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Der Katorgan | APuZ 43/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43/1956 Der Katorgan

Der Katorgan

BERNHARD ROEDER

Katorga ist das Schicksal unzähliger Menschen in Rußland gewesen. Katorga, die russische Bezeichnung für Zuchthaus, prägt auch heute noch das Leben von Millionen in harte und grausame Formen. L die Katorga verbannte schon das zaristische System seine politischen Gegner. Die liberalen Dekabristen, die Narodniki, die romantischen Sozialisten, die Anarchisten und Marxisten gingen den Weg in die Katorga. Sie wurden Katorgane. Die Gefangenschaft in sowjetischen Lagern wurde zum verhängnisvollen Schicksal vieler Deutscher unserer Zeit. Bernhard Roeder war einer von ihnen, er war ein Katorgan und Zeuge des Erlebnisses der Unmenschlichkeit der modernen Sklaverei. Er formuliert die Erfahrungen von vielen, um sie allen nutzbar zu machen.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus dem eben erschienenen Buche von Bernhard Roeder: „DER KATORGAN", Kiepenheuer & Witsch, Köln, die beiden Kapitel: „Zwischen Stalinismus und Leninismus" und „Frieden auf Zeit".

Zwischen Stalinismus und Leninismus

Der Tod des Diktators Niemals werde ich jenen grauen, kalten, stürmischen Vormittag vergessen, an dem der Rundfunk Stalins Tod bekanntgab. Schon Tage zuvor hatten die offiziellen Bulletins der Ärztekommission, von einem Mal zum anderen in ernsterem Ton gehalten, das bevorstehende Ende angekündigt und damit das Lager wie die Siedlung und ebenso wohl das ganze Land in eine steigende Erregung versetzt.

Es war gegen 9 Uhr vormittags, am 5. März 1953. Ein grauer, licht-loser Wintertag in Workuta. Der Schneesturm raste in weißen Wirbeln über die Tundra, heulte über den Förderturm des Schachtes und trieb die kalten Messer eisigen Frostes den vermummten Gestalten ins Gesicht, die mühsam gegen ihn ankämpften. Wir schlugen uns von der Baustelle zum nahegelegenen Schacht durch, um uns aufzuwärmen. Die Umkleideräume, um diese Zeit immer menschenleer, waren angefüllt von Wartenden. Die nassen schwarzen Bergarbeiter, die ölverschmierten Eisenbahner, die Bauarbeiter, mit Kalk bespritzt, unförmig in ihren doppelten Wattesachen — sie alle standen schweigend, füllten die Gänge, rauchten, warteten. Zwei Aufseher gingen mißtrauisch hin und her. Man sah ihnen an, sie wußten nicht, sollten sie die Gefangenen zur Arbeit hinausjagen oder selbst warten.

Und plötzlich brach die Musik im Rundfunk ab. Alle hoben lauschend die Köpfe. Die Stimme des Sprechers, in der eingetretenen Stille überdeutlich: Jossip Wissarianowitsch Stalin ist gestorben. Schnelle Blicke vom einem zum anderen, Haß, im Triumph aufleuchtend, leise geflüsterte Worte, erregte Bewegungen, und schon war die Halle leer. Alle eilten, den Kameraden die Nachricht zu bringen. Nur die beiden Aufseher standen verlegen und verloren in einer Ecke.

An diesem Tage blieb die Arbeit in Workuta liegen. Alle standen in Gruppen zusammen und redeten aufgeregt durcheinander. Wir sahen die Freien im weiten Schachtgelände aus einem Büro ins andere laufen und draußen in der Siedlung die Frauen zu kleinen Gruppen zusammentreten und schnell wieder auseinandergehen. Wir hörten die Posten auf den Wachtürmen erregt miteinander telefonieren und bald darauf die ersten Betrunkenen lärmen. Gegen Abend war ganz Workuta betrunken, die Gefangenen, die Freien und die Soldaten, allen voran aber die Natschalstwo »Ihren geliebten Führer und Lehrer hat der Teufel geholt. Seht, wie sie ihn geliebt haben. Sie betrinken sich alle vor Freude, daß der Alte endlich tot ist.“ „Ja, Gott sei’s gedankt, der Schnurrbärtige ist zur Hölle gefahren. Jetzt wird alles wieder gut werden.“ „Nichts wird sich ändern. Der Diktator ist tot, der Apparat ist geblieben. Der Apparat ist das Erbe des Diktators. Zunächst wird es ein Durcheinander geben. Dann wird ein Neuer sich finden, der mit starker Faust die Schalthebel des Apparates stellt, und alles wird wieder so sein wie bisher, wenn nicht schlimmer.“

So redeten sie in der Baracke bis tief in die Nacht, am Ofen und oben auf den Pritschen, wo die Wanzen und Gedanken durcheinander-krochen und ihnen keine Ruhe ließen. Derweil jubelte draußen der Schneesturm, höhnisch und triumphierend in der dunklen Nacht, und sang sein Lied, aus sinnloser Zerstörung und wilder Freiheit gemischt.

Auch in unserer Ecke wollte keiner schlafen. „Heute ist ein großer Tag", sagte Sascha, der Ukrainer, neben mir, „heute ist eine geschichtliche Epoche zu Ende gegangen. Fünfundzwanzig Jahre lang hat dieser eine Mann dies ganze große Land und seine Völker unter seiner ehernen Faust gehalten. Hat alle seine Gegner liquidiert oder ihnen seinen Willen aufgezwungen. Hat sein Kolchossystem und seine Fünfjahrpläne gegen alle Widerstände durchgeführt und Rußland zu einer Höhe der Macht emporgetragen wie kein Zar vor ihm.“ „Mehr noch", erwiderte der Moskauer Student Aljoscha, „dieser Mensch hat unserer Zeit sein Signum ausgeprägt, um das alle Kräfte der Welt sich ordnen, die einen in der Abwehr, die andern in der Nachfolge.“

Der überspannte Bogen Stalin, der starke, grausame und verschlagene Asiat, der Tschingis-Khan des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Georgier sagen von ihm. er sei der uneheliche Sohn eines georgischen Fürsten und seiner Magd gewesen. Er beginnt seine Laufbahn als Plotnoi, der die Kasse seiner Organisation durch Bankraub füllt. Er wird zum Katorgan, der durch die harte Schule der sibirischen Verbannung geht, und steigt auf zum revolutionären Diktator, der Rußland auf den bisher höchsten Punkt seiner Macht führt — aber um welchen Preis! Über fünf Millionen Bauern kostete das Experiment der Kolchose, dessen Fehlschlag die Nachfolger Stalins — sowohl Malenkow wie nach ihm Chruschtschow — öffentlich zugeben mußten. Stalin ist nicht nur der Erfinder der verhaßten Kolchose, sondern auch der Begründer der Fünfjahrpläne, die jetzt ein Drittel der Menschheit unter den wachsenden Druck des Stachanowismus gebeugt haben. Um Kolchose und Fünfjahrpläne durchzu-setzen, schwingt er über zwanzig Jahre lang die blutige Geißel des Terrors: etwa zehn Millionen Opfer der Vorkriegssäuberungen, rund vierzig Millionen Strafgefangene, Verbannte und Zwangsangesiedelte nach dem Krieg, über fünf Millionen Tote der Nachkriegssäuberung) *. en Mit der erfahrenen Taktik des Plotnoi versteht er es, seine Gegner gegeneinander auszuspielen, sie zu isolieren und zuletzt zu liquidieren. In der Innenpolitik wie in der Außenpolitik. Er spielt und gewinnt das große Spiel zwischen Hitler und den Westmächten. Er sichert sich von vornherein die unschlagbare Position des Dritten, der beide Gegner je nach Belieben erpressen oder sich mit dem einen gegen den anderen verbünden kann, bis einer am Boden liegt. Nun sind nur noch zwei im Spiel, die unter sich die Beute, die Welt aufteilen. Er trägt dabei die Maske des Biedermannes, schlichten Rock, Pfeife, Lächeln unter dem Schnurrbart — fast alle Großen der Welt haben nacheinander seine blutige Hand freundschaftlich umfaßt. Er hält und vergrößert nach dem Kriege, was er im Krieg gewonnen hat. Und hält sogar den Tod in der Hand, denn er stirbt in dem Augenblick, in dem er spürt, daß er den Bogen überspannt hat.

Tatsächlich hat das erfolglose Abenteuer des Koreakrieges, das in der Sowjetunion von Anfang an unpopulär war, dem Ansehen Stalins in der Bevölkerung wie in der Partei sehr geschadet. Gleichzeitig stellte das von Stalin entwickelte Programm der Großbauten des Kommunismus — riesige Bewässerungsanlagen, Aufforstung weiter Flächen, gigantische Wasserkraftwerke — unerfüllbare Anforderungen an die vorhandene Arbeitskraft und die Investitionsfähigkeit des Landes. Zur Durchführung dieses Programms hätte der allgemeine Lebensstandard noch weiter gesenkt, und hätten neue Millionen von Zwangsarbeitem durch eine neue Terrorwelle eingesetzt werden müssen —, was das Land in eine tiefere Krise als je zuvor gestürzt hätte. Daher tauchte sogleich nach dem Tode Stalins in Workuta das Gerücht auf, die anderen Parteiführer selbst hätten Stalin umgebracht. Dieses Gerücht war ein Ausdruck dafür, wie sehr die Anspannung der Lage empfunden wurde, die nur Stalins Tod lösen konnte.

Das stalinistische System ist vom russischen Volk zutiefst verstanden worden — vor allem im Lager. Denn das Grundprinzip des Stalinismus ist das Lager: das Lager als neue Lebensform und Lebensordnung, nicht mehr die geschichtlich gewachsenen Institutionen. Stalin, der Katorgan, wollte ganz Rußland und alle Satellitenländer in eine riesige Katorga verwandeln und aus der Menschheit in seiner Welthälfte Katorgane, Staatsgefangene und Zwangsarbeiter machen: alles organisiert, jeder unter Kontrolle gebracht, nur jenseits des Stacheldrahtes die unerreichbare Freiheit. Keine Familie, jeder woanders im Dienst. Kein Eigentum, das Lebensnotwendige wird vom Staat ausgegeben. Kein Haus und Flos, ein Schlafplatz in der Baracke genügt. Jeder ein Kommandierter, heute hier und morgen da. Arbeit als einziger Lebensinhalt: jeder ein Zwangsarbeiter und der Staat die große Fabrik der Macht. Plan und Norm, aber Privilegien für den Tschekisten, den Natschalnik und den Stachanowisten als Judaslohn für den Henker, den Ausbeuter und den An-treiber. Über allem die Tscheka und neben jedem der Spitzel: so kann der Diktator immer wieder säubern und liquidieren, alles und jeden in revolutionärer Bewegung halten, immer mit dem Grauen des Terrors die Arbeit vorantreiben.

Darum waren Stalin und der Stalinismus so verhaßt. Die Parteifunktionäre selbst haßten ihn. Sie wußten nie, was für neue unlösbare Aufgaben Stalin ihnen wieder stellen und dann seine Tscheka sie dafür liquidieren würde, daß sie entweder die Unlösbarkeit in Lösbarkeit um-gefälscht oder diese Fälschung abgelehnt hatten. Die hohen Militärs haßten Stalin, weil er sie nicht hochkommen ließ, und haßten seine Tscheka, die in ihrer Polizeitruppe eine Konkurrenzarmee für den permanenten Bürgerkrieg aufgebaut hatte. Die technischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Spezialisten haßten Stalin, den Nichtfachmann, der sie nie zu ruhigem sachlichem Arbeiten kommen ließ, und verabscheuten seine Tscheka, die sie mit Spitzeln umgab oder sie selbst zu Spitzeln preßte. Die Bauern haßten Stalin als den Vater der Kolchose, die Arbeiter als den Erfinder des Stachanowismus, und alle zusammen haßten in Stalin den Diktator und Henker und außerdem den Nichtrussen, den harten und hochmütigen Fremden.

Daß angesichts dieser Lage der überspannte Bogen entspannt, angesichts dieser Tatsachen der Mythos Stalins gebrochen werden mußte, wenn die Sowjetunion und ihr System nicht zerbrechen sollten, war beim Tode Stalins den Nachfolgern im Kreml gewiß ebenso klar wie jedem Russen. Als wir im Lager die Zeitungsberichte über die Begräbnisfeierlichkeiten in Moskau lasen, fiel uns die kühle Zurückhaltung gegenüber Stalin in den Reden der neuen Machthaber auf. Die Russen verglichen diese Reden mit dem leidenschaftlichen und feierlichen Gelöbnis der Nachfolge, das Stalin an der Bahre Lenins abgelegt hatte. Der Nachfolger Malenkow trug jetzt den schlichten Führerrock des Toten, aber er gelobte nichts. Bald darauf stellten wir fest, daß im Lager wie in der Siedlung die Bilder und Losungen Stalins nach und nach entfernt wurden und durch solche der neuen Machthaber oder Lenins ersetzt wurden. Auch die Lokomotiven, die im Schacht die Kohle abholten, waren nicht mehr, wie bisher, mit Bildern Stalins geschmückt. Die meisten fuhren in sachlicher Neutralität bildlos einher, einige übereifrige dagegen hatten sich bereits mit Porträts von Malenkow und die vorsichtigeren mit Leninbildern geschmückt. Das konnte nur auf Weisung der Propagandaabteilungen der Partei geschehen sein. Die Russen im Lager sagten: „Moskau plant einen neuen Kurs.“

Der leninistische Mythos Einige Wochen später, Ende April, kam eines Abends ein Sanitäter zu mir auf die Baracke und sagte, der Doktor habe ein Paket von zu Hause bekommen, ich solle zum Abendessen zu ihm gehen. Das war, noch vom Aufstand her, das Kennwort zwischen meinem Freund, dem aserbeidschanischen Arzt, und mir, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Als ich in das Zimmer des Doktors trat, schickte er seinen Landsmann, der als Sanitätsschreiber bei ihm arbeitete, auf den Gang hinaus: „Tschemal, paß gut auf, daß uns niemand stört.“ Dann zog er unter seinem weißen Kittel ein abgegriffenes bedrucktes Blatt Papier heraus: „Lies das sorgfältig durch. Das ist ein illegales Flugblatt aus Moskau. Ich muß es heute nacht weitergeben. Wir lassen dieses Flugblatt durch alle Lager Workutas gehen.“ Ich las, und mit jeder Zeile, die ich las, intensiver und interessierter. „Das ist ja toll. Wo hast du das her?“

„Du weißt doch, daß bei der Eisenbahn viele verbannte Kaukasier arbeiten. Meine Landsleute dürfen die Züge nur bis Workuta fahren. Dort übernehmen sie andere Eisenbahner, meistens verbannte Ukrainer, die die Züge bis Petschora bringen, von dort wieder andere bis Kotlas, und von Kotlas andere bis Moskau oder Leningrad. Wenn sie einander die Züge übergeben, besprechen sic immer auch die neuesten Ereignisse und Gerüchte. So reicht das Netz der Eisenbahner bis zur Hauptstadt. Auf diesem Wege ist auch dies Flugblatt aus Moskau hierhergelangt. Es hat vor ein paar Tagen morgens in allen Moskauer Zügen gelegen, auch auf vielen Hauptstraßen und in allen Untergrundbahnhöfen."

Das Flugblatt war sauber gedruckt, offenbar in einer richntigen Drukkerei. Es war unterschrieben: „Die Leninistische Parteiopposition" und forderte in einem Aufruf an die Bevölkerung, an die „Genossen und Bürger“, die Abkehr vom falschen Weg Stalins und die Rückkehr zur Politik Lenins. Es stellte fest, daß Stalin das leninistische Prinzip der kollektiven Führung beseitigt und zahllose Akte der Willkür und des Unrechts begangen habe. Dadurch habe die Partei das Vertrauen der Massen verloren. Stalin habe das Kolchossystem durch Zwang eingeführt, nicht auf der Basis der Freiwilligkeit, wie es Lenin gewollt habe: die Freiwilligkeit müsse wiederhergestellt werden. Die Industrialisierung sei unter Stalin überstürzt worden, so daß eine unausgeglichene Wirtschaft mit unrentablen Betrieben entstanden sei auf Kosten des allgemeinen Lebensstandards: diese Fehler müßten jetzt korrigiert werden. Auch in der Außenpolitik habe Stalin das leninistische Prinzip der Koexistenz beiseitegeschoben und der Sache des Sozialismus durch verfehlte militärische Abenteuer und unberechtigte Einmischung in die Angelegenheiten der anderen kommunistischen Parteien geschadet. Das Flugblatt schloß mit den Worten: „Genossen und Bürger, schart euch um die siegreiche Fahne Lenins im entschlossenen Kampf gegen alle verderblichen Abweichungen vom Marxismus-Leninismus."

„Wer hat wohl dieses Flugblatt verfaßt, gedruckt und verteilen lassen?“ fragte ich.

„Das wird man sicher nie erfahren. Soviel steht fest — in der Sowjetunion gibt es längst nicht mehr eine organisierte Parteiopposition. Ein illegales Flugblatt in Moskau. Das ist unmöglich. Dieses Flugblatt konnte nur gedruckt und verteilt werden mit dem Einverständnis höchster Parteistellen, nämlich jener Richtung, die jetzt nach dem Tode Stalins unter der Parole des Leninismus eine allgemeine Reform im Sowjetsystem durchführen will. Nach meiner Meinung gibt es heute im Kreml und im Lande in den Parteispitzen zwei große Gruppen, die miteinander um die Führung ringen. Die eine Gruppe, das sind die alten Stalinisten, die mit den alten Methoden weitermachen und ihre Machtpositionen verstärken wollen. Die andere Gruppe, das sind die Jüngeren, vor allem die Männer der Wirtschaft, die mit den alten Methoden brechen und mit der Reform die ungeteilte Macht in die Hand bekommen wollen. Daß nur eine allgemeine und tiefgreifende Reform das heutige Sowjetsystem in Ordnung bringen und die Massen gewinnen kann, das haben sie begriffen. Sie knüpfen daher im Kampf gegen die Stalinisten an die'Autorität Lenins an. Aber auch die alten Stalinisten müssen sich wenigstens in ihren Reden, wenn auch nicht in ihren Taten, an Lenin halten. Sie können sich nicht mehr auf Stalin berufen, dazu sind Stalin und der Stalinismus im Volk und in der Welt zu verhaßt.“

„Zwischen der Politik Lenins und Stalins besteht aber doch nur ein geringer Unterschied.“ „Das ist natürlich im Prinzip richtig, aber in der Praxis und in der inneren psychologischen Struktur des Sowjetsystems ist es anders. Was Lenin wirklich war, wollte und tat, ist bei uns schon längst überdeckt von dem, was das Volk, was der Mythos aus ihm gemacht hat. In einer Diktatur, in der es keine Freiheit der öffentlichen Meinung gibt, bleiben die realen Vorgänge oft im Dunkeln oder sinken nach einer gewissen Zeit wieder ins Dunkel zurück. Das Gerücht, von Mund zu Mund weitergegeben, bemächtigt sich ihrer, und schließlich geht die geschichtliche Realität im Mythos auf. So ist bei uns ein mythisches Leninbild entstanden, das im ganzen Volk lebt und das den guten Lenin vom bösen Stalin abhebt.

