischen Rechtsvorschriften, — an eine kleine algerische Elite vor. an Würdenträger, Notabein, Veteranen, Inhaber von Studienzeugnissen, im ganzen an etwa 3 5 000 Algerier, die das Bürgerrecht in Raten zu einigen tausend pro Jahr erhalten sollten. Dieser Entwurf drohte die französische Kolonie wirklich nicht „in der Masse der Eingeborenen untergehen zu lassen", aber er öffnete eine kleine Tür in der Mauer zwischen „Europäern" und „Eingeborenen". Darauf spielte sich die klassische Szene ab, die die ganze Welt seit dem 6. Februar 1956 kennt, als der französische Regierungschef von seinen eigenen Landsleuten mit faulen Tomaten und Protestgeschrei in Algerien empfangen wurde. Desgleichen reagierte die französische Kolonie in Algerien auf den Plan Blum-Viollette mit Rebellionsdrohungen, gewalttätigen Kundgebungen und der kollektiven Abdankung aller Bürgermeister Algeriens als Zeichen ihres Protestes. Und auch die damalige Regierung kapitulierte bedingungslos und begrub schweigend ihren Gesetzesentwurf, der nicht einmal dem Parlament vorgelegt wurde.
Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, daß ein Assimilationsplan, der feierlich angekündet worden war, auf diese Weise stillschweigend begraben wurde — seit 1865 hat es Dutzende davon gegeben — aber es war das erste und das letzte Mal, daß ein derartiges Projekt bei den algerischen Mohammedanern ein starkes Eche hervorrief, und dieses Mal war die Enttäuschung endgültig. Nach dieser Schlappe konnten sich diejenigen, denen man die halbgeöffnete Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, nicht mehr der Erkenntnis verschließen, daß sie draußen standen. Die Geburt des algerischen „Nationalbewußtseins“ ist nicht anderes als dieses Dämmern der Erkenntnis, außerhalb der französischen Gemeinschaft zu stehen. Als drei Jahre später am Vorabend des Krieges der Innenminister der Regierung Daladier, Mistler, Algerien besuchte, schleuderte ihm Ferhat Abbas folgenden Alarmruf entgegen: „Wenn nicht umgehend umfassende politische und wirtschaftliche Reformen diesen gegenwärtigen Zustand, der das Ergebnis von hundert Jahren Kolonisation ist, auf eine Rechtsgrundlage stellen, dann erkläre ich, daß wir nicht nur das Projekt Blum-Viollette begraben werden, sondern daß das ganze französische Werk daran zugrunde gehen wird. Es muß gehandelt werden! Denken Sie gut über meine Prophezeiung nach! Wenn feindliche Armeen vor den Toren Algeriens stehen und die leichtgläubige Masse der hungernden Bauern sie für Befreier hält, dann wird Herr Mistler die Herzen unserer Fellachen zu gewinnen trachten. Aber dann wird es zu spät sein . . .“ Was Ferhat Abbas übrigens nicht daran gehindert hat, sich bei Ausbrudi des Krieges als Freiwilliger zur französischen Armee zu melden ...
