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Die Krise des französischen Kolonialreiches | APuZ 46/1956 | bpb.de

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APuZ 46/1956 Die Krise des französischen Kolonialreiches Die Tragödie Französisch-Algeriens

Die Krise des französischen Kolonialreiches

Herbert Lüthy

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages wie des Autors entnehmen wir der amerikanischen Zeitschrift „The Atlantic“ die beiden folgenden Beiträge von Herbert Lüthy. Der erste Aufsatz „die Krise des französischen Kolonialreiches" wurde veröffentlicht im Mai 1956, der zweite Beitrag „Die Tragödie Französisch-Algeriens" im November 1956.

Heutzutage vom französischen Kolonialreich sprechen heißt natürlich über etwas reden, das der Vergangenheit angehört. Juristisch besehen existiert dieses Reich nicht mehr. Die französische Verfassung von 1946 hat an seine Stelle den niemals genau definierten Begriff der „Französischen Union“ gesetzt, der zumindest theoretisch jeden Gedanken einer Kolonialherrschaft ausschließt. Jahrelang handelten die französischen Politiker freilich, als genügte es den Namen Empire in Union umzuwandeln, ohne daß sich sonst etwas zu ändern habe. Aber diese Illusion ist inzwischen grausam zerstört worden. Während die französischen Besitzungen in Asien, die entlegensten des Reiches, nach langem aussichtslosen Kampf geräumt werden mußten, blieb die afrikanische Masse des alten Kolonialreiches bis vor kurzem unerschüttert. Aber es ist heute klar, daß das, was davon gerettet werden kann, nur um den Preis tiefgreifender Änderungen im Verhältnis Frankreichs zu seinen überseeischen Gebieten bestehen bleiben wird. Um den Umwandlungsprozeß zu erfassen, der darin heute vor sich geht, ist es notwendig, sich zuerst klarzumachen, was dieses Reich einstmals war.

Um die lebende Verkörperung der französischen Kolonialidee zu entdecken, müßte man vielleicht nach Zentralafrika gehen und den dunkelhäutigen Wählern vom Senegal begegnen, die ihre französische Staatsbürgerschaft mit genau dem gleichen Stolz proklamieren, mit dem sich der Apostel Paulus einen civis romanus — einen römischen Bürger — nannte, dem Bewußtsein, damit die höchste Würde inne zu haben, die ein Mensch zu erreichen vermag. Tatsächlich hat das französische Kolonialreich in einigen seiner grundlegenden Züge keine andere historische Parallele als das alte Römische Reich, allem voran in seiner Konzeption der universalen Zivilisation in des Wortes ursprünglicher und genauer Bedeutung, wonach „zivilisieren“ nichts anderes als „zu Bürgern machen“ heißt. Und doch glich das Frankreich der Dritten Republik, in der dieses Kolonial-reich geschaffen wurde, weder an Macht noch an Maditwillen dem alten Rom, der Herrin der antiken Welt.

Das französische Kolonialreich ist in der Tat eine der paradoxesten und mißverstandensten Gründungen der europäischen Geschichte; und, wie so vielen anderen historischen Leistungen, wird es vielleicht erst im Rückblick möglich sein, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn wir das, was vorher war, mit dem werden vergleichen können, was folgt.

Sogar in Frankreich begann die Öffentlichkeit sich erst dann dieses gewaltigen kolonialen Erbes bewußt zu werden, als die emanzipierten Länder Asiens und des Mittleren Ostens anfingen, den „französischen Kolonialismus“ von allen Seiten aufzugreifen. In Wahrheit haben das Mutterland und die Kolonien nicht die gleiche Geschichte durchlebt, und seit 1944, dem Jahr der Befreiung Frankreichs, haben sie anscheinend endgültig aufgehört, einander zu verstehen. Mit tiefem, instinktivem Mißtrauen sah die „innereResistance“, und nicht nur die kommunistische, die dazu besondere Gründe hatte, in den Tagen der Befreiung die Truppen des Kolonialreichs ins Mutterland einziehen. Es waren zwei sich fremde, ja fast feindliche Frankreich, die sich da begegneten; und das befreite Frankreich beeilte sich, auf dem Papier seiner ersten Verfassung „das Kolonialreich abzuschaffen“. Es war, wie stets, der Name, der abgeschafft wurde, doch schon das war bezeichnend. Vom französischen Kolonialreich zu reden, hieß in Frankreich stets von etwas Unschicklichem reden, von dem man zwar wenig Kenntnise, aber dafür um so festere Ansichten hatte: von etwas, das zwar ist, aber nicht sein sollte.