Dieser mythische Lenin hat im Volk die größte Popularität und Autorität. Er ist es, der das verhaßte zaristische Regime gestürzt und dem sinnlosen Blutvergießen des ersten Weltkrieges ein Ende gemacht hat. Er hat den russischen Bauern Land gegeben und ihnen die glücklichen Jahre des NEP, der Neuen Ökonomischen Politik geschenkt —, bis Stalin zur Macht kam und die Kolchose einführte. In der Tat waren das die einzigen Jahre, in denen es der Mehrheit der russischen Bauern in ihrer langen leidvollen Geschichte gut ging. Im verklärenden Rückblick aus dem heutigen Elend der Kolchose erscheinen diese Jahre noch glücklicher, als sie wohl in Wirklichkeit waren. Nicht nur die Bauern, auch die Arbeiter lieben diesen mythischen Lenin. Denn unter ihm hatten sie es zwar materiell schlechter als die Bauern, aber dafür hatten sie ihre Ruhe: kein Fünfjahrplan, keine Norm, kein Stachanowismus. Welch unvorstellbares Glück, gemessen an alledem, was ihnen unter Stalin auferlegt wurde. Aber auch unter den gebildeten Russen ist Lenin beliebter und angesehener als Stalin. Denn unter Lenin bestand noch eine revolutionäre Freiheit des Geistes —, in der ein Lunatscharski Unterrichtsminister und ein Berdjajew Philosophieprofessor sein konnten, in der die großen modernen Lyriker Rußlands wie Blok und Essenin noch nicht aus den Bibliotheken verbannt waren und in der Bühne, Film und Konzertsaal noch allen Neueren offenstanden.

Jetzt verstehst du: Rückkehr zum Leninismus — das ist heute in der Sowjetunion tatsächlich eine revolutionäre Parole. Jeder Russe versteht sie im Sinne des leninistischen Mythos, und der Kreml weiß genau, daß das Volk sie so versteht. In der Praxis bedeutet daher Leninismus: Reform der Kolchose, vernünftige Industrialisierung ohne Stachanowismus, größere geistige Freiheit.

Eine solche leninistische Politik würde die Sowjetunion nicht schwächen, sondern im Gegenteil stärken. Darum stehen hinter dem leninistischen Programm der Reform auch alle nationalen und patriotischen Kräfte Rußlands. Und darum habe ich dieses Flugblatt nicht mit Begeisterung gelesen wie die russischen Kameraden, sondern mit großer Besorgnis. Ich bin als Mohammedaner ein Feind des Bolschewismus und als Aserbeidschane ein Feind Rußlands. Mir wäre viel lieber, sie würden im Kreml nicht auf solche gefährlichen neuen Ideen kommen, sondern stur ihren alten Stalinismus weitermachen. Damit kommen sie nicht weit, aber mit der Reform kommen sie viel weiter.

Ich will nicht übertreiben: solange die alten Männer im Kreml am Ruder sind, solange die alten Apparatschiki den starren Apparat beherrschen und das Volk aussaugen, solange können sie viel von Leninismus reden, in der Praxis wird sich wenig ändern. Unter Stalin groß geworden, an seine Methoden gewöhnt, können sie nur im Apparat leben und vom Apparat. Der Apparat ist gegen die Reform und wird sie zunächst sabotieren, auch wenn der Kreml sie befiehlt. Wenn aber im Kreml die Gruppe siegt, die die Reform wirklich will, so kann sie sie auch durchsetzen. Die Reform von oben könnte sich jederzeit über den Apparat hinweg mit dem Druck der Massen von unten verbünden. Die Zukunft wird zeigen, wer im Kreml auf die Dauer die Oberhand behält, und wie weit der Drude der Massen das System umzuwandeln vermag. Jedenfalls ist die Sowjetunion mit dem Tode Stalins in eine neue Entwicklung eingetreten, in der die persönlichen Machtkämpfe, die sachlichen Gegensätze und die ungelösten inneren Probleme von einem Tag zum anderen eine ganz neue Lage herbeiführen können.“

Die Krise des Staatsstreiches Daß eine Revolution von oben in der Sowjetunion tatsächlich im Gange war, konnten wir im Verlauf des Sommers 1953 aus vielen einzelnen Tatsachen und Gerüchten schließen, von denen wir im Lager erfuhren. Sie rundeten das Bild ab, das sich einige Monate später aus den Veröffentlichungen der sowjetischen Presse über die Beria-Krise ergab.

Die starke Stellung, die Beria hatte, erklärte mir ein ehemaliger Referent im Sekretariat des Politbüros, der sich in unserem Lager befand: „Die Sitzungen des Politbüros begannen damit, daß Stalin die Tagesordnung verlas. Dann verhandelte er mit Beria oft stundenlang auf Georgisch. Niemand verstand, was sie sprachen. Dann trug er auf Russisch den anzunehmenden Beschluß vor. Alle stimmten zu. Ende der Sitzung.

Damit du verstehst, wie Beria arbeitete, werde ich dir erzählen, wie er sein Amt als Chef der Tscheka antrat. Stalin holte ihn im Jahre 1938 aus Tiflis nach Moskau, nicht, um die Säuberungen fortzusetzen, sondern um sie zu beenden.

Beria machte das auf seine Weise. Er lud alle Innenminister der Republiken und alle höheren Tschekafunktionäre, die sich bei den Säuberungen besonders ausgezeichnet hatten, zu einer Besprechung nach Moskau ein. In der Garderobe ließ man sie die Waffen ablegen und im Saal aufs beste bewirten. Alle waren in großartiger Stimmung, da erschien Beria. Statt der erwarteten Antrittsrede sagte er nur einen Satz: „Ihr seid verhaftet.“ Er ließ sie aus dem Saal abführen und noch in derselben Nacht im Keller erschießen, alle ohne Ausnahme."

Nach dem Tode Stalins war Beria, gestützt auf seinen allmächtigen Tscheka-Apparat, der mächtigste Mann in der Sowjetunion, so verhaßt er auch allgemein war. Er beherrschte daher das Triumvirat im Kreml, das nach dem Tode Stalins regierte, denn er war stärker als der Ministerpräsident Malenkow, der die Führung der Partei an Chruschtschow hatte abgeben müssen, und stärker als Molotow, der alte Bürokrat, den Lenin immer verächtlich den Buchhalter der Revolution nannte.

Das erste Anzeichen einer neuen, von Beria bestimmten Entwicklung, bildeten die Briefe und Zeitungen, die unsere Georgier im April von zu Hause erhielten. Regierung und Politbüro, die dort unter Stalin amtiert hatten, wurden gestürzt. Neue Männer traten an die Spitze, unter ihnen Dekanosow, ein Vertrauter Berias, einst Botschafter im Berlin der Vorkriegszeit, später stellvertretender Außenminister. Er besetzte als Innenminister die Schlüsselstellung des neuen georgischen Kabinetts, dessen Zusammensetzung, wie unsere Georgier behaupteten, eine nationalere, von Moskau unabhängigere Linie erkennen ließ. Tatsächlich wurde etwa vier Wochen später einer unserer Georgier, ein Schriftsteller, der wegen „bürgerlichen Nationalismus" im Jahre 1948 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war, durch einen telegrafischen Befehl aus Moskau amnestiert und in seine Heimat entlassen. Seine alten Freunde in der neuen Regierung hatten in Moskau seine Freilassung durchgesetzt. Dieser Vorfall — so etwas hatte sich in Workuta noch nie ereignet — rief im ganzen Lager Spannung und Erregung hervor. Im Mai vollzog sich ein ähnlicher Kurswechsel in der Ukraine. Der Schriftsteller Kornejtschuk, der bei unseren Ukrainern als Vertreter der nationalen Sache innerhalb der sowjetischen Intelligenz galt, wurde zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Ersten Sekretär der Partei in der Ukraine ernannt. Er erregte später durch sein oppositionelles Theaterstück „Krilja" großes Aufsehen. In allen ukrainischen Zeitungen erschienen jetzt Artikel, die die bisherige Politik der Russifizierung, ins-besondere die Unterdrückung der ukrainischen Sprache an den Schulen und Hochschulen, scharf angriffen. Im Lager gab es viele ukrainische Studenten und Lehrer, die wegen Widerstandes gegen die Russifizierung ihrer Heimat verurteilt worden waren. Sie alle hofften jetzt auf Begnadigung — vergeblich. Der neue Kurs in der Ukraine sollte offenbar nur für die Zukunft gelten, nicht aber die Vergangenheit revidieren.

Im gleichen Sinne, wenn auch weniger scharf, schrieben die Zeitungen in Litauen, Lettland und Estland, die unsere Balten von zu Hause erhielten. Auch dort traten neue Männer aus dem Lande selbst, darunter insbesondere Vertrauensleute Berias, an die Stelle der Russen, die bisher die höchsten Posten besetzt hatten. Es war unverkennbar, daß Moskau gegenüber den nationalen Minderheiten in der Sowjetunion eine versöhnlichere Politik einzuschlagen begann und daß Beria diese Tendenz förderte, um die Schlüsselpositionen in den nationalen Republiken mit seinen Vertrauensleuten aus den betreffenden Nationen zu besetzen. Die späteren Veröffentlichungen über die Beria-Krise bestätigten, daß Beria versucht hatte, sich im Kampf um die Macht vor allem auf die nationalen Minderheiten zu stützen.

Die Unterdrückung der nationalen Minderheiten und die Kolchose — das sind die beiden wundesten Stellen des Sowjetsystems. Die Lager beweisen es: die überwiegende Mehrheit hat entweder gegen die nationale Unterdrückung oder gegen die Kolchose rebelliert und ist deswegen im Lager. Das Lager ist gewissermaßen ein Nebenprodukt des Terrors gegen die nationalen Minderheiten und das Bauerntum. Um die Bedeutung der nationalen Fragen zu erkennen, genügt es, daran zu erinnern, daß im sowjetischen Vielvölkerstaat rund 200 Sprachen und Dialekte gesprochen werden, 58 Volksgruppen bestehen und 48 Prozent der Bevölkerung nichtrussischer Abstammung sind.

So wie Beria, bevor er zum Staatsstreich ansetzte, die unterdrückten nationalen Minderheiten für sich zu gewinnen suchte, so offenbar auch die unzufriedenen Kolchosbauern — 80 bis 90 Millionen von 200, fast die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung. Die Anklageschrift gegen Beria, die in der sowjetischen Presse veröffentlicht wurde, wirft ihm vor, er habe versucht, die Kolchosen zu liquidieren und das kapitalistische System wjederherzustellen. So absurd das zunächst klingen mag — es gibt eine Reihe von Tatsachen, die in diesem Zusammenhang erwähnt werden müssen. Alle Briefe aus den Kolchosen, die uns zwischen Mai und August 1953 erreichten, sprachen übereinstimmend in dem verschleierten Stil sowjetischer Briefe von dem großen Wechsel auf der Kolchose, der unmittelbar bevorstehe: die neue Regierung werde das Unrecht, das geschehen sei, wieder gut machen, Land und Vieh werde bald zurückgegeben werden, jetzt werde alles wieder gut werden.

Als später die Verwandtenbesuche im Lager erlaubt wurden, erfuhren wir, daß damals auf vielen Kolchosen die Kolchosherden aufgeteilt und die Kolchosfelder vernachlässigt wurden, weil alle mit der bevorstehenden Auflösung der Kolchosen rechneten. Auch die örtliche Natschalstwo glaubte damals, daß dies die neue Moskauer Politik sei und schritt darum nicht ein. Die Vermutung, die die Russen im Lager daraus ableiteten und die auch viele Freie in Workuta teilten, scheint mir unwiderlegbar: Beria selbst hatte durch den Tscheka-Apparat mit seinen über das ganze Land verteilten Agenten das Gerücht verbreiten lassen, die von Stalin geschaffene Kolchose werde von der neuen Regierung aufgelöst werden.

Ferner ließ Beria im Juni und Juli 1953 aus allen Lagergebieten der Sowjetunion etwa ein Viertel der Ausländer, insbesondere der Deutschen, in die Heimat zurückschaffen. Wir sahen darin eine Geste des Einlenkens gegenüber dem Westen. Die Russen gründeten auf diese Maßnahme große Hoffnungen. Sie sagten: , Wenn die Regierung die Deutschen nach Hause schickt, so muß sie auch die Sowjetbürger entlassen, die wegen Zusammenarbeit mit den Deutschen verurteilt wurden.'

In diese fieberhafte Erwartung großer politischer Umwälzungen, die man im Lager, auf der Kolchose, in den Minderheiten, im ganzen Land von der neuen Regierung erwartete, schlug die Nachricht über den mißglückten Staatsstreich und die Verhaftung der Beria-Clique wie der Funke ins Pulverfaß. Die Gefangenen und die Bevölkerung jubelten: endlich wird der Henker selbst gehenkt, der Millionen von Menschen hat töten oder in den Lagern hat zugrunde gehen lassen. Endlich werden die Tschekisten als das gebrandmarkt, was sie sind: Feinde des Volkes. In der gesamten Sowjetunion verbreitete sich eine revolutionäre Stimmung. Alle gaben sich der naiven Erwartung hin, daß das Unrecht des alten Systems, die Kolchosen Stalins und die Lager Berias jetzt aufgehoben würden. Diese Hoffnungen trugen dazu bei, die Aufstände in den Gefangenengebieten und die allgemeine Lockerung der Arbeitsdisziplin in den Dörfern und Städten auszulösen. Aber wie in Moskau selbst, so auch im Lande draußen: Regierung und Partei griffen durch, das System behauptete sich.

Was wirklich in jenen Tagen in Moskau vorging, wird wohl nie ganz aus dem Schleier der Geheimnisse heraustreten, die die Beteiligten zu hüten guten Grund haben. Im Winter besuchte die Frau eines Abteilungsleiters in einem Moskauer Ministerium ihren Bruder in unserem Lager. Diese Frau, die die Ansichten der gut informierten Moskauer Natschalstwo wiedergab, berichtete: Der unmittelbar bevorstehende Staatsstreich Berias wurde von einem seiner engsten Mitarbeiter, dem Generalobersten Kruglow, an Malenkow verraten — Kruglow wurde daraufhin Innenminister und verschwand erst im Januar 1956 von der politischen Bühne. Malenkow bat das Militär um Hilfe. Marschall Shukow warf zuverlässige Truppen nach Moskau. Daraufhin ließ Malenkow Beria mitten in einer Plenarsitzung des Zentralkomitees überraschend verhaften — gerade rechtzeitig, bevor dieser seinerseits die bereits vorbereitete Verhaftung der Regierungs-und Parteiführer durchführen konnte, um, auf den allmächtigen Tscheka-Apparat gestützt, ein neues Regime und eine neue Einmanndiktatur zu errichten.

Wollte Beria wirklich ein neues Regime aufrichten, den unterdrückten Nationen mehr Freiheit geben, die Kolchosen auflösen, gegenüber dem westlichen Ausland einlenken, mit einem Wort gesagt, zu den menschewikischen, sozialdemokratischen Idealen seiner Jugend zurückkehren? Hatte er wirklich jahrelang nur das große Spiel des Provokateurs gespielt, der dem Diktator mit dem Terror dient, um mit dem Übermaß des Terrors die Revolution gegen den Diktator auszulösen und mit Hilfe der Revolution selbst zum Diktator zu werden?

Soviel ist sicher — niemand wußte besser als er, der allgewaltige, über alles unterrichtete Chef der Geheimpolizei, daß umfassende Reformen objektiv notwendig waren, um das Sowjetsystem aus der Sackgasse herauszuführen, in der Stalin sich festgefahren hatte. Und niemand anderer als er konnte einen solchen Versuch unternehmen, denn sein Apparat, die Tscheka, war nicht wie die Partei verfilzt mit dem gesamten Staats-und Wirtschaftsapparat. Die Tscheka war isoliert, in dieser Isolierung schlagkräftig, und die Tschekafunktionäre hatten bei solchen radikalen Reformen keine Posten zu verlieren wie die Partei, sondern eher neue Kontrollposten zu gewinnen. Vor allem war die Tscheka nicht wie die. Partei an eine starre Ideologie gebunden. Die Tscheka ist ein Instrument der Macht um der Macht willen. Sie kann jede Ideologie sprechen, jeder Ideologie dienen und jede Ideologie verraten. Sie hat keine eigene Ideologie, weil sie die abstrakte Organisation der absoluten Macht ist, die sich ihrer Blöße nicht schämt und darum auch das Feigenblatt der Ideologie nicht braucht.

Aber wenn auch die politische Richtung einer Diktatur Berias ihrem Programm nach eine liberalere gewesen wäre —, gewiß wäre sie am Ende nicht weniger blutig, nicht weniger unmenschlich als die Stalins gewesen. Darum hat sich das gesamte russische Volk mit richtigem Instinkt von dem bloßen Gedanken an eine solche Diktatur schaudernd abgewandt: ein Volk ist erst dann verloren, unrettbar verloren, wenn der Terror in der Maske der Liberalität die politische Bühne beherrscht und damit der Kampf um die Freiheit inhaltlos wird.

Der Verlauf der Beria-Krise hat bewiesen, daß auch der stärkste Mann der Sowjetunion, Beria, nicht imstande war, die Weichen neu zu stellen. Der Apparat, den Stalin geschaffen hatte, erwies sich als stärker. Der Apparat regiert heute an Stelle des toten Diktators. Die neue, breite, untereinander verfilzte Führerschicht, die Partei und Wehrmacht, Staat und Wirtschaft trägt, ist nicht bereit, ihre Existenzgrundlagen aufzugeben, um in einer Revolution von oben die an sich notwendigen Korrekturen an den von Stalin überkommenen Mißständen durchzuführen. Die Manager des Systems wollen keinen neuen Diktator und keine neue Revolution — keine Revolution von unten, aber auch keine Revolution von oben. Darum kam die Wehrmachts-Natschalstwo der Partei-Natschalstwo zu Hilfe und vereitelte den Staatsstreich Berias.

Mit der Liquidierung der Beria-Clique war eine Entscheidung von größter politischer Tragweite gefallen. Die eigenständige Macht der Tscheka war gebrochen. Von nun an überwachte die Partei die Tscheka, die zu einem Hilfsapparat der Partei geworden ist. Auf jeder Stufe des Staatsaufbaues wird heute die Tscheka von dem entsprechenden Partei-kollektiv kontrolliert. Diese Kontrolle vollzieht sich im Rahmen des Komitees für Staatssicherheit, das sowohl in Moskau als auch in den Unionsrepubliken und in der Unterstufe der Provinzen die Parteikontrolle über die Tscheka sichert, daß heißt über den Apparat der Polizei, der Geheimpolizei, der Dienststellen und der Verfügungstruppen des Innenministeriums. Der Sinn dieser Parteikontrolle ist eindeutig: einen neuen Staatsstreich eines neuen Beria und zugleich eine neue auf die Tscheka gestützte Einmanndiktatur eines neuen Stalin von vornherein zu verhindern.

Aber die allgemeine politische Krise des Sowjetsystems, die Krise des Stalinismus, aus der heraus Beria zum Staatsstreich anzusetzen vermochte, ist damit nicht gelöst. Mit der Macht Stalins haben die Nachfolger auch die Krise des Stalinismus geerbt.

