Vorbemerkung: '
Der vorliegende Bericht von Dr. Karl Loewenstein über seine Erlebnisse im Lager der deutschen Juden in Minsk ist in mehrfacher Hinsicht von geschichtlichem Wert und Interesse. Einmal besitzen wir nicht allzu viele so eingehende Beridite, zumal aus einem Lager, dessen Insassen schließlich fast ausnahmslos Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes wurden **). Sodann beruht der Bericht auf glefchzeitigen, an Ort und Stelle gemachten Notizen *). Ein der Vernichtung durch die dazu bestellten nationalsozialistischen „Einsatzgruppen“ in Minsk Entgangener, der einzige von dort „in aller Form" Entlassene, schildert danach seinen gesamten Leidensweg von seiner Verhaftung durch die Gestapo am 8. November 1941 — im Rahmen des zweiten allgemeinen Deportationsbefehls **) —, über die Tage in der Sammelstelle, den Transport und das „Leben" im Lager Minsk bis zu seiner überraschenden Entlassung von dort am 13. Mai 1942 — freilidi unter Überführung in das Lager Theresienstadt!
Hinzu kommt noch, daß Dr. Loewenstein nicht nur zufolge seiner Intelligenz, sondern vor allem auch seiner dienstlichen Stellung im Lager Minsk — als Chef des „Sicherheitswesens" — imstande gewesen ist, die dortigen Vorgänge in ihrer Gesamtheit zu überblicken und zu beurteilen. Sein Bericht ist denn auch umfassend und bei aller Nüchternheit der literarischen Form von einer schon durch die Vorgänge bedingten erschütternden Anschaulichkeit. Er erscheint auch im ganzen als durchaus sachlich und objektiv.
Der Verfasser differenziert zwischen den einzelnen Exponenten der ihm entgegentretenden Staats-maschinerie, deren Opfer er wurde. Er beschönigt auch nicht die Erscheinungen und Auswirkungen allgemeiner oder individueller menschlicher Schwächen, wie sie ihm in der Organisation der Lagergemeinschaft begegnet sind. Ob er den Männern in der ihrer Natur nach schwierigsten Position, der Lagerleitung, immer gerecht geworden ist, kann der Unbeteiligte schwer entscheiden. Für die Glaubwürdigkeit des Berichts im ganzen sprechen u. a. die Angaben über das Verhalten des Generalkommissars für Weißruthenien, Kube, die wir an Hand der darüber vorliegenden """) Nürnberger Dokumente im einzelnen überprüfen können. Letztere wiederum werden durch die neuen Zeugnisse in erwünschter Weise bestätigt und ergänzt.
Wer ist der Autor? Nach den Mitteilungen von H. G. Adler in seinem bedeutenden Werk über das Lager Theresienstadt (S. 135 ff.), wo er Dr. Loewenstein als Mitgefangenen kennenlernte, ist dieser halbjüdischer Abkunft, war im kaiserlichen Deutschland Seeoffizier und jahrelang Adjutant des deutschen Kronprinzen ) *. Nach dem ersten Weltkrieg habe er sich an den Freikorpskämpfen in Oberschlesien beteiligt. Später Bankier in Berlin, sei er nach 1933 Angehöriger der bekennenden Kirche geworden. In Theresienstadt der SS als Zeuge der Minsker Ereignisse offenbar unbequem, sei Loewenstein dann doch auch hier vom Lagerkommandanten zum Chef des „Sicherheitswesens" bestellt worden und habe in dieser Position für die Insassen des Lagers manche Erleichterungen durchgesetzt. Seine militärisch straffe, „undiplomatische“ Natur sei auch in der Art der Wahrnahme seiner Stellung zum Ausdruck gekommen. Er habe sich nicht gescheut, Mißstände in der Lagergemeinschaft, insbesondere ihrem Verpflegungswesen, anzugreifen und für Abhilfe Sorge zu tragen, obwohl ihm dies bei einem gewissen Mangel an Konzilianz und taktischem Geschick im Vorgehen auf die Dauer die wirksame Feindschaft maßgebender Lagergenossen habe zuziehen müssen. So ist Loewenstein für das kritische Urteil des Autors von Theresienstadt „wohl im besten Sinne stets ein Ritter ohne Furcht und Tadel" gewesen.
An der ursprünglichen Fassung des Berichts sind im Einvernehmen mit dem Verfasser nur ganz geringfügige stilistische Änderungen vorgenommen worden.
Dr. H. Krausnick, Institut für Zeitgeschichte, München.
Meine Verhaftung Am späten Abend des 7. November 1941 fand ich in meiner Wohnung, auf einer meiner eigenen Postkarten geschrieben, folgende „Einladung“ vor:
„Ich bitte Sie, morgen früh 8. 15 Uhr in der Burgstraße 26/27 (Gestapo) auf Zimmer 313 zu ersdieinen. Ausweispapiere wollen Sie mitbringen. gez. Cilian.“
Diese „Einladung“ hatte Cilian zurückgelassen, weil er midi in meiner Wohnung nicht angetroffen hatte.
Als ich mich zur angegebenen Zeit auf Zimmer 313 meldete, bemerkte ich auf dem Tisch des vernehmenden Beamten ein Aktenstück, das die Aufschrift trug: „Bekenntniskirche“.
Die erste Frage lautete: „Unter Nr. 4 der Gründerliste ist ein Dr. Karl Loewenstein eingetragen, sind Sie das?“ Auf mein „Ja" folgte die Frage: „Sind Sie sich dessen bewußt, daß Sie sich als Mitbegründer der Bekenntniskirche strafbar gemacht haben?“
Ich erwiderte, daß es sich um eine vollkommen legale Angelegenheit handele, und daß Hitler selber den Schutz der Kirche proklamiert hätte. Der Gestapobeamte, der besagte Cilian, warf hier ein: „Warum steht dann die Bekenntniskirche im Gegensatz zum Führer?“ — Ohne meine Antwort abzuwarten, hielt er mir vor, daß ich der größte Geldgeber der Bekenntniskirche Weißensee wäre und daß ich werbend für die Bekenntniskirche tätig sei.
Dann polterte er los: „Es war Ihnen doch bekannt, daß Ihnen die Gestapo Ihre Wohnung zum 30. September gekündigt hatte, warum haben Sie diese nicht geräumt? Warum sind Sie nicht in das Ihnen angewiesene Zimmer gezogen? Wo haben Sie sich den ganzen Monat Oktober hindurch aufgehalten?“ — und paradoxerweise — „Meinen Sie nicht, wir wüßten nicht, wo Sie waren?“
Ich mußte ein willkürlich aufgesetztes Protokoll unterschreiben, und alsdann verlangte Cilian die Herausgabe der Schlüssel zu meinen Räumen am Kurfürstendamm. Ich übergab ihm die Schlüssel mit der Bemerkung, daß es sich bei dem Schloß um ein Sicherheitsschloß handele, das sehr kompliziert sei und dessen Buchstaben zuerst richtig eingestellt werden müßten, bevor man das Schloß aufschließen dürfe, andernfalls würde die Alarmanlage ausgelöst und die ganze Nachbarschaft beunruhigt werden.
Daraufhin gab Cilian mir die Schlüssel zurück, und er, ein weiterer Beamter namens Schneider und ich fuhren zum Kurfürstendamm. Dort mußte ich die Panzerschränke öffnen, in die ich am Abend zuvor meine Wertpapiere aus dem Safe gebracht hatte. Diesen Fund hatten die Gestapobeamten offenbar nicht erwartet, und daraufhin, so meinte ich zunächst, hätte Cilian mich für verhaftet erklärt. Ich mußte meine Taschen entleeren und das Futter herausziehen. Weder die Photographien meiner Kinder noch ein Taschentuch durfte ich behalten. Während sich der Gestapobeamte Schneider mit der Amati-Geige meines Sohnes Fritz beschäftigte und zurückblieb, fuhr Cilian mit mir zur Burgstraße zurück. Er stellte mich sofort dem Kommissar Prüfer vor und entnahm meiner Aktentasche die hineingestopften Wertpapiere, mein Bargeld und die mir abgenommenen Gegenstände. Auch Prüfer war erstaunt, als er die Effekten und das Geld sah, und als Cilian ihm noch von der Geige und einem Rembrandt berichtete, war seine erste Reaktion: „Sie wollten wohl flüchten?“
Auf meine Antwort, dann wäre ich doch heute morgen nicht hierher-gekommen, erwiderte er: „Ihnen werde ich Arbeit lehren.“ Hierzu bemerkte ich, das sei nicht erforderlich, ich wäre Arbeit gewöhnt. Daraufhin warf er mich aus dem Zimmer.
Nun stand ich auf dem Korridor, konnte aber das Haus nicht verlassen, weil man beim Portier einen Passierschein abzuliefern hatte, und den besaß ich nicht. Ich befand mich in den Händen der Gestapo — und die hielten fest!
Nadi etwa einer Stunde kam Cilian aus dem Zimmer seines Chefs und brachte mich in das im Keller befindliche Gefängnis, das zunächst noch unbelegt war. Der SS-Mann, der als Gefängniswärter fungierte, drückte mir einen Besen in die Hand und hieß mich, den Raum auszufegen. Was als eine Erniedrigung gedacht war, faßte ich als eine Erleichterung auf, denn Nichtstun wäre schlimmer gewesen. So nach und nach füllte sich der Raum, und als eine „Wagenladung" zusammen war, wurden wir in das Gefängnis Tegel gefahren.
Bei der Personalienaufnahmc konnte ich feststellen, daß der Kanzlist bei mir „Staatsfeind — Judenaktion“ eintrug. Mir wurde eine Eßschüssel und ein Handtuch zugeteilt, bevor ich in eine Zelle eingeliefert wurde, in der sich bereits zwei Mann befanden. Der eine, ein Deutscher, hatte „schwarz“ mit Cognac gehandelt, der andere, ein Franzose, hatte nicht dort gearbeitet, wo er eingesetzt worden war.
Die Behandlung durch die Gefängniswärter war sehr gut. Obwohl die Essenausgabe längst vorbei war, brachte mir der Oberaufseher noch das Mittagessen, bestehend aus einer schmackhaften Erbsensuppe, sowie das Abendbrot, bestehend aus Brot, Butter und Wurst. Das sollte auf viele Jahre hinaus in den Zeiten des Hungers ein Markstein der Erinnerung sein. Ich machte die Feststellung, daß die Wärter keine Nazis waren. Für meinen Zellengenossen, der über Geld verfügte, kauften die Beamten, was er sich wünschte. Als ich Schreibpapier und Umschläge für zwei Briefe verlangte, fragte mich der Oberaufscher, ob ich Geld bei mir hätte. Trotz meiner Verneinung brachte er mir das Gewünschte aus seinen Beständen. Ein Polizeiwachtmeister schenkte mir in Ermangelung der benötigten 8-Pfennig-Marken zwei 12-Pfennig-Marken.
Diese Briefe haben jedoch ihr Ziel nie erreicht. Am Tage meiner Einlieferung in die Sammelstelle zeigte Cilian mir beide — schadenfroh lachend.
Am 12. November 1941, ich wurde gerade rasiert, kam ein Polizeiwachtmeister, um mir zu erklären, ich solle mich beeilen, ich würde entlassen. In dem Glauben, daß ich nach Hause gehen könne, entlieh ich mir von dem einen Mitgefangenen eine Mark, da ich ja kein Geld mehr besaß. Ich versprach ihm noch, einen Freund anzurufen, da niemand wußte, wo er war. Dazu kam es leider nicht. Wen die Gestapo einmal in den Klauen hatte, den ließ sie so leicht nicht wieder los; das sollte auch ich erfahren.
Ich wurde wohl aus dem Gefängnis entlassen, aber . von der Gestapo sofort wieder in Empfang genommen. Als ich dem Aufseher des Gestapogefängnisses übergeben wurde, sagte Cilian zu ihm: „Hier ist er entlassen.“ Da wußte ich genug, und ich glaubte an die Einlieferung in ein deutsches Konzentrationslager.
Etwa eine halbe Stunde später holten mich Cilian und Schneider ab und fuhren mit mir in meine Wohnung, wo ich innerhalb einer weiteren halben Stunde ein Vermögensverzeichnis aufzustellen hatte. Das war natürlich unmöglich, und ich schrieb in jede Rubrik „diverse“. Ohnehin war das Ganze lediglich Formsache, wie ich bemerkte. Dann mußte ich mich umkleiden, durfte doppeltes Unterzeug anziehen und zwei Mäntel überziehen. Einen kleinen Koffer, ein Kopfkissen und eine wollene Decke durfte ich mitnehmen. Das war mein ganzes Gepäck!
Sodann brachte Cilian mich zum Polizeirevier. Auf dem Wege dorthin fragte ich ihn, warum er mich verhaftet habe, da meine Deportation eine beschlossene Sache sei. Zynisch antwortete er mir: „Sie sind auf Veranlassung des SS-Oberführers Schließmann verhaftet und für einen sofortigen Abtransport vorgesehen worden. Wir wollten Sie daran hindern, sich Ihrer guten Beziehungen zu bedienen, um sich von dem Transport zu befreien. Ihre Freunde, Graf Moltke und Korvettenkapitän Albrecht, waren oben, um Sie herauszuhauen, aber da SS-Oberführer Schließmann den Befehl erteilt hatte, war es uns ein Leichtes, die beiden abzuhalten, sich weiter um Sie zu bemühen oder stärkere Kanonen mobil zu machen."
Als ich auf dem Polizeirevier eingeliefert wurde, waren die Beamten, die mich alle kannten, entsetzt. Ich hörte manches scharfe Wort gegen die Gestapo, aber die Beamten waren machtlos. Sie reichten mir eine Tasse Kaffee und gestatteten mir, noch einmal zu telefonieren.
Auf dem Revier war ich Zeuge, wie ein Mann wegen antinazistischer Einstellung angezeigt wurde. Der Beamte war gezwungen, die Anzeige aufzunehmen. Ob er hinterher den Mut aufbrachte, sie in den Papierkorb zu werfen, entzieht sich meiner Kenntnis. Er tobte jedenfalls ob solcher Gemeinheit.
Cilian hatte mich dem Polizeirevier mit dem Befehl übergeben, mich am gleichen Abend um 6 Uhr in der Sammelstelle Levetzowstraße einzuliefern. Gleichzeitig teilte er dem Beamten und mir mit, daß ich unter der Nummer „ 170“ in einen Transport eingereiht worden sei. Später sollte ich erfahren, daß dies die Nummer eines polnischen Schneidermeisters war, den die Gestapo ausgereiht hatte, um mich in den Transport einreihen zu können. Ich hoffe, daß dieser Schneidermeister am Leben geblieben ist.
