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Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft | APuZ 42/1956 | bpb.de

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APuZ 42/1956 Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft

Das humanistische Bildungsgut im Wandel von Staat und Gesellschaft

FRANZ SCHNABEL

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser Ausgabe die Festrede Professor Schnabels, gehalten in der öffentlichen Sitzung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München am 3. Dezember 1955, erschienen beim Verlag DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, München 1956, in Kommission bei der C. H. Beck'schen Verlagsbuchhandlung München.

Der Mensch, ist ein handelndes Wesen. Man muß in ihm jene Kräfte wecken, die der Urgrund alles Handelns und die physischer wie geistiger Natur sind. Diese Kräfte aber zu wecken, ohne sie zu leiten, hieße den Menschen den größten Gefahren aussetzen. Daher ist es seit den Anfängen aller Kultur die wichtigste Aufgabe, die Kräfte und Fähigkeiten des Menschen und der Völker zu entwickeln und auf edle Ziele zu lenken.

Unter den Systemen, die in unserem Kulturraum dieser Aufgabe gedient haben, ist im Rückblick auf die Geschichte der abendländischen Völker bei weitem am bedeutsamsten das sogenannte humanistische. Denn es hat mehr als ein halbes Jahrtausend hindurch mit wechselnder Intensität und in verschiedenen Formen zur geistigen Bildung der abendländischen Völker mitgewirkt, und es hat im 15. und 16. und dann wieder im 19. Jahrhundert eine überragende Stellung eingenommen. Im 15. und 16. Jahrhundert hat der Humanismus jenseits und diesseits der Alpen, von Florenz bis hin nach Oxford und Cambridge seine hohe Blüte erlebt, und im 19. Jahrhundert hat der deutsche Neuhumanismus dem humanistischen Gymnasium eine eigene Form und eine mächtige Stellung verliehen und hiermit auch auf andere Völker vorbildlich gewirkt; neben ihm haben noch die englischen Colleges ihre in Jahrhunderten gewordene eigene Art entfaltet.

Das Wort Humanist ist seit Anfang des 16. Jahrhunderts gebräuchlich und damals in der italienischen Form „umanista" gebildet worden. Aber das Eigenschaftswort humanistisch ist erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen, wohl vornehmlich durch Herder und dann auch als Kampfbegriff, da die Aufklärung Anstalten eines nichthumanistischen Unterrichts ins Leben rief und sie realistische, philanthropistische Schulen nannte, die auf enzyklopädisches Wissen ausgingen. Der zusammenfassende Ausdruck Humanismus vollends ist erst 1808 geprägt worden und zwar zuerst in Deutschland, zuerst in München, als der bayerische Schulmann, das Mitglied unserer Akademie, Friedrich Immanuel Niethammer die Streitschrift schrieb: „Der Streit des Philanthropismus und des Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichtes unserer Zeit".

Die Humanisten, denen wir in der Geschichte begegnen, waren eine hundertfältige Schar. Es gab christliche Humanisten, die meistens Aristoteliker waren; es gab Platoniker, Stoiker und Epikuräer. Man findet unter ihnen geldgierige und eitle Literaten, Schönredner und Schmeichler, die gleich einer Wolke jeden Fürstenthron der Renaissance umgaben. Man findet vornehme Patrizier unter ihnen und solide, strenge Schulmänner und Amtsleute. Man kann auch nationale Unterschiede feststellen; es gibt italienische, deutsche, englische, französische Humanisten. Was diesen verschiedensten Geistern gemeinsam ist und also zum Wesen des Humanisten gehört, ist zuerst und vor allem: der Humanist ist von dem intellektuellen Urgrund alles Seins überzeugt, er glaubt an die universale Verbindlichkeit rationaler Aussagen und Gesetze, an die Existenz objektiver Werte — an das Wahre, das Gute, das Schöne — die der Mensch erfassen und sich aneignen soll und an denen er sich orientieren muß; Erkennen und Darstellen von persönlichen Gefühlen abhängig zu machen ist unhumanistisch. Die Wesensgestalt des Humanis-mus wird also geprägt durch die Überzeugung, daß Erkenntnis und Wis-sensdraft Aufgaben des Menschen sind: sie gehören zum eigentlichen menschlichen Dasein.

Hiermit ist ausgesprochen, daß der Humanismus teilhat am abendländischen Rationalismus. Dieser aber stammt von den Griechen, aus der griechischen Wissenschaft. Er ist von da in das Christentum gekommen; und besonders die lateinische Christenheit, die romanisch-germanischen Völker haben schon frühe als die Aufgabe des Menschen erkannt, den LImkreis dessen, was durch die Vernunft erfaßt werden kann, möglichst weit auszudehnen und den LImfang dessen, was der Offenbarung vorbehalten ist, möglichst einzuengen: „ratio est instrumentum non est judex". Das Bekenntnis zur Ratio bei klarem Bewußtsein, daß ihr Grenzen gezogen sind, ist allem Humanismus eigen. Aber im Humanismus steckte von Anfang an doch ein treibendes Prinzip, das in seiner Folge den Menschen darauf verwies, alles in Natur und Geschichte zu erforschen und zu gestalten durch den menschlichen Geist. Die italienischen Humanisten wie Lorenzo Valla, die deutschen Erasmus und Melanchthon — sie sind die Vorläufer der abendländischen Aufklärung. Und so sehr sind Humanismus und Rationalismus den abendländischen Völkern zur zweiten Natur geworden, daß sie alles andere, was sonst noch die griechischen Wissenschaft geboten hat, von sich stießen. Diese Völker, die den Humanismus entwickelt haben, waren den Griechen nicht unähnlich, und die Träger der humanistischen Bewegung waren gleich den antiken Dichtern und Denkern städtische Menschen; aber sie waren nicht Griechen, sondern Italiener, Franzosen, Deutsche, Engländer — gleich den Griechen begabt mit Phantasie, mit Geistesschärfe und Wissensdrang, doch in anderer Mischung der Seelenkräfte. Sie haben sich weder von der Rhetorik noch von der Magie, an denen die griechische Wissenschaft zugrunde gegangen ist, übermannen lassen. Der abendländische Humanismus enthielt ein stark rhetorisches Element, und die Prunkrede fehlt auch bei ihm nicht; man hat sie eine wahre Sumpfblüte der Kultur genannt. Zeitweise haben in der abendländischen Welt auch Platonismus, Neuplatonismus und Magie eine Bedeutung gewonnen, so in Florenz im 15. Jahrhundert. Doch das waren Ausnahmen; gerade aus dem Florentiner Humanismus ist Galilei hervorgegangen, dieser aber ist durch und durch rational, aus dem nüchternen toskanischen Menschenschlag. Der Humanismus also ist nicht etwa ein Erzeugnis des griechischen sondern ganz und gar des abendländischen Menschentums, der germanisch-romanischen Völkerfamilie und ihres werdenden urbanen Lebens. Man spricht zwar heute auch von einem östlichen Humanismus; dies jedoch ist eine nachträgliche Übertragung neuen Datums und dient gewiß nicht der Festigkeit der Begriffe.

Da nun der Humanismus der Überzeugung ist, daß die Erkenntnis der Welt — der Menschen wie der Dinge — zum eigentlichen menschlichen Dasein gehört, so legt er den Nachdruck auf die Ausbildung des Denkens — also daß von Frühe an im jungen Menschen die Fähigkeiten entwickelt und geübt werden, die Dinge im Begriffe zu fassen und die Dinge und Begebenheiten sich vorzustellen. Begriffe und Vorstellungen aber sind nicht möglich ohne das Wort, sie erfordern die eindringende Beschäftigung mit der Sprache. Das begriffliche Denken — an der Sprache, an der Logik und an der Mathematik gebildet — bricht dabei in das vorstellungskräftige Denken des ursprünglichen Menschen ein, und die Reinigung der Begriffe von Vorstellungselementen ist ein Vorgang von höchstem bildenden Wert. Aber auch die Gabe und Kraft der Jugend, sich die Dinge und Begebenheiten vorzustellen, müssen geübt werden, und zwar nicht durch das Anschauen von Bildern, das den jungen Menschen an passive Aufnahme gewöhnt, sondern zuerst durch das Studium der dem schöpferischen Worte innewohnenden Bildhaftigkeit. So ist das Wesen des Humanismus, daß er den Menschen bilden will durch die Wissenschaft und durch das sprachliche Kunstwerk. Die Beobachtung soll darüber nicht zu kurz kommen, und die Kraft der Phantasie, des Vorstellungsvermögens darf nicht alles überwuchern; aber ohne Denken gibt es keine Beobachtung, und an Phantasie ist ohnehin in den Menschen, wie er aus dem Schoße der Natur hervorgegangen und unverdorben geblieben ist, mehr als genug gelegt.

Der Humanismus will also jene Fähigkeit im Menschen ausbilden, die unter allen Lebewesen dem Menschen allein eigentümlich ist — nämlich die Fähigkeit des Denkens auf Grund der Vernunft. Denn der Mensch ist ein doppclpoliges Wesen: er ist „animal“, ein Wesen mit Trieben, und er ist ein geistiges Wesen mit den Anlagen zu denken und sich zu entscheiden. Wäre der Mensch nur ein „animal“, nur „caro", dann wäre er ein Tier; wäre er nur geistiges Wesen, dann wäre er ein Engel oder ein Gott. Der Mensch steht zwischen beiden, er ist ein seltsames Doppel-wesen. Der englische Philosoph Bertrand Russel hat dies in seinem Aufruf zur Achtung der Atomwaffen so formuliert: der Mensch ist eine interessante biologische Gattung, die eine bedeutende Geschichte hervorgebracht hat und bei der zu bedauern wäre, wenn sie vom Erdboden verschwände. Dem Humanismus ist diese naturwissenschaftliche Ausdrudesweise fremd; darin eben findet er die Menschenwürde — und dies ist für ihn ein zentraler Begriff — daß der Mensch durch freie Entscheidung sich über die Gewalten der Natur erheben kann und nicht nur Gattung ist. Am denkwürdigsten ist dies ausgesprochen in des Florentiners Pico della Mirandola Rede von 14S 6 „De dignitate hominis“. Mit den anderen Lebewesen hat der Mensch gemeinsam, daß auch er auf Reizungen und Gefühle reagiert, den Leidenschaften folgt, von der Selbstsucht getrieben ist; aber er allein hat die Anlage, auch mit Überlegung zu handeln. Dies unterscheidet ihn vom Tiere, es ist das eigentliche Menschliche in ihm — das „humanum“. Und dies ist es, was der Humanismus im Menschen erwecken und leiten will — durch Ausbildung der menschlichen Denkkraft, der menschlichen Vernunft, auch der Fähigkeit, fremdes Leid zu verstehen und zu empfinden, und dann auch noch durch die Gewöhnung des Menschen an eine um ihrer selbst willen getriebene geistige Tätigkeit, an der er Freude empfindet und sein Menschentum nährt und erhöht. So wird er frei. Denn Freiheit bedeutet dem Humanisten, nicht abhängig werden von seinen Gefühlen und also die Möglichkeit haben, unter allen Bedingungen das Vernünftige zu tun Von diesem „humanum“ als dem Ziele ihres Bemühens haben die Humanisten ihren Namen, das ist ihr Programm, es ist allen Humanisten eigen und unterschied sie in den Anfängen ihrer Bewegung von anderen Richtungen jener Jahrhunderte, die andere Werte oder andere Seelenkräfte höher stellten als das humanum und die Wissenschaft.