Tatsächlich sind die Geschichte der französischen Republik und die Geschichte des französischen Kolonialreichs verschiedene Wege gegangen, von verschiedenen Kräften getrieben, und sind sich nur selten begegnet. Hunderte von Geschichten Frankreichs, darunter erstrangige, sind geschrieben worden, in denen die Kolonialpolitik, wenn überhaupt, nur als beiläufiges Kuriosum, als Serie mißtrauisch vermerkter und zudem meist mißlungener Abenteuer erwähnt wurde. Und es waren wirklich meist sehr zweifelhafte Episoden, auf die sich eine solche Geschichtsschreibung beschränkte: der Mississippi-skandal um John Law, die Verschleuderung der wertvollsten Kolonialgebiete — der „paar Quadratmeilen Schnee“, wie Voltaire verächtlich das verspielte Kanada nannte, und des Märchenreichs Indien — unter Ludwig XV., Toussaint Louverture und der Veitstanz der Menschenrechte im Sklavenstaat San Domingo, die Weltreichträume Napoleons im Angesicht der Pyramiden, das Ablenkungsmanöver der bankrotten Restaurationsmonarchie in Algier, die abenteuerlichen Expeditionen Napoleons des Kleinen nach Hinterindien, Syrien und Mexiko, die Schiebungen der Marokkokrise — eine ewige Wiederholung zweier gleich unerfreulicher Varianten: Panama und Faschoda. So figurierte das Kolonialreich auf der Hintertreppe aller republikanischen Geschichtsschreibung. Das französische Volk hatte damit nichts zu tun, all das waren Machenschaften finsterer Mächte der Hochfinanz, der Kirche, der Militärkaste, die unermüdlich ihre in Frankreich gestürmten Bastillen jenseits des Meeres neu aufbauten.

Das Volk hatte wirklich nichts damit zu tun. Niemand hat es dem Grafen Polignac gedankt, daß er 1830, einige Wochen vor seinem eigenen und dem Stiru der Monarchie, mit der Unterwerfung des algerischen Seeräuberstaates den Grundstein zum Neuaufbau eines Weltreiches legte, das von der Französischen Revolution vertan worden war. Die ganze Expedition war ein miserables Wahlmanöver, und der „Schlag mit dem Fliegenwedel“, mit dem sie begründet worden war, erregte nur wütendes Gelächter: „Fürwahr erstaunlich ist die Haltung einer Regierung, die Fußtritte aus London einsteckt und keinen anderen Gedanken hat, als das Mittelmeer zu überqueren und eine aus Afrika empfangene Ohrfeige zu rechtfertigen!“ In jeder Budgetdebatte erhob sich wilder Tumult gegen die Kosten dieses „tollen und nutzlosen Unternehmens“, bis sich schließlich das sparsame, ideenlose und unromantische Bürgerkönigtum mißmutig in die Eigengesetzlichkeit der einmal begonnenen, von den an Ort und Stelle kommandierenden Generälen schon aus militärischen Gründen eigenmächtig geförderten Kolonisation und Besiedlung beugte. Doch das berühmteste und bezeichnendste Wort aus jenen Debatten ist das de} Abgeordneten Passy geblieben: „Ich würde mit Freuden Algier für das elendeste Nest am Rhein hergeben.“

Baumeister des französischen Weltreiches

Nicht anders war die Reaktion der Öffentlichkeit auf die „vollendete Tatsache“ der Strafexpedition gegen die „räuberischen Krumirs", mit der fünfzig Jahre später Jules Ferry Tunesien zum französischen Protektorat machte „Es gibt eine befremdende, groteske und mond-süchtige Tatsache, die man sich nicht genug überlegt hat: es gibt nämlich gar keine Krumirs", so eröffnete Henri Rochefort, der blendendste Polemiker der Dritten Republik, seine rabiate Kampagne gegen Ferry, in der er ihn zugleich als korrupten Spekulanten, als Agenten Bismarcks und als Verrückten zerfledderte. „Das Kabinett Ferry", sagte er, „würde jedem 30000 Francs geben, der ihm einen Krumir verschaffen könnte, um ihn der Armee zu zeigen. Welchen Idioten will die Regierung glauben machen, daß wir in Tunesien Millionen ausgeben und mehr als vierzigtausend Mann einsetzen um drei Krumirs zu bestrafen, die unseren Kolonisten von Zeit zu Zeit eine Kuh stehlen .. Das Pariser Geschworenengericht sprach Rochefort glänzend von der Anklage wegen Verleumdung und Beleidigung der Regierung frei. Jules Ferry stürzte — aber am Ende einer Sitzung von einzigartiger Verworrenheit, in der nacheinander sechzig Tagesordnungen eingebracht und verworfen wurden, fand das empörte Parlament schließlich doch keinen anderen Ausweg, als unter feierlicher Verurteilung der tunesischen Expedition den nun einmal abgeschlossenen Protektoratsvertrag von Bardo gutzuheißen. Man war nun einmal da, also blieb man ...