Der mich zur Sammelstelle begleitende Polizeiwachtmeister tröstete mich und verabschiedete sich von mir, bevor er mich ablieferte, mit dem Wunsch, mich baldigst wiederzusehen. Als ich dem Polizeikommissar, einem SS-Sturmbannführer, übergeben wurde, fragte er mich nach meinem Großgepäck. Auf meine Erwiderung, daß ich außer dem Mitgebrachten nichts hätte mitnehmen dürfen, sagte er mir, ich solle mich im Büro melden, dann würde die Herbeischaffung von Decken und Matratzen veranlaßt. Das wurde jedoch von Cilian inhibiert, wie er mir selbst am nächsten Tage sagte. In der Sammelstelle befanden sich einige hundert Kriminalbeamte, die mit Instruktionen versehen wurden, um Juden aus ihren Wohnungen abzuholen. Im Laufe der Nacht wurden
Wohin der Transport gehen sollte, wußte natürlich niemand. Es wurde zwar gemunkelt, daß es nach Minsk gehen würde, aber auch andere Orte wurden genannt. Gewißheit bestand lediglich darüber, daß es nicht nach Riga oder Lodz ging, da diese Lager abgeschlossen seien.
Der uns zur Verfügung stehende Raum reichte bei weitem nicht aus, um 1 030 Menschen unterzubringen. Ich war daher — wie viele andere auch — gezwungen, zwei Tage und Nächte auf einem Klappsitz zu verbringen. Bewegen konnte man sich nicht, überall lagen oder hockten Menschen herum. Das Essen wurde uns von der Gemeinde geliefert und war relativ gut.
Am 13. November gelang es meinem Bruder Benno mit Hilfe eines warmherzigen Polizeiwachtmeisters, mich kurz zu sprechen. Ich sollte ihn nie wiedersehen: er wurde ein Jahr später mit seiner Frau von den Nazis umgebracht.
Organisation der Gestapo In einem besonderen Raum hatten die verschiedenen Ämter, wie Arbeitsamt, Finanzamt, Einwohnermeldeamt, Ernährungsamt und Gerichtsvollzieherei, Filialen errichtet. Hinter den Tischen standen große Waschkörbe. Daneben saßen die Beamten und Beamtinnen, an denen jeder Transportteilnehmer vorbeizugehen hatte, um die in Frage kommenden Papiere, Arbeitsbuch, Brotmarken, Steuerbelege und Geld abzugeben. Dann fand eine Leibesvisitation statt, hinterher wurden die Koffer durchsucht ... und schamlos beraubt! Ich selbst war schon von der Gestapo ausgeplündert worden, so daß bei mir die Formalitäten sehr rasch vonstatten gingen. Zum Schluß kam der reine Hohn! Durch einen Obergerichtsvollzieher wurde mir eine Zustellung übergeben, wonach mein gesamtes Vermögen — als das eines Staatsfeindes — konfisziert worden sei. So korrekt arbeitete die Gestapo!
Abreise Und am 14. November sollte es tatsächlich nach Minsk gehen. Beim Verlassen der Sammelstelle, das nummernweise erfolgte, mußte jeder seine Kennkarte vorweisen, auf die der Vermerk „Am 14. November 1941 von Berlin nach Minsk evakuiert" gestempelt wurde. Dieses Papier habe ich als einziges gerettet. Um uns vor der Bevölkerung zu verbergen, wurden wir in verdeckten Lastkraftwagen zur Bahn und bis an die Rampe gefahren. Unterwegs hatte ich bemerkt, daß ich mein Kochgeschirr, das mir — wie jedem Transportteilnehmer — von der Gemeinde geschenkt worden war, vergessen hatte. Ich bat den Polizeichauffeur, er möge es mir doch bei der nächsten Fahrt mitbringen; und tatsächlich: dieser noble Mann brachte mir das sich später als äußerst lebensnotwendig erweisende Gerät bei der nächsten Ladung „Mensch" mit und reichte es mir in den Zug. -
An der Bahn erhielten wir als Reiseproviant jeder ein kleines Kommißbrot. Leider war das Brot in Scheiben geschnitten und mit einer dünnen Paste bestrichen. So war es nach zwölf Stunden vollkommen hart. Wir wurden in ehemaligen IV. -Klasse-Wagen untergebracht. Jeder erhielt einen Sitzplatz. Da ich die Transportnummer 170 hatte, kam ich zu meinem Glück in den zweiten Wagen hinter der Lokomotive. Infolgedessen konnte ich bis Minsk — die Reise dauerte vier Tage — in einem warmen Wagen sitzen. Die anschließenden Waggons waren schon kalt, die letzten haben von einer Heizung überhaupt nichts mehr gespürt. Die Insassen froren entsetzlich, einer starb unterwegs. Die Heizung am Verbindungsschlauch hinter unserem Wagen war defekt.
In Warschau hatten wir den ersten planmäßigen Aufenthalt bzw. wir sollten ihn haben. Warmes Essen war für uns bereitgestellt worden. Da wir aber mit 24 Stunden Verspätung eintrafen, war der Bahnsteig vollkommen leer, und wir erhielten nichts zu essen. Auch zu trinken bekamen wir nichts; die inzwischen leer gewordenen Trinkgefäße durften nicht aufgefüllt werden. LInsere menschenfreundlichen Begleiter meinten, das Wasser könne verseucht sein und man wolle uns doch vor Krankheiten bewahren. Auf diese Weise machten wir-zum ersten Male Bekanntschaft mit Hunger und Durst, aber es sollte noch „besser“ kommen. Und trotz alledem machte uns der Galgenhumor die Reise einigermaßen erträglich.
Ankunft in Minsk Infolge des großen Umweges kamen wir erst am 18. November 1941 in Minsk an, das einen sehr zerstörten Eindruck auf uns machte — eigentlich die erste Stadt, welche wir sahen, die infolge der Kriegsereignisse sehr gelitten hatte. Unterwegs fiel mir auf, daß so wenige Kriegsgräber zu sehen waren — der Krieg mußte mit Sturmeseile über dieses Gebiet hinweggebraust sein.
Zunächst durfte niemand aussteigen; das Öffnen der Fenster wurde durch unsere Begleitmannschaft, die auf beiden Seiten des Zuges Aufstellung genommen hatte, verboten. Nach geraumer Zeit wurden unsere Begleiter durch lettische Soldaten, die im Dienst der SS standen, abgelöst.
Plötzlich öffneten sich zwei Wagentüren, und die Letten drangen wie wildgewordene Bestien in den Waggon ein und trieben mit dem Ruf: „Schnell, schnell!" die Insassen mit Kolbenstoßen und Fußtritten ins Freie. Wären alle Wagentüren zu gleicher Zeit geöffnet worden, hätte die Auswaggonierung schnell und in aller Ruhe vor sich gehen können. Das sollte anscheinend verhindert werden. Die Letten hatten ein unbändiges Vergnügen, wenn ihre Opfer weit auf den Bahnkörper hinaus flogen. Es ist mir noch heute unerklärlich, daß ich selbst, obwohl ich wiederholt den Waggon bestieg, um das Gepäck der Frauen auszuladen, verschont blieb. Ja, der Lagerkommandant, der uns an der Bahn in Empfang genommen hatte, ließ sogar meinen kleinen Koffer mit dem Groß-gepäck ins Lager fahren, wodurch ich meine Hände frei bekam, um den Frauen ihr Gepäck zu tragen.
Der Bahnhof von Minsk lag am anderen Ende der Stadt, so daß uns der Weg ins Lager endlos erschien. Da wir sehr viele alte Menschen bei uns hatten, 'zog sich der Zug, den wir bilden mußten, bei dem Marsch weit auseinander, obwohl wir uns sehr langsam vorwärtsbewegten. Aber auch diese langsame Vorwärtsbewegung war den Alten noch zu schnell; sie wurden so ein willkommenes Opfer der Letten, die die Armen unter lautem Schreien mit Kolbenstoßen bedängten. Unser Ziel war die entgegengesetzt liegende Vorstadt von Minsk, wo schon Russen 1) zusammengepfercht waren. Die Straßen waren vollkommen menschenleer; die Russen beobachteten unseren Marsch hinter ihren kleinen. Doppelfenstern, die zum Schutze gegen die strenge Kälte mit Watte ausgestopft waren. Kurz vor unserem Ziel stießen wir auf die Feuerwehr, die noch den Brand einiger Häuser bekämpfte. Da diese Häuser infolge des Einfrierens der Hydranten vollkommen niederbrannten, ging uns wertvoller Wohnraum verloren.
Als wir im Lager eintrafen, stellten wir fest, daß wir der vierte Transport waren, der in Minsk anlangte. Kurz vorher war je ein Transport aus Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt/Main eingetroffen. Wir wurden zunächst auf einen großen Platz geführt, in dessen Mitte die Russen zwangsweise ein großes Massengrab geschaufelt hatten, das dann aber doch nicht seiner Bestimmung zugeführt wurde. Auf der Schmalseite dieses Platzes war links ein roter Ziegelstein-und rechts ein roter Backsteinbau. Beide Gebäude waren ehemalige Schulen, die von uns die Namen „Rotes Haus" und „Weißes Haus“ erhielten.
Angeblich wegen Platzmangels sollten wir unser Gepäck auf dem freien Platz abgeben. Das wurde zum Glück von allen Berlinern rundweg abgelehnt, andernfalls hätten viele ihre Sachen nie wiedergesehen.
Drei weitere Transporte sollten im Laufe der nächsten Tage folgen, und zwar je einer aus Brünn, Bremen und Wien.
Der Judenälteste Da die Hamburger zuerst eingetroffen waren, bestimmte die SS deren Transportleiter, Dr. Edgar Frank, zum Judenältesten. Zum Unglück für die Transportteilnehmer ordnete Frank an, das angekommene Gepäck nicht auszugeben, sondern im Hofe aufzustapeln. Er wollte das gesamte Gepäck durchsuchen lassen, um die von den einzelnen mitgebrachten Lebensmittel für die Allgemeinheit zu verwenden. Infolgedessen ging viel Gepäck durch Diebstahl verloren, und manches wurde infolge der schlechten Witterung vernichtet. Da auch viele Koffer durch die SS und die Polizei gestohlen wurden, standen viele der Neuangekommenen ohne Wäsche usw. da, was diese Armen besonders schwer traf. Eine sofort einsetzende Hilfsaktion unter den verschont Gebliebenen sorgte aber schnellstens für Ersatz.
Eröffnung Am Abend unserer Ankunft eröffnete uns der SS-Führer: „Ich habe für Euch Platz gemacht, indem ich 3 5 000 Russen umgelegt habe“. Dann las er uns vor, daß in Minsk Kriegsrecht bestünde, was alles verboten sei und daß jedes Übertreten eines Verbotes mit Erschießen bestraft werden würde. So hieß es erstens, zweitens, drittens usw. „... wird erschossen, . . . wird erschossen, . . . wird erschossen“. Gleichzeitig erklärte er, der Judenälteste besäße das Prügelrecht.
Es war für uns natürlich ein fürchterlicher Gedanke, daß unseretwegen 35 000 Menschen ihr Leben verloren haben sollten. Ob die Zahl in voller Höhe zutrifft oder zu unserer Terrorisierung in dieser Höhe angegeben wurde, b
Es war für uns natürlich ein fürchterlicher Gedanke, daß unseretwegen 35 000 Menschen ihr Leben verloren haben sollten. Ob die Zahl in voller Höhe zutrifft oder zu unserer Terrorisierung in dieser Höhe angegeben wurde, bleibt dahingestellt. Unter den gegebenen Umständen hatten wir jedenfalls wenig Anlaß, ihren Richterspruch zu bezweifeln 2). Auch wurden wir wegen dieses Vorgangs von den Russen zunächst als ihre Feinde betrachtet, bis es uns gelang, sie davon zu überzeugen, daß wir doch genau so von den Nationalsozialisten verfolgt würden wie sie und daß wir nicht freiwillig, sondern zwangsweise nach Minsk gekommen seien. Die Ärztin des russischen Waisenhauses, die in Deutschland studiert hatte, unterstützte mich in dieser Beziehung ganz besonders.
Die erste Unterbringung Da die Hamburger das Rote Haus besetzt hatten, mußten wir in den unzureichenden Gängen kampieren. Wir saßen zu vieren Rücken gegen Rücken auf unserem Gepäck und stützten uns gegenseitig. An ein Ausstrecken der Beine war wegen Platzmangel nicht zu denken. Dieser Zustand dauerte vier Tage, so daß wir insgesamt zehn Tage sitzend verbracht hatten, als uns endlich unsere Quartiere zugewiesen wurden. Aber wie sahen diese aus — nachdem die SS unmittelbar vor unserem Eintreffen die Russen entfernt und ermordet und geradezu bestialisch gehaust hatte!
Die Hamburger waren so tüchtig, daß sie bereits am ersten Tage in einer Notküche kochten, in der sich ein Waschkessel befand. Wir selbst dagegen erhielten die ersten vier Tage nichts zu essen. Wir hatten uns allerdings bereits an den Hunger gewöhnt, und es ging auch so, zumal wir vernahmen, daß 35 000 unschuldige Menschen erschossen worden seien, um für 7300 andere Platz zu machen. Später kamen noch 16 Schneider und Schuster ins Lager, die die SS für ihre Zwecke aus Riga angefordert hatte. Die neu Hinzugekommenen waren entsetzt, als sie unsere Wohnverhältnisse und unsere Verpflegung kennenlernten. Sie hatten für unsere Begriffe märchenhaft gelebt.
Die grüne Polizei fuhr mit ihren Lastkraftwagen unsere Koffer und die Lebensmittel, die uns die Gemeinde mitgegeben hatte, ins Lager, wo wir alles abladen mußten. Als ich feststellte, daß die Polizei mit den Wagen wieder abfuhr, als diese erst halb entleert waren, weil sie nicht schnell genug abgeladen worden waren, organisierte ich eine „Kette“, um das Ausladen schneller bewerkstelligen zu können und so zu verhindern, daß die Polizei mit den für uns so wichtigen Lebensmitteln und Sachen wieder abfuhr. Die „Kette", d. h. das Weiterreichen von Hand'zu Hand ohne Leerlauf, bewährte sich sehr gut, und in der Folge fuhr kein noch beladener Wagen mehr ab. Aber die Polizei wußte sich zu helfen: manches Gepäckstück erreichte das Lager überhaupt nicht.
Die Lagerwache Am nächsten Tage wurde mir, nachdem ich vergebens Einspruch dagegen erhoben hatte, die Aufstellung einer Ordner-Wache übertragen. Ich befand mich auf Neuland und stellte einen Wachtkörper aus ehemaligen Soldaten zusammen. Mir standen sämtliche Chargen — bis zum Hauptmann — aus allen Waffengattungen der früheren deutschen, österreichischen und tschechischen Armee zur Verfügung, so daß ich gehalten war, diese Truppe auszubilden, um sie schlagkräftig zu gestalten. Schon am vierten Abend sollte sich erweisen, daß die von mir erstrebte Schlagkraft dringend erforderlich war; Frauen wurden von marodierenden Soldaten überfallen und beraubt.