Dabei war der Humanismus ursprünglich, im 14. Jahrhundert sozusagen eine „lateinische Bewegung“. Denn die Sprache der Wissenschaft und überhaupt des Verkehres der geistig Führenden war das Latein, dieses war damals und noch lange darüber hinaus eine lebende Sprache; erst seit 1648 ist es als Verkehrssprache der großen Welt durch das Französische abgelöst worden. Es war aber die Einsicht, die den Humanisten verdankt wurde, daß in der Wissenschaft die Erkenntnis erst dann ganz rein und sicher ist, wenn sie den adäquaten Ausdruck in der Sprache gefunden hat — daß also sapientia und eloquentia sich ergänzen müssen: „Niemand kann gut reden ohne Kenntnisse, und die Erkenntnis ist lahm ohne das Licht der Rede“. Die harte begriffliche Schulsprache der Scholastik im 14. Jahrhundert genügte diesen Anforderungen nicht, wohl aber waren vorbildlich die amoenitas Cäsars und die sonore Pracht des Cicero; mit der Kenntnis des Griechischen ist dann noch die vollendete Sprach-kunst Platos hinzugekommen. Die Gegnerschaft gegen die barbarische Schulsprache hat den Humanismus ursprünglich hervorgebracht. Die Liebe zum wohlgestalteten Satz, zur harmonischen Form macht sein Wesen aus, auch sie gründet in seinem Sinn für rationale Gesetzlichkeit, sie veranlaßt und ermöglicht, alle Leidenschaften und alle Zerrissenheit zu bändigen in der geformten Prosa, im klassischen Maß; sie hat den Dialog, das gesellige Gespräch zu hoher Kunst entwickelt und so ein Organ urbanen Lebens geschaffen. Durch diesen Sinn für den Wohllaut der Sprache, für die Symmetrie und Reinheit der gestalteten Form unterscheiden sich die Humanisten von allen anderen, die auch in der abendländischen Ratio wurzeln — von Scholastikern und Aufklärern. Diese haben vieles mit den Humanisten gemeinsam, aber sie haben nicht die Vorstellung von der Form als dem notwendigen Ausdruck eines Inhaltes. Daß diese Kunst, die so ganz auf der persönlichen Einfühlung in die großen Vorbilder beruhte, während der Zeiten des Niederganges in inhaltsleere Rhetorik entarten kennte, ändert nichts an dem zugleich ästhetischen und sittlichen Motiv, dem die Übung der schönen Prosa entsprungen ist und das in allen hohen Zeiten des Humanismus wieder lebendig wurde. Die Italiener als die ersten verdanken im 14. und 15. Jahrhundert dem frühen Humanismus die Entfaltung ihres sprachlichen Vermögens. Aber als im 15. Jahrhundert die griechische Sprache und Literatur im Westen bekannt wurden, da sah man, daß die Elemente des wissenschaftlichen Denkens nirgends so vollendet ausgebildet sind wie in der griechischen Wissenschaft und das Wahre, das Gute, das Schöne nirgends so klar gestaltet ist wie in der Literatur der Griechen und ihrer römischen Schüler. So wurden die griechischen und lateinischen Autoren auch ihres Inhaltes wegen wichtig und haben die überragende Bedeutung gewonnen für die Bildung des Menschen zum eigentlich menschlichen Dasein, zum humanum

Denn dies eben wurde den Humanisten das erhabenste Anliegen, durch Bildung und Wissenschaft aus einem Wesen, das Trieben und ungezügelten Affekten, Reizungen und Gefühlen nachgibt, nur auf die nächsten privaten Zwecke und Interessen sieht, ein Wesen zu schaffen, das nach Vernunftgründen, mit Überlegung, mit Rücksicht auf den Mitmenschen handelt. In der prägnanten Sprache der Humanisten hieß dies, die „Animalität" im Menschen zu überwinden und die „Humanität" zu gewinnen. Doch muß hier bemerkt werden, daß die „animalitas" dem klassischen Latein unbekannt und den Humanisten durch Augustinus zugekommen sein dürfte, und daß das in seiner Bedeutung weitgespannte Römerwort „humanitas“ erst im 18. Jahrhundert, wohl erst durch Herder als „Humanität“, in die deutsche Sprache gelangt ist und dabei jene besondere Richtung erhalten hat auf edle, menschliche Gesinnung, die sich selbst erlöst, und auf Mitgefühl mit dem Leide der Menschen; Humanitätsphilosophie und Humanitätsreligion stammen von daher. Die „humanitas“ der Römer und des älteren Humanismus umfaßt mehr. Sie umfaßt auch die feine Lebensart des urbanen Menschen und das aus der Primitivität sich erhebende, an Gesetz und Ordnung sich gewöhnende Menschentum

Die Studien, die den Menschen zur „humanitas“ führen, sind die „studia humaniora“. Ohne Ausbildung des Denkens, so hat Melanchthon gesagt, gelangt der Mensch zur „vita cyclopica", zu einem „grob viehisch Leben", wie es bei Luther heißt, der zwar kein Humanist gewesen ist, sondern noch andere Bereiche umfaßte, aber vom humanistischen Geiste ergriffen war. Auch fern vom Humanismus, auch Pietisten und Puritanern war es die nächste Sorge vor Gott und den Menschen, das Wissen zu befördern und es den Nachkommen für immer zu überliefern — „to advance Learning and perpetuate it to Posterity", wie über dem Eingang von Harvard anno 1636 eingemeißelt ist. Aber wer nicht sich darum bemüht, daß seine Kinder „rectissime instituantur", galt den Humanisten nicht nur als gottlos,'sondern als ein Ungeheuer in Menschen-gestalt, das den Adel des Menschen schändet: „plane humana specie beluinam mentem tegit", wie Melanchthon schreibt. Daher gibt jenes „ritu ferarum" lebende Volk der Kyklopen das Gegenbild zur humanitas:

„o 08‘ 22ov hyovov" — „und keiner achtet des andern“. Die Schrekken eines ungebildeten Daseins hat der „Praeceptor Germaniae“ den Fürsten und städtischen Obrigkeiten immer wieder vorgeführt, um sie zu veranlassen, Schulen zu errichten.

Der Humanismus entnahm den Schriften der alten Griechen und ihrer römischen Schüler zwar auch das divinum; und es hat unter den Humanisten immer gläubige Christen gegeben, die sich die Erlösung nicht von der „reinen Menschlichkeit“ erhofften und in begnadeten Denkern der Griechen und Römer die „anima naturaliter christiana“, das adventistische Heidentum aufleuchten sahen. Aber das hauptsächliche Anliegen der Humanisten wurde nicht das divinum sondern das humanum: „humana praevalent in eo plus quam divina“ hat Luther über Erasmus gesprochen. Das Maß aller Dinge war den Humanisten der Mensch. Die Zentralbegriffe des Humanismus sind dementsprechend humanitas und humaniora. Den einen Ausdruck haben die Römer geprägt, den anderen — die studia humaniora, die litterae humaniores als Mittel auf dem Wege zur humanitas — dürfte erst Erasmus geschaffen haben Die „humanitas" bezeichnet, wie hier zusammengefaßt sei, den Zustand, wo der Mensch aus „der Tierheit dumpfer Schranke“ herausgetreten ist, sich befreit hat aus der Verknechtung durch die Sinne, aus der Selbstsucht, den Leidenschaften, der Unvernunft und auf Gründe hört, auf den Standpunkt des anderen sich zu stellen vermag, sich emporgearbeitet hat zu einem denkenden und sinnvoll tätigen Leben. Der Begriff der humanitas will bei den Humanisten auch besagen, daß diese befreiende Arbeit an jedem einzelnen Menschen geleistet werden muß, damit in ihm das Bewußtsein erweckt wird, daß gerade Er für etwas da ist. Denn jeder Mensch ist um seiner selbst willen, hierin besteht die Grundlage seiner Freiheit: „liber est qui sui causa est". Jeder Mensch trägt seinen Wert in sich selbst, dies macht seine Würde aus, Würde und Wert hängen schon sprachlich zusammen: nur auf dem Boden der christlichen Individualkultur konnte der Humanismus erwachsen. So sehr auch viele Humanisten unter dem Einfluß der antiken Autoren und der wachsenden Entfaltung des autonomen Individuums in höhst unchristliche Bahnen gelangten, so ist doch der Zusammenhang zwischen Christentum und Humanismus gegeben in der Überzeugung, daß der Mensch als Persönlichkeit seinen Wert in sich trägt, also Würde hat. Insofern ist der Humanis ein Zweig der christlichen Kultur, aber in dem vorgeschrittenen sozialen Leben seit dem ausgehenden Mittelalter; frühere Zeiten hatten das Individuum in seinen Grenzen gehalten, jetzt will es sich zur Welt erweitern. Denn Individualismus und Humanismus haben es in sich, daß jene Menschen, die zur „humanitas“ und zur Persönlichkeit sich gebildet haben, innerlich untereinander verbunden sind zur Menschheit; Individualismus und Kosmopolitismus sind Korrelate. Die Hingabe an das Vaterland, die in einer von Aischylos und Pindar genährten Bildung ihren Platz und hohen Wert besitzt, wird durch den Humanismus doch auch gebändigt in dem Bewußtsein der gemeinsamen Bestimmung aller Menschen, an die der Auftrag geht, nach Vernunftregeln zu handeln.