Der neue Kurs Die verblüffenden Veränderungen, die seither in der Sowjetunion eingetreten sind und vielleicht auch in Zukunft noch eintreten werden, haben nichts Verblüffendes mehr, wenn man versteht, daß sie nur Abschlagszahlungen auf objektiv notwendige Veränderungen sind. Die Krise, in die Stalin das Sowjetsystem geführt hat, macht solche Veränderungen notwendig, wenn die Sowjetunion nicht stagnieren, sondern sich weiter entwickeln soll. Beria wollte diese Veränderungen offenbar mit einem Schlage durchführen, um damit die Alleinherrschaft zu gewinnen. Die Machthaber nach ihm müssen die Veränderungen teils aufhalten, teils Schritt für Schritt durchführen, um ihre Vorherrschaft zu behaupten.

Eine solche Abschlagszahlung auf objektiv notwendige Veränderungen stellte der Neue Kurs Malenkows dar, den er unmittelbar nach der Beria-Krise in seiner großen Rede vom 8. August 1953 entwickelte. Diese Rede alarmierte das ganze Lager. Malenkow beschäftigte sich zunächst mit der Lage in der Landwirtschaft. Er gab unumwunden zu, daß die Kolchose auf dem Gebiet der Viehwirtschaft hinter dem Stand von 1928, dem letzten Jahr vor der Kollektivierung, zurückgeblieben war: 25 Jahre Kolchose hatten die Viehwirtschaft und damit die Versorgung der Bevölkerung mit Fleisch, Fett usw. nicht voran, sondern im Gegenteil zurückgebracht. Auf dem Gebiet der Getreidewirtschaft waren zwar die Ernteerträge gestiegen, aber, wie Malenkow hervorhob, nur im gleichen Maße wie die Zunahme der Bevölkerung. An Hand der Malenkowschen Zahlen und alter Statistiken stellten wir fest, daß, pro Kopf der Bevölkerung gerechnet, im Jahr 1928 und im Jahr 1953 gleich viel Getreide erzeugt worden War, jedoch weniger als im Jahre 1913. Auch auf diesem Gebiete hatten also 25 Jahre Kolchose den Lebensstandard nicht heben können.

Die Russen im Lager triumphierten: „Seht ihr, die Kolchose ist ein fehlgeschlagenes Experiment. Jetzt geben sie es selber zu. Wir haben das schon immer gewußt und gesagt, dafür sitzen wir im Lager. Man muß die Kolchose aufheben. Was aber tut Malenkow? Er sucht einen Kompromiß. Er erläßt den Kolchosbauern die Steuerschulden und senkt die künftigen Steuern. Er erhöht die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse und setzt die Pflichtablieferungen herab. Er schafft Erleichterungen, aber keine wirkliche Abhilfe.“

Daß diese Erleichterungen durchaus spürbar waren, konnten wir aus allen Briefen und Verwandtenbesuchen, die von den Kolchosen kamen, entnehmen. Der Hunger auf den Kolchosen hörte auf, aber die Not blieb. Immer wieder kamen ins Lager erschütternde Briefe, die dem Gefangenen das Herz noch schwerer machten, als es schon war. So erhielt mein ukrainischer Nachbar Sascha im Herbst 1953 einen Brief von seiner Tochter: „Vater, kauf mir doch bitte ein Paar Gummistiefel und schicke sie mir. Ich habe immer nasse Füße, wenn wir bei Regen arbeiten. Im Frühjahr war ich lange Zeit krank, das kommt sicher davon.“ In der reichen Ukraine war eine Bäuerin zu arm, um ihrer einzigen Tochter Gummistiefel für die Feldarbeit zu kaufen.

Wenige Tage später bekam Karl Eduardowitsch, ein ehemaliger lettischer Artilleriehauptmann in unserer Brigade, einen Brief von seiner Frau, die auf eine Kolchose in dem reichen Gebiet von Nowosibirsk verbannt war. „Es geht uns jetzt etwas besser als früher. Die Kinder haben genug Brot, um sich satt zu essen. Im Winter werden wir das Schwein schlachten, dann werden wir auch wieder Speck haben. Aber der Älteste hat keine Filzstiefel, um im Winter zur Schule zu gehen. Vielleicht könntest du mir so viel Geld schicken, daß ich sie ihm kaufen kann.“ Zwei Beispiele von tausenden — so sah es auf den Kolchosen im guten Jahr 1953 und in den fruchtbarsten Gebieten der Sowjetunion aus.

In der Rede Malenkows vom 8. August 1953 wurde neben dem Neuen Kurs in der Agrarpolitik auch der Neue Kurs der Industrie-politik verkündet. Von Stalins utopischen Plänen der Großbauten des Kommunismus war nicht mehr die Rede, nur die großen Elektrizitätswerke blieben auf dem Programm. Mit scharfen Worten kritisierte Malenkow die Mißstände in der Sowjetindustrie, insbesondere die Vielzahl der unrentablen Betriebe, die auf Kosten der vorbildlichen Betriebe leben und dadurch den Staatshaushalt und das Investierungsprogramm in Verwirrung bringen. Er kündigte energische Maßnahmen gegen Un-rentabilität und Bürokratismus in der Wirtschaft an. Dann kam er auf die Entwicklung der Leichtindustrie zu sprechen und prägte den berühmt gewordenen Satz, den unsere Russen so oft zitierten, daß ich ihn auswendig behalten habe: „Auf der Grundlage der errungenen Erfolge in der Schwerindustrie bestehen jetzt alle Voraussetzungen, um einen raschen Aufschwung in der Erzeugung von Konsumgütern herbeizuführen." Dieser Satz wurde im Lager und in der Siedlung und wohl im ganzen russischen Volk mit Begeisterung ausgenommen, bedeutete er doch eine radikale Abkehr von der stalinistischen Politik des Übergewichts der Schwerindustrie, die die Macht des Staates durch die jahrzehntelangen Entbehrungen des Volkes erkauft hatte. Die neue Industriepolitik Malenkows wollte die aufgestauten Bedürfnisse der Massen nach Konsumgütern durch die Entwicklung der Leichtindustrie befriedigen und garantierte durch die Abkehr von der auf Schwer-und Rüstungsindustrie gestützten Machtpolitik Stalins eine friedliche Zukunft der Entspannung und Abrüstung. Die neue Industriepolitik warf die vorhandenen Vorräte auf den Markt und führte bald zu einer spürbaren Besserung der allgemeinen Lebensverhältnisse, zu der auch die beiden Preissenkungen für Lebensmittel von 1953 und 1954 beitrugen, sowie die Herabsetzung der „freiwilligen" Staatsanleihe, die bisher etwa zehn Prozent des Lohnes betrug und auch von den Gefangenen in den Lagern gezeichnet werden mußte.

In Workuta, das als Gebiet der Kohlenindustrie zu den versorgungsmäßig bevorzugten Gebieten der Sowjetunion gehörte, gab es jetzt außer Grütze und Margarine häufiger auch Zucker, Butter, Fleisch-konserven und Makkaroni zu kaufen. Der alte Satz, Zucker und Makkaroni gibt es nur am Feiertag, stimmte zwar noch, aber die Feiertage waren jetzt viel häufiger geworden. Im Winter 1954 konnte man sogar in den Läden Workutas zum erstenmal Taschenmesser kaufen, das Stück zu sieben Rubel, während man sich bisher sein Messer aus einem alten Sägeblatt selbst hatte mühsam zurechtschneiden und schleifen müssen. Nagelscheren gab es allerdings auch damals noch nicht. Wer einen solchen Luxusgegenstand brauchte, mußte ihn sich durch russische Kameraden aus Leningrad oder Moskau kommen lassen.

Durch die Politik des Neuen Kurses hatte Malenkow eine große Popularität und Autorität gewonnen. Der Neue Kurs kam der leninistischen reformfreudigen Richtung entgegen. In das Bewußtsein des Volkes ist Malenkow eingegangen als der kühne Neuerer, der den Bauern auf der Kolchose geholfen hat und die jahrzehntelang aufgestauten Bedürfnisse der Massen nach Konsumgütern zu befriedigen begann. Zu dem großen Ansehen Malenkows hat auch seine Friedenspolitik beigetragen, die das stalinsche Abenteuer in Korea beendete und eine neue Außenpolitik der Entspannung und der Koexistenz einleitete. Vor allem aber lebt Malenkow im Bewußtsein des Volkes als der Mann, der Beria und seine Clique verhaftete, den Terror der Tscheka brach, die Lager aufzulösen und die Verbannten heimzuschicken begann.

Der plötzliche Sturz Malenkows am 8. Februar 1955, der die Bevölkerung überraschte, ja bestürzte und in seinen wahren Ursachen erst später verstanden wurde, hat ihn geradezu zu einer mythischen Figur werden lassen. Mit all seinen guten Taten und Plänen, so erklärte es sich das Volk, wurde Malenkow das Opfer des bösen Apparates, der alten Männer, die die neue Politik hassen und hindern, weil sie die Privilegien ihrer Macht nicht opfern wollen. Malenkow beugte sich in schweigender Disziplin. Er konnte nur die ersten Schritte tun, seine Zeit war noch nicht gekommen. Er wartet, — so meint der Mythos —, und mit ihm wartet das russische Volk.

Zurück zum harten Kurs

Hatte das System unter dem Schock der Beria-Krise sich dazu entschließen müssen, zunächst mit der Kompromißpolitik des Neuen Kurses dem Verlangen der Massen und großer Teile der Natschalstwo nach Reformen entgegenzukommen, so hatte es sich durch diese Politik doch bald wieder so weit gefestigt, daß es die Zügel straffer anziehen und zu einem härteren Kurs zurückkehren konnte. Im Rücken Malenkows, der sich als Ministerpräsident nur auf den Staats-und Wirtschaftsapparat zu stützen vermochte, sammelten sich die Kräfte, die seinen Sturz herbeiführten. Beharrlich hatte Chruschtschow, Nachfolger Stalins als Erster Sekretär der Partei, daran gearbeitet, aus ihr durch personelle Umbesetzungen seinen Apparat, seine Hausmacht zu schaffen, in Moskau selbst und draußen im Lande. Der mißglückte Staatsstreich Berias gab ihm auch die Möglichkeit, die Schlüsselpositionen, die Beria in den Republiken und Provinzen mit seinen Leuten besetzt hatte, in die Hand zu bekommen: in diese Stellungen rückten jetzt die Vertrauensleute Chruschtschows ein. Nach außen wurde an der seit Stalins Tode eingeschlagenen, weicheren Linie Moskaus gegenüber den nationalen Minderheiten nichts geändert. Von innen her aber konnte nun der zentral gesteuerte Parteiapparat allen zentrifugalen Bewegungen entgegentreten: die nationalen Minderheiten dürfen ihre eigne nationale Sprache sprechen, aber sie dürfen nicht anders sprechen, als Moskau denkt.

Gestützt auf den Parteiapparat verbündete sich Chruschtschow mit dem Militär, um Malenkow zu stürzen. Das Militär mußte, um im Rüstungswettlauf mit dem Westen gleichzuziehen, auf dem Vorrang der Schwerindustrie bestehen. So sehr das Militär daran interessiert war, durch eine Politik der Reform, der Hebung des Lebensstandards und der allgemeinen Normalisierung zufriedene, nicht oppositionelle Rekruten zu bekommen, so bestand es doch prinzipiell auf dem Vorrang der Schwer-und Rüstungsindustrie. Hierin waren sich alle Militärs einig: der alte Marschall Woroschilow, das Staatsoberhaupt der Sowjetunion, der große russische Stratege des zweiten Weltkrieges Shukow, der Parteimarschall und Industriefachmann Bulganin und die übrigen Marschälle. Mit Hilfe des Militärs hatte Malenkow den geplanten Staatsstreich Berias vereitelt. Mit der Unterstützung des Militärs stürzte nun Chruschtschow den Reformator Malenkow. Zum zweitenmal griff das Militär in die Geschichte des nachstalinistischen Rußland ein.

Zum Sturze Malenkows trugen auch andere Umstände bei. Die ersten Regungen geistiger Freiheit, die unter ihm in der kurzen Zeitspanne des Ottjepel, des Tauwetters, zu beobachten waren, brachten so viele ungelöste Fragen in Bewegung, zogen so weite Konsequenzen, daß das gesamte System dadurch erschüttert zu werden drohte. Seit Sommer 1954 ging die Partei immer schärfer hiergegen an und stellte die totalitäre Disziplin wieder her. Ein totalitäres System ist erledigt, wenn es sich so zu sehen beginnt, wie es wirklich ist. Es muß starr auf sein schönes, aber falsches Spiegelbild in der offiziellen Ideologie schauen, um sich immer bestätigt zu wissen.

Auch hatte der Neue Kurs Malenkows in der Agrarpolitik keine nachhaltige Besserung der Ernährungsfrage zu schaffen vermocht. Was die Kolchosen an freien Spitzen über die früheren Mengen hinaus erzeugten, verbrauchten sie selbst oder tauschten sie innerhalb der Verwandtschaft gegen städtische Waren ein. Das fehlgeschlagene Experiment der stalinschen Kolchose behauptete sich auch unter Malenkow als das Problem Nummer 1 der Sowjetunion. Lingelöst gab er es an Chruschtschow weiter.

Um über den toten Punkt in der Agrarpolitik hinwegzukommen, entwickelte Chruschtschow ein umfassendes Programm. Er behielt einige Grundsätze der Malenkowschen Agrarpolitik bei, z. B . die Preiserhöhungen für landwirtschaftliche Produkte als Anreiz für die Produktionserhöhung, und verwirklichte gleichzeitig darüber hinaus einen in seiner Radikalität umwälzenden Plan. Zur Steigerung der Getreideerzeugung wurden bis Anfang 1956 etwa 30 Millionen Hektar Neuland, insbesondere in Mittelasien und Sibirien unter den Pflug genommen — soviel wie die landwirtschaftliche Nutzfläche ganz Deutschlands im Jahre 1934. In den klimatisch günstiger gelegenen alten Landwirtschaftsgebieten der Sowjetunion wurde dafür entsprechend weniger Getreide, aber mehr Mais angebaut als Futtergrundlage für den Ausbau der Viehwirtschaft. Dieses gewaltige Programm versucht das fehlgeschlagene Experiment der Kolchose mit einem neuen, noch radikaleren, noch problematischeren Experiment zu überbrücken. Mit dem Erfolg oder Mißerfolg dieses Experiments steht oder fällt Chruschtschow — das ist eine weit verbreitete Ansicht in der Sowjetunion.

Als wir im Frühjahr 1955 im Gefangenentransportwagen über die Transsibirische Eisenbahn rollten, sahen wir Chruschtschows Neuland-programm an vielen Stellen in der Steppe mit eigenen Augen: Einige riesige Militärzelte als erste LInterkunft, junge Burschen und Mädchen — die Freiwilligen aus der Jugendorganisation, dem Komsomol, die, wie man offiziell sagte, in heroischem Einsatz dem erhabenen Ruf der Partei als Pioniere gefolgt waren. In Wirklichkeit wurden sie zwangsweise zur Neulandaktion abkommandiert. Unterwegs schon hatten wir solche Eisenbahnzüge getroffen, blumengeschmückte Wagen und darin betrunkene Jugendliche, die auf diese Weise leichter den Schritt ins Ungewisse und von der alten Heimat weg zu tun hofften. Neben den Jugendlichen arbeiteten im Neuland entlassene Soldaten, noch in Uniform, aber ohne Rangabzeichen. Das Kommando führten alte erfahrene Kolchosbauern und Traktoristen, die aus ihren heimatlichen Dörfern hierher versetzt waren. Hinter den Zelten sahen wir, soweit das Auge reichte bis zum fernen Horizont, die schwarze umgepflügte Erde des Neulandes, bereit, die erste Saat aufzunehmen.

Auf diesem Neuland werden zumeist nicht Kolchosen, sondern Sowchosen gebildet, riesige Staatsgüter, die 20 000 bis 30 000 Hektar umfassen. Nicht Dörfer entstehen hier, sondern Agrarstädte mit städtisch gebauten Gemeinschaftshäusern und Klubs. Hier arbeiten nicht Bauern, sondern Arbeiter staatlicher Getreidefabriken. Diese Agrarstädte sollen später als Modell für die Umwandlung der alten landwirtschaftlichen Gebiete und ihrer dörflichen Kolchosen dienen. Mythos des Traktors: die Technik soll das Dorf revolutionieren. An die Stelle des Bauern soll der landwirtschaftliche Staatsarbeiter treten, aus dem Dorf soll eine staatliche Viehfarm und Getreidefabrik werden, zentral von oben gesteuert, wissenschaftlich-technisch geleitet und voll mechanisiert. Die Revolution, der die Bauern im Jahre 1917 in den Sattel geholfen haben, begnügt sich nicht mit der Liquidierung des Bürgertums: sie liquidiert auch das Bauerntum, auch die bäuerlichen Restbestände der Kolchose. Daß dies das Ziel der Agrarpolitik Chruschtschows ist, beweist auch der Beschluß des Zentralkomitees und des Ministerrats vom 5. März 195 5, der das private Gartenland der Kolchosbauern und den höheren privaten Viehbestand in den Viehzuchtgebieten praktisch enteignet und zum genossenschaftlichen Eigentum der Kolchose macht. Damit ist der Generalangriff gegen die letzte schmale Grundlage bäuerlicher Selbständigkeit und Unabhängigkeit eingeleitet. Bisher konnte die sowjetische Bauernschaft den geringen Verdienst in der Kolchose stets ergänzen durch die Erträge ihrer privaten Zwergwirtschaften. In Zukunft wird sie, wenn dieser Erlaß konsequent durchgeführt wird, zu einer landlosen Landarbeiterschaft werden, die dem Staat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

Auf dem 20. Parteitag in Moskau im Februar 19 56 hat Chruschtschow sein Neulandprogramm bereits mit heftigen Worten verteidigen müssen. Auch wenn infolge der häufigen Dürren in den Ost-gebieten nur jede dritte Ernte eine gute Ernte sei, so könne man zwei Mißernten getrost in Kauf nehmen — dieses Argument Chruschtschows enthüllt die ganze Problematik der Neulandpolitik. Auch berichteten die letzten Heimkehrer aus dem Gebiet von Workuta, daß dort im Herbst 1955 in den Lagern bereits Nachschub für die Entlassenen und Amnestierten eintraf: Jugendliche aus dem Neuland, die gegen die unerträglichen Verhältnisse auf diesen neuen Staatsgütern rebelliert und dafür zehn Jahre Zwangsarbeit erhalten hatten.

Der Ausweg aus dem Dilemma der Kolchose, den Chruschtschow mit dem Programm des Neulandes und der Agrarstädte eingeschlagen hat, ist kein Ausweg. Es ist schon heute erkennbar, daß die stalinistische Agrarpolitik, die auf der Ebene der dörflichen Kolchose versagt hat, auf der neuen höheren Ebene ebenfalls versagen wird.

Erfolgreicher als Chruschtschows Agrarpolitik läßt sich Bulganins Industriepolitik an. Von einem Fünfjahrplan zum anderen fortschreitend, ist die Sowjetunion heute zum zweiten Industriestaat der Welt aufgerückt, der im östlichen Machtbereich etwa die Hälfte der westlichen Kohleproduktion und ein Drittel der westlichen Stahlproduktion erzeugt. Den Abstand zur westlichen Welt in geschichtlich kürzester Frist einzuholen, ist das Ziel der sowjetischen Industriepolitik. Das Schwergewicht der Bulganinschen Industrieplanung liegt getreu der Losung Lenins: „Sowjetmacht plus Elektrifizierung = Sozialismus" auf der Energiewirtschaft: die Sowjetunion will bis 1960 mit Hilfe der neuen großen Elektrizitätswerke die Hälfte der Stromerzeugung der USA und durch die Intensivierung der Erdölindustrie ein Drittel der nordamerikanischen Erdölproduktion erreichen. Gleichzeitig sollen aber auch gewisse Verkürzungen der Arbeitszeit, unter anderem der Über-gang zum Sieben-Stunden-Tag im Bergbau, erfolgen und die Produktion der Leichtindustrie gesteigert werden, wenn auch nicht im gleichen Maße wie die der Schwerindustrie.