Der Raub war insofern eine Lehre, als die meisten an eine akute Gefahr nicht glaubten und es daher nicht für erforderlich hielten, Wacht-dienst zu versehen, ja das ganze als eine Spielerei betrachteten.
Als ich am nächsten Tage den Überfall dem SS-Oberscharführer Schmiedel meldete, fragte er mich, warum wir die Soldaten nicht festgenommen hätten, und erteilte den Befehl, in Zukunft solche Leute fest-zunehmen und sie notfalls niederzuschlagen. Tatsächlich gelang es uns wiederholt, raubende Soldaten und Polizisten niederzuschlagen und fest-zunehmen und sie damit am Plündern zu hindern, obwohl wir nur Knüppel besaßen — sie aber Waffen.
Die Lager Es wurden, je nach Herkunft der Transportteilnehmer, verschiedene Lager gebildet. Auf diese Art entstanden das Hamburger Lager, in dem die aus Hamburg und Frankfurt am Main Stammenden untergebracht waren; das Berliner Lager, wo die Berliner und Brünner kampierten; das Lager Rheinland, das die Düsseldorfer ausgenommen hatte; das Bremer Lager, wo die Bremer, und das Wiener Lager, wo die Wiener hausten.
Wie wir wohnten Die Vorstadt von Minsk war der russischen Bevölkerung 3) als Lager angewiesen worden. In dieses Lager hatte man einen Keil getrieben, der uns als Wohnraum diente, nachdem die russischen Insassen „liquidiert“ worden waren, wie es im SS-Sprachgebrauch hieß.
Die Minsker Vorstadt bestand zum größten Teil aus Holz-Reihenhäusern. Sie waren ebenerdig und enthielten am Eingang einen Küchen-herd und zwei kleine Räume. Dann gab es noch einige einstöckige Stein-bauten. Das Haus, in das ich einzog, enthielt im Erdgeschoß zwei Wohnungen mit je zwei Zimmern und Küche und im ersten Stock drei Wohnungen mit je drei Zimmern und Küche. Der größte Raum umfaßte zehn Quadratmeter. Diese Räume wurden uns so zugeteilt, daß auf jeden Bewohner 1, 4 Quadratmeter entfielen.
Frauen und Männer wurden nicht voneinander getrennt, sondern bunt durcheinander gewürfelt. Die Erotik spielte absolut keine Rolle, ja, man kann von einer vollkommenen Einbuße jeglicher Sexualität sprechen. Die Menschen lagen bei der strengen Kälte Körper an Körper, um sich gegenseitig zu wärmen. Da Licht nicht vorhanden war, legten sich die Bewohner schon vor vier Uhr nachmittags nieder. Von einer Organisation war in Minsk überhaupt nicht die Rede. Von vornherein war daran gedacht, die Menschen zu schinden und zu erledigen. Je schneller das geschah, desto lieber war es der SS. Die Küchen wurden genau so nach Quadratmetern belegt wie die anderen Räume. Da es in den übrigen Zimmern keine Kochgelegenheit gab, wurde der Küchenherd von allen benutzt, um die Suppe zu wärmen, die uns zugeteilt wurde, aber kalt ankam. Dies führte natürlich angesichts der dichten Belegung zu Streitigkeiten. Ich ließ daher in jedem Zimmer einen kleinen Herd aus 30 Ziegelsteinen errichten, der an den vorhandenen Kachelofen angeschlossen wurde. Die hierzu erforderlichen Steine, Türen und Herdplatten holten wir uns aus den zerstörten Häusern. Die kleinen Herde bewährten sich ausgezeichnet; wir konnten uns dadurch jeder einmal in der Woche in einem wannen Zimmer mit warmem Wasser waschen, was um so wichtiger war, als die Läuseplage einsetzte. Leider gab es aber auch Bewohner, die weder Wasser wärmen noch sich waschen wollten und sich einfach auf dem Fußboden ausstreckten und vor sich hin dösten. Ihr Lebenswille war gebrochen; sie wurden die ersten Opfer des Todes.
Die Wasserversorgung Soweit sich in den Häusern Wasserleitungen befanden, waren sie entweder eingefroren oder zerstört. Auf dem Hof befand sich eine Pumpe, die von früh bis spät in Betrieb war. Dadurch wurde die Welle des Pumpenschwengels ausgeleiert, so daß jeden Moment die Gefahr eines Bruches bestand, und dann wären wir, da eine Reparatur unmöglich war, ohne Wasser gewesen. Solange sich auf dem Hof Schnee befand, behalfen wir uns daher mit diesem.
Die Schlafgelegenheit Betten gab es natürlich nicht, geschlafen wurde auf dem Fußboden. In unserem Lager hatten die Berliner zuerst für die so notwendigen Latrinen gesorgt, aber leider aus Unkenntnis nicht tief genug gegraben, während die Brünner sich zuerst Betten bauten. Das taten wir später, indem wir die Türen aus den zerstörten Häusern auf vier Füße nagelten . . . damit war das Bett fertig. War man besonders luxusbedürftig, baute man sich aus alten Brettern noch ein Kopfkissen. Das hatte den Vorteil, daß dadurch die Ratten abgefangen wurden.
Die Verpflegung Für das gesamte Lager waren bis zum April 1942 im Hamburger Lager nur zwei Küchen vorhanden, von wo sich die anderen — das Wiener Lager war etwa eine halbe Stunde entfernt — die „Suppe“ holten. Das Kochen dieser Suppen stieß insofern auf Schwierigkeiten, als für 7300 Personen nur zwei Waschkessel zur Verfügung standen. Es gab mittags pro Kopf 300 Gramm Wasser, in dem fünf Gramm Buchweizen pro Person gekocht wurden. Fett gab es nicht, Salz monatelang nicht. Als weitere Nahrung erhielten wir täglich 150 Gramm Brot. Dieses Brot war aus Buchweizenmehl gebacken und schmeckte scheußlich; und doch — wie hungerten wir danach, während die Pferde es ablehnten. Oft, nur zu oft kam es vor, daß die SS, die das Brot anfuhr, es uns unterschlug, um es später gegen Armbanduhren, Broschen, Ringe, Wäsche und Geld zu tauschen. Kaffee oder Tee gab es nicht. Leider wurde das Brot nicht nur von der SS gestohlen; auch Funktionäre, also Leidensgenossen, beschritten diesen traurigen Weg, um sich an der Not der eigenen Gefährten zu bereichern. Kein Wunder, daß in wenigen Wochen 700 Menschen an Entkräftung und der Lagerkrankheit — so nannten wir den Durchfall — starben. Der ungeheure Wärmeverlust durch den Mangel an Fett und die strenge Kälte des Winters 1941/42 trugen dazu bei, die Menschen ihrer Widerstandskraft zu berauben. Hinzu kamen die seelischen Leiden.
Die Heizung In dem strengen russischen Winter froren wir selbstverständlich ganz besonders, weil wir alles Verbrennbare im Lager bald verbraucht hatten und kein Holz mehr besaßen. Was tun? An das Lager grenzte ein vollkommen zerstörter Häuserblock, zu dem wir gingen und das noch vorhandene Holz ausbrachen, um so Heizmaterial zu bekommen. Wer dabei erwischt wurde, fand den Tod durch die Pistole eines SS-Mannes oder Polizisten. Das hinderte aber niemanden, weiter Holz zu holen — denn hungern und frieren? Dann schon lieber einen schnellen Tod.
Als ich einmal in einem zerstörten Hause arbeitete, um aus den Kachelöfen Türen und Roste, die wir dringend benötigten, auszubrechen, hatten Frauen die zu dem oberen Raume führenden Treppenstufen herausgerissen, um Heizmaterial zu haben. Ich hatte das bei dem Lärm, den ich selber verursachte, nicht bemerkt, und als ich nach getaner Arbeit wieder herunter wollte, fand ich den Weg versperrt. Man mußte mir erst ein Seil zuwerfen, damit ich mich aus der ungemütlichen Lage befreien konnte; denn jeden Moment konnte ja die SS oder die Polizei erscheinen.
Die Umzäunung Die Umzäunung des Lagers hatten wir selbst vorzunehmen. Ich muß hier bemerken, daß es sich nur um eine symbolische Umzäunung handelte, denn der uns zur Verfügung stehende Stacheldraht reichte nicht einmal aus, um auch nur einen Draht um das ganze Lager zu ziehen. Dieser Draht wurde in Brusthöhe angebracht. Das hatte den Nachteil, daß marodierende Deutsche leicht ins Lager gelangen konnten. Das Aufstellen der erforderlichen Pfähle dauerte viele Wochen, weil das Graben der Löcher, die zu ihrer Aufnahme und Befestigung dienen sollten, infolge des hartgefrorenen Bodens auf Schwierigkeiten stieß.
Tägliche Ronde mit Schmiedel Jeden Morgen mußte ich mit dem aus Wien stammenden SS-Oberscharführer Schmiedel Ronde gehen, d. h. die verschiedenen Lager begehen. Und jeden Morgen fand dieser Mörder ein unglückliches Opfer, das er kurzerhand niederschoß. Sei es, daß der oder die Betreffende keinen Judenstern oder gelben Fleck trug, den die russischen Juden auf der Brust und auf dem Rücken tragen mußten, oder ihn durch ein Schultertuch verdeckt hatte. Sei es, daß sie einen Weg gingen, der nach Ansicht dieses Mörders verboten war, denn daß er verboten war, konnte niemand wissen, da keine entsprechenden Tafeln aufgestellt waren. Sei es aus irgendeinem anderen — oder gar keinem Grunde.
Einmal war mir gemeldet worden, daß ein Ungar sich weigerte, den Judenstern zu tragen, da er hierzu gesetzlich nicht verpflichtet sei. Ich ließ ihm sagen, er solle nicht mit seinem Leben spielen, in Minsk seien doch viele, die nach den Rassegesetzen keine Juden wären und doch — den Anweisungen der SS entsprechend — den Judenstern trügen
Am nächsten Morgen war der erste Mensch, der Schmiedel in den Weg lief, dieser Ungar und . . . erschossen!
Schmiedel, den ich nie betrunken sah, der nicht übermäßig rauchte, war klein von Gestalt (etwa 1, 5 5 m groß), nicht dumm und ein Kunst-schütze, der rechts-wie linkshändig gleich gut schoß. Er ist mir von allen SS-Leuten am unheimlichsten vorgekommen. Er liebte die Konversation, sah sich in den Wohnungen die Familienbilder an und verteilte im Wiener Lager großzügig Zigaretten. Er verlangte, nicht mit „Herr“ angeredet zu werden, denn bei der SS gäbe es keine Herren (wie richtig!) — auch Rassenschande gäbe es in Minsk nicht; dieses Gesetz bestehe lediglich in Deutschland! Nur einmal habe ich gesehen, daß seine Kugel nicht traf, weil seine Pistole nicht weit genug trug. Die Kugel hatte einem Jugen gegolten und schlug etwa einen Meter vor ihm in den Schnee. Der Junge war klug genug, davon zu rennen.
Als er einmal ein Kind sah, das auf seinem kleinen Schlitten die Leiche seines ermordeten Vaters nach Hause holte, rief er ihm zu, es solle doch ein Brett unterlegen, die über die Erde schleifenden Füße würden ja abgerieben, da der Schlitten zu kurz sei. Das Kind, das kein Deutsch verstand, trabte verängstigt davon, und der Schlitten stürzte um. Als er sah, wie die Leiche herunterrollte, verursachte das bei Schmiedel unbändige Freude ... Vielleicht hat dieser Umstand dem Kind das Leben gerettet — damals!
Einmal ging Schmiedel allein; später sah ich ihn als Jude verkleidet — er wollte unerkannt durch das Lager streifen. Das ist ihm leider in vollstem Maße gelungen. An diesem Tage erschoß er ein blühendes junges Mädchen und einen prächtigen jungen Mann. Da der Junge nicht gleich tot war — er wurde auf einem Handwagen zum Arzt gebracht — gab Schmiedel ihm, als er wieder auf ihn stieß, den Fangschuß. Dies mag genügen. Um das Bild abzurunden, sei noch hinzugefügt, daß er uns aufforderte, auf dem Marktplatz die „Weihnachtsbäume“ anzusehen. Hier war eine größere Anzahl von Partisanen, die den Deutschen in die Hände gefallen waren, an den Parkbäumen aufgehängt worden.
Anscheinend konnte Schmiedel nicht frühstücken, bevor er nicht „seinen“ Juden umgelegt hatte. Eines Tages erschien er nicht mehr im Lager; warum, ist mir nicht bekannt geworden. Angeblich soll er um einen Dienstgrad herabgesetzt worden sein.
Flucht aus dem Lager Aus dem Berliner Lager verschwanden eines Tages drei Personen, eine Frau und zwei Männer. Wir mußten den Abgang melden, und ich atmete auf, als diese Meldung stillschweigend zur Kenntnis genommen wurde. Das war eine Selbsttäuschung, denn am nächsten Tag wurde ich von Schmiedel gefragt, ob die Ausreißer gefaßt seien. Als ich ihm hierauf erwiderte, daß er dies ja besser wissen müsse als ich, da ich doch keine Verbindung zur Außenwelt besäße, meinte er: „Na, denn 300." Ich war zwar sehr erschrocken, tat aber so, als ob ich ihn nicht verstanden hätte. Der Judenälteste, Dr. Frank, und ich sahen uns an. Später vereinbarten wir, nichts zu unternehmen; wir hofften, daß die Entflohenen zurückkehren würden, denn aus dem Minsker Gebiet konnte niemand entkommen, zumal die drei weder Geld noch Lebensmittel bei sich hatten, unzureichend gekleidet waren und außerdem die Landessprache nicht beherrschten.
Am nächsten Tage frage Schmiedel, ob die Aufstellung der Liste der dreihundert fertig sei. Ich entgegnete, ich hätte angenommen, daß er gescherzt habe, worauf er erwiderte: „Sehe ich so aus, als ob ich scherze? Dazu ist die Angelegenheit doch viel zu ernst. Was meinen Sie wohl, was mir passiert, wenn die drei durchkommen und später gefaßt werden?“ Ich machte den Einwand, daß die drei doch gar nicht weit kommen könnten, da sie mangelhaft bekleidet seien, kein Geld und keine Lebensmittel besäßen und nicht Russisch sprechen könnten. Nachdem Schmiedel gegangen war, verlangte Frank die Aufstellung der Liste. Ich wehrte mich dagegen, da ich mir sagte, das Wichtigste sei, Zeit zu gewinnen, denn die drei mußten — tot oder lebend — wieder zurückkommen. Frank war erst einverstanden, als ich mich erbot, die alleinige Verantwortung dafür zu übernehmen.