Die Gegenposition zur humanitas nehmen jene Menschen ein, die auf der Stufe des unvernünftigen Tieres verbleiben, obwohl sie als Menschen die Anlagen zur Vernunft besitzen. Goethe spricht von dem „Pöbelsinn verworrener Geister“, bei den Griechen wird ein solcher Mensch als Barbar, „vgczog Bagßagxg" genannt; „inhumanus ac barbarus“ heißt er bei Cicero. Aber dem klassischen Griechentum ist doch die Vorstellung fremd, daß der Mensch, weil er über dem unvernünftigen Tiere steht, etwas so Außerordentliches sei, daß er sich mit eigener Kraft aus der Verknechtung und der Finsternis befreien könne. Nochmals sei es gesagt — die Griechen waren keine Humanisten. Vielmehr steht bei ihnen und ebenso bei den mittelalterlichen Denkern unbedingt voran der Gedanke an das Göttliche: „est aliquid supra hominem". Seit den berühmten Versen des Homer, daß die Menschen sind wie die Blätter des Waldes, zieht sich durch das ganze Schrifttum der frühen Griechen das Bewußtsein, wie schwach und vergänglich und nichtig die Sterblichen sind. Aber da die Griechen ein Göttliches im Menschen wußten, erkannten sie auch, daß in ihm der Keim ist zum Streben nach den absoluten Normen, nach Recht, Wahrheit und Schönheit. Doch das Maß war dem klassischen Griechentum nicht der Mensch. Lind es ist eine merkwürdige Fügung, daß die Humanisten, die auf das humanum und die Steigerung des Menschen zur Menschenwürde und zur Gesinnung der reinen Menschlichkeit ausgingen, dabei auf das klassische Griechentum zurückgriffen, das nicht das Humanistische gekannt hat. Dies ist begreiflich. Denn der Begriff der Wissenschaft schließt auch bei den Griechen in sich, daß der Umgang mit ihr den Menschen erhöht. Zumal Sokrates ist überzeugt, daß die Wissenschaft eine reinigende, eine sittliche Kraft auszuüben habe — daß zwischen dem Affekt und der Aktion die durch das Wissen gestärkte Vernunft stehen soll und das richtige und sittliche Handeln aus der Überlegung entspringt

Dem Humanismus ist, wie man sieht, schon seines rationalistischen Grundzuges wegen auch der Gesichtspunkt der Utilität nicht fremd. Aber er will, daß die Menschen nicht einfach nur den nächstliegenden Interessen und Bedürfnissen dienen, nicht zu Heloten der Werkstatt, des Kontors, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der speziellen Beschäftigung, welcher Art sie auch sei, abgerichtet werden, sondern als denkende Menschen ein Ganzes überblicken. Allerdings, wer nichts weiß und nichts überdenkt, der sieht auch die Gefahren nicht; er hat es leiht zu handeln und ein Held zu sein. Wer dagegen alles durchschaut — nun, von Erasmus kann man sagen, ein Held war er nicht, dazu war er zu klug. Aber in einem unvergänglichen Satze hat es schon Perikies ausgesprochen — das sind die edelsten Seelen, die bei voller Kenntnis der Schönheiten und der Schmerzen des Lebens doch die Gefahr nicht scheuen.

„Hier werden nicht Menschen zu Schreinern, sondern Schreiner zu Menschen gebildet"

Da nun jeder Mensch, weil er ein Mensch und kein Tier ist, Vernunft besitzt, so hat jedes Kind ein Anrecht darauf, daß diese Anlage in ihm geweckt und geleitet wird, und zwar nicht zu irgendeinem äußeren und nützlichen Zwecke, sondern um des einzelnen sittlichen Menschen willen. In diesem Sinne kann jede Schule eine humanistische Schule sein — auch die Volksschule, auch die Berufsschule — wenn sie ihre Aufgabe nicht darin sieht, den Kindern möglichst viele interessante und mehr oder minder nützliche Kenntnisse des alltäglichen Lebens oder der bloßen Gelehrsamkeit zu vermitteln, vielmehr sich zum Ziele setzt, die Kinder beim Lesen und Schreiben und Rechnen, durch die Beschäftigung mit der Sprache und mit der Welt der Begriffe zu denkenden Menschen zu erziehen. Es ist ganz humanistisch gedacht, wenn, wie erzählt wird, eine Gewerbeschule sich als Motto gewählt hat: „Hier werden nicht Menschen zu Schreinern, sondern Schreiner zu Menschen gebildet". Lind es ist eine Legende, die Humanisten in ihrer großen Zeit — etwa Melanchthon im 16. und Wilhelm von Humboldt im 19. Jahrhundert — hätten nur an die wenigen gedacht, nur an die academici und nicht auch an das Volk.

Melanchthon in den kursächsischen Ordnungen, Humboldt in seinen Denkschriften und Institutionen haben die ganze Volksbildung im Auge.

Denn die Humanisten haben es schon in ihrer frühen Zeit als ihre Aufgabe betrachtet, die abendländischen Völker auf die gleiche Stufe zu heben, auf die das griechische Volk gelangt war. Es wurde der größte Triumph der Humanisten, daß anderthalb Jahrtausende nah dem Untergang der antiken Welt die germanisch-romanischen Völker weit über das hinausgelangt waren, was Griechen und Römer errungen hatten. Diese hatten es nie zur Buchdruckerkunst gebracht und nur die ersten Anfänge der exakten Naturwissenschaft gefunden. Kopernikus schildert es in der Widmung seines Werkes an den Papst, wie die Lektüre der wiederentdeckten Autoren des klassischen Altertums seinem Denken die bestimmte Richtung gegeben hat und wie er alsdann über die bloße Gelehrsamkeit hinaus zur eigenen Forschung geschritten ist und seine Lehre aufgestellt hat gegen die Autorität von Jahrtausenden und nahezu gegen den gesunden Menschenverstand — „propemodum contra communem sensum". Nicht anders Galilei! Er hat den Faden dort wieder ausgenommen, wo Archimedes und Hero von Alexandrien ihn liegengelassen hatten. Auch er hat ganz als Humanist und in der Methode der Humanisten begonnen. Er las im Vitruv die Erzählung von der Krone des Königs Hiero, er las sie mit Kritik, er fand das dort geschilderte Verfahren des Archimedes zu roh und des Meisters nicht würdig, dessen Schriften im griechischen Originaltext jetzt zugänglich waren und er zu studieren begonnen hatte; er kam zum Schlüsse — Vitruv kann keine echte Quelle sein! Also suchte er das wirkliche Verfahren des Archimedes; und es erwachte der Ehrgeiz, den Alten es gleichzutun oder gar sie zu übertreffen. Aber zum Aufbau der abendländischen Kultur genügten Forscher und Erfinder gewiß nicht. Buchdruckerkunst, exakte Naturwissenschaft und moderne Technik hätten niemals nur von Gelehrten entwickelt werden können. Dazu gehörte eine mehr oder minder breite Schicht von Mechanikern, die denken konnten und den Apparat ebenso sorgsam und ruhig zu bedienen und zu pflegen gewillt waren, wie sie ihn exakt nach den Angaben des Konstrukteurs aufgebaut hatten. Die '„Erziehung zur Industrie“ — dieses große Anliegen der Staatsmänner und Unternehmer seit dem 17. Jahrhundert — erforderte mehr als nur eine Vermittlung von Fertigkeiten und Handgriffen; sie verlangte die Gewöhnung an Fleiß, Exaktheit und Sorgfalt, sie war nicht möglich ohne eine Schulbildung, die im Sinne des Humanismus die Freude am Wirken und den Respekt vor der Sadie in den Kindern erweckte. Es war eines der schlimmsten Hemmnisse bei der Entwicklung der modernen Technik, daß die Meister in den Werkstätten nicht genug dieser Hilfskräfte heranbilden konnten, weil die Nachfrage rasch anwuchs und auch die Zunftschranken alles lähmten. Und es blieb selbst in Mitteleuropa noch im 19. Jahrhundert eine schwierige Aufgabe, bei der geringen Entwicklung des Verkehrs und angesichts der Not, in der die Fronbauern und die unterste Schicht der städtischen Bevölkerung leben mußten, die Schulpflicht bis in das letzte Dorf und in den fernsten Winkel durchzusetzen.

Als das Gegenteil zur humanistischen Unterrichtsweise ist schon seit dem 17. Jahrhundert die encyklopädische, die realistische oder, wie man zeitweise sagte, die philanthropistische aufgekommen: dies alles sind verschiedene Bezeichnungen für die gleiche antihumanistische Position. Ihr ist die Bekanntschaft mit interessanten Einzelheiten bedeutsamer als die Übung der Verstandeskräfte; die Einordnung in die Gesellschaft, also die Sozialkunde ist ihr wichtiger als die Bildung des einzelnen Menschen um seiner selbst willen, der dann von da aus um so stärker in die Gesellschaft wirkt. Der Humanismus dagegen ist zugeordnet den Zeiten der Individualkultur: auf den Einzelnen, auf die Persönlichkeit kommt es an! Das Gedeihen dieser Kultur aber hängt ganz davon ab, daß der Mensch denken und Initiative entfalten kann und nicht die Vergesellschaftung des Geistes die Oberhand gewinnt, wo der Mensch nicht anders mehr kann denn reagieren innerhalb seiner Gruppe oder in der Masse, also unter dem Diktat der Leidenschaft und der Selbstsucht: dies ist der allem Humanistischen entgegengesetzte Zustand.