„Das Manifest des algerischen Volkes"
Seit dieser Zeit ist die französische Politik in Nordafrika planlos, ohne leitende Idee, ohne Vorstellung einer möglichen Zukunft. Sie ist erstarrt in der Verteidigung eines Status quo, der in einem von der Welt isolierten Algerien auf Grund des lokalen Kräfteverhältnisses noch lange hätte aufrecht erhalten werden können, der aber seit den Umwälzungen der Kriegs-und Nachkriegszeit und vor allem seit der Gewährung der Unabhängigkeit an die benachbarten Protektorate zu einer tragischen Illusion geworden ist. Fünf Jahre lang ermöglichte es der Kriegszustand, jedes öffentliche politische Leben in Algerien zu ersticken. Da die mohammedanischen Parteien bei Kriegsausbruch aufgelöst oder verboten wurden und ihre Führer sich im Gefängnis oder unter Überwachung befanden, blieb an der Oberfläche alles ruhig. Aber unter der Oberfläche gerieten gerade in diesen Jahren die Geister in geheime Gärung. Den Wendepunkt bezeichnete das „Manifest des algerischen Volkes“, das von Ferhat Abbas verfaßt und den französischen Behörden und Alliierten in den Wochen der Verwirrung und Ungewißheit, die auf die anglo-amerikanische Landung im November 1942 folgten, übergeben wurde und das eines der großen Dokumente der algerischen Geschichte bleiben wird. Zum ersten Male nicht allein an die französische Regierung, sondern an die „demokratische Welt" gerichtet, nicht nur von den politischen Freunden Ferhat Abbas, sondern von einer großen Anzahl von Notabein und Ulemas (religiösen Autoritäten) unterzeichnet — ein erstmaliges Zusammengehen der traditionellen mohammedanischen Kräfte und.der westlich orientierten Elite — kommt das „Manifest“ nach einem bemerkenswert objektiven Überblick über die Kolonisationsgeschichte, ihre Leistungen und Fehlschläge zu dem Schluß, daß die Politik der Assimilation gescheitert ist: „Es ist klar erwiesen, und Staatsmänner und französische Juristen haben es bestätigt, daß Frankreich als christliche und lateinische Nation keinen mohammedanischen Algerier in seiner Gemeinschaft und Familie aufnehmen kann, ohne seine nationale Einheit zu gefährden, wenn dieser nicht seinem religiösen Glauben abgeschworen hat. Angesichts dieses Sachverhaltes ist es gerecht und menschlich, daß ein mohammedanischer Algerier wenigstens Bürger in seinem eigenen Lande sei. Das ist die klarste und einfachste Rechtfertigung für die Anerkennung der algerischen Nation . .. Die Zeit ist vorbei, in der ein algerischer Mohammedaner etwas anderes sein wollte als ein mohammedanischer Algerier.“
Das Manifest wollte weder die Leistungen von hundert Jahren Kolonisationsarbeit in Frage stellen noch die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten der Vergangenheit anklagen. Es akzeptierte den durch die Kolonisation geschaffenen Tatbestand als Ausgangspunkt für eine französisch-algerische Föderation, indem es an die Souveränität Frankreichs auf dem Gebiet der Verteidigung und der Außenpolitik nicht rührte, den Status der französischen Siedler durch die doppelte französische und algerische Staatsangehörigkeit der Franzosen in Algerien — und ebenfalls der in Frankreich wohnhaften Algerier — sicherstellte, aber für die innere Selbstverwaltung Algeriens freie Bahn schaffen wollte. Diese Vorschläge nahmen jenen ganzen Ideenkomplex der Nachkriegszeit vorweg, der auf eine Umbildung des französischen Kolonialreichs in eine Förderation assoziierter Länder, in eine „Union franaise" zielte, deren Kern die franco-algerische Föderation hätte bilden können. Aber die Ideen der Föderation und lokalen Autonomie sind mit der französischen Doktrin von der absoluten und unteilbaren Souveränität unvereinbar geblieben.
Die „Union francaise“ ist eine leere Formel der Rhetorik geblieben, und Algerien „existiert weiterhin nicht“, „weil Algerien Frankreich ist und weil es von Flandern bis zum Kongo nur ein einziges Gesetz, eine einzige Nation und ein einziges Parlament gibt. So lautet die Verfassung, und das ist unser Wille" (Francois Mitterand, Innenminister — und somit zuständiger Minister für Algerien — der Regierung Mendes-France vor der Nationalversammlung am 12. November 1954, einige Tage nach dem Beginn des Aufstands in Algerien).
In der Zwangsjacke einer allmächtigen Verwaltung
Es wäre ein langwieriges und mühsames Unterfangen, den verschlungenen Pfaden der algerischen Nachkriegspolitik nadizugehen, die zwischen widersprechenden Doktrinen hin und her schwankte, ohne einen neuen Weg zu finden: Verspätete Assimilationsmaßnahmen bei Kriegsende, die mit 8 Jahren Verzögerung den Blum-Viollette-Plan verwirklichten und kein Echo mehr hervorriefen; Aufstände und blutige Unterdrückungsmaßnahmen, die im Mai 1945 das Ende der Feindseligkeiten kennzeichneten; verworrene Beratungen in der konstituierenden und in der Nationalversammlung, die 1947 zum „organischen Statut für Algerien", einem hinkenden Kompromiß zwischen Integration und Autonomie führten. Es ist auch überflüssig, die Vorzüge und Fehler dieses neuen Statuts zu erörtern. Wenn es loyal gehandhabt worden wäre, hätte es in dieser Form wenigstens als Ausgangspunkt für eine französisch-algerische Zusammenarbeit und für eine begrenzte Beteiligung der Algerier an der Verwaltung ihres Landes dienen können. Doch zehn Jahre, nachdem dieses Statut Gesetzeskraft erlangt hat, gibt jedermann, einschließlich der französischen Regierungen und der Generalgouverneure selbst, völlig unumwunden zu, daß es überhaupt nie beachtet worden ist und Algerien unter einem Regime der Willkür gelebt hat — „unter der Verachtung des Gesetzes und dem Gesetz der Verachtung", nach den Worten Ferhat Abbas'.