Als Schmiedel am nächsten Tage die Liste sehen wollte, erklärte Frank prompt, ich hätte die Angelegenheit übernommen. Schmiedel wandte sich nunmehr an mich, worauf ich ihm sagte, ich wüßte nicht, wie ich die Liste aufstellen solle. Er gab mir den Rat, die Namen alphabetisch abzuschreiben und einfach jeden zwanzigsten zu nehmen. Wieder einen Tag später erklärte ich ihm auf seine Frage, ob die Liste fertig sei, daß es so, wie er mir geraten hätte, nicht ginge; denn dann würden nicht nur Familien auseinandergerissen, sondern auch für das Lager wertvolle, ja selbst für die SS wichtige Personen betroffen. Schließlich wurde er grob, und ich sagte ihm rundweg, daß er die dreihundert nicht bekäme. Nach längeren Auseinandersetzungen gab er sich dann mit hundert zufrieden.
Mein ganzes Bestreben war immer noch darauf gerichtet, Zeit zu gewinnen, und ich verfiel auf die Idee, Schmiedel Kranke mit offener Tbc anzubieten. Er erklärte sich einverstanden, und nun hatte ich Zeit, standen mir doch nur fünf Ärzte zur Durchführung der Untersuchungen zur Verfügung. Schließlich wurden dreißig Fälle von offener Tbc festgestellt. Ich sagte mir, daß es — wenn die drei Entflohenen wider Erwarten tatsächlich nicht zurückkommen sollten — immer noch besser sei, Opfer anzubieten, die den strengen Winter und die mangelhafte Ernährung ohnehin nicht überleben würden, als gesunde Menschen. Die Zukunft sollte — leider — die Richtigkeit meiner Ansicht bestätigen: kein Tbc-Kranker hat den Winter überlebt.
Als ich Schmiedel das Resultat meldete, verlangte er weitere siebzig, die ich ihm mit der Begründung, zehn für einen seinen schon viel zu viel, rundweg verweigerte. Er gab sich schließlich zufrieden und forderte, daß die Tbc-Kranken um zehn Uhr abends in ein bestimmtes Haus eingeliefert würden. Abschließend meinte er: „Ich weiß gar nicht, warum Sie so viel Theater machen. Sie klagen über zu wenig Essen; Sie sollten sich freuen, wenn ich Ihnen Luft mache und Sie dadurch mehr zu essen haben.“ — Abends um zehn Uhr wurden die Tbc-Kranken in das von Schmiedel bestimmte Haus gebracht.
Eine Minute, nachdem dieser schauerliche Befehl ausgeführt worden war, kam die Meldung, die drei Flüchtlinge seien dreißig Kilometer von Minsk entfernt aufgefunden worden und auf dem Wege ins Lager. Die • Reaktion auf diese Nachricht setzte bei mir sofort ein: innerhalb weniger Minuten war ich trotz der strengen Kälte durch und durch naßgeschwitzt. Das Wasser lief mir am ganzen Körper herunter, so, als stünde ich unter einer Brause.
Am nächsten Tage meinte Schmiedel: „Na, da habt Ihr ja noch mal Glück gehabt. Um zwölf Uhr tritt das ganze Lager vor dem Roten Haus an." Als wir uns pünktlich an dem befohlenen Ort einfanden, standen die drei Flüchtlinge bereits vor dem Roten Haus. Etwa dreißig Meter von ihnen entfernt sahen wir SS-Leute mit Maschinenpistolen. Die Delinquenten — barfuß in der strengen Kälte — traten von einem Fuß auf den anderen. Da innerhalb der ersten dreißig Minuten keine weiteren Anstalten getroffen wurden, glaubten wir schon, daß uns nur ein Schreck eingejagt werden sollte. Wir begannen Hoffnung zu schöpfen, daß die drei mit dem Leben davonkommen würden Idi wandte mich gerade zu meinem Nachbarn, um ihm diese Überlegung mitzuteilen, als auch schon ein kurzes Kommando erfolgte — und die drei hatten ausgelebt.
Zog man aus dieser als Warnung gedachten Demonstration die Konsequenzen? Keineswegs, je ärger die Lage, desto größer die Sorglosigkeit! Der Leichtsinn — oder war es die vollkommene Gleichgültigkeit dem Tode gegenüber? — sollte noch manches Opfer fordern.
Ein Berliner'Junge von neunzehn Jahren entfernte sich kurz nach diesem Vorfall, um zu seiner Braut nach Berlin zurückzukehren. Er kam bis in das sogenannte Bremserhäuschen eines Güterwagens, wurde entdeckt .. . und wir durften seine Leiche abholen. Ein älterer Mann gelangte nicht einmal so weit; auch er bezahlte die Entfernung aus dem Lager mit seinem Leben.
Drei junge Mädchen aus Brünn, die bei einer Privatfirma arbeiteten, ließen sich verleiten, über Nacht fortzubleiben, um mit deutschen Zivilangestellten, die sich in sie verliebt hatten, auszugehen. Sie wurden in einem Lokal von einer SS-Streife gestellt und mit ihren Begleitern erschossen. Einige Männer, darunter ein Herr Conrad aus Brünn, nahmen Kleidungsstücke mit zu ihrer Arbeitsstätte, um sie gegen Lebensmittel einzutauschen. Sie wurden dabei ertappt und erschossen.
Eine Schneiderin, Frau Hahn aus Brünn, die aus ihr gegebenen Sachen ein Kinderkleidchen für eine Russin gearbeitet hatte, um sich so einige Lebensmittel zu verdienen, bezahlte dies mit ihrem Leben. Herr Freudenthal aus Berlin wurde in die Poststelle des Lazaretts 2/609 kommandiert. Dort sagte man ihm: „Du siehst hier viel, aber Du hast Deinen Mund zu halten!" Vielleicht sah er „zu viel“. Eines Tages fand man bei ihm Zigaretten, die er gestohlen haben sollte. Er wurde auf Befehl des Chefarztes des Lazaretts vor dem angetretenen Lager erschossen.
In der Nähe von Minsk befand sich das sogenannte Feldzeuglager, wo erbeutete russische Kanonen, Maschinengewehre, Munition usw. aufgespeichert wurden. Hier arbeiteten etwa 200 Männer und Frauen, um die Waffen in Ordnung zu halten. Der Leiter dieses Lagers lieferte den Frauen Schürzen zum Schutze ihrer Kleider. Zehn Mädels, und zwar die hübschesten Brünnerinnen, trugen diese Schürzen ohne den vorgeschriebenen Judenstern. Nur eine Frau Munk aus Brünn war so vorsichtig, sich einen Judenstern anzustecken. Unerwartet kommt der SS-Hauptscharführer Rübe in dieses Lager, sieht ein Mädel ohne Stern, läßt alle im Büro antreten und sagt ihnen: „Also heute abend um sechs Uhr antreten vor der Lagerleitung. Ihr habt alle eine Nacht Bunker, weil Ihr den Judenstern nicht getragen habt!“ Unter „einer Nacht Bunker“ war Gefängnis zu verstehen. Die Mädels gingen am Abend lachend und scherzend vor die Lagerleitung, um ihre Nacht Haft abzusitzen. In Verkennung der Lage hatten sie sich noch — entgegen dem Verbot — „zurechtgemacht“, d. h. die Lippen geschminkt. Rübe führte die Mädels auf den Friedhof und erschoß sie.
Ein Berliner Mädel war im Minsker Hochhaus beschäftigt. Ein deutscher Inspektor entfloh mit ihr. Zwei Wochen später mußten sämtliche Mitglieder dieses Arbeitskommandos mit ihren Familienangehörigen und den Zimmergenossen sowie den Verwandten des Mädels antreten und wurden erschossen. Wer etwa annimmt, die Frauen seien nach diesen traurigen Erfahrungen eifrig bedacht gewesen, sich den Stern fest anzunähen, befindet sich im Irrtum. Ich hatte täglich Veranlassung, Frauen zu warnen, und war schließlich gezwungen, bevor die Frauen zur Arbeit gingen, regelrechte Musterungen abzuhalten, um zu verhindern, daß auch sie erschossen wurden. Der Leichtsinn, das Spiel mit dem Tode, war nicht mehr zu überbieten. Ich hatte mit meiner Maßnahme erst Erfolg, als ich die Frauen ohne angenähten Stern nicht mehr zur Arbeit gehen ließ, denn das bedeutete Verlust von Brot und einer immerhin besseren Mahlzeit, als es sie im Lager gab.
Eines Tages besichtigte der SS-Hauptscharführer Rübe wiederum das Beutelager und „fand“ an dessen Zaun ein Gewehr und eine Mütze. „Selbstverständlich“ hatte einer von uns diese Gegenstände dort hingelegt, „um sie zu verschachern", wie Rübe sich ausdrückte. Er ließ das ganze Lager antreten, dann befahl er jeden siebenten Mann vor die Front. Einer der Vorgetretenen wurde auf Bitten des Kommando-führers mit einem anderen ausgetauscht, dann wurden die vor der Front stehenden an Ort und Stelle erschossen.
Derselbe Rübe hatte gehört, daß auf einem Hof Gold vergraben sei. Er ließ daraufhin sechs Mann den Hof umgraben und beschenkte sie dabei im Vorgefühl des Gewinns so reichlich mit Brot, Butter und Wurst, daß sie nicht in der Lage waren, alles aufzuessen. Als sich die Suche nach dem Gold als ergebnislos erwies, erschoß er die sechs Mann, die er noch kurz vorher so reichlich beschenkt hatte.
Eine neunzehnjährige russische Studentin, blond, blauäugig und schön, stand am Zaun unseres Lagers, um der bereits erwähnten Frau Hahn eine Kleinigkeit zu bringen. In diesem Moment kommt überraschend der SS-Obersturmführer Burckhardt in seinem Auto vorbeigefahren, hält, steigt aus, zieht seine Pistole und schießt dem armen Mädchen eine Kugel in den Kopf. Das Mädchen brach sofort zusammen, und da es — im Schnee liegend — noch wimmerte, holte ich mit einem Kameraden eine Tragbahre. Wir brachten das Opfer zu Dr. Saphir, der dem armen Kind auf meine Bitte hin eine der beiden Morphiumampullen injizierte, die er noch besaß, um die furchtbar Stöhnende von ihren Schmerzen zu erlösen. Dann wollte ich die Russen
Sabotage LInmittelbar vor dem Haupteingang zu unserem Berliner Lager befand sich die Minsker Tapetenfabrik, die voll für Deutschland beschäftigt war. Am 25. Februar 1942 mitternachts ging diese Fabrik plötzlich in Flammen auf und brannte vollkommen aus, weil die Hydranten eingefroren waren. Es war ein schauerlich schöner Anblick! Der herrschende Sturm lenkte zu unserem Glück die Flammen in eine uns abgewandte Richtung, andernfalls hätte der Brand für uns unabsehbare Folgen haben können. Vorsichtshalber räumten wir die angrenzenden Häuser. Ich sandte einen Wachmann zu dem Brünner Lagerleiter Lothar Bauer, da die gefährdeten Häuser zum Brünner Lager gehörten. Da weder Bauer noch der Wachmann auftauchte, ging ich selber zu der Wohnung des Lagerleiters und fand den Wachmann tot vor der Behausung des Bauer liegen.
In Zukunft mußten alle Hydranten stets aufgesperrt sein, um ein Einfrieren durch das fließende Wasser zu verhindern. Das war lebensgefährlich, da sich die Hydranten mitten auf der Straße befanden und das ausfließende Wasser sofort gefror, so daß die Straßen unpassierbar wurden.
Die Tapetenfabrik war von den Partisanen in Brand gesteckt worden. Das bot der SS einen willkommenen Grund zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die russischen Juden, die um die Fabrik herum wohnten. Ein Jude mußte ein Holzfaß, das auf einem Tische stand, besteigen. Dann hatte er sich eine Schlinge um seinen Hals zu legen, die an einem Baumast befestigt war. Und dann ??? Ja, dann schoß die SS unmittelbar unter die Füße des armen Menschen. Dieser zog in seinem Schreck seine Beine an, stieß dabei das Holzfaß um, sich selber erhängend. Das gab ein großes Gaudium bei der SS. Es mußte natürlich gefeiert werden, und nach der Feier mußte natürlich weiter „gefeiert" werden. Die SS warf bündelweise Handgranaten in die Türen, die offen stehen mußten und durch die Fenster. Sogar Kleinkinder, die in der Wiege lagen, wurden nicht verschont.
Das Ende der ersten Lagerleitung Die Leitung des Lagers bestand, da die Hamburger zuerst eingetroffen waren, aus Hamburgern. Der deutsche Polizeimeister hatte sich mit ihnen angefreundet und sich erboten, Briefe für sie nach Hamburg zu befördern und Post für sie, die an seine Adresse gerichtet war, entgegenzunehmen. Das fiel auf — mußte auffallen. Alle Herren, und zwar Dr. Frank, Bieber, Behrend, Cohn, Jacob, Satz, Spiegel und Rappolt, wurden am 8. Februar 1942 verhaftet und zunächst als Zeugen gegen den Polizeimeister gebraucht. Genau einen Monat später, am 8. März, Wurde Dr. Frank, vollkommen verlaust und verwahrlost auf einem Schlitten lehnend, ins Lager zurückgeschafft. Ich erkannte ihn nicht wieder. Anscheinend hatte man ihn vergiftet, denn er starb noch in der gleichen Nacht. Die anderen sieben Herren wurden am 13. April 1942, auf einem Lastwagen liegend, in den Hof des Lagers gefahren. Von Fußtritten und Peitschenhieben begleitet, mußten sie einzeln von dem Wagen herunterklettern, sich mit dem Gesicht zur Erde gewandt hinlegen und sich mit den Füßen ausrichten. Dann stellte sich SS-Ober-Sturmführer Burckhardt dorthin, wo ihre Füße lagen, und erschoß zuerst den rechten Flügelmann. Dann machte er einen großen Bogen um die auf der Erde Liegenden, um den linken Flügelmann zu erschießen. Wiederum in einem großen Bogen kehrte er zu dem Zweiten von rechts zurück, erschoß diesen und wiederholte das Manöver des Umgehens so lange, bis der letzte erschossen war. Anscheinend machte er den Umweg jedesmal, um die Ungewißheit der armen Opfer und damit ihre Angst zu vergrößern. ,
Der Arbeitseinsatz Wir unterhielten in Minsk ein Büro, in dem drei Damen und zwei Herren beschäftigt waren, um die Befehle der vorgesetzten Behörde erfüllen zu können. Gleichzeitig waren alle von der SS und dem Generalkommissar für Weißruthenien, Wilhelm Kube, verlangten Arbeiten zu verrichten. Das stieß insofern auf Schwierigkeiten, als uns die SS die Schreibmaschinen und das Schreibpapier abgenommen hatte. Alte Briefumschläge wurden zunächst zugeklebt, dann aufgetrennt und als Schreibpapier benutzt.