Ausbildung des humanum in den Menschen heißt nun freilich nicht, daß alle in gleicher Weise und gemeinsam gebildet werden sollen. Zum Wesen jeder höheren Kultur gehört, daß es eine Wertordnung unter den Berufen und also in der Schule eine Rangordnung unter den Fächern gibt. Und so beruht der Humanismus auf der Überzeugung, daß von den Schülern, die sich auf die oberen Berufe vorbereiten und die bestimmt sind, im gesellschaftlichen Organismus dereinst eine erhöhte Verantwortung zu übernehmen, mehr verlangt werden muß an Übung und Disziplinierung des Geistes als von den Lehrlingen des Handwerks oder des Handels oder von den Bauernburschen. Denn auch in der Individualkultur gibt es einen notwendigen Anspruch der Gesellschaft an den einzelnen. Jede Gesellschaft braucht eine führende Schicht, die nicht im Ballast ziellosen Wissens erstickt, sondern wenigstens einige Jahre der Jugend im Dienste der Wissenschaft zugebracht, ihr Ethos sich angeeignet und dort gelernt hat, richtig zu denken und über den Kreis des persönlichen Interesses sich zu erheben. Diese Elite muß fähig und gewohnt sein, Entschlüsse zu fassen nach Vernunftgründen und die Konflikte des Lebens zu durchschauen, um nach Mitteln zu ihrer Lösung zu suchen; sie vor allem darf in schwierigen Situationen sich nicht übermannen lassen. Denn — so sagt der athenische Staatsmann — „wir hegen den Grundsatz, nicht daß Überlegung der tätigen Ausführung nachteilig sei, sondern daß vielmehr das von Nachteil ist, wenn man sich nicht zuvor durch vernüftige Vorstellungen belehren läßt, ehe man zur Tat schreitet.“

Gewiß — das Ethos der wissenschaftlichen Arbeit, der selbstlosen Hingabe an den Umgang mit geistigen Gütern ist in der abendländischen Welt älter als der Humanismus; es entstammt der klerikalen Sphäre. Unsere Kultur beruhte von frühe an auf dem gelehrten Priester, der gelehrten Jurisprudenz, der Schulmedizin und den Gelehrtenschulen. Das Bewußtsein, daß diese Grundlage unserer Bildung geistlichen Ursprungs ist, hat sich ein Jahrtausend lang bis ins 18. Jahrhundert lebenskräftig erhalten und ist auch heute in Europa noch nicht ganz erloschen. Wie ergreifend ist das Denkmal, das Ernest Renan — der auch einmal Priester gewesen war und dann als weltlicher Gelehrter am Bau der Wissenschaft weiterarbeitete — in der Erinnerung an das Petit Seminaire seinen ehrwürdigen Lehrern gesetzt hat: „Vieux et chers maitres, je ne vous ai pas ete aussi infidele que vous croyez“. Der Unterricht war noch der ganz veraltete des 17. Jahrhunderts, aber sie lehrten den Jüngling „le devouement ä la vrit et au bien“ und daß das Leben frivol ist, wenn man es nicht als eine große und dauernde Pflicht auffaßt, so daß, wer in diesem Seminar herangewachsen ist und sich achtet, nur an geistigen Aufgaben arbeiten kann — „que le reste est secondaire, infime, presque honteux, ignominia saeculi“. Lind das Leben, er durfte dies sagen, hat er gelebt nach dem Vorbilde der Patres:

„envisageant comme eux toute profession bourgeoise ou lucrative comme inferieure, basse, humiliante"; sie wurden „le type de ma vie“ — „pauvre, exempt de souci materiel, estime, respecte comme eux“.

Was hier bekannt wird, ist das Erbe einer großen Tradition abendländischen Lebens. Aber die Welt des Feudalismus, der sie entstammte, die aristokratische Periode der europäischen Geschichte war schon gegen Ausgang des Mittelalters im Verfall. Der Adel hatte keine Meriten nötig; er übte ererbte Herrenrechte aus über lockere Verbände, und die großen Zwecke entfielen. Während in jener Zeit die Städte und Staaten sich emporbildeten, trat an sie die Aufgabe heran, dafür zu sorgen, daß in den schwieriger und unübersichtlicher werdenden Verhältnissen „le devouement ä la vrit et au bien“ — oder, in der Sprache der alt-deutschen Staatsmänner ausgedrückt, „Lieb'der Gerechtigkeit und gemeiner Nutzen“ — sich durch Kenntnisse und Hingabe bewähren. Der Gesellschaft des Feudalismus hielten die Humanisten den Satz entgegen: „Der irrt sich sehr, welcher glaubt, man könne ohne Gelehrsamkeit eine rechte Tüchtigkeit — solidam virtutem — erlangen". Dies eben wurde auch das Lebenselement des modernen Staates, als er im 16. Jahrhundert sich konsolidiert und im 19. Jahrhundert als Rechtsstaat sich neu geordnet hat; beide Male brauchte er Männer, die von Jugend auf im Umgang mit geistigen Aufgaben über das Streben nach Reichtum hin-ausgehoben waren und mit bürgerlichem Fleiß und geübtem Scharfsinn zu urteilen und zu handeln verstanden jenseits der Gruppen und jenseits der Masse. Das eben ist die in den neueren Jahrhunderten waltende Staatsidee, daß der Staat weder mit einer Gruppe sich identifizieren noch in der Masse versinken darf. Daher kommt es, daß die beiden entscheidenden Etappen, in denen der moderne Staat und die moderne Gesellschaft aufgestiegen sind und die man der Übersichtlichkeit halber mit den Jahren 1500 und 1800 bezeichnen mag, auch die Blütezeiten des Humanismus sind. Es wird nicht behauptet, der Humanismus sei einfach aus bestimmten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen erwachsen; vielmehr gehörten Begabung, Kraft und Wille des abendländischen Menschentums dazu, um das humanistische Geistesgut — diese Überzeugungen, Meinungen, Gesinnungen, diese Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens, dieses Formgefühl und diese Art des Lebens und Empfindens — hervorzubringen. Unnötig ist zu betonen, daß der Bildungsgedanke des Humanismus auch unabhängig von den Bedürfnissen des Gemeinwesens, mit eigenem Wert hervorgetreten ist; vielen war er ihre ganz persönliche Angelegenheit. Und es darf auch nicht angenommen werden, der Dritte Stand sei mit dem Humanismus konform gegangen; es blieb immer nur eine Elite, die sah, was diese Bildung bedeutete; die Mehrheit widerstrebte der strengen Lehre. Aber der Humanismus entsprach den Bedürfnissen einer Zeit, da der Feudalismus verfiel und die monarchische Gewalt mit den Stadtrepubliken wetteiferte. Und er entsprach auch den Bedürfnissen jener späteren Zeit, da das Ancien Regime verfiel und die Gesellschaft der staatsbürgerlichen Freiheit und der Rechtsgleichheit, gleichfalls zuerst in der monarchischen Form, empor-kam. In beiden Zeitaltern — wo alte Ordnungen zusammenstürzten — mußten Staat und Kirche und Gesellschaft neu geformt und gefestigt werden, indem tüchtige Männer erzogen wurden, denen zwar der Vorzug der Geburt abgehen mochte, die aber statt dessen den Vorzug der wissenschaftlichen Bildung besaßen. Die Fürsten brauchten Männer, die auf der Kanzel und in der Kanzlei, in der Schulstube und am Krankenbett ihre Aufgaben mit geübter Intelligenz, mit Sachkunde und Gewissenhaftigkeit erfüllten. In beiden Fällen ist es zu einem Zusammenwirken von Humanismus und Regierungsgewalt gekommen, haben die Humanisten die Regierenden für sich gewonnen und so ihren Bildungsgedanken durchgesetzt mit Hilfe der Staatsgewalt. Da ist sichtbar geworden, wie sehr auch der Humanismus gleich dem Staate der modernen Welt angehörte und beide gemeinsam den Dritten Stand emporführten.

Humanismus, moderner Staat und Dritter Stand

Humanismus, moderner Staat und Dritter Stand — dies waren im 16. Jahrhundert die neuen Elemente der Gesellschaft. Fürsten und Magistrate beriefen wissenschaftlich gebildete und tatkräftige Lehrer, gaben ihnen gute Besoldung und soziales Ansehen und schützten ihre Autorität in der Schule, in der Stadt, im Territorium. Am berühmtesten ist jene „Obere Schule“, die der Magistrat von Nürnberg eingerichtet hat. Er berief den Melanchthon von der Universität Wittenberg, damit er als Rektor die Leitung der reichsstädtischen hohen Schule übernehme. Dieser aber konnte sich von seinen Aufgaben in Kursachsen nicht lösen, doch kam er persönlich nach Nürnberg, um die Schule einzurichten und die Eröffnungsrede zu halten: „in laudem novae scholae", am 23. Mai 1526. %) Rektor der neuen Schule wurde Joachim Camerarius, der zu den frühesten Schülern des Melanchthon gehörte und in seinen späteren Jahren an der Universität Leipzig einer der gefeiertsten deutschen Humanisten und Philologen geworden ist. Freilich war die Reichsstadt Nürnberg unter den deutschen Städten in vielfacher Hinsicht ausgezeichnet, selbst neben Augsburg oder Ulm; sie war die einzige wahrhafte Stadtrepublik, mit ansehnlichem Territorium. Doch sind auch in den anderen Städten und Staaten Gelehrtenschulen dieser Art eingerichtet worden. Es waren öffentliche, von der Obrigkeit ausgestattete Unterrichtsanstalten. Patriziersöhne und die Kinder von bescheidener Herkunft saßen hier zum ersten Male mit gleichen Pflichten und Rechten auf der nämlichen Schulbank, unter sich verbunden durch die in gemeinsamer Arbeit wachsende Bildung, durch die gleiche Zucht des Geistes und der Sitten. In der Tat zeigt das 16. Jahrhundert, daß unter dem Einfluß der humanistischen Bewegung überall in den Regierungen die Vorzugsstellung des Adels zurücktrat, der bürgerliche Staatsmann mit wissenschaftlicher Vorbildung dominierte. Die meisten Räte der Fürsten, die in der Geschichte der deutschen Reformation genannt werden und auf den berühmten Reichstagen jener Jahre im Gefolge ihrer Landesherren handelnd hervortraten, sind bürgerlichen Standes gewesen und kraft ihrer Studien und der Doktorwürde den adligen Räten ebenbürtig. Dasselbe gilt von den hohen Beamten, die im 19. Jahrhundert Verwaltung und Justiz in den Staaten Europas geführt und die rechtliche Sicherheit für alle und auch für das Beamtentum erkämpft und gewahrt haben; auch sie hatten ihre Bildung auf den humanistischen Schulen erhalten.

Humanismus, moderner Staat und Dritter Stand waren ursprünglich aus ganz verschiedenen Antrieben emporgekommen im natürlichen Wachstum der abendländischen Völker, aber alle noch in der aristokratischen Periode der europäischen Geschichte. Gemeinsam war ihnen, daß sowohl der nach Geld und Macht strebende Staat, wie der auf strenge Geistesbildung gerichtete Humanismus und auch der emporsteigende Dritte Stand, in gleicher Weise darauf angewiesen waren, daß an die Stelle der Auslese nach der Geburt die Auslese nach Bildung und Verdienst trat. Verdienste, virtutes, Meriten wurden zum Maßstab; das Wort Leistung in diesem Sinne stammt erst aus der Zeit des aufkommenden Maschinenwesens und ist von da auf den Menschen übertragen.