Jules Ferry, der „Baumeister des französischen Weltreichs“, ist ein Symbol. Vier Jahre später stand er wieder vor dem entfesselten Parlament, um sich für die Expedition nach Tonking zu rechtfertigen. Und diesmal ging es nicht mit einem einfachen Mißtrauensvotum ab; vor dem Palais Bourbon beriet eine aufgeregte Menge, ob Ferry, „le Tunisien“, le Tonkinois", an die Laterne oder in die Seine gehöre. Er mußte sich durch eine Hintertür retten. Aber Frankreich blieb auch in Tonking . ..

Weniger als je gibt es heute Kolonisation mit gutem Gewissen. Der Krieg in Indochina vollends ist im Spiegel der französischen Presse eine einzige Folge von Skandalen, Schiebungen und Korruptionsaffären, vom „Kaiser der Nachtlokale" Bao Dai und den Banketten seines Pariser Werbeagenten Van Co über die „Generalsaffäre“ von 1950, die einen Augenblick lang als neuer Panamaskandal die Republik in ihren Grundfesten zu erschüttern schien. bis zu den Piasterskandalen von 1953. Das ist die Kolonialgeschichte, wie wir sie kennen und wie sie immer wieder die Tageschronik füllte: ein Weltreich, das mit uneingestehbaren Mitteln hinter dem Rücken von Volk und Volksvertretung zusammengerafft wurde und hinter ihrem Rücken weiter zusammengehalten wird.

Aber es ließe sich ebensogut eine Geschichte des überseeischen Frankreich schreiben, in der all die europäischen Raufereien und Skandale nur als lästige Störungen und oft Zerstörungen einer jahrhundertelangen, weltweiten, abenteuerlichen und doch tief einheitlichen Aufbau-arbeit von Pionieren erscheinen würden, deren Resultate von unwissenden Politikern und Ideologen des Mutterlandes immer wieder am Rhein und in Flandern, wenn nicht gar in Budgetdebatten und parteipolitischen Schiebungen verspielt wurden.

Denn Frankreich hat zweifellos die älteste und größte Kolonialtradition aller europäischen Nationen. Ihre Spuren sind über den ganzen Erdball verteilt. Schon vor den Engländern errichteten Franzosen zwischen 1650 und 1750 ein Protektorat über den indischen Dekkan, dessen letzte „fünf Kontore“ erst heute einer nach dem andern mit ihrem ganzen Bestand an französisch-indischen Schulen, Instituten und Traditionen im neuen indischen Staat aufgehen; vor den Engländern erschlossen sie das Innere Nordamerikas der europäischen Kolonisation, und aus der Zeit, in der die Nouvelle France ganz Nordamerika zwischen den Appalachen und den Rocky Mountains, von Kanada bis zum Golf von Mexiko, umfaßte, hat sich eine kompakte französische Bevölkerung in Kanada und ein Kranz von Städten, Seen und Flüssen französischen Namens von Quebec, Montreal und Detroit bis hinunter nach Louisiana, Baton Rouge und New Orleans erhalten. Frankreich bietet das einzige historische Beispiel einer Nation, die ein weltumspannendes Kolonialreich aufbaute, es bis auf einige Inselchen und Kontore verlor, und die dann, völlig von vorn beginnend, zum zweitenmal das zweitgrößte Kolonialreich der Welt errichtete.