Der Abstand, der jedoch die Sowjetindustrie noch immer infolge ihres unrentablen und bürokratischen Systems vom Niveau der modernen Wirtschaftswelt trennt, ist daran erkennbar, daß die durchschnittliche Arbeitsproduktivität eines sowjetischen Industriearbeiters nur ein Viertel von der eines nordamerikanischen und die des sowjetischen Kolchosnik nur ein Fünftel von der des nordamerikanischen Landwirts beträgt. Um die Ziele der Bulganinschen Industriepolitik zu erreichen, ist daher das Sowjetsystem gezwungen, alle Kräfte anzuspannen und die letzten Reserven zu mobilisieren. Dies wird verstärkt durch die Notwendigkeit, mit der zweiten industriellen Revolution Schritt zu halten, die heute in der Welt mit der Erschließung der Atomenergie, dem weiteren Ausbau der Energiewirtschaft und dem Übergang zur Automatisierung einsetzt. Diese Notwendigkeiten und Tendenzen zwingen das System, den Mittelstand der technischen und wirtschaftlichen Spezialisten noch mehr als bisher zu verbreitern und die Partei aus einem Kader bürokratischer und fanatischer Apparatschiki mehr und mehr umzuwandeln in Richtung auf eine Technokratie der Spezialisten. Auf dem 20. Parteitag wurden solche Forderungen bereits mit Nachdruck erhoben.

Das Programm dieser maximalen Industrialisierung aber bedeutet für die Massen: zunächst noch Jahre und vielleicht Jahrzehnte im alten stalinistischen Arbeitstempo unter dem mit der Mechanisierung wachsenden Druck des Stachanowismus weiterarbeiten und durch weitere Entbehrungen den verheißenen Wohlstand einer fernen Zukunft erkaufen — jenes Glück, das mit jedem Schritt nach vorn um einen Schritt zurückweicht.

Wenn das Lager das Modell der stalinistischen Lebensform und Lebensordnung war, so ist unter Chruschtschow und Bulganin an die Stelle des Lagers die Siedlung getreten. Die Russen sagen: „Wir leben nicht mehr im Lager, wie unter Stalin, wir leben jetzt wie in der Siedlung.“ Der stalinistische Zwangsarbeiter, gleichsam aus dem Lager entlassen, ist zum Halbfreien in der Siedlung geworden. Der unmittelbare Zwang des tschekistischen Terrors ist ersetzt durch den mittelbaren, aber um so wirksameren Zwang des totalitären Systems selbst. Wer nicht zugrunde gehen will, muß in der Siedlung mehr und besser arbeiten als im Lager. Er genießt zwar in der Siedlung mehr Freiheiten als im Lager, aber nicht die Freiheit. Und die Siedlung ist, wie das Lager, weit entfernt von der alten Heimat und weit entfernt von einer neuen Heimat in einer modernen Industriegesellschaft. Es ist eine Station auf dem langen, krisenreichen Weg des Übergangs.

Die Entscheidungen des 20. Parteitags Die innenpolitische Entwicklung, die die Sowjetunion vom Tode Stalins über die Beria-Krise zum Neuen Kurs Malenkows und sodann zur Politik Chruschtschows und Bulganins geführt hat, wurde durch den 20. Parteitag in Moskau im Februar 1956 sanktioniert. Der Parteitag hat die neue Agrar-und Industriepolitik bestätigt und gleichzeitig durch die Kritik an Stalin zwei wichtige innenpolitische Entscheidungen getroffen, um damit die künftige Politik der Sowjetunion wie der Satelliten festzulegen.

Die erste innenpolitische Entscheidung ist eine Entscheidung gegen Stalin und für Chruschtschow, gegen die Einmanndiktatur und für das Kollektivprinzip, gegen die Tscheka und für die Partei. Diese Entscheidung wurde in den Reden von Mikojan, dem entschiedensten Sprecher für eine Rückkehr zum Leninismus, von Suslow und von Chruschtschow und insbesondere in dem Referat Chruschtschows auf der Geheimsitzung verkündet. Zwanzig Jahre lang habe Stalin die Sowjetunion auf dem falschen Weg des Personenkults geführt und dadurch gegen das leninistische Prinzip der kollektiven Führung verstoßen. Er habe dabei zahlreiche Akte der Willkür und des Unrechts begangen. Sein falscher Weg sei die Folge seiner falschen These von der Verschärfung des Klassenkampfes während des sozialistischen Aufbaues.

Stalin wird angegriffen als Diktator und Terrorist. Als der Diktator, der seine persönliche Entscheidung der Staats-und Parteiführung aufzwang und dieses System der persönlichen Entscheidung mit Hilfe der zahllosen kleinen Stalins auf allen Stufen der Verwaltung, Wirtschaft und Partei durchsetzte. Das soll es in Zukunft in der Sowjetunion nicht mehr geben: aus einer Einmanndiktatur soll sie eine Kollektivdiktatur werden.

Damit hat der 20. Parteitag eine Entwicklung bestätigt, die jedermann in der Sowjetunion seit dem Tode Stalins an vielen einzelnen Beispielen beobachten und in der großen Linie voraussagen konnte. Die immer weitergehende Industrialisierung hat den neuen Mittelstand der Natschalstwo, insbesondere der technischen und wirtschaftlichen Spezialisten, geschaffen, der heute 15 bis 20 Millionen Menschen umfaßt — davon ein knappes Drittel Parteimitglieder — und jährlich etwa 250 000 Absolventen der LIniversitäten und 600 000 Absolventen der Fach-schulen in sich aufnimmt. Dieser neue Mittelstand läßt sich nicht mehr diktatorisch von oben regieren, aber auch nicht mehr beseitigen. Er will selbst regieren, und das System ist auf ihn angewiesen. Daraus ergeben sich Tatbestand und Sinn der vom Parteitag verkündeten kollektiven Führung: auf jeder Stufe der Verwaltung und der Wirtschaft soll das Parteikollektiv zusammen mit den parteilosen Spezialisten regieren, nicht mehr der einzelne Chef.

Aus der stalinschen Einmanndiktatur, die mit der Peitsche des Terrors den Apparat aufgebaut hat, ist die nachstalinistische Kollektiv-diktatur der Apparatshiki geworden. Eine neue Einmanndiktatur in der Sowjetunion — etwa eine Diktatur Chruschtschows — wäre nur möglich mit Hilfe der Tscheka als Instrument in der Hand des Diktators. Daß jedoch Chruschtschow davon noch weit entfernt ist, beweist der Parteitag, der Stalin nicht nur als Diktator, sondern auch als Terrorist angreift — wenn auch mit sehr vorsichtigen Worten. Niemand auf dem Parteitag hat an das sowjetische Geheimnis, das alle Welt kennt, gerührt, niemand hat von den Millionen und Abermillionea gesprochen, die Stalin mit Hilfe der Tscheka vor und nach dem Kriege liquidiert oder in die Lager und Verbannungsgebiete geschickt hat.

Auch in der Rede Chruschtschows auf der Geheimsitzung — es ist zu beachten, daß der Inhalt dieser Rede der sowjetischen Bevölkerung zunächst nicht bekannt wurde — wird im wesentlichen nur von den Opfern Stalins aus den Reihen der Partei gesprochen. Wenn ich an unser Lager in Workuta zurückdenke, in dem die Zahl der ehemaligen Parteimitglieder weniger als zwei Prozent ausmachte, so muß ich zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Wahrheit, die Chruschtschow enthüllt hat, weniger als zwei Prozent der vollen Wahrheit ist. Es muß Chruschtschow nicht leichtgefallen sein, sich zum Sprecher dieser Enthüllungen zu machen, die ihn selbst und das System, das er vertritt, unter die schwersten Anklagen stellen. Daß er es dennoch getan hat, kann nur aus der Furcht zu erklären sein, daß sonst ein anderer sich zum Sprecher in dieser Sache und damit zum Richter, Führer und Vollstrecker gemacht hätte. Das beweist, wie stark die antistalinistische Gruppe in der obersten Führung heute bereits ist.

Ehe innenpolitische Entscheidung, die mit dem Sturz Berias im Sommer 1953 gefallen ist, wird durch den Parteitag anerkannt und aufrechterhalten. Die eigenständige Macht der Tscheka soll nicht Wiederaufleben. Ihre Rolle als der dritte Partner zwischen Partei und Militär soll ausgespielt sein. Die Tscheka soll neutralisiert bleiben, unter der Kontrolle der Partei stehen und der Legalität der sowjetischen Verfassung untergeordnet sein. Im obersten Komitee für Staatssicherheit wacht die kollektive Parteiführung eifersüchtig darüber, daß niemand, auch nicht Chruschtschow selbst, die Tscheka persönlich in die Hand bekommt. Solange die einzelnen Gruppen im Kreml einander das Gleichgewicht halten, kann sich in der Tat keine Gruppe gegen die andere der Tscheka bedienen.

Bedeutet das, daß die Tscheka ein für allemal ausgespielt hat, oder wartet sie nur auf den Ruf eines neuen Herm? Diese Frage kann nur die Zukunft beantworten. In jeder modernen Diktatur bestimmt die Stellung des stärksten Verbandes, des Geheimdienstes, den Charakter der Diktatur. Der Rückfall aus der derzeitigen sowjetischen Kollektiv-diktatur ohne Tscheka in eine neue, auf die Tscheka gestützte Einmanndiktatur kann auf die Dauer wohl nur verhindert werden, wenn das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Gruppen im Kreml fortbesteht oder wenn der neue Mittelstand sich tatsächlich gegenüber den alten Führungsgruppen als der Stärkere behauptet und damit neue Kräfte und Tendenzen die Führung erlangen. Der Parteitag hat, um einer neuen terroristischen Einmahndiktatur vorzubeugen, auch die These vom verschärften Klassenkampf, mit der Stalin den Terror rechtfertigte, verdammt, der Klassenkampf in der Sowjetunion sei entschärft, eine feindliche Klasse nicht mehr vorhanden. Der neue Mittelstand will mit gutem Gewissen sein Auto und sein Wochenendhaus, seine Prämien und Privilegien genießen dürfen. Der Funktionär will nicht mehr als Bourgeois denunziert werden, auch wenn er bourgeoiser als ein Bourgeois lebt. Er will die ständige Furcht vor der nächsten Säuberung los sein. Er will nicht mehr revolutioniert werden, aber auch nicht mehr selbst revolutionieren. Das System will sich normalisieren.

Der Moskauer Parteitag versucht die Krise des Stalinismus durch die Kritik am stalinistischen Personenkult und stalinistischen Terror aufzufangen. Er legt die Linie der Kritik am Stalinismus fest: bis hierher und nicht weiter. Man darf jetzt den Menschen Stalin kritisieren, aber noch nicht sein Werk, das heutige Sowjetsystem. Man darf jetzt Stalin als Diktator und Terrorist kritisieren. Aber noch nicht als den Erfinder der Kolchose, auch nicht als den Begründer des Plan-und Normen-systems und des Stachanowismus. Auch nicht als den Saboteur der Zusammenarbeit mit dem Westen, von der die Sowjetunion mehr profitiert hätte als von ihrer Isolierung, und nicht als den Unterdrücker und Ausbeuter der nichtrussischen Nationalitäten und der besetzten Gebiete Europas.

Der stumme Drude der sowjetischen Massen, der auf eine Reform des Systems und eine Besserung der Lebensverhältnisse für alle, nicht nur für die Privilegierten zielt, hat die Partei auf den Weg der Abkehr von Stalin geschoben. Aber dieser Weg ist nur soweit begangen worden, als es im Interesse der Parteiführung und des neuen Mittelstandes liegt. Im übrigen ist alles beim alten geblieben. Auch die neue Kollektivdiktatur ohne Tscheka ist eine Diktatur ohne Freiheit. Während die Einmanndiktatur sich nur durch den direkten Terror der Tscheka behaupten kann, behauptet sich die Kollektivdiktatur durch den indirekten Terror des totalitären Systems, aber auch der indirekte Terror bleibt Terror.

Die zweite innenpolitische Entscheidung des 20. Parteitages ist weniger auffällig, aber nicht weniger wichtig. Stalin — so wird jetzt erklärt — sei nicht der geniale Feldherr gewesen, als den er sich selbst hingestellt habe. Er habe das Land auf den Krieg nicht in der notwendigen Weise vorbereitet. Er habe auch während des Krieges eine Reihe von schweren Fehlern begangen, wobei er nicht auf die richtige Meinung der leitenden militärischen Fachleute gehört habe.

Das bedeutet: Es gab eine Reihe von Fällen, in denen Stalin unrecht und Schukow recht hatte. Die grundsätzliche Unterordnung des Militärs unter die Partei, die unter Stalin bestand, war falsch und ist daher aufzuheben. Partei und Militär sollen in Zukunft gleichgeordnet sein und die militärischen Angelegenheiten vom Militär, nicht von der Partei entschieden werden.

Es ist nicht schwer, hinter dieser Entscheidung die konkrete innenpolitische Situation zu sehen, die durch diese Entscheidung sanktioniert wird. Zweimal hat das Militär in die Geschichte des nachstalinistischen Rußland miteingegriffen: in der Beria-Krise und beim Sturz Malenkows. Seit dem Tode Stalins kann im Kreml nur regieren, wer das Militär — und das bedeutet konkret: die Gruppe der Marschälle — zum Bundesgenossen hat. Das nachstalinistische Rußland wird beherrscht durch das Bündnis von Partei und Militär. Das Militär ordnet sich zwar der politischen Führung des Sowjetsystems durch die Partei unter, dafür mischt sich aber die Partei nicht mehr unmittelbar in die militärischen Angelegenheiten ein, die mit der Verfügung über die Atomindustrie und das Warschauer Paktsystem zu einem Reich im Reich geworden sind.

Von der neuen starken Stellung des Militärs erhofft das russische Volk ein Gegengewicht der Normalisierung gegenüber dem Radikalismus der Partei. Die Kräfte des russischen Patriotismus und Nationalismus, die vor allem im Militär verkörpert sind, arbeiten zwar sicherlich mit Geschieh und Beharrlichkeit daran, die Überspannung des Bogens, die Stalin mit Hilfe der Partei und der Tscheka zum Schaden Rußlands erzwang, wieder in Ordnung zu bringen, aber sie sind gleichzeitig auch die konsequentesten Vertreter der russischen Staatsräson und des russischen Imperialismus. Mit dem Bündnis von Militär und Partei ist in die sowjetische Politik, die bisher nur von den undurchsichtigen Machtkämpfen zwischen den einzelnen Cliquen im Kreml bestimmt wurde, eine neue, konstante, aber auch gefährliche Kraft eingetreten.

Neostalinismus Die heillose Verwirrung, die durch die offizielle Abkehr von Stalin in weiten Kreisen der öffentlichen Meinung des Westens entstanden ist, war gewiß nicht unbeabsichtigt. Die Illusionen, die aus der Mesalliance von Unkenntnis und Hoffnung entspringen, waren stets die stärksten Bundesgenossen des Sowjetsystems. Von diesen Illusionen bleibt wenig übrig, wenn man die Abkehr vom Stalinismus untersucht unter Anwendung derjenigen Kategorien, die die Russen selbst anwenden.

Abkehr vom Stalinismus bedeutet für die Russen in erster Linie die Reform der Kolchose. Unter Malenkow erste Schritte in dieser Richtung, unter Chruschtschow nichts mehr davon. Im Gegenteil: Nah der Nationalisierung des Grund und Bodens — erste Agrarrevolution — und der Einführung der Kolchose — zweite Agrarrevolution — soll nunmehr die dritte Agrarrevolution, die Verwandlung des Kolchosbauern in einen landwirtschaftlichen Staatsarbeiter beginnen.

Abkehr vom Stalinismus bedeutet für die Russen ferner eine Industrialisierung ohne Stachanowismus und unter maximaler Entwicklung der Leichtindustrie. Unter Malenkow erste Schritte in dieser Richtung, unter Chruschtschow und Bulganin Rückkehr zur forcierten Industrialisierung, insbesondere auf den Gebieten der Schwerindustrie und Energiewirtshaft. Die Parole: „den Westen in geshihtlih kürzester Frist einholen“, kann nur durh die weitere Steigerung des stahanowistishen Druckes verwirkliht werden. Das Shwergewiht der sowjetishen Wirtshaft liegt weiterhin auf der Rüstungsindustrie und setzt damit ein beunruhigendes Fragezeihen hinter alle Lippenbekenntnisse zur Koexistenz, Entspannung und Abrüstung.

Abkehr vom Stalinismus bedeutet für die Russen shließlih größere geistige Freiheit. Unter Malenkow Tauwetter, aber unter Chrushtshow ein neuer Kälteeinbruh.

Was bleibt also von der Abkehr vom Stalinismus? Nihts weiter als Konzessionen oder rihtiger Versprehen im Interesse der Natshalstwo: keine neue Einmanndiktatur, kein neues Terrorregime der Tsheka, erweiterte Mitsprahrehte in der Planung und Verwaltung. Und Konzessionen an die Bevölkerung in dem Bemühen um weitere Besserung des allgemeinen Lebensniveaus und der sozialen Verhältnisse im neuen Fünfjahrplan.

Die Konzessionen an die Natshalstwo und die Bevölkerung wurden im wesentlihen erzwungen durh die zunehmende Industrialisierung. Die Natshalstwo soll jetzt als Partner in die Führung ausgenommen werden, und die Arbeitershaft soll niht mehr allein durh unmittelbaren Zwang, sondern auch durh materielle und soziale Anreize zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität veranlaßt werden.

Was ist also die bisherige Abkehr vom Stalinismus in Wirklihkeit? Neostalinismus, weiter nihts. Die alten Stalinisten können sih niht mehr auf Stalin berufen. Niemand kann sih auf ihn berufen, ohne sih selbst und seiner Sahe zu schaden. Darum berufen sie sih auf Lenin, ohne die Konsequenzen aus dem leninistishen Volksmythos zu ziehen, ohne eine ehte Abkehr vom Stalinismus in der Agrar-, Industrie-und Kulturpolitik durhzuführen. Die Person Stalin wird geopfert, um das Werk Stalins zu erhalten. Die inneren Probleme, die gelöst werden müßten, bleiben ungelöst. Der alte, eingefahrene Apparat läuft auf den alten Gleisen weiter. Gewiß — die sowjetishe Kritik an Stalin hat den ersten Damm durhbrohen und kann nun von der Person vielleicht auh auf das Werk übergreifen. Auh stellen die bisherigen Konzessionen an die Natshalstwo und die Bevölkerung, verglihen mit der Situation unter Stalin, einen großen Fortshritt dar und können einen möglihen Ansatzpunkt neuer, positiver Entwicklungen bilden. Aber gemessen an den objektiv notwendigen Veränderungen, zu denen die von Stalin ererbten Mißstände das Sowjetsystem veranlassen müßten, oder gemessen an dem Programm der Reform, zu dem sih eine großer Teil des Natshalstwo, der Intelligenz und der Massen innerlih bekennt, sind diese Konzessionen wenig, fast nihts. Und gemessen an dem, was Malenkow begann, sind sie ein Shritt zurück.