Dies also ist der Gang der Dinge geworden: das Examen ist die demokratische Form der Auslese, der freie Wettbewerb verdrängt das Privileg! So ist der Humanismus zum Träger eines vorwärtstreibenden Prinzips geworden, das den Vorrang der Geburt bestritt, Verdienst und Tüchtigkeit zum Maßstab der gesellschaftlichen Auswahl machte. Er wurde ein Element der aufsteigenden urbanen Kultur, ihres Gedankens der Persönlichkeit, der den einzelnen berief, herauszutreten aus den Schranken seiner Herkunft — der Geburt, der Sippe, der Rasse, der Kaste — und im freien Wettbewerb mit anderen, woher sie auch kommen mögen, die Kräfte des Geistes zu entfalten, sie zu messen, sich verdient zu machen, nach seinen Taten gewürdigt zu werden. Zum Wesen des Humanismus gehört dieser Glaube an die Macht der Bildung, an die umwälzende Kraft des Geistes und daß es also auch eine angelebte Natur gibt. Der Satz, daß der Kern des Menschen unveränderlich sei, stammt erst aus der Romantik, ist unhumanistisch und hat nur eine begrenzte Geltung. Aber freilich, die einfache Anhäufung von Tatsachen und Kenntnissen vermag diese umwälzende Kraft nicht zu entfalten. Und wenn in den Anfängen seiner Entwicklung der Humanismus noch unfrei gewesen ist, die griechisch-römischen Autoritäten sammelte und über alles setzte, und wenn er zu Zeiten sich vom modernen Enzyklopädismus, von altklassischen Realien und anderem Stoff überwältigen ließ, so hat er doch auf der Höhe seines Wirkens dem menschlichen Geiste die Richtung gegeben, die daran gewöhnte, sich auf Gründe zu stützen. Nur jene Bildung, die den Gedanken und das Urteil stärkt und über die alltäglichen Bedürfnisse hinausführt, vermag den einzelnen zu heben über die Menschen, ihm Übelegenheit zu geben durch richtige Entschlüsse und aus Menschen verschiedenen Standes, verschiedener Rasse eine Bildungsschicht zu formen, in der die Herkunft keine Rolle mehr spielt.

Der humanistische und bürgerliche Begriff der Persönlichkeit geht dabei aus von dem Naturgesetz, daß die ungleichen Kinder Evae immer irgendwie ungleich bleiben werden; Hans Sachs, der Schuhmacher, der als Bürger der Reichsstadt und durch humanistische Bildung zu Ansehen kam, hat das Thema nicht weniger als fünfmal behandelt. Der bürgerlich-humanistische Begriff der Gleichheit meint also, daß es keine ungleichen gesetzlichen Schranken geben soll, die den Einzelnen hindern, sein Können zu entfalten und im Leben der Gesellschaft einzusetzen. Denn eine Kaste, so lautet der bürgerliche und humanistische Satz, ist nirgends, wo jeder, der im übrigen die geistigen und äußeren Mittel hat, hinzukommen kann; sonst müßte auch der teuere Preis der Bücher oder die streng wissenschaftliche Behandlung eines Gegenstandes angeklagt werden. Und so lesen wir bei Melanchthon den uns nun schon vertraut gewordenen Gedanken: „Der Masse des Volkes mögen gewiß nur die ersten Grundlagen der Bildung zugänglich sein. Aber obwohl viele Ingenia schwach sind und allein bei den ersten Künsten, die allen zugleich zugänglich sind, bleiben müssen, so gibt doch Gott etliche große Ingenia, die fortfahren, daß sie andere hiernach unterweisen und die Künste erhalten und mehren sollen.“

Die Humanisten und die Angehörigen des aufstrebenden Dritten Standes fühlten sich also in der Mitte — zwischen der ungebildeten Menge und den Junkern, die alles in der Wiege empfangen haben, alles der Familie verdanken. Masse und Sippe sind bloße Natur, rassenhaft gebunden; der bürgerliche und humanistische Mensch aber, weil er den Geist gebildet, erhebt sich darüber hinaus. Und als der Prototyp des bürgerlichen Menschen, der von allen Humanisten und von allen Wortführern des Dritten Standes in gleicher Weise gefeiert worden ist, erscheint Cicero, der selber ein homo novus war und ganz in dieser Mittelstellung zwischen den Junkern und der Masse sich befand. Einerseits sagt Cicero — wenn die Gleichheit dem Ignoranten dieselbe Wichtigkeit verleiht wie dem Weisen, dann ist die größte Ungerechtigkeit: „ipsa aequitas iniquissima est“. Andererseits und noch leidenschaftlicher hat er sich gegen jene glücklichen Leute gewendet, die Optimaten, die es nicht nötig haben, sich Verdienste zu erwerben, wel der Herr es ihnen im Schlafe gegeben hat: „quibus omnia populi Romani beneficia dormientibus transferuntur".

Die Quintessenz der humanistischen Lebensauffassung kommt also zum Ausdrude in dem Satz, daß der Weg zur Tüchtigkeit und zum Verdienst nur durch die strenge Schulung des Geistes und des Willens führt und daß auf den höheren Stufen der gesellschaftlichen Arbeit die wissenschaftliche Bildung notwendig ist, um den Geist zu wecken, den Willen zu stählen und beide auf edle Ziele zu lenken. Überall wo der humanistische Bildungsgedanke aufgeblüht ist und die entsprechenden Institutionen geschaffen hat, treten uns die gleichen Grundüberzeugungen entgegen. Man bekennt sich zu dem Unterschied zwischen den „artes humaniores“ und den „artificia necessaria"; die letzteren sind nicht Sache der Schule. Überhaupt, verachtet ist der Banause, der nur „quaestuosas artes“ erstrebt. Man findet, daß die Gewöhnung an konsequentes Denken, also die Gymnastik des Geistes, Inhalt und Ziel des höheren Unterrichtes sei, und daß schon die Griechen die Übung des Geistes mit dem gleichen Worte bezeichnet haben wie die Übung des Körpers — yvuvsv; noch heute halten die Gymnasien in ihrem Namen die Erinnerung daran fest. Man geht davon aus, daß der Unterrichtsgegenstand nur dann einen bildenden Wert habe und in die höhere Schule gehöre, wenn er ganz von seiner Grundlage aus aufgebaut, also kritisch behandelt wird. Daher hält man bloße Anregungen und Abwechslungen, zumal wenn sie gehäuft werden, für verderblich, weil sie die Kinder flach und gedankenflüchtig machen. Dies eben ist das Wesen der humanistischen Schule, daß sie nicht wahllos alles hereinnimmt, was das Leben und seine stets wechselnden Bedürfnisse nun einmal herantragen, sondern die Kleinigkeiten, das Nebensächliche, das Alltägliche, die Novitäten, die Konjunkturfächer, auch die Übungen im Disputieren draußen läßt und die Schüler und Studenten nur mit ernsten und gewichtigen Dingen beschäftigt und sie daran gewöhnt, diese ernsten und gewichtigen Dinge geistig zu durchdringen und lichtvoll darzustellen.

Die Gelehrtenschulen

Unter dem Schirm der reichsstädtischen Magistrate und dann des Fürstenstaates haben die humanistischen Schulmänner die Gelehrtenschulen entwickelt und auch den akademischen Unterricht der Universitäten mit dem Geiste und den Methoden des Humanismus durchdrungen. Wir besitzen — neben den Akten der Staatsverwaltungen — aus der Feder dieser Männer ein unermeßliches Material von Schriften, die uns als geschichtliche Quellen dienen. Es sind Schulordnungen, Schulreden, Denkschriften und Streitschriften, Vorlesungen, Briefe, Selbstbiographien, auch solche von ehemaligen Schülern. Mit einem Fleiße ohnegleichen hat Melanchthon, seinem Vorbilde Aristoteles nach-strebend, alle Gebiete des Wissens in allen seiner Zeit geläufigen Formen bearbeitet, und darunter liegen auch die Schriften über die Probleme der geistigen Bildung gesammelt und geordnet vor uns. Die Reihe der Neuhumanisten hat dann Johann Heinrich Voss eröffnet, dessen Verdeutschung des Homer den Ruhm des Übersetzers bis heute erhalten hat. Zwanzig Jahre lang, von 1782 bis 1802, hat er dem Gymnasium in Eutin als Direktor vorgestanden; seine Briefe und die seiner Gattin Ernestine enthalten eine Fülle von Zeugnissen des bürgerlichen und humanistischen Lebensideales. Von Friedrich August Wolf, dem großen Philologen, der die neue humanistische Bewegung in Gang gebracht und erhalten hat, liegen die Briefe in einer Ausgabe von drei Bänden vor. Zuerst durch ihn und Wilhelm v. Humboldt hat der Neuhumanismus all das in sich ausgenommen, was durch die große Bewegung des deutschen Geistes, durch Herder, Goethe und Schiller gewonnen worden war — die Einsicht in das Wesen der Totalität und der Spontaneität, die sich im Werden entfalten. Die Akademieausgabe von Humboldts Werken enthält auch die Denkschriften, die er 1808/10 als Chef des Unterrichtsdepartements im preußischen Ministerium des Innern versaßt hat; ihre Grundgedanken sind in Preußen und darüber hinaus maßgebend geworden Staatsmann und humanistischer Gelehrter in einer Person ist auch Niebuhr gewesen, der Erforscher der römischen Geschichte in ihrer Frühzeit; die Ausgabe seiner Briefe und Lebensnachrichten gibt eine reiche Ausbeute; sein „Brief an einen jungen Philologen" ist die feinste Bekenntnisschrift der neuhumanistischen Gesinnung und als solche eine Quellenschrift ersten Ranges