Dieses Büro und" der Arbeitseinsatz unterstanden bis zu seiner Verhaftung Spiegel. Später mußte ich seine Aufgaben mit übernehmen. Die Tätigkeit bestand darin, die Anforderungen an Arbeitskräften seitens der SS, des Militärs, der Privatfirmen, der Organisation Todt und der Reichsbahn sowie anderen Dienststellen zu erfüllen. Da die Höfe des Lagers Lehmböden hatten, waren sie bei nassem Wetter unpassierbar. Die Lastkraftwagen, die die Lagerinsassen zur Arbeit abholten und wieder zurückbrachten, sanken bis zu den Achsen in den weichen Boden ein. Lim hier Abhilfe zu schaffen, wurden die Höfe mit Ziegelsteinen, die wir den zerstörten Häusern entnahmen, gepflastert. Wir bauten regelrecht nach Makadam.
Jeden Morgen hatten sich die zur Arbeit bestimmten Lagerinsassen im Hofe zwischen dem Roten und dem Weißen Haus — nach Arbeitskommandos getrennt — aufzustellen; ihre Namen wurden verlesen und dann wurden sie den Abholern als „Zahl“ übergeben. In einem eigens zu diesem Zweck geführten Buch mußte der Empfang dieser „Ware Mensch“ quittiert werden. Wer am Abend fehlte, war ins Jenseits befördert worden. Ein Grund wurde nicht angegeben, wozu auch? Wir wußten ohnedies genug . ..
Ich pflegte abends auf die Rückkehr der Arbeitskolonnen zu warten, die sich meistens in die Länge zog. Eines Abends fehlte nur noch das Frauen-Kommando, das im SS-Lazarett arbeitete. Ich ging zum Berliner Lager und stieß unterwegs auf die von einem betrunkenen SS-Scharführer angeführte Frauenkolonne. Schon von weitem winkten mir die Frauen zu, um mich zu warnen. Sie verständigten midi durch Zeichen, daß der SS-Mann nach rechts und links geschossen hätte. Was tun? Umkehren hätte ihn zum Schießen geradezu herausgefordert, da er dann hätte annehmen können, daß ich etwas verbergen wollte. Vorbeigehen war gleichfalls gefährlich. Ich ging also auf ihn zu, fragte ihn nach der Uhrzeit und ... war gerettet.
Von den 7300 Lagerinsassen waren 1425 zur Arbeit eingesetzt; für die übrigen war keine Arbeit vorhanden. Etwa 300 waren in den Lazaretten beschäftigt, wo sie Zimmer und Gänge zu säubern hatten und andere Arbeiten, wie Wäsche waschen, Holz zerkleinern und Kartoffeln schälen, verrichten mußten. Andere Frauen arbeiteten in den Kasernen, wo sie es relativ gut hatten. Im Materiallager der Luftwaffe waren etwa 150 Frauen beschäftigt, in der Schusterwerkstatt etwa 100. Am schwersten hatten es diejenigen, die Schienen umlegen mußten. Teilweise erhielten die Beschäftigten gutes Essen, besonders im Proviant-lager, wo ein kleines Kommando tätig war. Bei manchen Privatfirmen war das Essen sehr schlecht, weil die Vorarbeiter das für diesen Zweck zur Verfügung stehende Geld vertranken. Ein Vorarbeiter — er stammte aus Bochum — zeichnete sich in dieser Beziehung besonders aus.
Der Luftwaffenscldat, der die bei der Luftwaffe beschäftigten Frauen abzuholen und zurüdezubringen hatte, zeigte mir eines Abends seine blutbefleckte Hand und prahlte, er habe soeben eine Judensau erschossen, und so erginge es jeder, die sich von der Arbeit drücke.
Als ich mich voller Ekel abwandte, schoß er hinter mir her und seinen Patronenrahmen leer. Obwohl ich nur wenige Schritte von ihm entfernt war, traf mich keine Kugel. Er war nicht mehr „zielsicher“, aber es hätte auch anders kommen können.
Ich möchte hier erwähnen, wie verhetzt manche Verwundeten waren. Sie verlangten nach Wasser, und als eine Jüdin ihnen das Wasser reichen wollte, lehnten sie diese Erfrischung von einer Jüdin ab. Vielleicht hatten sie Angst, das Wasser könnte vergiftet sein.
Korruption Leider vergriffen sich aber auch Lagerinsassen, die als Köche bei diesen Kommandos eingesetzt waren und für die Verpflegung ihrer Leidensgenossen zu sorgen hatten, an den Zuteilungen. Das war allerdings nur durch die Hilfe und Billigung des Aufsichtspersonals möglich, das sich ebenfalls auf diese Weise bereicherte und dadurch die zur Verfügung stehenden Mengen auf ein Mindestmaß zusammenschmelzen ließ. Ich denke hier besonders an einen Fall bei der Reichsbahn. Dort machten drei Mann mit dem Unteroffizier Michel — ob Vor-oder Zuname ist mir entfallen — gewöhnlich gemeinsame Sache. Michel stammte aus Düren, war riesengroß und gebärdete sich als-wahrer Freund der Juden. Aber er ließ abgearbeitete Frauen Eisenbahnschienen und Schwellen schleppen; als Essen gab er ihnen eine Wassersuppe.
Als sich die Frauen bei mir beschwerten, riet ich ihnen, sich krank zu melden. Michel, dem dies zu Ohren kam, denunzierte mich bei der SS. Der betreffende Obersturmführer war jedoch so sehr mit Pogromen beschäftigt, daß er für mich keine Zeit hatte. Ein Reichsbahnrat gab mir jedoch recht und versprach den Frauen besseres Essen. Er kontrollierte die Küche und verwarnte die Köche. Anstatt daraufhin mit den Diebereien aufzuhören, stahlen sie nach kurzer Unterbrechung weiter, aufgestachelt durch Michel, der auf sein tägliches Beefsteak nicht verzichten wollte. Eines Abends, als die Kolonne abmarschbereit war, erschien der Reichsbahnrat wiederum zur Kontrolle und fand bei drei Köchen Fleisch, Zucker und Margarine. Er ließ sie festnehmen, und wir haben sie nie wiedergesehen.
Und plötzlich war gerade dieses Kommando das gesuchteste, obwohl hier schwerste Arbeit verlangt wurde; aber es gab dafür reichlich und gut zu essen — eine Ausnahme in Minsk!
Oft konnten die 1425 Beschäftigten — oder doch einige von ihnen — eine zweite Mahlzeit mit ins Lager bringen, die sie dann dort verteilten. Für die Nichteingesetzten war das jedesmal ein Ereignis. Das Mitbringen war zwar verboten, und oft wurde das Eessen von den Begleitmannschaften ausgeschüttet, aber die Hoffnung darauf war stets vorhanden und hielt die Wartenden aufrecht. Manches Mal wurden zwar nur Kartoffelschalen mitgebracht, aber sie wurden zerkleinert und auf der Herdplatte gebacken — ohne Fett, so wie man Kartoffelpuffer zubereitet.
Als Lohn für die Arbeiter wurde pro Tag und Person 1 Mark gezahlt. Davon mußten nach Abzug der Steuern sämtliche Ausgaben für das Lager, u. a. die Ausgaben für 150 gr Brot pro Tag und Kopf, bestritten werden.
Im Proviantlager unseres Lagers befanden sich die mitgebrachten und von der Leitung beschlagnahmten Lebensmittel. Diese wurden jedoch nicht für die Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, sondern vom Leiter des Proviantlagers an seine Freunde verteilt. Einmal war der russische Judenrat eingeladen. Gastgeber und Gäste erhielten bei dieser Gelegenheit 100 in Margarine gebackene Kartoffelpuffer, während die Lagerinsassen hungerten.
Das Tauschverbot Die Lagerinsassen versuchten, ihre Lage dadurch zu verbessern, daß sie Kleidungsstücke, Wäsche, Armbanduhren und Schmuck gegen Lebensrnittel eintauschten. Für eine Armbanduhr zum Beispiel konnte man 1 Pfund Speck und 1 Brot oder 1 Pfund Margarine und 2 Brote bekommen. Solange Tauschware vorhanden war, konnten die glücklichen Besitzer gut leben. Meistens reichten die auf diese Weise er-tauschten Lebensmittel aber nicht länger als wenige Tage. Die Sachen war man dann los, der Hunger aber, dem man hatte entgehen wollen, stellte sich wieder ein. Ich konnte mich aus diesem Grunde nicht zum Tausch meiner Armbanduhr entschließen — und doch hatten die anderen armen Menschen recht, nur zu recht! Sie haben alle den Tod gefunden und sich so doch vorher wenigstens noch einmal richtig sattessen können. Manchmal jedoch war schon dieses Sattessen sehr gefährlich. Die sich häufig in der Folge einstellende „Lagerkrankheit“ hat zahlreiche Todesopfer gefordert.
Das Tauschen war zwar verboten und wurde mit dem Tode bestraft, aber das hielt niemand davon ab, denn Hunger tut weh. Meistens wurden die Tauschgeschäfte von den Russen vermittelt und auf einem versteckten Hof abgewickelt. Einmal kam SS-Obersturmführer Burckhardt dort vorbeigefahren. Er mußte etwas gemerkt haben, denn er verließ sein Auto, zog die Pistole und schoß einen Rahmen Patronen in die Menge. Sieben Unglückliche wälzten sich auf dem Boden, die anderen flohen. Dann wurden die sieben teils tot, teils verwundet geborgen und .. .der Handel ging weiter. Nach etwa einer halben Stunde kehrte Burckhardt zurück, schoß seinen Rahmen leer, und wiederum waren sieben Opfer zu beklagen.
Um solche Vorfälle zu vermeiden, organisierte ich einen Nachrichtendienst, um das Lager vor der Ankunft der SS zu warnen. Da der Nachrichtendienst in erster Linie die Aufgabe hatte, das Tauschen zu ermöglichen, verbot Dr. Frank die Aufstellung von Warnposten. Ich vereinbarte daraufhin mit den Insassen des russischen Lagers, daß ich mich im Falle der Gefahr mit der Trillerpfeife in der Hand sehen lassen würde. Außerdem stellte ich am Ausgang des Hofes einen Beobachtungsposten auf und ließ immer nur jeweils drei Personen die Straße für fünf Minuten betreten. Das hatte den Vorteil, daß die Straße bei der Ankunft der SS sofort und unauffällig geräumt werden konnte. Außerdem wurde es auf diese Weise möglich, den Tausch vorteilhafter abzuwickeln, denn die Abnehmer, die nicht mehr wußten, welche und wie-viel Waren auf den Markt kommen würden, konnten nicht mehr unterbieten.
Der einzige, der sich mit dem Tauschen nicht einverstanden erklärte, war Dr. Frank, denn er war gesättigt. Er verbot nicht nur den Handel, sondern'beschlagnahmte selber die eingetauschten Lebensmittel oder ließ sie den Leuten durch seinen Nachfolger Harf, der aus Bremen stammte, abnehmen. Entdeckte er einen Tauschhandel, schlug er die Betreffenden sogar mit seinem Gummiknüppel oder veranlaßte Harf, sie zu schlagen. Ja, Frank entblödete sich nicht, die Wohnungen zu durchsuchen. Die Macht war ihm zu Kopfe gestiegen, und auch an ihm bewahrheitete sich das Wort: Macht korrumpiert, mehr Macht korrumpiert mehr! Eines Tages begleiteten zwei Hamburger und eine Berlinerin den Polizeimeister auf seinem Kontrollgang. Der Polizeimeister durchsuchte die Taschen der Russen, nahm ihnen Lebensmittel ab und schenkte diese seinen drei Begleitern. Idi warnte die drei vor einem Umschwung, aber erst nach mehrfachem Protest unterließen sie es, sich beschenken zu lassen, bzw.den Polizeimeister zu begleiten. Es ist merkwürdig, wie sich Menschen gebärden können, die plötzlich zur Macht gelangen! So denke ich mit Grauen an die Lagerinsassen Edel und Lachmann. Beide schämten sich nicht, sogar Frauen zu schlagen, wenn diese sich nicht alles gefallen ließen. Edel, ein Mann wie ein Schwerathlet, und Lachmann, ein Heimchen, brachten sogar einen Mann zur deutschen Polizei, wo der Bedauernswerte gezüchtigt wurde. Dieser wagte nicht einmal, zu sagen, daß er sich gegen die Diebereien der beiden aufgelehnt hatte.
Ich konnte vielen Klagen abhelfen, kam aber oft, wie in den geschilderten Fällen, zu spät. Zwar konnte ich weder die Rationen vergrößern, noch das Essen verbessern, denn wir hatten ja nichts zu unserer Verfügung; aber ich konnte durch meine Ordnerwache für eine gerechte Verteilung der Suppen sorgen.
Der Ordnungsdienst Mein Hauptaugenmerk war zunächst auf die Ausbildung der Ordner-wache gerichtet, denn ich rechnete schon 1941 mit der Niederlage Deutschlands. In diesem Falle wollte ich das Lager nicht ungeschützt überrennen lassen. Ich hatte das Lager vor Überfällen zu schützen, und das gelang mir auch. Nur ein einziges Mal kam es vor, daß ein Insasse, als er nachts zur Latrine ging, von einem Plünderer vollkommen nackt ausgezogen wurde, weil kein Posten in der Nähe war. Ich ließ daraufhin die Runde von zwei Doppelposten gehen, und zwar so, daß diese das Gebiet von beiden Seiten sich begegnend umkreisten, so daß Hilfe in jedem Fall schnell zur Stelle sein konnte. Die Posten wurden von mir jede Nacht zu verschiedenen Zeiten kontrolliert. Wenn ich nachts meine Ronde ging, mußte ich bei Schneeverwehungen stets eine Schaufel bei mir haben, da ich sonst den Weg verfehlt hätte oder nicht mehr in das Haus zurückgelangt wäre, das ich bewohnte.
Um vor Fremden geschützt zu sein, hatte ich ein Losungswort eingeführt, das täglich wechselte. Die Ordnerwache bestand — wie bereits geschildert — aus gedienten Leuten, die mit der Zeit eine erstklassige Truppe wurden. Sie gaben ihr Bestes, um dem Lager zu dienen, und verrichteten den anstrengenden Dienst, ohne dafür eine Vergütung zu bekommen. Zu allen außerordentlichen Arbeiten wurden sie herangezogen: sie holten das Essen, besorgten die Krankentransporte und übernahmen das Wegschaffen der Toten.