Die Kräfte in der Sowjetunion, die für ein neues, besseres Rußland arbeiten, wissen, daß noh ein langer, beshwerliher und gefährliher Weg sie von ihrem Ziele trennt.

Frieden auf Zeit

Die Sackgasse Die große Gemeinschaft der Gefangenen und Verbannten, die in den Lagern und Siedlungen der Strafgebiete lebt, ist eine internationale Gemeinschaft. Fast alle Völker sind in ihr vertreten, die Russen und die Volksgruppen der Sowjetunion, aber auch die Nationen Europas und Asiens aus den von der Sowjetunion besetzten Gebieten.

Mit jedem neuen Transport, der in den Strafgebieten eintrifft, schüttet das große Netz triumphierend seinen Fang aus: Koreaner, Mongolen, Japaner von Sachalin, Chinesen und russische Emigranten aus Nordchina, Perser, Armenier und Türken aus den Grenzgebieten, Staatsangehörige aller besetzten Länder Osteuropas, Deutsche aus der Zone und aus Westdeutschland, Angehörige der westlichen Besatzungsmächte, die in Berlin oder Wien in die Hände der Sowjets fielen, Matrosen und Fischer, aufgebracht bei Konflikten in sowjetischen Küstengewässern, und dazu die als Kriegsverbrecher verurteilten Kriegsgefangenen aller geschlagenen Armeen des letzten Krieges.

Im Lager empfangen die Gefangenen auf der Bekleidungskammer Arbeitszeug, in der Siedlung kaufen die Verbannten für ihr letztes Geld alte Wattesachen: schon unterscheiden sie sich nicht mehr von der großen grauen Armee des Elends. In den Fabriken, Schächten und Baustellen warten auf sie bereits die Arbeitsplätze. „Zum Teufel, du Nicht-Russe, du denkst wohl, du bist in einen Kurort gekommen“, höhnen die Alten, „dawai, pack an!“ Nath kurzer Zeit verrichten die Neuen ihre Arbeit so gut oder so schlecht wie jeder andere. Nach einigen Tagen können sie russisch fluchen, nach einigen Jahren russisch reden. Nath außen sind sie aufgegangen in der großen Gemeinschaft, nach innen leben sie ihr eigenes Leben im kleinen Kreis der Landsleute weiter.

Wenn die Russen von der Kolchose oder vom Stachanowismus oder vom Terror berichten, so erzählen die Ausländer von ihren Erfahrungen unter der sowjetischen Okkupation. Es ist immer dieselbe Geschichte von verlorenen Kämpfen und enttäuschten Hoffnungen, von Betrug und Vergewaltigung, von Unrecht und Willkür. Es ist die Geschichte des Sowjetsystems, einmal von Rußland, einmal vom Ausland her gesehen, aber es ist ein und dieselbe Geschichte.

Im sowjetischen Machtbereich gibt es keine nationale Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Ob es sich um einen souveränen Staat wie Ungarn handelt oder um eine der sechzehn Sowjetrepubliken — kein Unterschied in den politischen Zielen und Methoden. „Wir waren für die Agrarreform“, erklärte Dr. Schänder von Szinney, der in unserer Brigade arbeitete, „wir wollten aus dem feudalen Ungarn eine moderne Demokratie machen, aber nicht eine Sowjetrepublik. Im Frühjahr 1947 haben mich ungarische Polizisten in meinem Amtszimmer im ungarischen Ernährungsministerium verhaftet. Aber im Auto, das auf der Straße wartete, saßen russische Offiziere, legten mir Handschellen an und fuhren mich ins MGB-Gefängnis. Nach einem Jahr der üblichen Verhöre mit den üblichen Methoden erhielt ich mein Urteil: 25 Jahre wegen konterrevolutionärer Umtriebe.“

Ebenso gefährlich wie die tatsächlichen Gegner sind die möglichen Gegner. „Ich habe mich nie mit Politik beschäftigt“, sagte der slowakische Lehrer, der als Sanitäter im Lagerhospital arbeitete, „ich habe Mathematik und Naturwissenschaften am Gymnasium in Preßburg unterrichtet und im übrigen für meine Familie gelebt. Gleich nach der Besetzung haben sie mich verhaftet, zu 25 Jahren verurteilt und in das Waldgebiet südlich von Workuta gebracht. Wir waren zu Anfang etwa 300 Slowaken in einem Sonderlager von rund 2000 Gefangenen aus den Volksdemokratien. Die anderen waren zumeist genauso unschuldig wie ich: Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten, Apotheker, Beamte — um ein Volk zu bolschewisieren, muß man zuerst die alte Ober-und Mittelschicht liquidieren. In unserem Waldlager besorgten das nicht die Maschinengewehre wie bei den polnischen Offizieren in Katyn, sondern das Sumpffieber, der Hunger und die Normen. Als ich 1951 hierher geschafft wurde, lebten von den 300 Landsleuten noch 49. Wie viele mögen haute noch leben?“

Der Kreml bestimmt die politische Linie, der sich alle zu beugen haben. „Wir haben uns niemals gebeugt. Als die Deutschen in unser Land einfielen“, berichtete Mirko Koskovitsch, „klappte ich meine Kolleghefte zu und flüchtete mit einigen Kameraden in die Bergwälder hinter Agram. Ich habe den Partisanenkrieg unter Tito mitgemacht, vom ersten bis zum letzten Tage. Viermal bin ich verwundet worden. Nach dem Kriege war ich Korrespondent einer jugoslawischen Zeitung in Sofia. Ich bin Kommunist. Aber die Fehler, die die Sowjetunion hier gemacht hat, wollen wir bei uns vermeiden. Im Juni 1949 wurde ich frühmorgens in meiner Wohnung in Sofia verhaftet, nach Moskau geflogen und in die Lubjanka gebracht. Die jugoslawische Regierung forderte, wie mir Landsleute später erzählten, meine Auslieferung. Ich wurde aus der Lubjanka ausgeliefert, aber nach Workuta: 15 Jahre wegen angeblicher Spionage."

Das System schont nicht die eigenen Leute: Gestern ein Held, morgen ein Verbrecher. „Als wir nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges — die Sowjetunion hatte uns das Asylrecht gewährt — in Odessa an Land gingen, knieten wir alle nieder und küßten die heilige russische Erde, die das Proletariat durch seine glorreiche Revolution befreit hat.“ Der alte zahnlose Jose spukte aus. „Ein halbes Jahr arbeitete ich in Odessa bei der Eisenbahn, ich bin nämlich Eisenbahner aus Barcelona, nach einem halben Jahre wurde ich verhaftet. Seit fünfzehn Jahren schufte ich im Lager — ich weiß nicht wofür —, und zehn Jahre habe ich noch abzusitzen. Aber alle diese Jahre hat unsere Führerin, die Passionaria, in Moskau in Glanz und Pracht gelebt, zum Lohn dafür, daß sie die gesamte spanische Emigration verkauft hat. Heute verfluche ich die heilige russische Erde. Ich wollte, ich hätte sie nie gesehen und betreten."

So ist das Lager die Sammelstelle für alle Opfer der Revolution. Zu den Erfahrungen, die der einzelne persönlich gemacht hat, gewinnt er im Lager die Erfahrungen der Kameraden hinzu. Das Lager ist der beste Schulungskurs über Wesen und Ziele des Sowjetsystems und über die Methoden seiner Bekämpfung und Überwindung. Keine Universität der Welt könnte ein solches Studium bieten — so umfassend und so gründlich . und noch dazu kostenlos.

Die Erfahrungen, die der Ausländer im sowjetischen Strafgebiet gesammelt hat, bringt er in seine Heimat mit. Vom Jahre 1950 an setzte die rückläufige Bewegung ein. Als erste verließen die Chinesen das Lager, um ihrer eigenen, bereits stabilisierten Regierung übergeben zu werden. Im nächsten Jahr, 1951, folgten die Koreaner. Im Winter 1951/52 wurden alle österreichischen Staatsangehörigen aus den Strafgebieten zur Repatriierung bereitgestellt. Damals bereitete der Kreml die Wendung in seiner Deutschlandpolitik vor, die in der Note vom 10. März 1952 hervortrat. Dennoch mußten die Österreicher, da in der Deutschlandfrage kein Fortschritt erzielt wurde, noch volle drei Jahre in Sondergefängnissen warten, bis sie nach Abschluß des Staatsvertrages im Sommer 19 55 in die Heimat entlassen wurden.

Die im Sommer 195 3 versprochenen Amnestien für die sowjetischen Staatsangehörigen wurden ab 1954 durchgeführt und Schritt für Schritt erweitert, so daß es zu einer Lockerung und teilweisen Auflösung des Lagersystems kam. Gleichzeitig begann die allgemeine Repatriierung der Ausländer. Zunächst wurde im Sommer 1953 ein kleiner Teil der deutschen Kriegs-und Zivilgefangenen in die Heimat zurückgeschickt. Zwischen Dezember 1954 und März 195 5 wurden fast alle deutschen Zivilgefangenen aus allen Strafgebieten in Sonderlagern zur Repatriierung gesammelt. Und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem noch nichts von der Entspannung zu spüren war, die mit der Genfer Konferenz der Staatsoberhäupter im Sommer 195 5 und dem Besuch Dr. Adenauers in Moskau im Herbst 1955 eintrat. Vielmehr hatte in dem Augenblick, in dem beispielsweise wir Workuta verließen, die Spannung einen dramatischen Höhepunkt erreicht mit der Formosa-Krise, mit der Auf-kündigung der englisch-sowjetischen und französisch-sowjetischen Verträge und der Bereitstellung von Truppen entlang der sowjetischen Westgrenzen —, letzteres wurde uns von Eisenbahnern, die die Truppentransporte an den verschiedensten Orten selbst gesehen hatten, immer wieder berichtet. Offenbar wollte der Kreml mit dem offensiven Schachzug des Winters 1954/55 den weiteren Schachzug der Entspannung einleiten und erzwingen — ein typisches Beispiel für die aus langer Sicht geplante sowjetische Außenpolitik.

Zusammen mit den deutschen Zivil-und Kriegsgefangenen wurden ab Herbst 195 5 auch die Japaner repatriiert. Gleichzeitig begann die Heimführung von Staatsangehörigen aller osteuropäischen Satelliten-Staaten. Es ist offensichtlich, daß die Sowjetunion die Ausländer aus den Strafgebieten im Zusammenhang mit der Lockerung und teilweisen Auflösung des Lagersystems abzuschieben wünscht ").

Unter den Erfahrungen und Erkenntnissen, die die Ausländer mitbringen, steht an erster Stelle das Erlebnis der Sackgasse, des Tupik, wie wir im Lager sagten. Das sowjetische System hat sich unter Stalin in einer Sackgasse festgefahren. Um in einer neuen Richtung freiere Fahrt zu finden, mußten daher zunächst einige Schritte nach rückwärts gemacht werden. In der kleinen Welt des Lagers waren solche Schritte nach rückwärts die Lockerung und teilweise Auflösung des Lagersystems und die Repatriierung der Ausländer. In der großen Welt des sowjetischen Machtbereiches waren solche Schritte nach rückwärts der Neue Kurs Malenkows oder die Kritik des Stalinismus durch Chruschtschow. Der von Stalin überspannte Bogen mußte im kleinen wie im großen entspannt werden. Wider Willen hat der Kreml sich auf ein Experiment einlassen müssen, über das er die Kontrolle verlieren kann, und dessen Ergebnisse noch nicht feststehen.

In der Situation des Tupik, der Sackgasse, haben sowohl die evolutionären als auch die oppositionellen Kräfte innerhalb des sowjetischen Machtbereiches eine gewisse Chance, die Entwicklung, die sich aus dieser Situation ergeben wird, in einem positiveren Sinne zu beeinflussen. Die gleiche Chance von außen haben die Kräfte der Freien Welt, wenn sie die Gesamtsituation erkennen und durch eine richtige und kühne Initiative zu nutzen verstehen.

Tatarenrezepte Hinter dem freundlichen Lächeln der Entspannung, das die sowjetischen Staatsmänner heute zur Schau tragen, müssen wir die wirklichen, konstanten Ziele und die spezifischen Methoden der sowjetischen Außenpolitik zu erkennen suchen. Seit sich Rußland im Jahre 1480 vom Tatarenjoh befreite, hat es durch alle Jahrhunderte hindurch die Ausdehnung nah Asien und zugleih die Ausdehnung nah Europa im Zuge des Dranges zum offenen Meer — Ostsee, Schwarzes Meer und über Konstantinopel zum Mittelmeer — zur unveränderlihen Grundlage seiner Außenpolitik gemäht. Hierbei wehsein in einem für die russishe Geshihte typishen Rhythmus kurze Perioden der Expansion mit langen Perioden der Stagnation ab.

Nahdem Rußland unter Peter dem Großen in den Kreis der europäishen Großmähte eingetreten war, hat es in den Perioden der Expansion unter dem alten wie unter dem neuen System beharrlih die Ziele seiner Europapolitik zu erreihen versuht, die im Testament Peters des Großen von 1725 mit klassisher Klarheit festgelegt sind ) *:

Beherrshung der Ostsee durh die Zershlagung des Shwedishen Großreihes, Beherrshung Osteuropas durh die Eroberung des Polnishen Reihes und Beherrshung des Shwarzen Meeres und Ostmittelmeeres durh die Unterwerfung Persiens und der Türkei; auf dieser Grundlage sei der Vorshlag zur Teilung der europäishen Welt an Frankreih oder an das — damals von Österreih geführte — Deutshe Kaiserreih zu rihten und shließlih die Herrshaft über Europa zu erreihen, indem Rußland entweder im Bunde mit Frankreih Deutshland oder im Bunde mit Deutshland Frankreih vernichte.

Zweimal war Rußland nahe daran, eine solhe vollständige Herrshaft über Europa zu erlangen. Alexander L, der Sieger über Napoleon im Bunde mit Großbritannien und den Mähten der europäishen Mitte, konnte Europa seinen Willen diktieren, darum stellten Großbritannien und Österreih die Mäht des geshlagenen Frankreih und damit das europäishe Gleihgewiht wieder her. Stalin, der Sieger über Hitler im Bunde mit den Westmähten, dehnte seine Herrshaft bis zur Elbe aus; um das Gleihgewiht wiederherzustellen, haben daher die USA den Wiederaufbau Westdeutshlands unterstützt und Westeuropa in die atlantishe Gemeinshaft eingeshlossen.

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist die Sowjetunion auf dem eurasiatischen Kontinent die Macht der Mitte geworden. Den Kontinent auf diese Mitte politisch und militärisch, sozial und wirtschaftlich einzuordnen, zu sowjetisieren und dadurch zu beherrschen, ist das Ziel der sowjetischen Außenpolitik. Die unbestrittene Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent würde aber die Vorherrschaft in der Welt nach sich ziehen. Denn die Inselkontinente, die die europäisch-nordafrikanisch-asiatische Festlandmasse umgeben, würden in dem Augenblick zu isolierten Inseln, in denen sie den Einfluß auf die Gegenküsten Europas und Asiens verlieren.

Im Fernen Osten hofft die Sowjetunion in Rotchina — fast 600 Millionen mit einem jährlichen Zuwachs von etwa 10 Millionen — den permanenten Partner für die Hegemonie über Asien gefunden zu haben. In Europa hat sie bisher keinen permanenten Partner finden können. Der Suche nach dem europäischen Partner entspringen die sowjetischen Angebote der Volksfront, der Friedensfront oder der Nationalen Front, abwechselnd mit offenen oder verhüllten Versuchen zur Bolschewisierung. Die Methoden der sowjetischen Außenpolitik benutzen nebeneinander die des alten klassischen Machtstaates und die des neuen Sozial-revolutionären und industrialisierten Machtstaates. Das russische Rezept, einen Tataren mit dem anderen zu fangen, hat Iwan III. als erster angewandt und damit die Grundlagen des russischen Staates gelegt. Er hetzte die Krimtataren auf die LIraltataren und blieb, während die einen die anderen bekämpften, zunächst selbst neutral, um dann das Erbe der beiden erschöpften Gegner anzutreten.

Auch die Bündnispolitik Alexander I. gegen Napoleon war auf dieses Tatarenrezept gegründet. In ähnlicher Weise hat Stalin die russische Macht auf ihren bisher höchsten Gipfel geführt, indem er sich im Kampfe zwischen Hitler und den Westmächten die unschlagbare Position des Dritten sicherte und gleichzeitig durch die Propaganda eines sozialrevolutionären Antifaschismus seinen Verbündeten die eigenen Kriegsziele aufzwang.

Dasselbe Spiel versuchte Stalin nach dem Kriege im Fernen Osten zu wiederholen. Der provozierte Koreakonflikt sollte zu einem Kriege zwischen China und den USA führen, in dem die Sowjetunion wiederum die Position des Dritten zu erlangen und aus der Schwächung beider Gegner Nutzen zu ziehen hoffte.

Zu den immer wieder angewandten Methoden der sowjetischen Außenpolitik gehört es, die offensive Doppelrichtung ihrer Politik nach Asien und nach Europa zu ihrem Vorteil auszuspielen. Hinter dem Rauchvorhang der Berliner Krise, die die Aufmerksamkeit der Freien Welt auf die blockierte Stadt konzentrierte und überdies dazu zwang, Piloten und Flugzeuge von der chinesischen Front abzuziehen, vollzog sich der Blitzkrieg der chinesischen Kommunisten. Nach dem Siege in China gab Stalin in Berlin nach. In ähnlicher Weise bemühen sich heute die Nachfolger Stalins, den Status quo in Europa wie im Fernen Osten starr zu behaupten und gleichzeitig im Vorderen Orient offensiv zu werden, in der Erwartung, einen weiteren Gewinn — sei es auch um den Preis eines späteren, zeitweiligen Nachgebens in einer dieser drei Richtungen — konsolidieren zu können.

In diesem schrittweisen Vordringen Rußlands nach allen Seiten tritt das Eigentümliche seiner geschichtlichen Position deutlich hervor. Gegen die Unterwerfung mit den Mitteln der konventionellen Kriegsführung ist Rußland durch seine Raumweite geschützt, an der Napoleon wie Hitler scheiterten. Daher hat Rußland bisher nur Kriege an der Peripherie seines Großraumes verloren und nur dann, wenn das System im Inneren bereits so überholt und brüchig war, daß es der Anstrengung eines Krieges nicht mehr standhalten konnte. Solche Niederlagen gaben der russischen Opposition die Möglichkeit, Reformen zu erzwingen. So folgten auf die Niederlage im Krimkrieg die Aufhebung der Leibeigenschaft, auf die Niederlage im Russisch-Japanisdien Krieg die Einberufung einer Volksvertretung und auf den Zusammenbruch im ersten Weltkrieg die bolschewistische Umwälzung. Infolge dieser Reformen und Revolutionen ging aber Rußland aus seinen peripheren Niederlagen im Ergebnis nicht schwächer, sondern stärker hervor. Wenn Ruß-land nur von innen, im Bunde mit der russischen Opposition besiegt werden kann, so erweist sich ein solcher Sieg über Rußland geschichtlich als ein Sieg Rußlands. Daraus erklärt sich die zutiefst beunruhigende Tatsache, daß Rußland, seit es in die Geschichte eingetreten ist, ständig an Macht gewonnen hat-Während die europäische Außenpolitik seit langem im wesentlichen von bürgerlichen Juristen geführt wird, die in den statistischen Begriffen der europäischen Rechts-und Raumordnung denken, wird die sowjetische Außenpolitik von Berufsrevolutionären geleitet, die in den dynamischen Begriffen der Weltrevolution denken. Der sowjetische Berufsrevolutionär steht in der großen Tradition der russischen Revolution, die seit dem Dekabristenaufstand von 1825 bereits über ein Jahrhundert durchlaufen hat. Er arbeitet mit der Taktik des Katorgans, des Plotnoi und des Partisanen und fühlt sich seinem bürgerlichen Gegner so überlegen wie der räudige Wolf der sibirischen Wälder dem edlen, wehrlosen Hirsch. Nicht umsonst nennt der Plotnoi sein bürgerliches Opfer Olen-Hirsch.