Ein überaus tätiger und umsichtiger Humanist war Friedrich Thiersch, ein gefeiertes Mitglied und lange Zeit Präsident unserer Bayerischen Akademie der Wissenschaften; in ihrem Sitzungssaal hat er viele seiner Vorträge über das humanistische Bildungsideal gehalten, in ihren Schriftenreihen sind sie veröffentlicht. Auch Friedrich Jacobs in Gotha war Jahrzehnte hindurch ein Vorkämpfer der humanistischen Bildung und noch dazu ein großer Philologe; seine Schriften sind eine Fundgrube für den Geschichtsschreiber. Nicht zuletzt muß hier auch Hegel genannt werden, der im rheinbündischen Deutschland, von 1808 bis 1816 Direktor des einst von Melanchthon im Auftrage der Reichsstadt eingerichteten, nunmehr königlich-bayerischen Gymnasiums von Nürnberg gewesen ist. Seine Schulreden aus jenen Jahren liegen im Neudruck gesammelt vor; sie geben Einblick in die Grundsätze der neu-humanistischen Schule und auch in den Weg, der aus der reichsstädtischen Vergangenheit in die bayerische Landesstadt und in den neuen Humanismus geführt hat Doch bleibt bei jeder Äußerung stets zu prüfen, wie weit man Hegel zu den Humanisten rechnen darf. Er hat nicht viel Umstände gemacht — weder mit der Philosophie noch mit seinen Schülern. Wir haben jedoch gerade aus der Nürnberger Zeit Zeugnisse hoher Verehrung aus dem Kreise seiner Primaner. In Berlin ist in der Philosophie wie in Schulfragen die Auseinandersetzung gegen ihn geführt worden von Adolf Trendelenburg, dem Aristoteliker und Humanisten Und der philosophischen Schule, die Hegel inspiriert hat, gehören Eduard Zeller und auch noch Kuno Fischer an, die als Geschichtsschreiber der Philosophie ohne Zweifel etwas gewaltsam vorgegangen sind, um nach dem Rezept des Meisters die logischen und die historischen Kategorien in Eines zu setzen. Aber wenn man bedenkt, daß die heutige, sehr subtil vorgehende Forschung geneigt ist, Humboldt und Niebuhr zu den romantischen Naturen zu rechnen, und wenn man andererseits alle, die drängend und nachdrücklich den gewaltigen Stoff der Geschichte unter die Herrschaft des Geistes zu bringen oder die Gesellschaft neu zu gestalten suchten oder als Schulmonarchen oder wissenschaftliche Schulhäupter auftraten, unhumanistisch nennen will, dann führt dies zur Auflösung der ihrem Wesen nach an sich schon unscharfen historischen Begriffe. Es bleibt doch zu erwägen, daß Hegels Philosophie gewiß nur auf humanistischem Boden erwachsen konnte, insofern sie die Welt auf den Geist, auf den Gedanken gestellt und den Begriff des Werdens eingebaut hat.

Es ist nicht möglich, hier das ganze Schrifttum aufzureihen, das um den Neuhumanismus in dem Jahrhundert seiner Erfolge und seiner Kämpfe sich angehäuft hat. Engländer und Franzosen kommen hinzu — John Henry Newmann, Victor Cousin und seine Schule. Es ist hierbei nicht nur auf die Kundgebungen der Männer vom Bau, der klassischen Philologen und der Verwaltungsbeamten in den Unterrichtministerien zu achten; der Humanismus hat auch in den anderen Wissenschaften und im ganzen öffentlichen Leben gewaltet. Die Stimmen und Taten zu sammeln, die von daher kommen, ist umständlich und doch von hohem Interesse. Unvergeßlich bleiben die Ansprachen, die Max v. Pettenkofer als Rektor unserer Münchener Universität und als Präsident unserer Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat. Er hat es angesichts der zunehmenden Angriffe auf das humanistische Gymnasium für nötig erachtet, die schon damals als Skepsis auf ihre Gymnasialjahre zurückblickenden Studierenden über ihre humanistische Bildung zu „beruhigen", wie er mit der ihm eigenen feinen Ironie sich ausgedrückt hat. Und er hat mit der humanistischen Weite, die er sich in seinem Leben erworben und erhalten hatte, selbst die entferntesten Disziplinen, die sich mit den verschiedensten Dingen beschäftigen und zu ihrer Bearbeitung der verschiedensten Werkzeuge bedienen, in höchst geistreicher Weise zueinander in Beziehung zu setzen gewußt. In einer Zeit, in der die Spezialisierung zu triumphieren begann und mit guten Gründen als eine Bürgschaft für den Fortschritt gefeiert wurde, hat Pettenkofer dargelegt, wie auf der neuen Grundlage der empirischen Forschung doch auch wieder ein universaler Zusammenhang erwachsen kann, weil die scheinbar so getrennten Wissensgebiete doch im Voranschreiten der Erkenntnisse immer mehr Berührungspunkte gewinnen, immer enger sich verschlingen und zusammenwachsen, wenn nur ein jedes Mitglied der akademischen Körperschaft an seiner Stelle dem Motto unserer Akademie treu bleibt — „rerum cognoscere causas“

Diese ganze weitzerstreute Menge von geschichtlichen Quellen bedurfte der kritischen Sichtung. Hierbei ist von vornherein einem Mißverständnis zu begegnen. Das heutige humanistische Gymnasium hat mit dem, was man einst so oder Gelehrtenschule genannt hat und dessen Blüte, wie gesagt, in das und dann wieder in den Anfang des 19. Jahrhunderts fällt, nahezu nur noch den Namen und die Tatsache gemeinsam, daß die beiden alten Sprachen auf dem Lehrplan stehen. Der amtliche Wortlaut zieht daher, aus welchem Grunde auch immer, heute die Bezeichnung altsprachliches Gymnasium vor. Das humanistische Gymnasium in geschichtlicher Zeit hatte drei Ziele — die pietas, die sapientia und die eloquentia. Die pietas ist, je mehr der Humanismus im Zusammenhang mit der Säkularisierung aller Lebensgebiete verweltlichte, im 19. Jahrhundert immer mehr in den Hintergrund getreten; sapientia und eloquentia standen ganz voran; daß sie zusammengehören und erst der treffende Ausdruck die Erkenntnis voll ans Licht bringt, sei als eine der Grundlehren des Humanismus hier wiederholt. Entsprechend stehen jene Fächer im alten humanistischen Gymnasium absolut voran, die diesen Zielen dienen. Neben der Religion sind es die drei Hauptfächer, auf die sich der ganze Unterricht konzentriert — Latein, Griechisch und Mathematik; erst im Aufschwung unserer klassischen Literatur ist noch der Deutschunterricht hinzugekommen.

Die Grundlage alles Lernens, so heißt es in der kursächsischen Schulordnung von 1528, ist die Grammatik: „kein größerer Schade allen Künsten mag zugefügt werden, denn wo die Jugend nicht wohl geübet wird in der Grammatica; wo solches nicht geschieht, ist alles Lernen verloren und vergeblich“ 16). Neben dem Latein gilt als gleich wichtig das Griechische, und zwar nicht nur weil es die Sprache des Neuen Testamentes und deshalb notwendig und nützlich ist, sondern weil es die Sprache Homers, Pindars, des Thukydides und des Aristoteles ist. Das dritte wissenschaftliche Hauptfach ist die Mathematik, „quia mathematica prima et certissima scientia est". Denn die Mathematik ist diejenige Wissenschaft, wo nicht diktiert sondern bewiesen wird; die Kinder sollen sich ja gewöhnen an das Denken nach Vernunft-gründen. Der Diktator diktiert, der Mathematiker beweist; das gleiche geschieht auch in den anderen wissenschaftlichen Fächern — nur eben ist da das Beweisen schwieriger und komplizierter als in der Mathematik, zu der naturgemäß auch die Physik gezählt wird.

Latein, Griechisch, Mathematik und die Muttersprache — daneben gibt es nur noch „Nebenfächer"; sie werden erteilt vom Ordinarius der alten Sprachen oder dem der Mathematik. Und gegen alle Anforderungen, welche seit dem 18. Jahrhundert die mächtige Entfaltung der Zivilisation und mit ihr der wissenswerten Kenntnis an die Schule zu stellen nicht zögerte, haben die führenden Humanisten ihr Prinzip verteidigt, daß es unmöglich die dringendste Aufgabe der Schule sein könne, den Blick des Kindes auf die Erde zu lenken, wohin doch an sich schon den Menschen ein überwiegendes Gewicht zieht: „Sehr viel schwieriger ist es doch, das Gegengewicht frei zu machen, das allerdings auch im Menschen liegt, aber der sorgsamsten Pflege von Jugend an bedarf." Eindrücke, Bilder, Tatbestände bringt das Leben mehr als genug, dazu bedarf es der Schule nicht. Aber zum begrifflichen Denken und zur inneren Anschauung muß das Kind allerdings erzogen werden, wenn es über das kreatürliche Dasein hinauswachsen soll: „Die Zeit, in der die Menschheit im Menschen gebildet wird, darf den Kindern nicht geraubt werden, um ihr jugendliches Gemüt mit allem Tand der Erde zu füllen."

Oberster Zweck: Klares Denken und saubere Ausarbeitung

Ebenso konsequent wie die Auswahl der Fächer ist auch die Methode des humanistischen Unterrichtes abgeleitet aus dem obersten Zweck, die Jugend an klares Denken und saubere Ausarbeitung zu gewöhnen. An erster Stelle steht da, daß die Gedächtnisübungen in der humanistischen Schule ganz unentbehrlich sind. Denn alle geistige Erziehung beruht darauf, daß die geistigen Elementarübungen den Ausgang bilden und zum unbedingten Besitz werden. So geistlos und schikanös der Drill auch sein kann, ohne Gedächtnisübungen und Auswendiglernen geht es nicht: „tantum scimus quantum memoria tenemus“ — daß die Übung des Gedächtnisses die Seele stärkt und nährt und der Mensch nur jenes Wissen sein Eigentum nennen kann, das er in seinem Gedächtnis festhält. Auch dies ist eine Erfahrung, die aus der vorhumanistischen Zeit überkommen war. Lind noch viele Generationen humanistischer Schulmänner haben das Auswendiglernen gegen die zunehmenden Angriffe verteidigt und nicht nur die Paradigmata der Grammatik, die Verse des Virgil und des Homer sondern auch die Bibelsprüche für würdig gehalten, dem Gedächtnis einverleibt zu werden in dem Bewußtsein, welche unerschöpfliche Erquickung die christ-

lichen Gedächtnisschätze in kummervoll durchwachten Nächten gegewähren können.

Aber bei dem Memorieren ist der Humanismus nicht stehengeblieben.