Die tägliche Suppe wurde in 50-Liter-Gefäßen von der Küche des Hamburger Lagers geholt. Diese war etwa eine Viertelstunde entfernt, der Weg dahin schlecht, steil und glatt. Der für den Transport benutzte Schlitten befand sich in überaus schlechtem Zustand, daher war diese Arbeit sehr anstrengend und auch gefährlich. Trotzdem unterzogen die Mitglieder der Ordnerwache sich ihr gern, gab sie ihnen doch die Möglichkeit, darauf zu achten, daß niemand benachteiligt wurde. Blieb in der Küche mittags noch Suppe übrig, sei es durch Todesfälle oder aus anderen Gründen, erhielten die Wachmänner nachts eine warme Suppe extra. Diese Suppe mußte ich mir aber stets von neuem erkämpfen, denn der Proviantleiter Kaufmann, ein Hamburger, machte mir in dieser Beziehung immer wieder Schwierigkeiten. Kam aber die SS, konnte er sich nicht genug verbeugen. Dieser Mann ist mit daran schuld, daß viele Lagerinsassen infolge Hungers starben.
Aus Angst, diese Ordnerwache könne Widerstand bei ihrer Vernichtung leisten, wurde diesen braven Männern erklärt, in der Stadt sei ein Brand ausgebrochen, sie hätten sich zur Löscharbeit zur Verfügung zu stellen. Die gesamte Ordnerwache wurde alsdann auf Lastwagen verladen und ... „sonderbehandelt“, wie es im SS-Jargon heißt
Der Gesundheitsdienst Dem Hamburger Transport hatte ein Arzt angehört, dem man die Oberleitung des Ärztewesens übertrug. Leider war dieser Mann viel zu alt, um noch als Arzt tätig sein zu können. Mit dem Rheinland-Transport kamen zwei Ärzte, und zwar der Hals-, Nasen-und Ohrenspezialist Dr. Felsenthal aus Düsseldorf und ein Internist, der für uns bald ausfiel, da er zum Kriegslazarett 2/609 kommandiert wurde, wo man ihn als Arbeiter (!) beschäftigte. Von den beiden Berliner Ärzten starb einer bald am Hunger. Die Mehrzahl der Ärzte stammte aus Brünn. Von hier kamen zwei Ärzte, zwei Zahnärzte, die ebenfalls als praktische Ärzte arbeiteten, sowie der Medizinalpraktikant Breda. LInter ihnen befand sich der Chirurg Dr. Saphir, der seine Operationen mit einem Küchenmesser durchführen mußte. Einer der Brünner Ärzte, Dr. Weynberg, wurde von der Wehrmacht als russischer Dolmetscher eingesetzt, so daß er für die Behandlung unserer Kranken ausfiel. Die beiden Wiener Ärzte waren bereits kurz nach ihrer Ankunft als Opfer ihres Berufes gestorben.
Für die Behandlung von 7300 Menschen standen demnach fünf Ärzte zur Verfügung, was natürlich bei den massenhaft auftretenden Erkrankungen — und hier ist besonders die „Lagerkrankheit" zu nennen — vollkommen ungenügend war. Aber auch wenn Ärzte in ausreichender Anzahl vorhanden gewesen wären, hätten sie wenig helfen können, weil Medikamente so gut wie gar nicht da waren. Am schwersten hatten diejenigen unter den Kranken zu leiden, die sich infolge des Vitaminmangels und der Kälte gangränöse Zellengewebszerstörungen zugezogen hatten. Für sie gab es keine Rettung.
Im Weißen Haus, wo etwa zwanzig Kranke in einem kleinen Raum untergebracht waren, hatten wir ein „Hospital“. Die abfaulenden Gliedmaßen der dort Liegenden entwickelten einen derart widerwärtigen Geruch, daß ich die junge Krankenschwester Lewin, die freiwillig diesen schweren Dienst übernommen hatte, nicht genug bewundern konnte.
Durch den Hauptscharführer Rübe wurden eines Tages alle Kranken, im Bett liegend, der Reihe nach erschossen. Einer nach dem anderen hatte zu warten, bis die Reihe an ihn kam.
Impstoffe zur Verhütung des Typhus allerdings stellte uns die SS in ausreichender Menge zur Verfügung: aus Angst vor der Ansteckung und nicht etwa um uns zu schützen, bestand sie darauf, daß jeder Lager-insasse — selbst jeder Sterbende — geimpft wurde.
Das Bestattungswesen In der ersten Zeit versuchten wir, für unsere Toten Gräber zu schaufeln. Das sollte sich bald als aussichtslos erweisen, weil der Boden zu tief gefroren war oder nachfror. Ein Herr Loewenstein, der bei diesen Versuchen nicht müde wurde, erlitt Erfrierungen an Händen und Füßen, an deren Folgen er starb, da die Ärzte ihm nicht helfen konnten. Viele brave Menschen — unter ihnen besonders der aus Königsberg stammende Kleiderfabrikant Lewin — leisteten aufopferungsvolle Arbeit bei der Bergung und Waschung der Verstorbenen.
Als sich einmal mehr als tausend Leichen angesammelt hatten, die alle steifgefroren waren, setzte die SS Pioniere ein, die ein Massengrab sprengten. In diesem Grab wurden die Toten durch die Ordnerwache, die auch manch ein Opfer zu beklagen hatte, bestattet.
Die SS verlangte, daß die Toten ohne jegliche Bekleidung, also nackt, ins Grab gelegt wurden. Zur Strafe für die Nichtbefolgung dieser Anordnung — wir hatten die Toten in Leintücher gewickelt — mußten wir innerhalb von zwei Stunden insgesamt tausend Bettlaken, tausend Bettbezüge und tausend Kopfkissenbezüge an die SS abliefern. Da man jedem Transportteilnehmer nur die Mitnahme von zweimal Bettwäsche gestattet hatte und die meisten diese Wäschestücke bereits gegen Lebensmittel eingetauscht hatten, war die verlangte Abgabe nur sehr schwer durchführbar. Bei dieser Gelegenheit nahm die SS auch andere Gegenstände, zum Beispiel Uhren, Ringe, Koffer u. a. mit.
Unsere Wäsche Bevor wir unsere Heimat verließen, hatte die Gestapo unser Gepäck durchsucht und uns dabei auch unsere Seife gestohlen. Infolgedessen waren wir ratlos, wie wir unsere Wäsche reinigen sollten. Hier nun wies uns Frau Resi Steinhardt einen Ausweg, der uns in die Lage versetzte, unsere Wäsche dennoch sauberzuhalten. Sie verbrannte Holz zu Asche, diese Asche wurde gekocht, und die so entstandene Lauge war geradezu ideal; in der durchgesiebten Lauge wurde die Wäsche gekocht und gewaschen. Sie wurde zwar grau, aber sauber, und das war für uns bei dem Zusammenleben auf engstem Raum lebenswichtig. Fast das ganze Lager folgte dem Beispiel Frau Steinhardts.
Der Mangel an Seife, die enge Berührung mit den Russen, die noch schlechter untergebracht waren als wir und sich mehr gehen ließen, brachte es mit sich, daß etwa vierzig Prozent des Lagers verlaust war. Bei der Bekämpfung der Läuseplage bewährte sich eine Hamburgerin, deren Namen ich vergessen habe, ganz besonders. Mit Hilfe einer alten Feldküche versuchte sie, der Plage Herr zu werden, und hatte mit primitiven Mitteln tatsächlich Erfolg.
Die Pelzsammlung Im Januar 1942 mußten auf Befehl der SS sämtliche Pelzsachen abgeliefert werden; darunter fielen sogar Pelzverbrämungen, die abgetrennt vollkommen wertlos waren. Wer sich vor der Abgabe drücken konnte, tat dies, und so kam es zu den seltsamsten „Tarnungen". Pelz-kappen und Muffs wurden so mit Futterstoff bezogen, daß das Pelzwerk den Augen der SS-Leute verborgen blieb. Nun hatte aber Oberscharführer Schmiedel einen Pelz gesehen, der ihm besonders gut gefallen hatte, jedoch nicht abgegeben worden war. Trotz eifrigen Suchens konnte er den Pelz nicht finden. Da er gerade zu diesem Zeitpunkt auf Urlaub fuhr, gab er sich mit einem anderen Pelz zufrieden, und die Angelegenheit war damit erledigt. Vielleicht hat ihn auch der Erfolg der Durchsuchung, bei der er andere für ihn wertvolle Dinge’ mitgehen hieß, besänftigt.
Das Gerichtswesen Auf Verlangen der SS mußte ein Lagergericht gebildet werden. Als Richter wurde der Oberlandesgerichtsrat Dr. Callmann aus Darmstadt oder Stuttgart eingesetzt, als Beisitzer fungierten Dr. Hoppe aus Bielefeld und ich. Wir traten aber nur einmal in Aktion — als ein Kranken-wärter die Sterbenden ihrer letzten Habseligkeiten beraubt hatte. Zum Glück kam dieser Fall nie zu Ohren der SS. Der betreffende Kranken-wärter starb übrigens später an Unterernährung.
Dieser einzigen Gerichtssitzung verdanke ich meine Rettung. Sie fand am Tage der Verhaftung des Judenältesten Dr. Frank statt. Da der für die Verhandlung vorgesehene Raum nicht geheizt war, gingen wir auf meinen Vorschlag in einen anderen, warmen Raum — und das sollte mein Glück sein. Die SS suchte nämlich nach mir, weil sie mich zum Judenältesten machen wollte. Da sie mich nicht fand, wurde der aus Bremen stammende Erich Harf für diese Funktion bestimmt. Hätte man damals gewußt, wo ich mich aufhielt, hätte ich Minsk bestimmt niemals wieder verlassen, denn ich wäre dann wie alle anderen „liquidiert“ worden. Ein weiterer Umstand kam mir zur Hilfe: die SS hatte nicht lange Zeit, nach mir zu suchen. Sie wurde alarmiert, weil russische Partisanen in der Nähe des Friedhofes deutsche Offiziere erschossen hatten.
Durch diesen Vorfall hatte unser Lager übrigens Verluste an Menschenleben. Die alarmierten deutschen Soldaten und SS-Leute sahen auf unserem Friedhof mehrere unserer Kameraden, die dort arbeiteten. In der Annahme, daß von ihnen geschossen worden sei, wurden unsere Leute von den Deutschen mit Maschinengewehren beschossen.
Das Schulwesen Ein Schulwesen hätten wir aufbauen können, denn es standen uns erstklassige Lehrer in genügender Anzahl zur Verfügung; aber die Kinder fehlten. Ich glaube nicht, daß wir insgesamt fünfzig Kinder unter uns hatten. Aber diese wenigen wurden auf das Beste unterrichtet.
Hier möchte ich anfügen, daß ein in Hamburg empfangenes Kind etwa im Januar 1942 im Lager geboren wurde. Es starb schon nach etwa vier Wochen, da seine Mutter ihm keine Nahrung geben konnte.
Wir hatten ja nichts, wodurch wir unsere eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit hätten erhalten können. Es war also kein Wunder, daß die Mutter viel zu geschwächt war, um ihr Kind selbst zu nähren. Das ganze Lager hat mit ihr getrauert.
Musikalische Darbietungen Einige Lagerinsassen hatten Musikinstrumente mitgebracht, und ein gut erhaltener Flügel war im Lager vorgefunden worden. Wir räumten in einer ehemaligen Textilfabrik einen Raum aus und verwandelten ihn in einen Saal. Da wir Künstler von Weltruf unter uns hatten, fiel es uns nicht schwer, ein Varieteprogramm aufzustellen, dessen einzelne Darbietungen auf sehr hohem Niveau standen.
Leider hatte Dr. Frank die SS-Führer zu der Veranstaltung eingeladen. Sie amüsierten sich königlich und ... verboten am nächsten Tag alle weiteren Aufführungen. Sämtliche Musikinstrumente mußten abgegeben werden, sogar die Mundharmonikas der Kinder. Um einen Vorwand für das Verbot zu haben, wurden zunächst die Sitzgelegenheiten beanstandet — die Bretter stammten aus den zerstörten Häusern — dann die durch die Aufführung hervorgerufene frohe Stimmung der Lagerinsassen.
In Minsk hatte ich Gelegenheit, festzustellen, daß ein an sich trauriger Mensch, der in trostlosen Verhältnissen lebt, für eine lustige Veranstaltung viel aufgeschlossener sein kann als ein unter normalen Bedingungen lebender.
Weihnaditen 1941
In diesen Weihnachtstagen empfanden wir eigentlich zum erstenmal daß uns das Wort Gottes so recht fehlte, und wir kamen von da ab jeden Sonntagmorgen zusammen, soweit der einzelne nicht anderweitig verpflichtet war.
Das Verhalten der SS und unsere Führer Leider waren unsere eigenen Führer gute Lehrlinge der SS. Eines Abends mußte ich innerhalb weniger Minuten ein Kommando von zwanzig Mann zusammenstellen. Der SS-Hauptscharführer Axmannshausen hatte die Leute für leichte, zwei Stunden dauernde Arbeit verlangt und ihnen dafür eine warme Mahlzeit Wehrmachtsessen und Brot versprochen. Daraufhin meldeten sich sofort zwanzig Männer und eine Frau. Das Kommando kam aber erst am nächsten Tag vollkommen erschöpft zurück. Die Leute hatten schwerste Arbeit leisten müssen, waren mißhandelt worden und hatten nichts zu essen bekommen. Ich bat daraufhin den Proviantleiter Kaufmann aus Hamburg um etwas Brot für die völlig ausgepumpten Menschen, eine Bitte, die Kaufmann strikt verweigerte. Da wir einige Tage vorher zwanzig Zentner Kartoffeln billig bekommen hatten, die die Soldaten sich geweigert hatten zu essen, da sie erfroren waren, bat ich ihn dann um einige Kartoffeln, aber auch das lehnte Kaufmann ab. Dabei waren die Kartoffeln bereits so schlecht, daß wir sie eine Woche später umsonst hätten bekommen können. Auch Dr. Frank, an den ich mich wandte, lehnte es ab, den armen Menschen eine Zuteilung zu geben. Trotzdem wurde diesen schließlich dadurch geholfen, daß ihre eigenen Leidensgenossen, die selbst Hunger litten, von ihren Rationen jeder eine Kleinigkeit zur Verfügung stellten.
Einige Tage später fand das bereits erwähnte Kartoffelpufferessen statt. Ich erhielt auch eine Einladung, die ich ablehnte. Dr. Frank und Kaufmann waren empört, als ich meine Ablehnung mit ihrer Weigerung begründete, den völlig erschöpften Arbeitern etwas zu essen zu geben, und darüber hinaus auch noch nach der Herkunft des Fettes fragte — denn Fett hatten wir noch nicht ein einziges Mal zu sehen bekommen.