Die Taktik der russischen Revolutionäre vermeidet den Frontalangriff. Sie verwendet die Mittel des plötzlichen Zuschlagens an der schwächsten Stelle und eines offengehaltenen Verhandelns auf breiter Basis immer gleichzeitig. So schafft sie auf der einen Seite vollendete Tatsachen, während sie auf der anderen Seite die Verhandlungen endlos hinzieht, bis die vollendeten Tatsachen nicht mehr rüdegängig zu machen und mindestens de facto anzuerkennen sind. Sie benutzt auch einen Rückzug stets zu neuer Offensive: hier einen Schritt zurück, dort zwei Schritt voran. Sie täuscht den Gegner, um ihn später desto leichter schlagen zu können, und nutzt den Geschlagenen als Faustpfand aus, um ihn nur für andere Vorteile wieder freizugeben. Sie operiert bald mit der Angst, die der Druck erzeugt, und bald mit der Hoffnung, die die Propaganda hervorruft. Sie isoliert den Starken, kauft den Schwankenden und belohnt den Gehorsamen, solange sie ihn braucht. Sie setzt niemals auf eine Karte allein, sondern baut ihre Politik von vornherein mehrgleisig auf, um für alle Fälle gerüstet zu sein und mit entgegengesetzten Möglichkeiten das eigentlich Gewollte zu tarnen. Sie verliert nie die Nerven. Sie läßt sich Zeit, weil sie in der Zeitlosigkeit Asiens lebt, und plant doch Zug für Zug auf lange Sicht, weil sie die modernen Kategorien der technisch-ökonomischen Planung beherrscht.

Wie im Kriege eine neue Waffe kriegsentscheidend ist, bis die Gegen-waffe auftritt, so ist in der Politik ein neuer Typ so lange im Vorteil und am Zuge, bis er durch den Gegentyp in seine Schranken gewiesen wird.

Die Lehre von Workuta Unvorbereitet traf das deutsche Volk auf diesen Gegner, dessen Gegenangriff es selbst ausgelöst hat, so wie der Tor die Lawine los-tritt, die ihn verschüttet. „Wenn wir das, was wir heute über die Sowjetunion wissen, schon früher gewußt hätten, so wären wir nicht hier", sagten viele Deutsche in Workuta. In der Tat, es ist erstaunlich, mit welcher Naivität, Treuherzigkeit und Gutgläubigkeit die meisten von uns — Sozialdemokraten wie auch Angehörige der beiden bürgerlichen Parteien — die Parolen der Propaganda in der Sowjetzone für Wirklichkeit genommen haben. Es bedurfte für viele offenbar erst des bitteren Umweges über Workuta, um die Realität der veränderten Weltlage in ihrer vollen Gefahr zu sehen. Die Lehre, die jeder einzelne aus seinem Weg nach Workuta und zurück in die Heimat gezogen hat, ist eine je verschiedene, seine eigne Wahrheit, aber sie ist nicht nur eine negative, sondern auch eine positive, weil sie mit der Gefahr auch die Möglichkeiten der Abwehr und der Überwindung kennt.

„Ich glaubte daran“, erklärte ein Lehrer aus Brandenburg, „daß das Programm der Vereinigung von SPD und KPD eingehalten würde, zumal wir Sozialdemokraten innerhalb der SED in der Mehrheit und in der Zone die stärkste politische Bewegung waren. Sozialer Fortschritt: ja, sozialer Rückschritt durch Bolschewisierung: nein, so dachten wir damals, so denke ich auch heute. Aber die Politik einer dritten Kraft zwischen den beiden Giganten im Osten und Westen hatte damals noch keine Chance. Als wir allmählich erkannten, was tatsächlich gespielt wurde, schlossen wir uns enger zusammen und begannen, im Stadtrat und in der Kreisleitung der Partei zu opponieren. Im Herbst 1947 wurden die Aktivisten aus unserer Gruppe plötzlich alle verhaftet, die einen kamen ins Zuchthaus nach Bautzen, die anderen hierher. Aber alle, die zu Hause übrigblieben, haben inzwischen offenbar gelernt, was wir noch nicht verstanden: wann man den Mund halten und wann man auf die Straße gehen muß, wie am 17. Juni.“

„Mit den Enteignungen in den beiden ersten Jahren der Besatzung“, sagte ein Kreisgeschäftsführer der CDU aus Thüringen, „war im Grunde schon alles entschieden. Dennoch glaubte keiner von uns, daß die Sowjetunion es wagen könnte, eine totale Bolschewisierung der Zone durchzuführen. Heute verstehe ich, daß die Spaltung wohl nicht zu vermeiden war: um den größeren Teil Deutschlands zu retten, wollte man den kleineren Teil zunächst opfern. Wenn allerdings das Provisorium der Spaltung noch lange anhält, so wäre für uns der nationale Verlust größer als der Gewinn und die Politik, die die Grenzen des Sowjetsystems von der Oder zur Elbe vorgerückt hat — noch dazu in einer Zeit, in der die USA das Atommonopol besaßen —, als recht kurzsichtig erwiesen. Heute verstehe ich auch, daß das Ergebnis der Pariser Außenministerkonferenz vom Sommer 1949: Jeder tue in seiner Zone, was ihm beliebt, solange er nicht den anderen angreift", die Spaltung Europas und Deutschlands zwar nicht rechtlich, aber doch faktisch sanktionierte und damit der Sowjetunion die Möglichkeit gab, auch Mittel-deutschland rücksichtslos zu bolschewisieren. Das war für den Restbestand der bürgerlichen Kräfte in der Zone eine Art Todäsurteil.

Hätte ich die Lage damals richtig verstanden, so hätte ich vernünftigerweise flüchten müssen. Statt dessen blieb ich. Idi hatte mich ganz in die Aufgabe verbissen, die ich mir gesetzt hatte. Ich kämpfte in unserem Kreis für die Aufrechterhaltung jeder einzelnen Position unserer Partei und machte mich dort zum Sprecher des allgemeinen Widerstandes gegen die verfassungswidrige Einheitsliste bei den für Herbst 1950 vorgesehenen Wahlen. Ergebnis: Verhaftung im Sommer 1950, Verurteilung zu 2 5 Jahren und ab nach Workuta. Manchmal allerdings meine ich, es war doch nicht so sinnlos, daß ich blieb und verhaftet wurde. Nach Berlin fahren und mit der Straßenbahn für zwanzig Pfennig emigrieren —, das ist auch keine Lösung. Die nationale Sache ist nur so viel wert als die Opfer, die man ihr zu bringen bereit ist.“

Neben den Opfern des Systems hatten wir im Lager die Opfer des Zufalls. Ein Volkspolizist war wegen Spionage zu fünfzehn Jahren verurteilt worden, weil er an einer Sperre von einem mitleidigen Ausländer eine Schachtel Zigaretten und eine Büchse Nescafe geschenkt erhielt. Ein pflichtbewußter Kamerad hatte ihn angezeigt. „Du hast Spionagematerial übergeben, wofür hätte er dir sonst Zigaretten und Nescafe geschenkt?“

Auch die Jugend, die die unmenschliche Not der Nachkriegszeit auf den Schwarzen Markt getrieben hatte, war im Lager vertreten. Als sie nach der Währungsreform nicht mehr mit amerikanischen Zigaretten handeln konnten, schrieben sie in der Zone sowjetische Autonummern auf und verkauften sie in Westberlin. „ 50 Pfennig West gaben sie uns für jede Nummer, und die Russen gaben uns dafür 25 Jahre.“

Unter den rund hundert Deutschen unseres Lagers befand sich auch ein alter Kommunist. Er hatte zwölf Jahre im Konzentrationslager in Dachau zugebracht und nach Kriegsende zunächst einen führenden Posten in der Verwaltung in Mecklenburg bekleidet. Aber im Konzentrationslager hatten sich seine Ansichten in anderer Richtung entwickelt als die seiner Genossen in der Moskauer Emigration. Daher wurde er bald auf geringere und immer geringere Posten abgeschoben und schließlich verhaftet. „Warum bist du eigentlich Kommunist geworden?" fragte ich. „Mein Vater war ein einfacher Arbeiter. Wir waren neun Kinder zu Hause. Erst als der Jüngste aus der Lehre kam, konnte sich mein Vater zum erstenmal wieder ein Glas Bier kaufen. Meine Mutter hat immer davon geträumt, einen Urlaub in den bayerischen Bergen zu verbringen. Als alte Frau ist sie gestorben und hat nie die Berge mit eigenen Augen gesehen. Siehst du, weil ich in solchen Verhältnissen groß geworden bin, darum bind ich Kommunist geworden.“ „Und bist du auch heute noch Kommunist?“ „Nein. Der alte deutsche Kommunismus ist tot. Moskau hat ihn liquidiert. Und was die Russen im eigenen Lande aufgebaut haben, mögen sie es noch so sehr als Sozialismus anpreisen, hat nichts mit Sozialismus zu tun. Es ist Faschismus, ein großrussischer Faschismus, weiter nichts. Eine privilegierte Herrenschicht und darunter Millionen entrechteter, ausgebeuteter Arbeiter und Bauern und nach außen die Ausplünderung der besetzten Gebiete —, genau das verstehe ich unter Faschismus. Darum ist es nur logisch, daß die braunen Faschisten mich in Dachau und die roten Faschisten mich in Workuta eingesperrt haben.“ „Aber warum gibt es noch immer Millionen fanatischer Kommunisten?"

„Es gibt solche, die Kommunisten wurden, so wie ich Kommunist wurde. Daran hat der Kapitalismus selbst schuld. Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keine solchen Kommunisten? Weil dort jeder tüch-. tige Arbeiter sein Auto und sein Eigenheim hat. Wo gesunde soziale Verhältnisse herrschen, wird der Kommunismus überflüssig.

Bleiben noch zwei Arten von Kommunisten. Die einen, das sind die bürgerlichen Intellektuellen, die ihrer selbst überdrüssigen Intellektuellen, die immer etwas Neues wollen und es darum auch einmal mit dem Kommunismus probieren. Wenn sie aber sehen, was der sowjetische Kommunismus wirklich ist, dann sind sie bekehrt, dann erleben sie ihr Workuta. Dann fangen sie an, alles schwarz zu malen, was sie früher als weiß gepriesen haben. Die Welt ist aber niemals schwarz oder weiß, sondern immer nur grau, mehr oder weniger grau. Diese Intellektuellen sind unruhige Irrlichter, die immer mit dem Salto des Radikalismus über die Realität wegspringen wollen, weil sie zu schwach sind, die Realität zu ertragen und zu gestalten.

Bleibt die dritte Art von Kommunisten. Das sind die Walter Ulbricht und Genossen, die Systematiker der Macht. Ihnen geht es nicht um den Arbeiter und den Bauern, nie um den Menschen, sondern immer nur um die Macht. Sie haben keine Idee, sie haben nur Parolen, die jeweiligen Parolen der Zentrale der Macht. Im System der Macht haben sie ihre Pfründen, Prämien und Privilegien. Darum sind sie alle für das System und das System kann alle gebrauchen, vorausgesetzt, daß sie bereit sind, sich zu allem gebrauchen zu lassen.

In der Sowjetunion funktioniert dieses System schlecht. Bei uns in Deutschland funktioniert es überhaupt nicht. In der Sowjetunion sind seit dem Tode Stalins die Kräfte erstarkt, die das System umbauen wollen. Wenn das geschieht, so hat auch für Mitteldeutschland die Stunde der inneren Befreiung geschlagen."

„Kann man überhaupt ein totalitäres oder — wie du selbst sagst — ein faschistisches System von innen heraus umbauen?“

„Jeder Russe im Lager — das weißt du selbst — bejaht diese Frage, soweit sie das Sowjetsystem betrifft. Ich bin kein Russe. Ich bin auch kein Soziologe, daß ich eine so allgemeine Frage beantworten könnte. Ich bin nur ein ehemaliger Kommunist, darum verstehe ich etwas vom Ablauf der Revolution. Die russische Revolution ist heute an einem Punkt angelangt — das habe ich hier in Workuta begriffen —, an dem ihre weitere Richtung neu bestimmt werden kann.

Das hat vor allem zwei Gründe. Seit es infolge der zunehmenden Industrialisierung überall komplizierte Maschinen gibt, muß hinter jeder solchen Maschine ein Arbeiter stehen, der nicht sabotieren, sondern wirklich arbeiten will. Daher können die Massen das System heute zwingen, ihnen anständige Lebensbedingungen zu geben, weil es sonst keinen Sinn hätte, freiwillig mehr und besser zu arbeiten. So wie wir hier in Workuta uns bald durch Arbeit, bald durch Widerstand mehr und mehr Freiheiten erkämpft haben, so kann es im ganzen Sowjet-system gehen. Das ist das eine. Die andere Tatsache aber ist, daß die Sowjetunion schon so viele Millionen Menschen für fehlgeschlagene Experimente geopfert hat, daß sie sich das in Zukunft nicht mehr leisten kann. Auch der Terror hat seine Grenzen. Die sowjetischen Massen und vor allem die sowjetische Intelligenz haben diese Situation erkannt und beginnen zu lernen, wie man sie ausnutzen kann.

Dabei geht es um eine große, grundsätzliche Sache. Die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit ist das Grundproblem unserer Zeit. Diese Auseinandersetzung kann aber nur auf dem Boden einer freiheitlichen Rechtsordnung, im Rahmen unabhängiger parlamentarischer Körperschaften und durch die stetige, gleichmäßige Weiterentwicklung der Wirtschaft geführt und zugunsten des arbeitenden Menschen entschieden werden. Sobald diese drei Voraussetzungen durch revolutionäre Gewalt ausgeschaltet werden, muß, wie im Sowjetsystem, der Mensch der Sklave des Apparates werden. Das Elend der breiten Massen hier und in der Zone beweist eindeutig und unwiderlegbar, daß die Moskowiter bisher auf dem falschen Wege sind.“

In diesem Augenblick unterbrach der Moskauer Student Aljoscha, der bisher schweigend zugehört hatte, unser Gespräch. „Was ihr da sagt, ist für uns nichts Neues. Das sind die alten Argumente der europäischen Revisionisten. Ihr habt gut reden. Bei euch gab es eine alte entwickelte Wirtschaft, in die die Arbeiterschaft als Partner eintreten konnte. Bei euch gab es eine freiheitliche Rechtsordnung und parlamentarische Institutionen, auf deren Boden eine Evolution möglich war. All das gab es bei uns nicht. Wir mußten nah dem Bürgerkrieg am Nullpunkt anfangen. Wir Russen in den Lagern haben das gleiche Ziel wie ihr. Aber Rußland mußte offenbar einen Umweg gehen. Zuerst mußte mit der Revolution die Industrialisierung vorangetrieben werden, erst jetzt kann begonnen werden, mit der Evolution die Normalisierung Schritt für Schritt zu erkämpfen.

Rußland war ein unterentwickeltes Land. Unterentwickelte Länder müssen nah neuen Prinzipien entwickelt werden. Wenn der Kapitalismus die unterentwickelten Gebiete wirklih entwickelt hätte, so würde niemand seinen Anspruh auf Weltherrshaft bestreiten, so gäbe es heute keinen Bolshewismus und keinen Mao-Tse-tung und auh keinen Nehru. Gerade das Beispiel Nehrus zeigt aber, daß man der Planung niht die Freiheit zu opfern brauht, wie wir Russen es in unserem Radikalismus zunähst getan haben. Jetzt stehen wir in der Sowjetunion vor der großen Aufgabe, die wir lösen müssen und lösen werden: die Freiheit in den Apparat wieder einzuführen, ohne den Apparat selbst zu zerschlagen.

Nur der, der diese Aufgabe versteht und zu ihrer Lösung beitragen kann, darf von sih sagen, daß er die Lehre von Workuta tatsählih gelernt hat.“

„Das ist niht unser Problem, sondern euer Problem.“

„Ihr irrt euh. Eure deutshen Fragen werden auh in Moskau gelöst. Von der Entwicklung der östlihen Welt könnt ihr euh so wenig absondern wie von der der westlihen Welt."

Weltspaltung und Weltausgleih Die Verklammerung des deutshen Schicksals mit dem Weltschicksal, auf der zu allen Zeiten Größe und Elend Deutshlands beruhten, ist noh niht gelöst. Durh den Zusammenbruh der deutshen Mitte in beiden Weltkriegen sind die Siegel der alten Weltordnung aufgerissen worden. Im Herzen Europas, an der Elbe prallen nun die beiden Welt-hälften aufeinander, deren menshheitsvernihtender Zusammenstoß nur durh das labile Gleihgewiht der Waffen aufgehalten wird.

Die deutshe Geshihte ist seit jeher in die des Westens wie des Ostens eingebettet, so hat auh die Verbindung der deutshen Geshihte mit der Rußlands tiefe Wurzeln. Der Sieg Friedrihs II. im Siebenjährigen Krieg und damit der Aufstieg Preußens zur deutshen Großmaht wäre niht geshehen, wenn niht der Zufall eines Thronwehseis in Rußland ihm im Augenblick der größten Bedrängnis den Rücken frei-gemäht hätte. Den Anstoß zur Befreiung von der napoleonishen Fremdherrshaft empfing Deutshland aus dem brennenden Moskau. Nur durh die Rückendeckung Rußlands gelang Bismarck die Einigung Deutshlands im Sieg über das Frankreih Napoleons III., und darum zerstörte die Wendung des Panslawismus gegen Deutshland und Österreih, die dazu beitrug, den ersten Weltkrieg auszulösen, das Bismarckshe Reih. Nur die vorübergehende Shwähung Rußlands durch den Ausbruh der bolshewistishen Revolution verhinderte damals, was 1945 geshah. Das Deutshland der Zwishenkriegszeit stieg auf, indem es seine Mittellage zwischen Ost und West ausnutzte, und brah auseinander im Zweifrontenkrieg gegen Ost und West.

Hätte Deutshland unter Hitler für die eine oder andere Seite optiert, so hätte die eine oder andere Welthälfte die Weltherrshaft erlangen können. Das labile Weltgleihgewiht, das seit 1945 eingetreten ist, beruht nicht zuletzt darauf, daß Gesamtdeutshland niht optiert hat und auh in Zukunft niht optiert. Eine gesamtdeutshe Option könnte jederzeit die deutshe Mittellage, die deutshe Volkszahl und die deutshe Wirtshaftskraft in die Waagshalen werfen und damit der einen oder anderen Seite auf die Dauer das Übergewiht geben.