Das Reich Richelieus und Colberts war nicht das erste: die französische Kolonisatiensgeschichte beginnt mit dem Anfang unseres Jahrtausends in den normannischen Expeditionen und erreicht einen ersten Höhepunkt in den Kreuzzügen mit ihren französischen Feudalstaaten in der ganzen Levante; ja man kann sagen, daß sie mit der Geschichte Frankreichs selbst beginnt, mit der Verschmelzung all der Völker, die sich auf dem Boden Galliens übereinandergelagert hatten, von der Völkerwanderung bis zu den zuletztgekommenen Bretonen und Normannen. Kaum ein Jahrhundert, nachdem sich die Normannen, diese skandinavischen Piraten, auf französischem Boden niedergelassen hatten, begannen sie als Franzosen wieder auszuschwärmen und erobernd französische Sprache und Gesellschaftsformen in alle Winde von England bis Sizilien und Jerusalem zu tragen. Hier zeigte sich zum erstenmal die unheimliche Assimilationskraft eines Volkes, das es noch gestern — lassen wir das Heute offen — fertig-brachte, alles in sich aufgehen zu lassen, was sich auf seinem Boden niederließ, und das sich zur höchsten Besorgnis aller Geburtenstatistiker und Eugeniker noch gestern zutraute, früher oder später all die Völker aller Zonen und Rassen, die in das französische Reich einbezogen sind, zu Teilen des französischen Volkes zu machen.

„Kulturimperialismus"

All den gefährlichen Experimenten dieses „absurden Traums“ lag ein grenzenlos naives und ruhiges Vertrauen in die menschliche und geistige Unverwüstlichkeit einer Nation zugrunde, die eben nie eine „rassische“ oder „völkische“

Einheit sein wollte, sondern eine kulturelle Einheit, in die alles eingehen könnte, was menschliche Kultur ist. Es gab seit dem Hoch-mittelalter einen französischen „Kulturimperialismus", und er ist neben allen handgreiflichen wirtschaftlichen und machtpolitischen Elementen der französischen Kolonialpolitik eine Konstante geblieben: aber seine Kehrseite — nicht Schattenseite! — war stets die Empfänglichkeit. Frankreich gab sich nie damit zufrieden, eine europäischen Nation zu sein, und zu seinem Verständnis ist mehr erforderlich als die Kenntnis seiner europäischen Geschichte. Schon die Physiokraten wollten ein orientalisches Volk, ein „China des Westens“ in ihm sehen, und das trifft zweifelos eine tiefere Wirklichkeit als das dumm-ahnungslose Schlagwort vom „vernegerten Frankreich“.

Es gibt keine Assimilationskraft ohne Assimilationsfähigkeit;

beide beruhen auf der gleichen inneren Selbstsicherheit, einem Gefühl geistiger Überlegenheit, die auf alle äußeren Merkmale des „Andersseins“ verzichten kann und keine Angst hat, sich zu verlieren. Frankreich hat jahrhundertelang diese Selbstsicherheit besessen, und ihre Erschütterung ist seine tiefste Krise geworden. Zahllos sind in der französischen Kolonisationsgeschichte die Franzosen, die übers Meer gingen und Eingeborene wurden, Indianerhäuptlinge, Scheiks, Marabus, Radjahs oder Negerfürsten, aber auch Bettelmönche und Fellachen: Rene Caillie, der Bäckerssohn aus der Vendee, der als arabischer Pilger die anderhalbjährige Wanderung durch die Sahara unternahm und als erster Europäer die legen-däre Tuareghauptstadt Timbuktu lebend verlassen konnte, weil eben nichts mehr an ihm den Europäer verriet; Leon Roches, der spätere Konsul von Tunis, der als Freund des algerischen Madhi Abdel-Kader unter die arabischen Führer und Gelehrten des Koran ausgenommen w'urde; der Vicomte Charles de Foucauld, der nach einer glänzenden militärischen Karriere in die Wüste ging, als jüdischer Bettler die verbotenen Gebiete Marokkos erforschte, Wörterbuch und Grammatik der Tuaregsprache verfaßte, endlich als Trappist in die Einsamkeit der westmarokkanischen Berge bis zu seinem Tode von den Hirtenstämmen als Marabu verehrt wurde und im ersten Weltkrieg durch seinen Einfluß einen größeren Aufstand der Se-nussi verhinderte.