Soweit die Algerien zugestandene, begrenzte Selbstregierung wirksam wurde, diente sie nicht dazu, die eingeborenen Algerier an der Verwaltung des Landes zu beteiligen, sondern die Verwaltung noch stärker der Autorität der französischen Regierung zu entziehen und sie ganz den Händen der Kolonisten und der unabsetzbaren und unverantwortlichen Kolonial-beamten auszuliefern. Offen und zynisch, ohne die geringste Bemühung, auch nur den Schein zu wahren, hat diese Verwaltung alles echte politische Leben erstickt, „Eingeborenenparteien" nach Belieben aufgezogen und unterdrückt, die Wahlen der „zweiten Wahlkategorie“ — das getrennte und ungleiche Wahlrecht der mohammedanischen Algerier ist das äußere Zeichen des ungleichen Bürgerrechts — nach eigenem Gutdünken „gemacht" und auf diese Weise die schon von vornherein beschränkten Rechte der demokratischen Vertretung, welche die Verfassung den Mohammedanern gewährte, ins Lächerliche gezogen. Ein unverdächtiger Zeuge, der französische Bürgermeister von Algier und ehemalige Minister Jacques Chevallier, sagte über die jungen, an Zahl noch geringen algerischen Intellektuellen: „Von französischer Kultur erfüllt, wollen sie sich äußern und an den öffentlichen Geschäften ihres Landes teilnehmen können. Und da sie wissen, daß sie nicht gewählt werden können, weil die Fälschung der Wahlen bis jetzt die Regel — eine eiserne Regel — gewesen ist, greifen sie zur Revolte. Das Land ist in vollem Aufruhr und gleicht einem kochenden Kessel, der mangels eines Sidierheitsventils, d. h. eines echten politischen Lebens mit parlamentarischen Parteien, zu explodieren drohst (Interview für „Preuves", März 1956).
So hat Algerien seit dem Kriege in drückender und täuschender Ruhe in der Zwangsjacke seiner allmächtigen Verwaltung künstlich dahingelebt, während an seinen Ost-und Westgrenzen die nationalistische Agitation fieberhaft tätig war und schließlich triumphiert hat.
Bewaffnete Banden, die einsickerten, und Funken, die über die Grenze sprangen, führten im November 1954 zur Erhebung im Aures-Gebiet, dem alten Schlupfwinkel aller aufrührerischen algerischen Elemente. Aber von dort aus hat die Feuerbrunst allmählich auf ganz Algerien von der tunesischen bis zur marokkanischen Grenze übergegriffen. Nordafrika von Tunesien bis Marokko — des Maghreb, „die Insel des Westens“, wie sie die Araber nennen, eine von Meer und Wüste umgebene Insel — ist trotz ihrer politischen und verwaltungsmäßigen Aufteilung eine geographische und ethnographische Einheit. Die französische Politik der letzten Jahre ist der bestürzenden Illusion erlegen, welche die Gründer des Empire keineswegs teilten, daß es möglich sei, in Nordafrika drei nicht nur verschiedene, sondern diametral entgegengesetzte politische Richtungen einzuschlagen. Für den algerischen Konflikt muß eine Lösung gefunden werden, die sich mit der in Marokko und Tunesien erfolgten Entwicklung vereinbaren läßt, oder er wird ganz Nordafrika mit Krieg und Anarchie überziehen.