Denn den Schülern sollen ja nicht so und so viele Kenntnisse eingepumpt, sondern sie sollen an selbständiges Denken, an Mitarbeiten gewöhnt werden. Es ist ja offenkundig: „Niemand lernt etwas durch bloßes Anhören, und wer sich in gewissen Dingen nicht selbständig bemüht, weiß die Sachen nur oberflächlich und halb." So lesen wir in Goethes Gesprächen Lernen ist dem Humanismus eben nicht ein bloßes Empfangen sondern ein tätiges Ergreifen der Kenntnis und die Entwicklung der Kraft, die gewonnene Erkenntnis zu gebrauchen. Die Natur dessen — so legte Hegel vor den Eltern in Nürnberg dar — was in unseren humanistischen Schulen gelehrt wird, von den ersten grammatischen Bestimmungen an, sind nicht etwa Einzelheiten, deren jede für sich gälte und bloß Gegenstand der Anschauung, des Vorstellens öden des Gedächtnisses wäre, sondern es ist vornehmlich eine Reihe von Regeln, von allgemeinen Bestimmungen. In diesen erhält die Jugend schon in Sexta etwas,, das sie anwenden kann — Werkzeuge, sich an dem einzelnen zu versuchen, mit ihm fertig zu werden. Dies eben macht das Lernen zum Studieren, daß man wechselweise übergeht zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, also das Einzelne unter allgemeine Gesichtspunkte bringt oder die allgemeine Regel auf den einzelnen Fall anwendet.

Deshalb haben die humanistischen Schulmänner das Schwergewicht gelegt auf die schriftlichen Ausarbeitungen in der Klausur und zu Hause. Der Lehrer, so hat Hegel die Eltern belehrt, ist oft geneigt, dem lebhaften Knaben, der leicht faßt, schnell sich erinnert, durch irgendeine Kombination glücklich errät, den Vorzug zu geben: „Aber dies sind nicht die höheren Funktionen des Geistes. Bei der Klausurarbeit zeigt sich dann, daß oft eben diesem Knaben die eigene innere Selbständigkeit, das eigene besonnene Nachdenken, die Sammlung aller seiner Fähigkeiten auf einem Brennpunkt abgeht, während andere, die im Mündlichen langsam und nicht so vorlaut sind, bei der Niederschrift alle zu berücksichtigenden Umstände überlegen und das innere Arbeiten des Geistes zeigen, welches den wahrhaft besseren Kopf kennzeichnet.“ Neben der Klausur stehen die Hausaufgaben! Alle humanistischen Schulmänner haben es den Eltern ans Herz gelegt: „Es muß dem Kinde als eine unumstößliche Ordnung der Natur sich einprägen, es muß ihm zur Gewohnheit werden, daß es tue, was ihm aufgegeben ist, und zwar regelmäßig und mit Fleiß tue. Es kann nichts Wesentlicheres geben, als auf unabänderliche Ordnung zu halten, so daß das Aufgegebene zur gesetzten Zeit zu liefern etwas so Unausbleibliches werden muß-wie das Wiederaufgehen der Sonne,“ Dies ist Bürgergeist in Verbindung mit dem bürgerlichen Beamtengeist, der in Hegel lebte, dem Sohne einer alten württembergischen Beamtenfamilie, und es ist zugleich humanistischer Geist, der eben nicht in der Rezeption des Dargebotenen besteht — diese ist auch ohne Arbeit möglich — sondern zur eigenen Bemühung fortleitet.

Eigene Bemühung heißt jedoch nicht etwa eigenes Reflektieren und Raisonnieren. Die geistige Bildung kann nicht darin bestehen, dem Kinde Freiheit zu geben, sich und seine Natur auszusprechen, und die Erwachsenen bestaunen dann diese Kundgebungen des Genius. Dadurch würde nicht der Geist zum Herren gemacht über die Natur. Oft wird da von Humanisten erinnert an die & zsuua des Pythagoras, daß nämlich seine Schüler ihre ersten vier Lehrjahre hindurch schweigen mußten, also keine eigenen Einfälle und Gedanken haben oder zutage bringen durften. Es hatte seit Tersites genug, leere Schwätzer gegeben. Nur der Meister sprach, und das war Autorität: cubtg Eqpa — hieß die Parole der Pythagoräer. Denn die Methode des Beweisens muß autoritativ gelehrt werden; und das Erlebnis darf nicht voranstehen. Darin sieht Hegel den Anfang aller Erziehung, „daß diese eigenen Einfälle, Gedanken, Reflexionen, Erlebnisse, welche die Jugend haben kann, und die Art, wie sie solche aus sich haben kann, ausgereutet werden müssen: wie der Wille so muß auch der Gedanke beim Gehorsam beginnenm."

Ganz scharf wenden sich daher die Humanisten-gegen die Methode, daß den Schülern in der Schule der größte Teil der Arbeit abgenommen wird, daß ihnen also durch beständige Einhilfe so viel wie möglich die Mühe des Nachdenkens erspart wird, damit sie und ihre Eltern bei guter Laune erhalten bleiben. Es ist ein unhumanistischer Grundsatz: „omnis labor apud praeceptorem"; unhumanistisch ist, daß in der Schule, im Klassenunterricht das meiste erledigt wird und die häusliche Arbeit nur zum-Überholen und Überfliegen da ist. Denn nur durch die einsame Arbeit und die schriftliche Gestaltung wird der Gegenstand wirklich zum geistigen Eigentum.

Die „humanitas" des Humanismus ist also etwas anderes als die Humanität der Aufklärung, an die wir heute meistens zu denken pflegen, wenn von Humanität gesprochen wird. Der Begriff ist durch die Aufklärung erweicht worden. Menschliche Rücksicht und Schonung hat schon der Römer mit „humanitas“ gemeint Aber die „humanitas" im ursprünglichen römischen Sinne ist noch frei von eudaimomistischer Philosophie, sie will die Natur gestalten durch den memschlichen Geist, sie will das humanum, das Wesenhafte des Menschen-, den Geist zum Herren setzen über die Kreatur. Es war aber die auf Erfahrung gegründete Überzeugung, daß dieser Weg den Schülern nicht schmerzlos freigemacht werden kann, daß die Gewöhnung an logisches Denken, an strenge geistige Disziplin abgerungen werden muß, da die Natur auch den begabten Knaben ursprünglich auf ganz andere Dinge hinweist als auf die Beschäftigung mit Begriffen und Ideen, und daß seine Intelligenz und seine Aktivität bei diesen Studien festgehalten werden müssen, wenn sie nicht auf bequemere Ziele abirren sollen. Niemand hat neben dem Erhebenden des Lehrerberufes auch seine Schattenseiten so drastisch gezeichnet wie gerade Melanchthon, als er auf der Höhe seines Schaffens die Abhandlung schrieb: „De miseriis paedagogorum" — „daß kein Lasttier jemals so viel Plage erlebt hat, als wer Knaben zu lehren hat“. Denn die Gedanken der Schüler, so sagt der erfahrene Praeceptor, spazieren immer wieder irgemdwoanders umher, sie spotten des Lehrers. Wie ein Feldherr nichts erreichen kann, wenn seine Soldaten feige und lässig sind, so ist es auch mit dem Lehrer, dessen Leben ebenfalls ein dauernder Kriegsdienst ist — „scholastica militia"

Strenge und Milde-haben durch-die Jahrhunderte oft sich abgelöst. Aber auch-wenn die Verwaltung davor warnte, die Kräfte der unteren Klassen zu überspannen, so wies sie die Direktoren der Gymnasien doch an, daß den jungen Leuten in den Oberkassen „die Beschwerden, Mühseligkeiten und Aufopferungen, welche die unvermeidlichen Bedingungen eines erfolgreichen, dem-Dienste der Wissenschaft, des Staates und der Kirche gewidmeten Lebens sind, vergegenwärtigt werden müssen und sie früh an den Ernst ihres Berufes gewöhnt und zu den damit verbundenen Arbeiten gestählt werden sollen“ Wir hören aus der endlos durch die Generationen sich hinziehenden Literatur über Schulreform viele Klagen erklingen über Gymnasien und Gymnasiasten, und es wird davon hier noch werter zu-sprechen sein; aber niemals vor unseren Tagen-konnte der Vorwurf auftauchen, den-Schülern der höheren Lehranstalten gehe die praktische Verantwortlichkeit ab, während ein Fehler oder eine Unterlassung beim Lehrling und beim Gehilfen bedeutende Sachschäden oder sogar ein Unglück im Gefolge haben kann. Auf den Bänken der höheren Schulen saßen ehedem nur solche Knaben, die ahnten, welch ein strenget Dienst ihnen durch ihr ganzes Leben bevorstand und daß sie hierzu sich stark machen mußten. Und wenn jener andere Vorwurf heute wie in früheren-Zeiten oft laut wird-, die Schüler der höherem Lehranstalt wüßten gar nicht, wozu ihre Bemühungen denn eigentlich dienen sollten, so war und ist diese Klage ganz gewiß oft richtig und im den menschlichen Unzulänglichkeiten: begründet. Aber das System und die in ihm wirkenden Lehret hatten ehedem alles andere eher zu befürchten als die Fülle des zusammenhangs-losen Wissens und das sich aus ihr ergebende „taedium scriptorum"; sie konnten in den jungen Menschen jenen Wissensdurst erwecken, der nicht nach Zweck und Nutzen frägt und seit dem Tage, da Solon vor dem Barbarenkönig stand, in jungen und aufstrebenden Völkern immer wieder lebendig geworden ist.