Immer wieder würde sich in einer solchen Geschichte das gleiche Bild ergeben: die zu Hause verstanden nicht, worum es ging, sie mußten vor vollendete Tatsachen gestellt, mit Räubergeschichten und falschen Vorstellungen, mit Appellen an schiefe Ideale, nationale Eitelkeiten und zweitrangige materielle Interessen dazu bewegt werden, dem Kolonisationswerk jenes absolute Minimum von Unterstützung zu leihen, mit dem es tatsächlich geschaffen wurde. Es ist das Werk der Leute an Ort und Stelle, der Kolonisten, Legionäre, Missionare des Glaubens oder der Zivilisation, der Abenteurer und „Unternehmer" im weitesten Sinne, die dieses so seßhafte und scheinbar so ofenhockerische Volk in erstaunlicher Zahl hervorgebracht hat. Und es wurde an Ort und Stelle mit zäher Beharrlichkeit gegen die Politiker, Ideologen und Demagogen des Mutterlandes verteidigt, die um jeden Sou des Kolonialbudgets feilschten und immer wieder bereit waren, „Algier für ein elendes Nest am Rhein herzugeben“. Die große Problematik dieses Kolonialreiches war, auch wenn das Wort zunächst erstaunen mag, sein Idealismus — oder, technisch genauer ausgedrückt, seine Idealität. Frankreich hat sich sein Weltreich gleichsam als Luxus zugelegt, als Sache des Prestiges, der Macht, der Geltung, jedenfalls nicht der Notwendigkeit und kaum der Nutzbarkeit. Das selbstgenügsame Mutterland konnte mit dem Werk seiner Reichsbildung wenig anfangen und bedurfte seiner nicht. Das französische Weltreich hat nie auch nur im bescheidensten Sinne eine Reichs-wirtschaft entwickelt. Vor dem ersten Weltkrieg, als Frankreich der Kapitalist der Welt war, legte es 45 Milliarden Goldfrancs im Ausland an: nur knapp ein Zehntel dieses Kapitalstroms floß in die Kolonien. Das Frankreich der Dritten Republik kaufte Rente vom Zaren und allen Monarchen, die der erste Weltkrieg mitsamt ihren Schulden verschlingen sollte, es investierte nicht. Es hatte sich die militärische Eroberung und Sicherung dieses Weltreichs 10 Milliarden kosten lassen, doch zu einer wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeutung brachte es nicht die Hälfte dieser Summe auf. Im letzten Budgetjahr vor dem zweiten Weltkrieg, 1938, hatte der französische Staat für die Kolonien 21/2°/0 des Gesamtbudgets übrig, und vier Fünftel dieses Betrages gingen an die Armee.

Die Kolonien bloße Verlängerungen, nicht Ergänzungen des Mutterlandes

Die gewaltige koloniale Expansion im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hat nicht verhindert, daß sich im französischen Mutterland gerade damals die volkswirtschaftlichen wie die demographischen Stagnationstendenzen durchzusetzen begannen; sie hat im Gegenteil durch die geschützen Märkte, von denen noch mehr als im Mutterland selbst jede Konkurrenz ausgeschlossen wurde, der französischen Industrie jede Anstrengung erspart, auf dem-freien Weltmarkt Schritt zu halten. Unter dem Schutz des merkantilistischen pacte colonial bezogen die Kolonialhandelsgesellschaften ihre Rente vom Verkauf der traditionellen Manufaktur-waren an die Eingeborenen und vom Import der traditionellen Kolonialwaren ins Mutterland. Es war extensive Kolonisation im merkantilistischen und fast im feudalen Stil, nicht Plantagenwirtschaft und Ausbeutung, sondern Groß-grundbesitz und Handelkontor.

Audi wirtschaftlich wurden die Kolonien bloße Verlängerungen, nicht Ergänzungen, des Mutterlandes, Die algerische Volkswirtschaft, die sich in einem Jahrhundert französischer Herrschaft entwickelte, ist ein Symbol dieses Vorgangs, der freilich nirgends sonst bis zu dieser Konsequenz gedeihen konnte: die französischen Kolonisten Algeriens produzierten mit eiserner Ausschließlichkeit Getreide und Wein — Getreide, dessen Überproduktion in Frankreich selbst zu Anbaubeschränkungen und Preisstützungen zwingt, vor allem aber Wein, für den nirgends als in dem an seinen eigenen Überschüssen erstickenden Wcinhandel Frankreich Absatz gefunden werden kann, weil die Eingeborenen Nordafrikas nach dem Gebot des Propheten keinen Wein trinken — eine Produktion also, die buchstäblich keinem Bedarf entspricht. Algerien ist wirklich die Fortsetzung Frankreichs jenseits des Mittelmeers geworden, die Kolonisten haben so sehr das Mutterland selbst nach Nordafrika verpflanzt, daß sich Frankreich durch Schutzzölle gegen ein Algerien schützen muß, das politisch, administrativ und zolltechnisch ein Teil der einen und unteilbaren Republik ist. Das ist der Extremfall. Doch tatsächlich bestanden bis zum ersten Weltkrieg die Importe Frankreichs aus seinem Kolonial-reich zu fast neun Zehnteln aus Lebensmitteln, und sogar die Fortschritte der westafrikanischen Bananenkultur erregten begreifliche Panik unter den französischen Obst-und Beerenzüchtern;