Aber gerade die fast totale Integration Algeriens in der französischen Republik macht jede Lösung heute fast undenkbar, und die Schwierigkeiten sind nicht etwa nur staatsrechtlicher Art. Marokko und Tunesien haben selbst unter der französischen Verwaltung niemals ihre Eigenart, Tradition und nationale Existenz verloren. Sie haben niemals aufgehört, organisierte Staatswesen zu sein, die zwar unter französischer Schutzherrschaft standen, aber nicht in Frankreich eingegliedert waren. Ihre eingeborenen Verwaltungskader bestanden, selbst wenn sie auf rein dekorative Aufgaben beschränkt wurden, weiter und konnten in ihre Funktionen wieder eingesetzt werden. Das Problem der „gültigen Gesprächspartner“, der legi-timen Vertreter, stellte sich nicht. Nach 125 Jahren totaler Kolonisation hat Algerien keine anderen Kader als die französischen, kein politisches Leben, keine historische Kontinuität, keine lebendige Tradition, keine qualifizierten Vertreter, weil ihm nicht gegestattet worden ist, sie zu entwickeln. Da die französische Kolonisation in Algerien umfassender gewesen ist als anderswo, würde Frankreichs Rückzug, wenn er zum Rückzug der französischen Bevölkerung würde, Algerien der Anarchie und einem Rüdefall in die Barbarei ausliefern, die Frankreich einst vorgefunden hatte, und dieses gestern noch anscheinend so blühende Land wieder zur Wüste oder Weidewirtschaft halbnomadischer Stämme herabsinken lassen. Diese Perspektive scheint undenkbar; doch wurden in der französischen Presse dieses Frühjahr allen Ernstes Vorschläge diskutiert, die europäische und „loyale“ Bevölkerung auf eine Rüdezugszone um Algier und Oran — eine Art belagerter Festung im arabischen Bereich nach dem Vorbild Israels — zurückzuziehen und den Rest des Landes seinem Schicksal zu überlassen.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten
Denn ebenso brüchig wie das politische Werk ist die wirtschaftliche Leistung Frankreichs in Algerien, trotz den der Steppe und Salzwüste abgerungenen Ländereien und den eindrucksvollen französischen Städten, die die algerische Mittelmeerküste säumen. Der Grund ist derselbe: die breite, elende Masse der mohammedanischen Bevölkerung Algeriens steht außerhalb dieses Kolonialisationswerkes, das auf ihrem Boden aufgebaut worden ist. Selbst ohne den Funken von außen wäre es aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen und infolge des Druckes der zu großen in Arbeitslosigkeit und Stagnation dahinvegetierenden arabischen Bevölkerung früher oder später zu einer Explosion gekommen.
Hundert Jahre pax franca, geordnete Verwaltung, Sicherheit, Freizügigkeit und jene Anfangsgründe von Hygiene, Antisepsis und Seuchenbekämpfung, die eine Begleiterscheinung jeder europäischen Kolonisation sind, haben die Dämme eingerissen, die einst Nomadeninvasionen, Stammeskriege, Epidemien und Hungersnöte gegen die grenzenlose Fruchtbarkeit aufgerichtet hatten, die das Gesetz der orientalischen Völker ist. Dieses Land, dessen Bevölkerung nach der Eroberung um 1860 auf etwas über zwei Millionen gesunken ist, zählt heute fast 10 Millionen Einwohner. Der jährliche Geburtenüberschuß schwankt zwischen 150 000 bis 200 000. Es ist das Drama jeder europäischen Kolonisation, daß sie immer mehr hungernde Münder hervorbringt, als sie beschäftigen, unterbringen und ernähren kann.