Eine solhe gesamtdeutshe Option zu verhindern, ist daher der Sinn der Spaltung Deutshlands im System der gleichgewichtigen Weltspaltung. Eine gesamtdeutshe Option im eigenen Sinne auszulösen und zu beeinflussen, ist der Sinn der bisherigen Wiedervereinigungspolitik der USA wie der Sowjetunion — mindestens im Verdaht, den jede Seite gegen die andere hegt.

Die deutshe Option stand immer im Mittelpunkt der Europapolitik Stalins. Die Enthüllungen Chrushtshows auf der Geheimsitzung des 20. Parteitages haben bestätigt, daß Stalin den Nahrihten über den bevorstehenden Angriff Hitlers keinen Glauben schenkte: er war der Meinung, daß Hitler an dem Bündnis mit der Sowjetunion grundsätzlich festhalten werde. Nach dem Sieg bei Stalingrad benutzte Stalin das Nationalkomitee Freies Deutschland und die damit angedeutete Drohung eines erneuten Bündnisses mit einem nationalen Deutschland zur Erpressung gegenüber den Westmächten. Diese Erpressung trug dazu bei, auf den Konferenzen von Teheran und Jalta das westliche Einverständnis zu den sowjetischen Kriegszielen zu erlangen und Stalin den Weg nach Europa freizulegen.

In der Nachkriegszeit beruhte die Europapolitik Stalins auf der Option gegen Deutschland und für Polen sowie auf den Erwartungen, die er auf die Volksfront in Westeuropa setzte. Die Option gegen Deutschland führte zur rücksichtslosen Ausplünderung durch Reparationen, Demontagen, Gründung der SAG usw. und in diesem Zusammenhang zur Einsetzung der Moskauer Statthalter in Pankow und zur Bolschewisierung der Zone. Die Option für Polen suchte durch das Geschenk der Oder-Neiße-Grenze die Autorität der polnischen Kommunisten zu stärken und Polen für immer an die Sowjetunion zu binden. Auf der Grundlage seiner Herrschaft in Osteuropa glaubte Stalin im Bündnis mit den westeuropäischen revolutionären Kräften, die Herrschaft über Europa antreten zu können. Aber schon der Fehlschlag aller Hoffnungen, die auf die westeuropäische Volksfront gesetzt wurden, ließ das Problematische der Stalinschen Europapolitik deutlich hervortreten. Die Erfolge der westeuropäischen Integrationspolitik und der westdeutsche Wirtschaftsaufschwung mußten überdies den Kreml erkennen lassen, daß die Zeit in Europa nicht für, sondern gegen das Sowjetsystem arbeitet.

Durch die offenkundigen Mißerfolge seiner Europapolitik wurde Stalin selbst dazu veranlaßt, seine Deutschlandpolitik ab 1952 zu modifizieren. Dieser modifizierten Deutschlandpolitik Stalins sind seine Nachfolger bisher im wesentlichen treu geblieben. An die Stelle der alten Forderungen nach Reparationen und Ruhrkontrolle, die die Außen-ministerkonferenzen bis dahin blockierten, ist die Politik der Aufrechterhaltung des politischen und sozialen Status quo im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems getreten. Mit diesem Sicherheitssystem wünscht die Sowjetunion die USA zum Rückzug aus Europa zu veranlassen, die juristische und faktische Möglichkeit der permanenten Intervention in Gesamteuropa zu erlangen und mit einem bündnislosen Deutschland das politische Vakuum in Mitteleuropa zu schaffen, das sie seit Kriegsende angestrebt hat. Daß solche Vorschläge für die Westmächte und Deutschland unannehmbar sind, ist dem Kreml sicherlich klar; daß sie dennoch gemacht werden, beweist, daß der Kreml auf Zeitgewinn spekuliert.

Wenn der Kreml auch nach dem Tode Stalins im wesentlichen an dieser Europa-und Deutschlandpolitik festgehalten hat, so offenbar deswegen, weil diejenige Grundtendenz der sowjetischen Außenpolitik, die eine Beschränkung auf den eigenen Raum ablehnt und die Beherrschung Europas anstrebt, auch weiterhin vorherrscht. An sich wäre es für die Sowjetunion zweifellos vorteilhafter, die fehlgeschlagenen Versuche zur Bolschewisierung Deutschlands und Beherrschung Europas aufzugeben und ein freundschaftliches Verhältnis zu einem demokratischen Gesamtdeutschland zu finden.''Daß der Kreml dennoch seine der deutschen Nation verhaßten Statthalter in Pankow weiter stützt und eine Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit und Frieden nicht zuläßt, dafür sind vor allem zwei Gründe maßgebend: der unzweifelhafte Ausgang freier Wahlen in der Sowjetzone würde einen großen Prestigeverlust für das gesamte heutige Sowjetsystem bedeuten; darüber hinaus aber fürchtet der Kreml, daß auch ein demokratisches Gesamt-deutschland, wenn es souverän operieren kann, sich auf die Dauer gegen die Sowjetunion wenden würde.

Von neuem erweist sich, daß Deutschland seine nationale Ordnung nur im Rahmen einer übernationalen Ordnung finden kann. Der Verzicht auf die souveräne Option ist nur im Rahmen einer solchen übernationalen Ordnung möglich, und das zeitweilige Opfer einer gespaltenen Nation im Interesse des Weltgleichgewichts ist nur sinnvoll, wenn dahinter die Hoffnung auf einen dauernden Frieden, auf einen friedlichen Weltausgleich sichtbar wird.

Weltausgleich und Weltordnung Das Thema Deutschland gehört im Lager zu den Themen, über die am häufigsten gesprochen wird. Die Angehörigen der unterdrückten sowjetischen Nationen, die Balten, Westukrainer, Kaukasier und Mittel-asiaten,erwarten von einem nationalen Deutschland Hilfe in ihrem Befreiungskampf. Daß ein solches nationales Deutschland wohl ebensosehr der geschichtlichen Vergangenheit angehört wie ihre eigenen alten Konzeptionen nationalstaatlicher Souveränität, wird ihnen nur selten bewußt.

Anders ist die Einstellung der Russen. Sie fürchten ein Wiedererstarken Deutscilands, weil sie die Möglichkeit seiner Option gegen die Sowjetunion und seiner Revanche fürchten. Überdies malt die sowjetische Propaganda täglich das Gespenst eines neuen Krieges an die Wände der Losungen, um durch die Furcht vor dem Krieg die Massen in die schützenden Arme des Systems zu treiben und alle Kräfte für den Aufbau der Macht zu mobilisieren. Die Machtpolitik des Systems, durch Jahrzehnte verkörpert in der Person Stalins, ist aber den Massen wie der Intelligenz verhaßt: zu genau kennen sie den unerträglich hohen Preis der Entbehrung, Ausbeutung und Terrorisierung, den sie für die wachsende Macht des Sowjetsystems gezahlt haben und unter den Nachfolgern Stalins weiterzahlen müssen.

Ich habe unter den Gefangenen wie unter den Freien keinen Russen getroffen, der sich nicht leidenschaftlich zum Frieden bekannt hätte. Nicht noch einmal alles riskieren und verlieren, aber auch nicht vor dem Ausland kapitulieren, aufbauen und in Ruhe leben — das ist der Inhalt dieser Friedenssehnsucht. Würde der Kreml eine echte Friedenspolitik treiben, die sich auf die Sicherung und Entwicklung des eigenen Raumes beschränkte, so wäre er der allgemeinen Zustimmung und der Gefolgschaft im eigenen Lande sicher.

Der Haß gegen das alte Deutschland, den der Überfall und die Besetzung unter Hitler in großen Teilen der sowjetischen Bevölkerung zurückgelassen haben, ist mit der Zeit abgeklungen. Der Wille zur Versöhnung und Zusammenarbeit mit einem demokratischen Deutschland überwiegt. Die russischen Sozialisten, die in Opposition zum stalinistischen System stehen, setzen große Hoffnungen auf die europäische und deutsche Sozialdemokratie, weil sie von ihr eine moralische Unterstützung in ihrem Kampf gegen das System erwarten. Aber auch diejenigen Russen, insbesondere der jüngeren Generation, deren Opposition sich weniger gegen das System selbst als gegen seine Mißstände richtet, treten für eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Demokratien, vor allem mit den USA, ein, um die Modernisierung Rußlands voranzutreiben. Die Haltung gerade der jüngeren Generation gründet sich allerdings auf ein unerschütterliches Gefühl der Kraft und Überlegenheit, das sie aus dem erfolgreichen Aufbau ihres Landes und dem Sieg über Deutschland schöpfen, den die meisten von ihnen als junge Soldaten miterkämpft haben. „Ihr müßt euch daran gewöhnen, daß die Sowjetunion heute die Weltmacht Nr. 2 ist und vielleicht in Zukunft die Weltmacht Nr. 1 sein wird. Ihr könnt die Sowjetunion nur vernichten, wenn ihr die Menschheit vernichtet. So ist es — ob es euch gefällt oder nicht.“ Der dies sagte, unser Normierer Maxim Nikolajewitsch Iwanow, war ein junger Ingenieur, der als Reserveoffizier den Krieg mitgemacht und nach dem Kriege bei Außenhandelsmissionen Verwendung gefunden hatte, bis ihn ein Konflikt mit der Tscheka ins Lager brachte.

Wir erwiderten: „Und doch ist euer Sowjetsystem ein Riese auf tönernen Füßen. Ein Mord im Kreml ändert alles. Denk nur an die Beria-Krise zurück. Bei euch weiß man nie, was morgen sein wird, wer morgen herrschen wird, die Tscheka, das Militär oder die Partei und welche Richtung innerhalb der Partei.“ „Gerade der Mißerfolg Berias beweist, wie gefestigt unser System ist. Bei uns regiert die Natschalstwo, der neue breite Mittelstand, die Kinder und Enkel der Revolution. In der ganzen Welt gibt es, abgesehen vielleicht vom englischen Mittelstand, keine so stabile, kompakte und instinktsichere Führungsschicht als unsere Natschalstwo." „Aber du mußt doch zugeben, daß euer ganzes System nichts taugt und zu nichts führt.“ „Unsinn. Mir könnt ihr nichts einreden. Ich kenne ganz Rußland und fast alle Länder Westeuropas. Unser System hat noch viele Mißstände, wie die Kolchose, den Terror, das Lager, das schlechte Lebens-niveau usw. Diese Mißstände sind durch die Verhältnisse der Vergangenheit bedingt und werden mit der Zeit überwunden. Man darf unser System nicht nur so sehen, wie es heute ist: man muß auch auf den Kern schauen, um zu verstehen, wohin es sich entwickelt. Ihr habt im Westen eine große wirtschaftliche und technische Überlegenheit und meinetwegen auch eine kulturelle Überlegenheit — zugegeben. Aber wir holen auf. Eure Überlegenheit — das ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben eine Idee, für die wir jedes Opfer zu bringen bereit sind, und ihr habt keine Idee. Ihr wollt nur Geld verdienen und genießen. Aber weil das den Menschen nicht ausfüllt, sondern nur in Bewegung hält, darum seid ihr so unzufrieden und so ruhelos.“

„Wenn ein Russe nicht weiter weiß, dann kommt er immer mit der Idee daher. Eure kommunistische Idee ist längst überholt und tot. Worin liegt denn eure Idee?“

„Das ist sehr schwer zu formulieren. Jeder junge Russe fühlt sie, weiß sie, trägt sie im Blut. Wenn ich von unserer Idee spreche, so meine ich natürlich nicht den Quatsch, den die Parteileute reden. Sondern ich meine das, wofür wir von der Wolga bis zur Elbe uns vorangekämpft haben. Glaubt ihr vielleicht, wir hätten für die Kolchose, für Stalin, für die Tscheka und für die Parteibonzen geblutet und gehungert? Ganz gewiß nicht. Wir haben für Rußland gekämpft und für die Perspektiven unseres neuen Lebens. Ihr müßt eines erkennen: Über den Ruinen der alten Welt — glaubt mir, es sind Ruinen, auch wo die alte Fassade noch steht — erhebt sich heute überall die neue Welt und mit ihr ein neuer Mensch. Zu dieser neuen Welt gehört auch das heutige Sowjetrußland, so unentwickelt es noch ist, und der Sowjetmensch, so primitiv er noch sein mag.

Der Mensch ist über die alte bäuerliche und bürgerliche Welt hinausgewachsen. Er will die moderne Arbeit als Lebensinhalt und den modernen Großraum als Lebensform mit einer Planung auf weite Sicht und den Perspektiven seines persönlichen Aufstiegs. Er will durch seine Arbeit an einer großen, gemeinsamen Sache beteiligt und gegen die Not gesichert sein. Denn er will die uralte Angst vor der Einsamkeit und vor den Katastrophen der Krisen und Kriege endlich loswerden.

Zugleich mit dieser Sicherheit will er seinen kleinen Wohlstand, nicht die Sorgen des Reichtums, aber einen anständigen Lebensstandard."

„Du hast nur das wichtigste vergessen: der moderne Mensch will die Freiheit — und darum ist euer System in der ganzen Welt so verhaßt.“ „Diesen Einwand habe ich im Ausland täglich gehört. Er stimmt und stimmt auch nicht. Der Mensch will Rechtssicherheit. Er will nicht über Nacht verhaftet werden, weil irgendein Schuft ihn denunziert hat. Darum muß man mit dem Tschcka-Regime Schluß machen, und seit Stalins Tod haben wir damit begonnen. Außerdem will der Mensch Freizügigkeit. Er will leben und arbeiten können, wo er will. Darum muß bei uns die Zwangsarbeit aufhören. Ihr seht ja, daß wir auch damit schon angefangen haben. In Workuta arbeiten jetzt viele Angeworbene — obwohl sie vorläufig nur deswegen kommen, weil es auf vielen Kolchosen noch schlechter ist als in Workuta. Wenn der Mensch RechtsSicherheit und Freizügigkeit hat, dann braucht er nur noch eins: daß man ihm sagt, was er denken und tun soll. Was er denken soll, sagt ihm die Wissenschaft, und was er tun soll, sagt ihm die Technik. Dann denkt und tut er, was et soll, und ist dabei frei und glücklich.“ „Dein Zynismus ist schrecklich. Noch erschreckender als der eures größten Dichters, der die Gestalt des Großinquisitors geschaffen hat —, um die Menschheit vor dem zu warnen, was du bejahst.“

„Die Anklage des Zynismus ist immer das letzte Argument der Rückständigkeit. Die neue Wirklichkeit setzt sich gegen die alten Vorurteile und romantischen Stimmungen ebenso durch wie gegen den alten Unsinn der politischen Ideologien und Utopien. Unsere bolschewistische Ideologie erstickt mehr und mehr an ihrer eigenen Leere, und die Partei verwandelt sich in einen Kadaver von Technikern und Spezialisten, Ingenieuren und Direktoren. Wir müssen aus den Gegensätzen der Vergangenheit heraus und über sie hinweg einen neuen Ansatzpunkt finden, wenn wir nicht an diesen Gegensätzen zugrunde gehen wollen. Wir müssen die alten politischen Gegensätze neutralisieren. Die neuen Kräfte, die Technik, die Wirtschaft und die Wissenschaft, sind politisch neutral. Die Zukunft gehört der industriellen Arbeitswelt — technisch organisiert, ökonomisch orientiert, wissenschaftlich geführt und politisch neutral.

Neutralisieren bedeutet, die Revolution durch die Evolution ablösen. Die Revolution hat sich aus der Sowjetunion verzogen nah China. Dort wühlen sie jetzt die Ahnenhaine um und experimentieren mit Stahanowismus und Kolchosen. Laßt sie wühlen und experimentieren. Wir Russen haben genug gelitten. Wir wollen unser System und uns selbst normalisieren. Die Revolutionäre haben Rußland in die Industrialisierung geführt. Wir Ingenieure werden die Industrialisierung vollenden, bis auch die Sowjetunion aufgeht in der modernen industriellen Arbeitswelt. Die Sowjetunion amerikanisiert sich — und das ist gut so.“

Wir entgegneten: „Der Bolschewismus als Umweg zum Amerikanismus — das ist eine alte These. Aber von der Wirklichkeit ist sie noch weit entfernt. Und wenn morgen der Kreml ein neues Korea befiehlt, dann werdet auch ihr Ingenieure alle dabei sein, mit Begeisterung und mit exakter Arbeit, und eine neue Theorie zur inneren Rechtfertigung wird euch auch einfallen. Darum glaubt euch niemand die Wandlung des Bolschewismus.

Am wenigsten glauben wir sie. Wir Ausländer aus den von euch okkupierten Staaten fallen nicht noch einmal auf eure Propaganda herein, unter welcher Parole auch immer sie laufen möge. Auch wissen wir am besten, wohin die Kompromisse führen, zu denen ihr uns gezwungen habt — nämlich nah Workuta und nur nah Workuta. Über Fehler kann man diskutieren, aber niht überVerbrehen und mit Verbrechern." „Und doh werdet auh ihr lernen müssen, einen neuen Ansatzpunkt zu finden, wie wir Russen im Lager ihn haben finden müssen. Das Leben geht weiter. Das Leid hat niht das letzte Wort. Die Wirklihkeit erneuert sich und mit ihr der Mensch.

Die Neutralisierung, durch die wir im Inneren die alten unlebbaren Gegensätze überwinden müssen, ist auh nah außen der neue Ansatzpunkt. Ein neuer Weltkonflikt bedeutet angesihts der vorhandenen Waffen das Ende der Menshheit. In dieser Lage wird die Menshheit einen Weg zur wirksam und gemeinsam kontrollierten Abrüstung der neuen wie der alten Waffen finden, weil sie diesen Weg finden muß, wenn sie überleben will. Das wird der erste Shritt zur neuen Weltordnung sein.

Die Sowjetunion ist an der Abrüstung stärker interessiert als die USA. Während die USA den Wettlauf zwischen weiterer Aufrüstung und weiterer Wirtshaftsentwicklung offenbar unbegrenzt durhhalten können, sind wir dazu niht in der Lage: wir können niht weiter aufrüsten und gleihzeitig die Wirtshaft weiter entwickeln. Wir müssen aber die Wirtshaft weiter entwickeln, um den Lebensstandard zu er-reihen, den wir seit über dreißig Jahren versprehen. Der Sowjetmensch will endlich wenigstens einen Teil der Früchte pflücken, die ihm verheißen sind, sonst mäht er niht mehr mit. Auh die Lebensansprüche der Natshalstwo sind gewahsen und müssen vorweg befriedigt werden. Das wird die Sowjetunion zur Abrüstung, und das bedeutet zur Einordnung, zur Unterordnung unter eine Weltordnung zwingen." „Auh das glaubt euh niemand. Die Sowjetunion hätte sich längst einordnen können, wenn sie gewollt hätte. Die Vereinten Nationen, der Baruch-Plan, der Marshall-Plan — lauter Angebote zur Einordnung und Mitarbeit, die ihr abgelehnt habt. Die Westmächte haben den zweiten Weltkrieg geführt, um die one world zu gestalten — zusammen mit euch. Aber euer Njet hat die längst fällige und mögliche Weltordnung sabotiert, und euer Sowjetimperialismus hat den Kalten Krieg ausgelöst. Jetzt wollt ihr plötzlich einen Waffenstillstand haben, weil ihr die Pause der Koexistenz brauht, um euh für die letzte Runde im Kampf um die Weltherrshaft besser vorzubereiten.“

„So ist es niht. Alle bisherigen Angebote zur Einordnung hätten zur Kapitulation des Sowjetsystems geführt. Aber das Sowjetsystem kapituliert nicht, weil der Sowjetmensch niht kapituliert. In den Vereinten Nationen hat nur unser Veto uns vor der Majorisierung durch die westliche Abstimmungsmashincrie geschützt, und Baruch-Plan und Marshall-Plan hätten uns gezwungen, uns dem westlihen System zu unterwerfen. Das heutige Weltgleihgewiht beweist aber gerade, daß weder das kapitalistishe System noh das unsere die Weltherrschaft zu erringen vermag.