Erdnuß-und Palmöl Westafrikas bedrohten die französische Olive, der Rum Westindiens die französischen Schnäpse und Trester: fast keines der kolonialen Produkte entging den Schutzzöllen, mit denen Frankreich seine eigene Landwirtschaft umgab. Die merkantilistische Zwangsjacke, die das Kolonialreich an den ausdehnungsunfähigen und aufnahmeunwilligen Markt des Mutterlandes kettete, sperrte es gleichzeitig auch noch von diesem aus. Und erst recht unterblieb, von der Ausbeutung gewisser Rohstoffvorkommen abgesehen, jede industrielle Entwicklung, selbst im bescheidensten Sinne lokaler Verarbeitung der eigenen Landesprodukte: das industrielle Monopol des Mutterlandes ist das erste Wort des merkantilistischen pacte colonial.

Zwei Gebiete machten in diesem zutiefst vor-kapitalistischen Kolonialreich eine Ausnahme: in den beiden jüngsten und modernsten französischen Kolonien, in Marokko und Indochina, den Finanzimperien der Banque de Paris et des Pays-Bas und der Banque d‘Indodtine, war der Geist moderner kapitalistischer Kolonisation am Werk, in Indochina dank einem Entfernungsschutz, der sogar gegenüber den französischen Protektionisten wirksam war, in Marokko dank dem großzügigen Stil Lyauteys, der das Land wie ein Unternehmen „lancierte“, und vielleicht mehr noch dank dem internationalen Statut der „offenen Tür“, das Marokko wirtschaftlich von der völligen Einverleibung in das französische Kolonialsystem ausschloß. Hier, wo der französische LInternehmungsgeist sich fremdem Wettbewerb ausgesetzt sah, hat er bewiesen, daß ihm zur Ebenbürtigkeit mit jedem andern nichts fehlte als die Notwendigkeit, sich mit anderen zu messen.

Hundert Millionen Franzosen?

Was Frankreich vom „größeren Frankreich"

erwartete, war: Franzosen hervorzubringen.

Französische Bürger dereinst, doch zunächst und vor allem französische Soldaten. Der schmale Weg der eingeborenen Eliten zur Bürgerwürde war das Schulzeugnis, doch die breite Straße war der Kriegsdienst unter französischer Fahne. Alle Assimilationsgesetze und alle großen Schübe der Bürgerrechtsverleihungen tragen die Daten von Kriegen: 1870/71, 1914/1919, 1943/45; und als Urheber des geflügelten Wortes von dem Frankreich, das nicht vierzig, sondern hundert Millionen Franzosen zähle, dieses Wortes, in dem die Grande Nation ihr Selbstvertrauen und auch manche Selbstvertröstung fand, gilt gemeinhin General Mangin. Hier fand die Ideologie der Assimilation, der große Traum, aus Menschen aller Völker und Rassen Kinder des gleichen Frankreich zu machen, seine konkreteste Grundlage. Soldaten hat Frankreich in seinen Kolonien gefunden, und die Armee, die auf kolonialem Boden noch mehr als im Mutterland Geist und Tradition des Ancien Regime weiterträgt, ist der große Schmelztiegel der Assimilation geworden: sie hat aus Arabern und Berbern, Senegalesen und Madegassen französische Patrioten gemacht, während die Schule oft genug Intellektuelle hervorbrachte, die im Namen der republikanischen Prinzipien gegen die französische Kolonialherrschaft revoltierten.