In Algerien ist dieses Problem durch eine Kolonisationsform im Colbertschen Stil des 17. Jahrhunderts noch erschwert und nahezu unlösbar gemacht worden. Die französischen Siedler haben Algerien ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen entsprechend organisiert und bebaut, indem sie nach Algerien mit einer provinziellen Wirtschaftsstruktur und -mentalität ihre heimischen Dorfanlagen und Nutzpflanzen mitbrachten: nämlich den Wein und den Weizen, wodurch die Überproduktion an gleichen Nahrungsmitteln in Frankreich noch vermehrt worden ist. Sie haben auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelmeeres bis ins Aussehen der Dörfer getreulich die französische Provinz kopiert, aus der sie stammten, und die eingeborene Landwirtschaft in die unfruchtbaren oder schwer bebaubaren Berg-und Steppengebiete zurückgedrängt. Algerien hat praktisch überhaupt keine Industrie, nicht einmal zur Verbesserung oder Verarbeitung seiner landwirtschaftlichen Produkte; die Industrie des Mutterlandes hat immer scharf auf die Aufrechterhaltung ihrer Monopolstellung geachtet. Die Ausbeutung der Bodenschätze, an denen besonders Südalgerien reich ist, ist noch nicht einmal in Angriff genommen worden. Wirtschaftlich selbst genügsam, ohne Expansionsdrang und ohne Bevölkerungsüberschuß, hatte Frankreich weder ein Interesse noch vielleicht die Möglichkeit, vor allem aber keinerlei Notwendigkeit, die erforderlichen Gelder für die Verwirklichung großartiger Pläne für Bewässerung, Modernisierung der landwirtschaftlichen Betriebe, Einführung neuer Kulturen, Ausbeutung der Bodenschätze und Industrialisierung Algeriens, die in den Schubladen der Studienkomitees ruhen, flottzumachen. Algerien besitzt keine Energiequellen, die eine halb handwerkliche Industrialisierung mit geringen Mitteln ermöglicht hätten, und Mittel zu großen Investitionen sind niemals verfügbar gewesen. Was im Laufe von hundert Jahren Kolonisation durch und für die Siedler selbst ohne allzu große Investierungen geschaffen werden konnte, ist seit Beginn dieses Jahrhunderts zu ihrer Zufriedenheit geschehen, und die Kolonisation hat sich seitdem nicht weiter entwickelt, sondern geht seit zwanzig Jahren langsam zurück. Algerien leidet nicht nur an Kapitalmangel, sondern an einer Kapitalabwanderung, die durch die Unsicherheit der letzten Jahre nur noch beschleunigt worden ist.
Um den Krieg in Algerien volkstümlich zu machen, sind seit einiger Zeit alarmierende Zahlen über die wirtschaftliche Katastrophe veröffentlicht worden, die der Verlust des Landes in Frankreich heraufbeschwören würde. Dodt gerade vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus, ganz abgesehen von den ungeheuren militärischen Kosten, ist Algerien für Frankreich eine nutzlose Last. Der französisch-algerische Warenaustausch findet zwischen der Konsumgüter-Industrie des Mutterlandes, die vom Nähfaden bis zum Luxusautomobil unter dem Schutze des „Monopols der Flagge“ alles liefert, und den französischen. Siedlern in Algerien statt, die als Gegenleistung landwirtschaftliche Produkte nach Frankreich ausführen, die das Mutterland überhaupt nicht benötigt, wobei ein Defizit von 40 Prozent übrig bleibt, das Frankreich durch Anleihen und Subsidien aus dem staatlichen Budget decken muß. Die Hälfte der algerischen Ausfuhren nach Frankreich besteht jährlich aus 40— 50 Millionen Hektoliter Wein, die von der französischen Alkoholregie zu garantierten Preisen aufgekauft werden — und die hohe Produktion algerischen Weines, den Frankreich nicht braucht, weil es selbst zu viel davon hat, und den Algerien nicht brauchen kann, weil die mohammedanische Bevölkerung keinen Wein trinkt, aber unterernährt ist, ist die widersinnigste aller algerischen Absurditäten. Dieser Warenaustausch zwischen Algerien und dem Mutterlande, der sich auf zwölf Prozent der Ausfuhren und auf weniger als zwei Prozent der industriellen Produktion Frankreichs beläuft, ist in Wahrheit eine Subvention, die den französischen Siedlern in Algerien und bestimmten Industrien im Mutterlande gewährt wird, die auf freiem Markte nicht konkurrenzfähig wären. Die Masse der eingeborenen Algerier wird von diesem Kreislauf gar nicht berührt; sie tritt weder im Produktionsprozeß noch auf dem Markt nennenswert in Erscheinung und ihr zum Himmel schreiender Bedarf fällt mangels Kaufkraft überhaupt nicht ins Gewicht. Das einzige Sicherheitsventil, das für diesen Bevölkerungsausdruck offen steht, ist die Auswanderung.