Kurze Zeit später verlangte der gleiche Hauptscharführer wiederum die Gestellung von zwanzig Mann, die ich ihm einfach mit der Begründung verweigerte, daß er damals sein Wort nicht gehalten habe. Auf seine Frage, wieso, sagte ich ihm, daß das erste Kommando nicht nur — entgegen seinem Versprechen — nichts zu essen bekommen habe, sondern unter Mißhandlungen schwerste Arbeit hätte leisten müssen. Er entgegnete mir, das sei nicht seine Schuld, er habe die Ausgabe von Essen angeordnet; dann befahl er mir mitzukommen . .. Das Endergebnis dieser „Aussprache" war folgendes: mir wurden verschiedene Rippen vorn und hinten gebrochen, der Kiefer eingeschlagen und die Finger durch Tritte gequetscht; mein rechtes Auge wurde verletzt und — ebenfalls durch Fußtritte — trug ich einen schweren Leistenbruch davon. Ohnmächtig geworden, wurde ich mit Wasser bespritzt und in einem Kellerloch, dessen Fensterrahmen ohne Scheiben waren, liegen gelassen. Infolge der überaus strengen Kälte zog ich mir Erfrierungen an Händen und Füßen zu. Am nächsten Morgen reichte man mir zynisch lächelnd ein Handtuch! Der Bruch wurde am 30. September 1942 von Dr. Erich Springer in Theresienstadt operiert. Ich hatte aber die Genugtuung, daß kein Sonderkommando mehr angefordert wurde.
Einige Wochen nach diesem Vorfall verlangte die Wehrmacht mehr gelernte Handwerker, als wir zur Verfügung hatten. Da alle Anforderungen für Arbeitskräfte der SS gemeldet werden mußten, diese aber mit der Wehrmacht in ständigem Streite lag, zog sie alle Handwerker ein. Leider hatten sich viele Lagerinsassen, die nur einen Umschulungskursus durchgemacht hatten, als Handwerker ausgegeben. Ihnen gab die SS keine Arbeit und so gut wie nichts zu essen. — Von Zeit zu Zeit durften wir die Toten oder Sterbenden in Empfang nehmen.
Gemeinschaftsgeist Es ist entschieden zu betonen, daß die Kameradschaft unter der Masse der Lagerinsassen geradezu hervorragend war. Jeder suchte dem anderen zu helfen, wo er nur konnte. Vielleicht war es die Ahnung des nahen Todes, die bewirkte, daß die gegenseitige Hilfsbereitschaft im allgemeinen an erster Stelle stand. Wir waren — kurz gesagt — wie . eine große Familie. Ich habe nie wieder ein so starkes Zusammengehörigkeitsgefühl kennengelernt wie es uns in Minsk miteinander verband.
In der Zeit vom 28. bis 30. Juli 1942 sind die aus Berlin, Bremen, Brünn, Wien stammenden Juden und ein Teil der Rheinländer, die in dem unteren Gebiet zusammengepfercht waren, „liquidiert" worden
Unsere Henker Ein Mensch hat immer so viel Arroganz, als ihm Selbstbewußtsein fehlt. Anmaßung ist sicherlich nur ein Mittel, das eigene Selbstbewußtsein durch künstliche Erniedrigung des Nebenmenschen gewaltsam zu steigern, ja, auf diese Weise erst zum Bewußtsein seines Selbst zu gelangen. Das galt auch für unsere Henker.
Wie bereits erwähnt, kamen wir mit Schmiedel am häufigsten in Berührung. Sein großer Kopf, seine übergroßen Hände, deren Daumen ganz besonders stark entwickelt waren, fielen unangenehm auf. Und diese unangenehm wirkenden Daumen sollten mir in Zukunft bei allen SS-Männern auffallen. Ich hatte mich vorher nie für Hände interessiert. Wie viel sie aussagen können, das lernte ich erst in Minsk.
SS-Hauptsturmführer Eich, Schmiedels unmittelbarer Vorgesetzter, war ein schlanker, hochgewachsener und gutaussehender Mann. Seine flackernden Augen verrieten die Grenze des Irrsinns. Nach dem von ihm geleiteten Massenmord an 25 000 Russen am 2. März 1942 8) war er täglich betrunken, allerdings ohne je gewalttätig zu werden. Ich habe nie gesehen, daß er prügelte; war er erregt, schlug er mit seiner Reitpeitsche an seinen Stiefelschaft. Eich war ungewöhnlich musikalisch. Hatte er zum Beispiel auch nur wenige Töne eines bestimmten Musik-stückes gehört, konnte er sofort den Namen des jeweiligen Komponisten nennen. Er unterhielt sich gern über Musik und Opern. Bei solchen Gesprächen konnte man vergessen, daß er ein SS-Mann war.
SS-Obersturmführer Burckhardt dagegen war so, wie man sich den brutalen SS-Mann vorstellt: groß, breitschulterig, mit kurzem Hals und abschreckenden Gesichtszügen. Er war der Mensch, vor dem alle Angst hatten. Ohne Ausnahme duzte er jeden und jede. Er führte sich ein, indem er den Torposten niederschlug, weil dieser ihn nur in strammer Haltung grüßte, ohne die Haube abzunehmen. Dabei war der Posten gar nicht in der Lage, sich seiner Haube so schnell zu entledigen, weil diese — eine Fliegerhaube — zum Schutz gegen die große Kälte unter dem Kinn zugebunden werden mußte. Ich habe Burckhardt niemals betrunken gesehen, anscheinend wollte er seine Mordtaten bewußt auskosten. Im Gegensatz zu den anderen SS-Führern unterhielt er sich niemals mit einem von uns; er behandelte alle gleichmäßig brutal.
SS-Obersturmbannführer Lüttenhaus war ein ausgesprochen eleganter Mann. Er haßte alles, was nicht zur SS gehörte. Man sah ihm die Brutalität zwar nicht so ohne weiteres an, aber seine Hände verrieten ihn. Nie hat er eine Handlung allein begangen; er mußte wohl das anonyme Glied einer Kette sein, um so handeln zu können wie er handelte. Er war der einzige, der schönen Frauen Brot und Wurst schenkte.
Die anderen SS-Männer führten ihre Mordtaten besonders dann aus, wenn sie sich von ihren Kameraden beobachtet sahen. Sie mußten oder wollten offenbar beweisen, daß auch sie würdige Vertreter der SS waren. Wehe, man lief ihnen in den Weg, wenn sie betrunken waren. Dann mordeten sie so lange, wie sie noch über eine Patrone verfügten.
Die Ermordung von 25 000 Russen
Die Ordnerwache des Lagers sollte sich noch einmal ganz besonders bewähren — am 2. März 1942, dem schwärzesten Tag, den ich jemals erlebt habe.
Am Morgen dieses 2. März erschien der Kommandant im Lager und übertrug mir für diesen Tag den Oberbefehl mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß kein Russe das deutsche Lager betreten dürfe, weder zum Holen von Wasser noch zur Benutzung der Latrinen. Die Außenarbeiter mußten an diesem Tage zu Hause bleiben.
Unmittelbar, nachdem der Kommandant gegangen war, begann die Treibjagd auf die Russen, die uns benachbart wohnten und nur durch eine schmale Straße von uns getrennt waren. Am Abend dieses Tages waren nach Angabe der SS 25 000 Menschen, die niemandem ein Leid zugefügt hatten, ermordet.
Die Marschkolonnen, die an uns vorbeigeführt wurden, weil sonst kein Platz für alle dagegewesen wäre, die man ermorden wollte, gingen eng zusammengepfercht, mit winzig kleinen schlurfenden Schritten an uns vorüber. Dieser Todesmarsch war grauenvoll anzusehen, so grauenvoll, daß wir alle uns damals ein schnelles Ende herbeisehnten.
Schließlich wurde das russische Waisenhaus geräumt, in dem sich Kinder von wenigen Monaten aufwärts bis zum Alter von zehn Jahren befanden. Und dann lagen die Kinderleichen auf der Straße — in den unmöglichsten Stellungen, überrascht durch die Todesstarre und den starken Frost. Manche Kinder lagen auf den Knien — es sah aus, als ob sie spielten — grauenhaft.
Plötzlich lösten sich einige größere Kinder aus dem „Haufen“. Ungesehen von den SS-Leuten konnten sie davonlaufen und wurden von meinen Wachtposten in Schutz genommen und versteckt, obwohl hierauf die Todesstrafe stand.
Einen noch grausigeren Anblick aber bot eine alte Frau, die sich plötzlich aus einem Leichenhaufen erhebt, auf den Knien auf uns zu rutscht und uns, mit der blutigen Hand um Hilfe flehend, winkt. Dann rutscht sie weiter bis an den Stacheldraht, ergreift ihn mit ihren blutenden Händen, erhebt sich und fällt tot zusammen. Merkwürdig, aber als ich sah, daß die Todeskandidatin den verrosteten Draht anfaßte, war mein erster Gedanke: aber sie kann sich doch eine Blutvergiftung zuziehen.
Vor der Massenerschießung mußten sich alle ihrer Kleider entledigen und auf einen Haufen warfen. Zwei junge Frauen bemerkt---e öltere, wahnsinnig gewordene Frau, die aufgeregt umherlief, ohne Anstalten zu machen, sich auszuziehen. Daraufhin gingen die beiden Frauen zu ihr hin, redeten ihr gut zu und entkleideten sie. Alsdann legten sich die beiden jungen Frauen gemeinsam mit der älteren, sie in die Mitte nehmend und sich gegenseitig an den Händen fassend, auf die noch warmen Körper der bereits Erschossenen, um ohne ein Wort der Klage die tödliche Kugel zu empfangen. Weder sie noch die anderen hatten ihre Henker um Gnade gebeten.
Daß uns, die wir die Tore und den Zugang zu bewachen hatten, an diesem Tage keine verirrte Kugel traf, ist ein Wunder, das ich nie begreifen werde, denn die Kugeln flogen neben uns, über uns und unter uns in Massen vorbei.
Dieses Blutbad hat sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingegraben, und besonders an jedem 2. März habe ich mit Grauen an diesen Tag denken müssen. Der Weg der armen Opfer zum Richtplatz war mit Leichen besät. Ich wundere mich noch heute darüber, daß man die Leichen mit ihren Kleidern verbrannt hat. Die russische Bevölkerung hat tagelang arbeiten müssen, um alle Leichen zusammenzutragen, die Leichen von — nach den Angaben der SS — 25 000 Menschen jeden Alters und Geschlechts, die die SS und die grüne Polizei an einem Tage, an diesem grausigen, an diesem furchtbaren 2. März 1942, erschoß
Verheerende Willkür hatte die Vorherrschaft angetreten. Die Trunkenheit verdoppelte, ja verdreifachte die erweckten niedrigen Instinkte. Wip anders sollte man es sich erklären, daß ein betrunkener Chauffeur mit seinem Lastkraftwagen vorsätzlich in eine unserer Arbeiterkolonnen hineinfuhr. Unfall? Nein, Mord! War es da verwunderlich, daß die allgemeine Stimmung unter uns unter den Gefrierpunkt der pessimistischen Skala anlangte? Wir hatten alle mit dem Leben abgeschlossen und standen dem Tode gleichgültig gegenüber.
Einmal fuhr zum Beispiel ein Lette mit einem Begleiter auf einem Schlitten in unseren Hof, um einen Waschkessel abzuholen, den wir selbst dringend brauchten. Da er nicht wußte, wo er ihn zu suchen hatte und überall auf passiven Widerstand stieß, durchsuchte er sämtliche Wohnungen. Er sprach mit seinem Begleiter russisch. Hauptmann von Engel, der annahm, der Lette verstehe kein Deutsch, sagte in einer der Wohnungen, man solle ihm doch eine falsche Auskunft geben. Daraufhin drängte der Lette von Engel auf die Straße, schlug ihn mit der Pistole nieder und drohte, ihn zu erschießen. Ich schlug die Pistole des Letten nach oben, so daß der Schuß in die Luft ging. — Das war sicher nicht Mut, sondern völlige Gleichgültigkeit dem Tode gegenüber. Lind doch gab es einige unter uns — wir bezeichneten sie als nicht mehr normal — die uns eine Befreiung in nächster Zukunft voraussagten. * Einer verstieg sich sogar zu der Behauptung, wir würden am 2. April 1942 nach Schweden transportiert werden, denn unser zwangsweiser Aufenthalt im Kriegsgebiet widerspreche den völkerrechtlichen Bestimmungen.
Für die Ermordung der 25 OOO Russen wurde uns niemals ein Grund angegeben, während es bei den allnächtlich stattfindenden „kleineren Pogromen" stets hieß: „Vergeltung für verübte Sabotage“. In der Nacht noch mußten wir die Opfer der „kleinen Pogrome" begraben, und zwar so rasch, daß wir nicht einmal feststellen durften, ob die, die wir begruben, auch wirklich tot waren. Am nächsten Morgen durfte nichts mehr zu sehen sein. Die Bestien in Menschengestalt scheuten anscheinend das Tageslicht.
Die Gasautos Die Menschen, die in den Gaskammern von Auschwitz umkamen, haben einen schnelleren Tod erlitten als diejenigen, die in den Gas-autos von Minsk umgebracht wurden, denn die Leichen der Toten von Auschwitz waren ohne entstellende Merkmale. Der millionenfache Mörder des Todeslagers Auschwitz, Rudolf Höss, hat in seinem Prozeß in Nürnberg ausgesagt, bei seinen Opfern sei der Tod nach acht Minuten eingetreten.
Und wie war es in Minsk?
Sobald ein neuer Transportzug eingelaufen war, konnten die Insassen ihn ruhig und ungestört verlassen. Zu ihrer größten Verwunderung wurden sie weder angeschrien noch gehetzt. Dann wurden sie mit Lastkraftwagen zu einer etwa vierzehn Kilometer entfernten Wiese gefahren, wo verhältnismäßig gut aussehende „Wohnwagen“ bereitstanden.
Sobald alle Transportteilnehmer versammelt waren, hielt ein eine Ansprache, die etwa folgenden Wortlaut hatte: „Ihr seid hierher gebracht worden, weil wir zu Euch wehr Vertrauen haben als zu den Russen. Ihr werdet auf unsere SS-Güter gefahren, um dort zu arbeiten. Ihr verbleibt dort bis zum Kriegsende, dann werden wir weitersehen. Ihr könnt unbesorgt sein, es geschieht Euch nichts. Ihr habt nichts zu befürchten. Sind Spezialarbeiter unter Euch, insbesondere Radiotechniker? — die benötigen wir hier.“
Dann wurden junge, kräftig aussehende Männer herausgesucht und beiseite gestellt — insgesamt vierzig Männer von tausend Männern, Frauen und Kindern, vierzig von tausend! Die übrigen mußten die als Wohnwagen getarnten Lastwagen besteigen. Von weitem sahen diese Wagen wirklich wie Wohnwagen aus. Sie hatten aufgemalte Fenster, Gardinen, Fensterläden sowie einen Schornstein. Als ich diesen Schornstein zum ersten Male sah, fiel mir auf, daß er neu lackiert war und im Gegensatz zu dem Wagen keine Gebrauchsmerkmale aufwies. Und dann lernte ich die grausige Wirklichkeit kennen.
Wenn der Wagen so voller Menschen war, daß niemand mehr hinein-ging, wurden die eisernen Türen zugeschlagen, und dann, ja dann wurde der Motor angelassen, und das Auspuffrohr brachte das tödliche Gas in das Innere des Wagens.