In der Vorstellung des größeren Frankreich der „hundert Millionen Franzosen" klingen alle Ideologien und Traditionen Frankreichs zusammen, der echte Elan, die große Phrase und der harte Realismus, die Humanitätsidee, der militärische Imperativ der Rekrutierung und jene subtile Form des „divide et impera“, die überall eine assimiliert'? und privilegierte Elite der primitiven Masse gegenüberzustellen und dieser so ihre natürliche Führung zu entziehen weiß, der egalitäre Idealismus der Jakobiner und die Christianisierungsmission des Ancien Regime, die religiöse wie die weltliche Form des gleichen, von der französischen Nationalidee untrennbaren „Imperialismus der Zivilisation": eine ganze Menschheit auf dem Wege, in Frankreich ais der menschlichen Nation schlechthin aufzugehen. Wer dieses Wort, das oft genug zur Phrase wurde, nur als Phrase und nicht als echten Mythos zu verstehen vermag, dem wird immer ein Schlüssel zum französischen Denken, seiner Größe und seiner Krise fehlen. Wohl waren sechzig dieser hundert Millionen fern vom Ziel, ohne Rechte oder minderen Rechts und oft sehr fern von allem, was Menschenwürde heißen kann, doch sie waren unterwegs, und die Auserwählten, die schon angelangt waren, leuchteten ihnen auf ihrem langen Wege voran. In Gouverneur Eboue, dem „premier Resistans d’Afrique“, der sich im Jahre 1940 General de Gaulle anschloß, hatte die Assimilationsidee nicht nur ihre überzeugende symbolische Bestätigung, sondern auch ihren feurigsten Vertreter gefunden.

„Das Kolonialreich ist tot"

Die erste Reichskonferenz des freien Frankreich, die während des Krieges im Januar 1944 unter dem Vorsitz General de Gaulles in Brazzaville tagte, legte die Zukunft des französischen Reiches erneut und kategorischer als je auf diese Idee fest. In jener kühnen Vorwegnahme einer fernen und hypothetischen Endzeit, die so viele französische Äußerungen zu Kolonialfragen auszeichnet, eröffnete der Kolonialkommissar Pleven die Konferenz mit den Worten: „Im kolonialen Frankreich gibt es keine Völker, die noch auf ihre Bürgerrechte warten, und keine rassische Minderstellung, die abgeschafft werden müßte. Hier leben Menschen, die sich als Franzosen fühlen und die keine andere Unabhängigkeit als die französische kennen wollen."

Und die praktische Schlußfolgerung aus der ganzen französischen Kolonialgeschichte zog die Schlußresolution der Konferenz von Brazzaville, indem sie imperativ erklärte: „Die Ziele des Kolonisationswerks, das Frankreich in seinen Kolonien vollbringt, schließen jeden Gedanken an Autonomie und jede Möglichkeit einer Entwicklung außerhalb der französischen Einheit aus; die eventuelle, selbst in ferner Zukunft liegende Errichtung von Selfgovernments“ — das Wort steht englisch im französischen Text, ein sogar sprachlich nicht assimilierbarer Fremdkörper — „in den Kolonien muß ausgeschlossen werden.“

Gerade dies, den Arabern Nordafrikas, den Hovas Madagaskars oder den alten Kulturvölkern Indochinas Jenes Mindestmaß autonomer Selbstverwaltung zu geben, das etwa im kommerziellen und eklektischeren britischen Reich schon aus Bequemlichkeit jedem Negerstamm eingeräumt worden war, das war für die wort-revolutionären Kolonialreformer der französishen Linksparteien stets noch unfaßbarer gewesen als für die hartgesottensten Kolonialisten der Rechten. „Es kann nur eine gute Art der Verwaltung geben. Wenn wir sie für die europäischen Länder gefunden haben, warum sollten die Kolonien ihrer beraubt sein?“ Diese klassische Formulierung des jakobinischen Einheitsund Gleichheitsglaubens, mit der einst Boissy d’Anglas dem Konvent die revolutionäre Verfassung des Jahres III vorlegte, war auch ihr Glaubensbekenntnis geblieben. Föderalismus, Autonomie, Dezentralisierung, Differenzierung, all das war dem französischen Politiker und Juristen stets fremd und verdächtig. Der Föderalismus, das war die Reaktion, die Vendee, die Action Francaise, der provinzielle Klerikalismus, Vichy. Unter feierlicher Verurteilung des Kolonialismus fügte die erste Konstituante von 1946 die Generalverfassung und die Institutionen des französischen Reiches als bloßen Unterabschnitt in die Einheitsverfassung der französischen Republik ein. „Das Kolonialreich ist tot“, proklamierte ihr Berichterstatter Pierre Cot. „An seiner Stelle errichten wir die französische Union. Frankreich, bereichert, geadelt und vergrößert, wird morgen hundert Millionen Bürger und freie Menschen besitzen.“ Als folgerichtige Krönung ihres Werkes billigte die erste Konstituante einstimmig die neue Lex Caracalla vom 7. Mai 1946, die auch nach der Verwerfung ihres Verfassungsentwurfs in Kraft blieb: „Vom 1. Juni 1946 an besitzen alle Angehörigen der überseeischen Territorien einschließlich Algeriens die Eigenschaft von Bürgern zum gleichen Recht wie die französischen Staatsangehörigen im Mutterland und den überseeischen Gebieten.“ Die Nation von hundert Millionen gleichberechtigten Bürgern war verwirklicht.