Das wirkliche Problem noch nicht in Angriff genommen
Zum Unterschied von Marokko befinden sich die „Wellblechstädte“ Algeriens, elende Zusammenballungen von fluktuierendem Industrie-proletariat, nicht in Algerien, sondern in Frankreich, am Rande und selbst innerhalb aller französischen Industriestädte. Die wechselnde Zahl der Algerier, die in Frankreich Arbeit suchen, hat in den letzten Jahren nie weniger als 300 000 betragen. Am Rande der französischen Gesellschaft bilden die Algerier ein Subproletariat ungelernter, großenteils analphabetischer Gelegenheitsarbeiter — nach 125 Jahren Kolonisation gehen weniger als zehn Prozent algerischer Kinder in die Schule! —; diese billigen, gefügigen, legal nicht organisierten und nicht geschützten Arbeitskräfte, die rudelweise in Baracken und verkommenen Hotelzimmern leben und unter denen die wenigsten einen dauernden Arbeitsplatz haben, sind der eigentliche Beitrag Algeriens zur französischen Volkswirtschaft, in der sie die italienischen und polnischen Arbeitskräfte der Vorkriegszeit ersetzt haben. Der französische Bürger wird über ihre Existenz vor allem durch die Kriminalrubrik der Presse unterrichtet, in der sich seit Beginn der algerischen Unruhen die Berichte über politische Morde und Gewalttaten unter den Nordafrikanern in Frankreich häufen; doch beim Anblick dieser verschlossenen, scheuen und ausgezehrten Gesichter denkt man nicht ohne Erschütterung daran, daß sie sich von ihren geringen Löhnen oder ihrer Arbeitslosenunterstützung meist den größeren Teil vom Munde absparen, um ihre in Algerien zurückgelassenen Familien zu unterhalten. Die Geldsendungen dieser ausgewanderten Arbeiter an ihre Familien und die von den ehemaligen algerischen Soldaten bezogenen Pensionsgelder betragen zusammen jährlich einige 30 Milliarden Franken und sind offensichtlich die Hauptquellen, von der 200 000 bis 300 000 mohammedanische Familien in Algerien ihr Leben fristen; heute erhebt überdies die „nationale Befreiungsfront“ Algeriens oft gewaltsam ihren Tribut von den Nordafrikanern Frankreichs.
Wenn man vom Antagonismus zwischen den beiden Bevölkerungsteilen Algeriens, den „Europäern" und den „Mohammedanern“, hinsichtlich der Religion, Zivilisation und Sprache absieht, steht Frankreich in Algerien dem gleichen Problem gegenüber wie Italien im verarmten und rückständigen Süditalien, und die erforderlichen Hilfsmaßnahmen sind die gleichen. Doch seit dieser Gegensatz zum offenen Kampf geworden ist, ist es nicht mehr möglich, „davon abzusehen“. Es ist sinnlos, mit fünfzig Jahren Verspätung jetzt die sozialen und wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen, die notwendigerweise langsam anlaufen und sich noch langsamer auswirken, in Erwägung zu ziehen, um damit dem politischen Problem auszuweichen. Solange das algerische Drama eine „innerfranzösische Angelegenheit" bleibt, im Rahmen der geschlossenen Wirtschaft des Mutterlandes, in dem eine Lösung unmöglich ist, und im Geiste der traditionellen Rechtsfiktion, die schlechthin die Existenz Algeriens und einer algerischen Bevölkerung leugnet — das französische Vokabular kennt nur Umschreibungen, aber keine eigene Bezeichnung für die Algerier im Unterschied zu den Kolonisten — ist jede Diskussion über eine mögliche Lösung in tragischer Weise sinnlos.
Daß das Problem, mit einem Aufgebot von nahezu 600 000 Mann Truppen und Polizei — ein Bewaffneter auf zwanzig Einwohner Algeriens! — etwa 20 000 Mann schlecht ausgerüsteter Aufrührer in Schach zu halten, so viel Kopfzerbrechen bereitet, zeigt nur, daß es falsch gestellt ist; das wirkliche Problem aber, ein nicht nur durch Maschinengewehre geordnetes Zusammenleben in Algerien zu ermöglichen, ist überhaupt noch nicht in Angriff genommen worden.