Da die Chauffeure, um schneller mit ihrer grausigen Arbeit fertig zu werden, den Motor auf höchsten Touren laufen ließen — vielleicht wollten sie auch nicht das Schreien der Unglücklichen hören — drang weniger Gas in das Wageninnere, als vorgesehen war, so daß die Menschen in den Wagen nicht vergast wurden, sondern erstickten. Ihr Todeskampf muß furchtbar gewesen sein, denn die Leichen wiesen ausnahmslos Spuren von Blut auf, das ihnen aus Augen, Ohren, Nase und Mund gedrungen war.
Ich habe lange Zeit nicht verstanden, warum der SS-Offizier vorher solch eine beruhigende Ansprache an die Todeskandidaten richtete. Das Geheimnis wurde mir erst offenbar, als ich aus einer Meldung des SS-Arztes, SS-Untersturmführer Dr. Becker, entnahm, daß eine Beunruhigung der Schlachtopfer „tunlichst zu vermeiden sei“, damit der Tod schneller eintreten könne. Also nicht aus Mitgefühl hielt man die Ansprache, sondern um den Tod schneller herbeizuführen — um schnellere Arbeit leisten zu können. In dem Bericht Dr. Beckers aus Kiew vom 16. 5. 1942 heißt es wörtlich: Feldpostnuwwer 32 704 Kiew, den 16. 5. 42 B. Nr. 40/42 — GEHEIME REICHSSACHE!
An SS-Oberstnmtbannfiihrer Rauff in B e r I i n, Prinz-Albrecht-Str. 8
Die Überholung des Wagens bei der Gruppe D und C ist beendet. Während die Wagen der ersten Serie auch bei nicht allzu schlechter Wetterlage eingesetzt werden können, liegen die Wagen der zweiten Serie (Saurer) bei Regenwetter vollkommen fest. Wenn es z. B. nur eine halbe Stunde geregnet hat, kann der Wagen nicht eingesetzt werden, weil er glatt wegrutscht. Benutzbar ist er nur bei ganz trockenem Wetter. Es tritt die Frage auf, ob man den Wagen nur am Orte der Exekution im Stand benutzen kann. Erstens muß der Wagen an diesen Ort gebracht werden, was nur bei guter Wetterlage möglich ist. Der Ort der Exekution befindet sich aber meistens 10 bis 15 km abseits der Verkehrswege und ist durch seine Lage schon schwer zugänglich, bei feuchtem oder nassem Wetter überhaupt nicht. Fährt oder führt man die zu Exekutierenden an diesen Ort, so merken sie sofort was los ist und werden unruhig, was nach Möglichkeit vermieden werden soll. Es bleibt nur der eine Weg übrig, sie am Sammelorte einzuladen und dann hinauszufahren.
Die Wagen der Gruppe D habe ich als Wohnwagen tarnen lassen, indem ich an den kleinen Wagen auf jeder Seite einen, an den großen Wagen auf jeder Seite zwei Fensterläden anbringen ließ, wie man sie oft an den Bauernhäusern auf dem Lande sieht. Die Wagen waren so bekannt geworden, daß nicht nur die Behörden, sondern auch die Zivilbevölkerung den Wagen als „Todeswagen“ bezeichneten, sobald eines dieser Fahrzeuge auftauchte. Nach meiner Meinung kann er auch getarnt nicht auf die Dauer verheimlicht werden.
Außerdem ordnete ich an, bei den Vergasungen alle Männer vom Wagen fernzuhalten, damit sie durch evtl, ausströmende Gase gesundheitlich nicht geschädigt werden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf folgendes aufmerksam machen: Verschiedene Kommandos lassen nach der Vergasung durch die eigenen Männer ausladen. Die Kommandeure der betreffenden SK habe ich darauf aufmerksam gemacht, welch ungeheure seelische und gesundheitliche Schäden diese Arbeit auf die Männer, wenn auch nicht sofort, so doch später haben kann. Die Männer beklagten sich bei mir über Kopfschmerzen, die nach jeder Ausladung auftreten. Trotzdem will man von dieser Anordnung nicht abgehen, weil man befürchtet, daß die für die Arbeit herangezogenen Häftlinge einen günstigen Augenblick zur Flucht benutzen könnten, Lim die Männer vor diesen Schäden zu bewahren, bitte ich, dementsprechende Anordnungen herauszugeben.
Die Vergasung wird durchweg nicht nchtig vorgenommen. Um die Aktion möglichst schnell zu beenden, geben die Fahrer durchweg Vollgas. Durch die Maßnahme erleiden die zu Exekutierenden den Erstikkungstod und nicht wie vorgesehen, den Einschläferungstod Meine Anleitungen haben nur ergeben, daß bei richtiger Einstellung der Hebel der Tod schneller eintritt und die Häftlinge friedlich einschlafen. Verzerrte Gesichter und Ausscheidungen, wie sie seither gesehen wurden, konnten nicht mehr bemerkt werden.
Dr. Becker SS-Untersturmführer
Trotz alledem wird der Name Minsk verhältnismäßig schnell in Vergessenheit geraten, denn Minsk hat so gut wie niemand überlebt. Von schätzungsweise 170 000 Menschen entkamen neun dieser Hölle. Theresienstadt aber, das Sammelbecken der Sternträger aus dem Protektorat, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Holland und Ungarn, wird auf Jahrzehnte hinaus seinen düsteren Schatten über die Welt werfen. Der Name Theresienstadts, der Vorkammer der Gaskammern von Auschwitz und Minsk, wird für Generationen ein schwerer Alpdruck sein.
Meine Rettung Wie wurde ich gerettet, wie entkam ich der Hölle von Minsk? Unser Lager unterstand in verwaltungstechnischer Beziehung dem Genetalkommissar für Weißruthenien, Wilhelm Kube
Eines Tages wurde ein Verzeichnis der Kriegs-und Friedensausgezeichneten verlangt'. Da ich dreifacher Lebensretter bin, die Rettungsmedaille am Bande besitze und noch 1936 durch die Hitlerregierung für eine Rettung vom Tode des Ertrinkens im Jahre 193 5 ausgezeichnet werden mußte, wurde ich, und zwar als einziger, gemeldet. Schon aus diesem Grunde mußte mein Name auffallen. Neugierig geworden, kam Kube ins Lager, um mich zu sprechen. Er nahm an, ich sei verwandt mit einem Fräulein Loewenstein, Tochter des Justizrates Loewenstein aus Paderborn, die ein Vetter von ihm geheiratet hatte. Wie Kube mir sagte, hatte er diesem Seinerzeit zur Auswanderung geraten. Justizrat Loewenstein war zwar ein Verwandter meines Vaters, ich kannte jedoch diese Familie nicht.
Als Kube mich erblickte — ich kam gerade aus dem Gebäude der Lagerleitung, wo mir seine Ankunft gemeldet worden war —, rief er mir zu: „Na, Doktor, wie ist der Gesundheitszustand im Lager?" Ich erwiderte ihm: „Sie verkennen mich, ich bin zwar Doktor, aber kein Arzt; trotzdem kann ich Ihnen Auskunft über den Gesundheitszustand geben.“ Darauf Kube: „Ich verkenne Sie durchaus nicht, wir kennen uns, wir haben zusammen studiert.“ Achselzucken meinerseits, da ich ihn tatsächlich nicht erkannte.
Bevor wir uns trennten, sagte Kube: „Passen Sie auf, es besteht ein Führerbefehl, wonach hohe Kriegs-und Friedensausgezeichnete, und das sind Sie, zurück nach Deutschland kommen sollen. Reichen Sie mir noch heute Ihren Lebenslauf durch Dr. Frank ein. Ich fahre nämlich ins Führerhauptquartier und werde bei dieser Gelegenheit Ihre Angelegenheit vortragen.“ Noch am gleichen Tage schrieb ich meinen Lebenslauf und übergab ihn Dr. Frank zur Weiterleitung an Kube. Frank unterschlug ihn aus Angst, er könne in seiner Stellung als Judenältester durch mich ersetzt werden. Nach etwa vier Wochen kam Kube wieder ins Lager und monierte, daß mein Lebenslauf nicht bei ihm eingegangen war. Als ich ihm sagte, ich hätte ihm diesen doch zugeleitet, schlug er mir vor, ihn nochmals zu schreiben und ihn einer Hamburgerin namens Lili mitzugeben, die bei ihm als Reinemachefrau arbeitete.
Kube war bekannt, daß ich bis zu meiner Evakuierung mit dem deutschen Kronprinzen in Verbindung stand. Es war ihm gemeldet worden, daß die Gestapo in meiner Wohnung Bilder des Kaisers und des Kron-prinzen mit eigenhändiger Widmung vorgefunden hatte. Trotzdem verwandte er sich für mich.
Den zweiten Lebenslauf schrieb ich am 6. Februar 1942. Am 21. April teilte Kube mir mit, er habe gemeinsam mit Minister Lammers dem Führer meinen Fall vorgetragen; der Führer habe dem SS-Reichsführer befohlen, meine Entlassung aus Minsk anzuordnen.
Am gleichen Tage erschien ein Lette mit einem Zettel, auf dem vermerkt war: „Loewenstein, geb. 2. 5. 1887, lebt noch? Wo wohnhaft?“ Da ich gerade am Tor stand, nahm ich den Zettel entgegen und beantwortete ihn selbst. Am nächsten Tag erhielt ich den Befehl, am 23. April 1942 um 8 Uhr morgens zur Verfügung des SS-Obersturmbannführers Lüttenhaus zu stehen. Lüttenhaus kam aber nicht, weil er die Nacht vorher mit Pogromen beschäftigt gewesen war und noch schlief. Als er auch am zweiten Tage nicht erschien, erwartete ich ihn nicht mehr. Am 25. April kam Lüttenhaus, befahl meine sofortige Übersiedlung in das Weiße Haus und ordnete an, daß ich ab sofort eine weiße Armbinde zu tragen hätte. Das bedeutete Schutz vor Tod und Mißhandlung.
Am 26. April übersiedelte ich ins Weiße Haus. Am 6. Mai kam Generalkommissar Kube wieder ins Lager und eröffnete mir, er habe mit General Zenner gesprochen; ich käme in den nächsten Tagen nach Deutschland zurück. Er forderte mich auf, am nächsten Tage zu ihm zu kommen, und sagte mir dann bei dieser Gelegenheit, wenn meine Abreise nicht schnell vor sich ginge, wolle er mir ein neu zu errichtendes Arbeitslager unterstellen, wo keine SS sei, denn er wolle mich nicht als Leiche sehen. Weiter sagte er mir, daß er die SS hasse und diese nach dem Kriege aufgelöst werde. Kube sprach dann noch mit mir über den Fall der Friseure Steiner. Diese Friseure waren im Generalkommissariat beschäftigt gewesen und hatten aus dessen Küche eine reichliche und gute Verpflegung erhalten. Als Kube abwesend war, ordnete sein Adjutant, ein Polizeileutnant, an, die drei Steiners hätten ihr Essen aus der Judenküche zu beziehen. Daraufhin sagte einer der Steiners, er befürchte, seine Hand könne zittern, und er könne jemanden schneiden, wenn er schlechtes und unzureichendes Essen bekäme. In der darauf-folgenden Nacht wurden die drei Steiners, Vater und zwei Söhne, aus den Betten geholt, barfuß auf den Friedhof gebracht und dort erschossen
Am 12. Mai 1942 wurde mir durch SS-Obersturmführer Lüttenhaus eröffnet, daß meine Abreise für den nächsten Tag angesetzt war. Er hatte mich zur Entgegennahme von Reisepapieren, Verhaltensmaßregeln und Reiseproviant zu sich bestellt. Am Abend des gleichen Tages kam er wieder ins Lager und fragte mich, wie lange ich zum Packen benötige. Auf meine Erwiderung: „Zwei Stunden“, bemerkte er: „Dann packen Sie jetzt, morgen früh bringt Sie ein Auto zur Bahn." Ich packte sofort das wenige, was ich besaß, und verabschiedete mich von meinen Freunden. Am nächsten Morgen um drei Uhr erschien ein Polizeileutnant, um mich zur Bahn zu fahren.
Im Eisenbahnabteil setzte ich mich ans Fenster, um die Umgebung zu betrachten. Plötzlich wurde ich angestoßen, und als ich mich umblickte, reichte mir ein SS-Scharführer, dessen brutaler Daumen mir als erstes auffiel, ein belegtes Brot, wie ich es noch nie gesehen hatte: die Butter war dicker als das Brot und die Wurst dicker als die Butter. Da ich wegen meines mir von der SS eingeschlagenen Kiefers nichts von dem Brot abbeißen konnte, schenkte er mir sein Taschenmesser Dieser SS-Mann blieb bis Brest-Litowsk mit mir zusammen und betreute mich wie ein krankes Kind. Auf jeder Station reichte er mein Kochgeschirr heraus, um es durch das Rote Kreuz füllen zu lassen. In Brest-Litowsk, wo er mich verließ, denn er mußte mit einem Militärzug weiterfahren, den ich nicht benutzen durfte, beschaffte er mir noch Reiseproviant.
Nach meiner Ankunft in Brest-Litowsk am 14. Mai wurde ich entlaust und fand Unterkunft in einer Polizeistation, wo ich auch verpflegt wurde. Am nächsten Tage ging die Reise nach Wien weiter, wo ich am 16. Mai morgens eintraf.
In Brest-Litowsk war ich noch Zeuge gewesen, wie ein aus Fürth/Bayern stammender Sattlermeister, der als Polizeiwachtmeister Dienst tat, eine junge Polin einsperrte, die eingeliefert worden war, weil sie sich geweigert hatte, zu arbeiten. Sie erklärte ihm, sie sei krank, und verlangte, dem Arzt vorgeführt zu werden. Dies wurde ihr jedoch von dem Sattlermeister glatt verweigert. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.
In Wien wurde ich im Rothschild-Palais dem Hauptsturmführer An-ton Brunner vorgeführt, der mich in der Sperrlgasse, dem Sammellager für den Osten, einen Tag einsperren ließ. Ich muß bekennen, daß ich hier ausgezeichnet verpflegt wurde. Es war das erste Essen, das ich seit Beginn meiner Reise bei mir behalten konnte; ich war ja kein gutes Essen mehr gewöhnt gewesen.
Am 17. Mai 1942 wurde ich durch einen SS-Scharführer im Schnellzug in einem Abteil zweiter Klasse von Wien nach Theresienstadt gebracht, wo wir abends ankamen.
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
W. Hermann: „Die Rehabilitierungen und ihre Grenzen"
Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!"
Herbert Lüthy: „Die Tragödie Algeriens"
Andre Julien: „Marokko, das Ende einer Epoche'
Hans Rothfels: „Das Baltikum als Problem der internationalen Politik"
Eduard Spranger: „Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung"
Georg Stadtmüller: „Der Partisanenkrieg in Südgriechenland" • • • „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"