Es ist ungefähr gleich verhängnisvoll, ob solche Verheißungen ernst oder rhetorisch gemeint sind; das Spiel mit Etiketten und ideologischen Gemeinplätzen gipfelte in der vollendeten Verantwortungslosigkeit. Die zweite Konstituante hat sich im wesentlichen damit begnügt, den angerichteten Schaden einzudämmen und, da sich die erfolgten Proklamationen nicht mehr zurücknehmen ließen, alle nötigen Hintertüren der noch zu treffenden Ausführungsbestimmungen und noch zu bestimmenden lokalen Statute offenzuhalten. Die Verfassung der französischen Union, die so zustande kam, war ein buntes Nebeneinander von Artikeln, die sich gegenseitig aufhoben und zwischen denen zu entscheiden der Geschichte und der Jurisprudenz überlassen blieb, von zentralistischen und föderativen Institutionen, die sich überschneiden und teils auf dem Papier geblieben, teils zu rein dekorativer Verwirklichung gelangt, um am Ende in einigen dürren Paragraphen alles beim alten zu lassen: Gesetzgeber des überseeischen Frankreich bleibt das französische Parlament, Chef der Verwaltung und Inhaber aller Exekutivgewalt in den überseeischen Territorien bleibt der von der französischen Regierung ernannte und nur ihr verantwortliche Gouverneur. Der Theorie der bürgerrechtlichen Assimilation entsprach die Praxis der verwaltungsrechtlichen Einebnung. Doch so fragwürdig es auch sein mag, wenn in einer Verfassung nicht steht, was ist, sondern was vielleicht dereinst sein soll; das einmal feierlich schwarz auf weiß gegebene Versprechen blieb fortan im aktiven Konflikt mit der Wirklichkeit.

. bis heute weiß ich nicht, was ich bin ..

Als Krise der Assimilationsidee wurde die Krise des französischen Kolonialreichs zuerst der Öffentlichkeit bewußt. Das Schulbeispiel lieferte ihr Algerien, diese französische Schöpfung jenseits des Mittelmeers, die ein Teil des Mutterlands selbst geworden war. Als im Jahre 1946 zum erstenmal dreizehn — nach ungleichem Wahlrecht und in getrennten Wahlkollegien gewählte — eingeborene Deputierte Algeriens in der Verfassunggebenden Versammlung der Vierten Republik saßen, kam es für die französische Öffentlichkeit als ein Schock, daß diese Männer keineswegs ein französisches, sondern ein algerisches oder arabisches Nationalgefühl vertraten. Bald grotesk, bald tragisch wiederholte sich immer der gleiche Zusammenprall zwischen einer alten, sentimental fixierten Fortschritts-idee und einer neuentdeckten lebendigen Wirklichkeit. „Ich bin hier, um die Interessen meines Landes zu vertreten“, sagte Ferhat Abbas, der Führer der autonomistischen Bewegung des „Algerischen Manifests", um das sich bei Kriegsende alle politisch aktiven Gruppen der algerischen Eingeborenen gesammelt hatten, worauf ihn empörte Zurufe von allen Seiten zurechtwiesen: „Ihr Land ist Frankreich, Monsieur!“ Das offizielle Frankreich kannte keine Algerier und eigentlich auch kein Algerien, sondern nur fünf (früher drei) französische Departements jenseits des Mittelmeers, die wie alle andern dem französischen Innenministerium unterstehen und von Präfekten regiert werden. Diese algerischen Abgeordneten waren hier, um symbolisch das größere Frankreich darzustellen, das keine Rassenvorurteile und Farbenschranken kennt. Sie hatten sich genau so zu fühlen wie die andern Deputierten, und ihre Anwesenheit erfüllte die Konstituante mit Stolz, aber sie durften doch keinen Augenblick vergessen, daß sie eben doch nicht Deputierte wie alle andern

Fussnoten

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