Mögen die Doktrinäre auf beiden Seiten auh behaupten und beweisen, daß ihr System auf die Dauer sih durhsetzen werde — die Tatsachen sprehen zunähst dagegen. Die Tatsahen beweisen vielmehr, daß beide Systeme sih in sih selbst weiterentwickeln, daß um die Kernländer jedes Systems sih Neben-und Übergangssysteme bilden und daß auf lange Siht gesehen sih beide Systeme aufeinander hin-entwickeln, wobei sie sih gegenseitig beeinflussen, aber sih niht vermishen oder vereinigen. Beide Systeme bleiben komplementär, in dem Sinne, wie wir diesen Begriff in der modernen Physik gebrauchen. Daraus ist zu folgern, daß die Weltordnung nicht eine monistische sein kann, in der ein einziges System in der ganzen Welt herrscht, sondern eine pluralistische sein muß, in der grundsätzlich mehrere Systeme möglich sind und möglich bleiben. Indem beide Seiten für die Unabhängigkeit ihres Systems gekämpft haben, kämpften sie im ungewollten Ergebnis dafür, den Weg der Menschheit offenzuhalten und ihn nicht auf ein einziges System festzulegen.

Diese Erkenntnis relativiert und neutralisiert die beiden gegensätzlichen Systeme und schafft den neuen Ansatzpunkt für eine Weltordnung, die zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit tatsächlich möglich wird, ja sogar durch die Tatsachen erzwungen wird.

Die Weltordnung muß ausgehen von dem Weltgleichgewicht, das heute besteht. Sie muß den Weltkonflikt ausschalten, der heute von einem Tag zum anderen nur durch eben dieses Gleichgewicht verhindert wird. Die Weltordnung kann nicht durch die Kapitulation der einen oder anderen Seite erzwungen, sondern nur durch einen Weltausgleich allmählich aufgebaut werden — Schritt für Schritt: durch die Abrüstung, die Zusammenarbeit zur friedlichen Ausnutzung der Atomenergie, die Zusammenarbeit zur Entwicklung der unterentwickelten Länder und die Zusammenarbeit innerhalb der Vereinten Nationen.

Im Rahmen einer solchen Weltordnung ist ein allmählicher Abbau der nationalstaatlichen Souveränität zugunsten regionaler und globaler Organisationen und Institutionen möglich, die die innere Unabhängigkeit und äußere Sicherheit, die Mitbestimmung und Zusammenarbeit der einzelnen Nationen verwirklichen. Auch die noch ungelösten nationalen Fragen, wie die euren in Deutschland und in den Volksdemokratien, können nur von einem neuen Ausgangspunkt und in einem übernationalen System gelöst werden, das die Störung des Weltgleichgewichts und der Weltordnung durch die souveräne Option ausschaltet, ohne jedoch den Völkern ihr nationales Selbstbestimmungsrecht zu nehmen."

„Du bist ein Träumer, wie alle Russen. Siehst du denn nicht ein, daß mit einem Chruschtschow an der Spitze des Sowjetsystems dein Programm niemals zu verwirklichen ist?

Im Lager haben wir Zeit, uns Programme auszudenken. Aber unsere Programme sind so überflüssig wie wir selbst. Gerade darum hat der Kreml euch Russen und uns Ausländer ins Lager gesperrt, damit wir ihn nicht durch unsere Gedanken und Pläne stören. Die Wirklichkeit fragt nicht nach unseren Programmen.“ „Aber im Lager, in der Katorga, ist der künftige Weg Rußlands immer zuerst gesehen und bestimmt worden. Das ist geradezu ein Gesetz der russischen Geschichte. So wie die Streikbewegungen in Strafgebieten zur Lockerung und teilweisen Auflösung des Lagersysterk geführt haben, so hat der Druck der Massen seit dem Tode Stalins das System in eine neue Richtung hineingezwungen. Das ist ein und derselbe Prozeß, der noch längst nicht zum Abschluß gekommen ist und der auch über Chruschtschow hinweggehen wird.

Die Wirklichkeit hat ihre eigene Zwangsläufigkeit, in der östlichen wie in der westlichen Welt. Wir kamen_mit der Wirklichkeit in Konflikt, weil wir ihr um einen Schritt voraus waren. Dieser Konflikt warf uns ins Lager und machte uns zu Katorganen. Aber inzwischen hat die Wirklichkeit aufgeholt und uns darum befreit: was heute noch Programm ist, kann morgen Tatsache werden."

Außenpolitik der Koexistenz Uber den möglichen Perspektiven der Zukunft die tatsächliche Situation der Gegenwart zu übersehen, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Die gegenwärtige Situation des Sowjetsystems läßt sich an den Entscheidungen des 20. Parteitages ablesen. Die außenpolitische Entscheidüng des Parteitages ist die Entscheidung für die Koexistenz.

Zur Begründung dieser Entscheidung mußten zwei leninistische und stalinistische Dogmen revidiert werden: das Dogma von der Unvermeidbarkeit eines neuen imperialistischen Krieges und das Dogma vom Übergang zum Sozialismus durch den bewaffneten Aufstand des Proletariats. Der Parteitag hat beide Dogmen revidiert und damit eine Revision nicht nur des Stalinismus, sondern auch des Leninismus eingeleitet. Zwischen den Ländern des kapitalistischen und des sozialistischen Systems sei eine friedliche Koexistenz möglich, da die nunmehr erreichte „Macht des sozialistischen Lagers“ einen neuen „imperialistischen Über-fall“ ausschließe. Jedoch wird dabei an der Grundthese festgehalten, daß das kapitalistische System sich bei allem technischen Fortschritt in einem unaufhaltsamen Niedergang befinde und das sozialistische System sich auf die Dauer überall durchsetzen werde. Das bedeutet aber nicht, wie Chruschtschow in seiner Rede auf dem Parteitag ausdrücklich hervorhebt, „daß der Sieg des Sozialismus durch bewaffnete Einmischung der sozialistischen Länder in die inneren Angelegenheiten der kapitalistischen Länder erreicht wird.“

Der Parteitag proklamiert damit den Verzicht auf die militärische Intervention und setzt an deren Stelle den ökonomischen Wettbewerb im Rahmen einer friedlichen Koexistenz, ohne die grundsätzliche und unversöhnliche Feindschaft gegen das kapitalistische System aufzuheben. Der kommunistische Weltbürgerkrieg wird nicht eingestellt, sondern fortgeführt — aber von Seiten der Sowjetunion nur mit den Waffen der Wirtschaft und der Propaganda.

Daher auch die Einschränkung des Prinzips der Koexistenz nach innen: Koexistenz bedeutet nicht Koexistenz mit der bürgerlichen Ideologie im Inneren des gesamten sowjetischen Machtbereiches. Die bürgerliche Ideologie bleibt grundsätzlich der innere Feind, der nur auf dem außenpolitischen Parkett als Partner auf Zeit anerkannt wird. Was im Einzelfall als bürgerliche Ideologie anzusehen ist, entscheidet nach wie vor der Kreml selbst. Der Eiserne Vorhang bleibt und hinter ihm das alte System: eine Lehre, eine Meinung. Die Prinzipien der innerparteilichen Demokratie und der kollektiven Führung, die der Parteitag proklamiert hat, gelten nur im Rahmen dieser Einschränkung. Die Allmacht des Kreml, gegründet auf die Allwissenheit der Ideologie, bleibt unangetastet, und der Mensch bleibt der Gefangene des Systems, das selbst der Gefangene der Ideologie ist.

Das außenpolitische Prinzip der friedlichen Koexistenz, das sich aus, dem Widerruf der alten These Lenins und Stalins von der Unvermeidbarkeit eines neuen imperialistischen Krieges ergibt, wird erweitert durch die Einschränkung einer zweiten These Lenins und Stalins: War der Übergang zum Sozialismus nach dem alten Schema in allen Fällen nur durch den bewaffneten Aufstand des Proletariats möglich, so wird jetzt anerkannt, daß es unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Staaten auch möglich sei, „unter Ausnutzung der Parlamente auf friedlichem Wege zum Sozialismus zu gelangen“. Aber diesen Satz will Chruschtschow nicht als Regel, sondern als Ausnahme verstanden wissen. „Es besteht kein Zweifel“, so erklärt er gleichzeitig, „daß in einer Reihe von kapitalistischen Staaten das gewaltsame Niederreißen der bürgerlichen Diktatur und damit verbunden die starke Verschärfung des Klassenkampfes notwendig bleiben.“

Der konkrete Sinn dieser Thesen liegt auf der Hand. Der Kreml verzichtet zwar auf die direkte äußere Aggression, aber er verzichtet nicht auf die indirekte innere Aggression. Er behält sich die Entscheidung darüber vor, wann und wo eine kommunistische Partei den friedlichen Weg unter Ausnutzung des Parlamentes und wann und wo sie den Weg des bewaffneten Aufstandes zu gehen hat. Der Kreml hält in der einen Hand das Angebot zur Volksfrontpolitik und in der anderen Hand die Drohung des Staatsstreiches. Aber seine rechte Hand weiß immer, was die linke tut.

Wie sich der Kreml den friedlichen Weg zum Sozialismus vorstellt, darüber hat der 20. Parteitag keine Zweifel gelassen. AIs Beispiel für den friedlichen Weg werden die Entwicklung der Tschechoslowakei und anderer Volksdemokratien genannt. Auch als Walter Ulbricht den Aufbau des Terrorregimes in der Sowjetzone als Beispiel für den friedlichen Weg zum Sozialismus anführte, wurde er durch den Beifall des Parteitages ausdrücklich bestätigt.

Neben der bedingten Anerkennung der Volksfrontpolitik vollzog der Parteitag die unbedingte und grundsätzliche Anerkennung des Titoismus. Alle Redner des Parteitages legten besonders Gewicht darauf, die vor» Chruschtschow durchgeführte Aussöhnung mit Tito gutzuheißen. Offenbar bildet es einen Bestandteil der derzeitigen Europapolitik des Kreml, in den Satellitenstaaten auf dem LImweg über den Titoismus einen gewissen Ausgleich mit dem Westen anzubieten und gleichzeitig die oppositionellen Strömungen in diesen Ländern durch den Titoismus einzudämmen.

Nichts deutet darauf hin, daß der Kreml zur Zeit bereit wäre, irgendeinen Ausgleich in der deutschen Frage auch nur in Erwägung zu ziehen. Chruschtschow erklärte auf dem Parteitag: „Die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa, die Absage an die Parser Vereinbarungen, die Annäherung der beiden deutschen Staaten — das ist der wahre Weg zur Lösung der deutschen Frage." Dies starre Festhalten am alten Standpunkt zusammen mit der deutlich hervortretenden Tendenz, die deutsche Frage als eine nebensächliche zu behandeln, beweist, daß der Kreml sein deutsches Pfand noch nicht aus der Hand geben will, weil er es noch zu nutzen hofft.

Diese Entscheidungen des 20. Parteitages legen den Rahmen der derzeitigen sowjetischen Außenpolitik fest. Die Anerkennung der Volksfrontpolitik stellt ein erneutes Angebot an die sozialrevolutionären Kräfte Westeuropas, insbesondere Frankreichs dar, gegen die USA und für die Sowjetunion zu optieren. Zusammen mit dem starren Festhalten am alten Standpunkt in der Deutschlandfrage beweist dieses Angebot, daß auch die derzeitige sowjetische Europapolitik im wesentlichen der Stalin’schen Nachkriegskonzeption treu bleibt: Gestützt auf Osteuropa, wo die Sowjetunion dem inneren Druck nur insoweit nachgibt als er nicht ihre Herrschaft gefährdet, sucht sie das Bündnis mit den Sozial-revolutionären Kräften Westeuropas zur Beherrschung Gesamteuropas. Zu diesem Zweck ist sie bestrebt, Westdeutschland zu isolieren und Mitteldeutschland zur vorgeschobenen Bastion für ihre Herrschaft über Osteuropa auszubauen. In diesem Zusammenhang erweist sich, wie sehr die Spaltung Deutschlands dem Kreml zum Vorteil gereicht, auch nachdem die ursprüngliche Absicht Stalins, in der Mitte Europas ein Vakuum zu schaffen, gescheitert ist.

Während die Sowjetunion in ihrer Europapolitik am alten Schema, wenn auch mit gewissen Modifikationen, festhält, hat sie ihre Asien-politik durch neue Methoden aktiviert. Die antikoloniale Front und der ökonomische Wettbewerb unter Verzicht auf die militärische Intervention — Methoden nicht mehr des klassischen, sondern des modernen, sozialrevolutionären und industrialisierten Machtstaates — sind auf den Ländergürtel des südlichen Mittelmeeres und des Indischen Ozeans zugeschnitten und folgen damit der Verschiebung des Feldes weltpolitischer Entscheidung von Europa weg nach Asien. Moskau und Peking anerkennen und umwerben den asiatischen Antikolonialismus und Neutralismus mit seinem gewaltigen, noch unerschlossenen Potential, das sie durch langfristige Planung zu entwickeln und an den eigenen Wirtschaftsraum anzuschließen suchen. Das Sowjetsystem fordert die Freie Welt zum Wettbewerb heraus. Die überlegenen Kräfte der Freien Welt können, wenn sie aus ihrer sterilen Defensive heraustreten, diesen Wettbewerb gewinnen und ihn dadurch gegen das Sowjetsystem kehren. Ohne den schwankenden Boden künftiger Entscheidungen zu betreten, läßt sich sagen, daß die derzeitige sowjetische Entspannungspolitik in dem Maße aufrichtig und ehrlich ist, als sie für das System notwendig ist. Der 20. Parteitag hat die Parole ausgegeben: „In kürzester historischer Zeitspanne müssen die höchstentwickelten kapitalistischen Länder in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung eingeholt und überflügelt werden." Dieses Ziel ist kein utopisches, so wenig wie das der Fünfjahrpläne — niemand täusche sich darüber — aber es ist ein Ziel, dessen Erreichung nur durch eine sehr weitgesteckte Planung und nur durch einen völlig ungestörten, langfristigen Aufbau möglich ist. Der Sowjet-block braucht Zeit und bietet dafür den Frieden — auf Zeit.

Darum hat der 20. Parteitag an die Spitze des außenpolitischen Programms die Abrüstung gesetzt zusammen mit der Forderung nach kollektiven Sicherheitssystemen in Europa und Asien. Die Sowjetunion möchte offenbar mit der Garantie der Sicherheit auch eine Garantie der vollen Mitbeteiligung in Europa und Asien erlangen und gleichzeitig die Abrüstung, die sie zur Forcierung ihres inneren Aufbaues benötigt, ohne Veränderung des Status quo einhandeln. Es darf angenommen werden, daß der Kreml ein solches Maximalprogramm nur deswegen in die Verhandlungen geworfen hat, um für das realisierbare Programm einen möglichst geringen Preis zu zahlen.

Tatsächlich befindet sich die Sowjetunion in einer inneren Zwangslage, die sie nötigt, wenn auch nicht von heute auf morgen, so doch auf die Dauer Abrüstung und Sicherheit zu erreichen und dafür auch einen Preis zu zahlen.

Die unlösbare innere Verbindung, die zwischen den Problemen der Abrüstung und Sicherheit auf der einen Seite und der tatsächlichen Beseitigung der gegenwärtigen politischen Spannungen auf der anderen Seite besteht, eröffnet der Außenpolitik der nächsten Jahre ein weites und fruchtbares Feld.

Weltrevolution und Weltevolution Die nachstalinistische Sowjetunion stellt die freie Welt vor neue Fragen, auf die neue Antworten gefunden werden müssen, und vor neue Aufgaben, die neue Lösungen fordern. Dabei muß eines klar sein: Aus der Position der Schwäche kann auch mit dem nachstalinistischen Rußland nicht gesprochen werden. Die bekannte Frage Stalins: „Wieviel Divisionen hat der Papst?" ist eine echt sowjetische Frage. Sie fragt nach der Zahl der Menschen, die für die Idee zu sterben bereit sind, und nach der Zahl und Art der Waffen, über die diese Soldaten verfügen. Denn der sowjetische Radikalismus hat immer nur von der Machtlosigkeit der ihm feindlichen Idee und der Ideenlosigkeit der ihm feindlichen Macht gelebt. Immer wieder drohte die sowjetische Macht im Inneren in einem Meer von Blut, Tränen und Schweiß unterzugehen, dennoch gelang es immer wieder, sie gewissermaßen von außen, infolge der Schwäche ihrer Gegner, zu retten.

Lenin konnte nur im Schatten der Schwäche, in der der erste Weltkrieg die Weltmächte zurückgelassen hatte, seine Revolution zum Siege führen. Stalin hat sein System nur halten und erweitern können, weil er aus der Spaltung zwischen den Westmächten und den Achsenmächten und nach dem Kriege aus der Erschöpfung der Westmächte seinen Nutzen zu ziehen verstand. Dabei kam Lenin wie Stalin zugute, daß sie in einer Periode weltgeschichtlichen Umbruchs sich auf weltrevolutionäre Kräfte stützen konnten, die sich gegen überholte Sozial-und Kolonial-ordnungen empörten.

Wenn aber der sowjetische Radikalismus auf eine starke, gesunde und geschlossene Front trifft, so ist sein Spiel verloren. Die Massenbasis des Kommunismus entfällt mit der Gesundung der sozialen Verhältnisse, der Überwindung des Kolonialismus und der wirtschaftlichen Entwicklung der unterentwickelten Gebiete. Die Übermacht der Roten Armee entfällt, wenn ihr gleichstarke Armeen geschlossen gegenüberstehen. Die Stoßkraft der Weltrevolution entfällt, wenn sie durch die Weltevolution aufgefangen wird.

Weil eine solche Lage teils eingetreten ist, teils eintreten könnte, bietet der sowjetische Radikalismus heute den Frieden auf Zeit an, zumal ihm im eigenen Lande starke gemäßigte Kräfte entgegenstehen, die nicht auf die äußere Expansion, sondern auf die innere Evolution gerichtet sind. Die Zeit kann sich als heilender, ausgleichender, normalisierender Faktor erweisen. Ein Frieden mit dem Sowjetsystem kann Bestand haben, wenn und solange eine starke, gesunde und geschlossene Front der Freiheit alle sowjetischen Versuche innerer und äußerer Aggression von vornherein aussichtslos macht. Zwischen einer solchen Front und dem inneren Druck der evolutionären Kräfte in Rußland würde der sowjetische Radikalismus aufgerieben werden.

Die negativen Kräfte des Radikalismus behalten gegenüber den positiven Kräften der Evolution niemals das letzte Wort.

Fussnoten

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