Wenn man dies alles, was hier über humanistische Konzentration, und Methode gesagt ist, einem modernen Menschen des 20. Jahrhunderts vorhält, so antwortet er sofort: „Ego omnia alia.“ So weit haben wir uns heute vom humanistischen Bildungsgedanken entfernt, und wir dürfen als Tatsache feststellen: die humanistische Bildung ist heute ein geschichtliches Phänomen, ein Gegenstand bloß historischer Betrachtung geworden. Allerdings — ein Phänomen von unvergleichlicher Größe! Um dies anschaulich zu machen,, müßte man einen gewaltigen Teil der europäischen Geschichte, die vier unermeßlichen Jahrhunderte von 1500 bis 1900 hier ausbreiten. Und was umspannt dies alles! Wenn ich sagte, daß Kopernikus und Galilei ohne den Humanismus undenkbar sind, weil sie von den wiederentdeckten Autoren des klassischen Altertums lernten, wie man die Natur befrägt, so ist der europäische Mensch in Wissenschaft und bildender Kunst, im Staatsleben, in der Kriegskunst und auf den vielen anderen Gebieten, wo die Einwirkung des griechischen und römischen Geistes gleichfalls fruchtbar und unentbehrlich gewesen ist, längst aus dieser Schule der Alten entlassen. Auf allen diesen Gebieten ist der Anstieg ohne den Humanismus nicht möglich gewesen, aber es geht jetzt auch ohne ihn. Von daher stammt ein großer Teil der antihumanistischen Bewegung in unserer Gegenwart. Goethe hat in einem berühmten Gespräch die Äußerung getan, die chinesischen, indischen, ägyptischen Altertümer — mit denen in den letzten Jahren Goethes Europa näher bekannt wurde und unter denen die literarischen Altertümer für ihn vielleicht die erstaunlichsten waren — seien „nur Kuriositäten“. Sich mit ihnen zu beschäftigen ist nach seiner Meinung sehr wohlgetan; und in den mehr als hundert Jahren, die seit jenem Ausspruch verflossen sind, haben sich die Gegenstände aus aller Welt, mit denen sich zu beschäftigen „sehr wohlgetan“ ist, stärker vermehrt, als unserer Kraft und Zeit angemessen ist. Viele in unserer Gegenwart sind der Ansicht, daß auch die griechischen und römischen Altertümer — Literatur und bildende Kunst — inzwischen solche Kuriositätc 1 geworden seien; denn diese Werke haben für die meisten Berufe heute höchstens noch eine mittelbare Bedeutung und für viele gar keine. Warum die griechischen und römischen „Altertümer“ dennoch keine Kuriositäten sind, hoffe ich dargelegt zu haben.

Denn die Stellung, die der Antike in unserem Leben zukommt, besteht nicht nur darin, daß sie Hilfsdienste geleistet hat bei den einzelnen Hervorbringungen der abendländischen Kultur, also daß Amerika vielleicht früher entdeckt, die Naturwissenschaft und die moderne Technik rascher entwickelt wurden, die Kunst der Renaissance herrlicher erblühte und die Exerzierkunst nach römischem Vorbilde zeitiger über uns gekommen ist, als der Fall gewesen wäre, wenn die Antike nicht wieder belebt worden wäre. Dies alles trifft den Kern der Sache nicht. Goethe nennt in jenem Gespräch die sittliche und ästhetische Bildung, zu der uns der alte Orient nichts fruchten kann. Mehr als der einzelnen Güter der Zivilisation, die wir der Mitwirkung der Griechen und Römer verdanken, muß man der Menschenart gedenken, die in der Begegnung von Antike und Abendland gereift ist. Sie ist einmalig; man findet sie sonst nirgends in der Weltgeschichte und sie muß erhalten bleiben, weil sonst die Welt noch ärmer, noch roher und noch trostloser würde, als sie an sich schon geworden ist. Diese Menschenart entstammt ursprünglicher Begabung und auch vielfältigen äußeren Bedingungen des europäischen Lebens. Als zu diesen auch das humanistische Element getreten ist, hat es die Gesellschaft Europas nicht nur in entscheidenden Momenten mächtig vorangebracht, sondern zu Zeiten wohl auch gegen die Angriffe der Dummheit, der Gemeinheit und des Eigennutzes gesichert.

Die Humanisten im Dienste des Staates

Betrachten wir des Näheren diese Menschenart! Immer wo die vom humanistischen Geiste geführten Männer das Leben der Gesellschaft aus ihrer Bildungsidee gestalten konnten — vornehmlich im 16. und dann wieder im 19. Jahrhundert — waren sie moderne Menschen, und das humanistische Gymnasium war damals eine durch und durch modere Schule, ganz eingestellt auf Klarheit, Straffheit, auf geistige Disziplin, auf exakte und saubere Arbeit. Alle diese Humanisten standen im Dienste des modernen Staates. In Italien, dem Mutterlande des Humanismus, waren zunächst die Stadtrepubliken führend, die denen des alten Griechenlands so ähnlich waren — Seestädte, Handelsstädte, wo alles auf Konkurrenz, auf Wetteifer, auf den & yv gestellt war, und der agonale Geist der griechischen Polis sein geschichtliches Gegen-bild fand in dem der italienischen, der abendländischen Städte: auf den freien Wettbewerb führte auch das humanistische Ideal. Auch nördlich der Alpen haben Erasmus und Melanchthon ihren Ruf an die Magistrate der Städte ergehen lassen. Sie fanden nach mancherlei Erfahrungen die Fürsten teils „crassi“ teils „mali“: von ihnen erwarteten sie wenig für die Wissenschaft. Doch noch kurz bevor die erste Blütezeit des deutschen Humanismus erlosch, sind die sächsischen Fürstenschulen und die württembergischen Klosterschulen als Schöpfungen der Landesherren ins Leben getreten. Unwiderstehlich in der Tat vollzog sich der Aufstieg der monarchischen Gewalt. Galilei verließ die Universität Padua, wo er im Schutze der Republik von San Marco die zwanzig fruchtbaren Jahre ungestörten Forschens und Entdeckens verbracht hatte, und kehrte nach Florenz zurück an den Hof seines angestammten Landesvaters, des Großherzogs von Toscana. Und ebenso hat Goethe nicht auf dem Hirschgraben wohnen mögen und vertauschte das Gewinkel der alten Reichsstadt mit der lichten Welt des modernen Fürstenhofes. So ist denn auch der deutsche Neuhumanismus untrennbar verbunden mit dem deutschen Territorialstaat, mit dem rheinbündischen Deutschland, mit dem preußischen Staat und den deutschen Mittelstaaten bis in die Zeit der Reichsgründung. Unschwer lassen sich unter den deutschen Neuhumanisten territorialgeschichtlich bedingte Unterschiede feststellen. Wenngleich sie alle letzten Endes geistig auf das Göttingen des 18. Jahrhunderts zurückgehen, so kamen sie doch aus verschiedenen Landschaften, wo noch eine gewisse humanistische Tradition aus dem 16. Jahrhundert herrschte. Es gibt einen württembergischen und einen thüringischen Neuhumanismus; der letztere hat seinen Impuls von Schulpforta empfangen, Leopold Ranke ist seine größte geistige Gestalt, auch Friedrich Thiersch entstammte ihm und war ihm zugehörig, bevor er 1809 nach München ging. Weit ausgebreitet hat sich der württembergische Neuhumanismus; Hegel hat ihn nach Preußen, Niethammer nach Bayern getragen.

Längst waren in Europa Staatsgründer am Werke — „artifices", die den „Staat als Kunstwerk“ aufbauten, nach sicheren Regeln und als exakt funktionierenden Mechanismus. Sie arbeiteten in dem gewiß nicht unbegründeten Glauben, daß sie der Sicherheit und dem Fortschritt dienten und die Kultur voranbrachten, indem sie den Feudalismus und den Universalismus überwanden, auch wahllose Zusammenballungen von Ländermassen vermieden, die „libertates" und die nur historisch begreiflichen Unregelmäßigkeiten, die Unordnungen der „anarchischen Epoche“ beseitigten und die Symmetrie des umgrenzten, übersichtlich gebauten, ansehnlichen und mächtigen Staates in die Welt setzten.

Dies gilt für den Kardinal Richelieu oder den Großen Kurfürsten von Brandenburg wie für jene späteren deutschen Territorialherren, denen es in den Wirren der napoleonischen Zeit gelang, Könige oder Groß-herzöge von Mittelstaaten zu werden. Ihnen allen hat Richelieu auch das noch in seinem Politischen Testament zur Nachahmung empfohlen, „daß es eines der ruhmvollsten Zeichen der Wohlfahrt eines Staates ist, wenn in ihm Wissenschaften und Künste blühen und das Schrifttum ebenso in Ehren steht wie die Waffen“. Die rheinbündische Staaten-welt war tatsächlich nach einem in langen Jahrhunderten geschmiedeten und nun fertigen Modell geschaffen, sie war von letzter und gültiger Modernität gleich dem Klassizismus und dem Humanismus, die ebenso streng auf Regeln, auf Vernunft und Kunstverstand gegründet waren.

In jedem dieser Mittelstaaten war mit jeder neuen der rasch sich ablösenden Reorganisationen die Verwaltung immer übersichtlicher, moderner geworden, sie war nach einheitlichem Plane durchgebildet, die historischen Überreste der altdeutschen Formen waren abgestoßen, mit vollendeter Klarheit und Präzision, gleich einem Uhrwerk arbeitete der Apparat. Die Hauptstädte der neuen Gebilde durchstießen die alten Mauern und Tore, sie wurden ausgedehnt in die freie Landschaft, in Luft, Licht und Sonne, mit königlichen Straßen und Promenaden, mit sauberen Häuserfronten, alles nach strenger Gesetzlichkeit entworfen, und ausgeführt mit einfachen Mitteln — die Räume, die Plätze, die Grundrisse der Paläste, die ganze nach klassischem Muster gestaltete Städteplanung.

Diesem säkularen Geiste entstammte auch der Humanismus; er war der gegebene Verbündete der neuen Fürstenstaaten. Die von Niet-hammer und Hegel geleiteten humanistischen Gymnasien in München und Nürnberg waren Teile jener ganzen großen Komposition, zu der Graf Montgelas den Grund gelegt und der Friedrich Gärtner vor anderen den unvergleichlichen künstlerischen Ausdruck gegeben hat. Zu ihr gehören Ludwigstraße und Ludwigskirche, der Bau des Nationaltheaters und die von Ingolstadt und Landshut transferierte neue Universität, an der Friedrich Thiersch gewirkt hat. Es ist das München der Könige Max Josef und Ludwig I. Seinen sozialen Untergrund bildet die neu emporkommende Gesellschaft der Rechtsgleichheit, die kein Privileg mehr kennt und den freien Wettbewerb schon in der strengen humanistischen Schule beginnen läßt. Das Königreich Bayern hob sich durch all dies bewußt vom alten Kurfürstentum ab. In den anderen Mittelstaaten und ihren Residenzen findet man das gleiche Bild in bescheidenerem Rahmen. Auch das Berlin der Schinkelzeit ist ein bezeichnendes Stück jener Welt; es hat in dem nordischen Sparta humanistischen Geist erweckt, die Synthese von Preußentum und Humanismus vollzogen. Starke, willenskräftige Intelligenzen nahmen in sich auf den Sinn für das Musische. Das gab nicht immer einen reinen Klang. Aber was wäre aus ihnen ohne den Humanismus geworden! So ist eine Zeitlang das friderizianische Preußen überschattet worden.

Denn die Humanisten — im stolzen Bewußtsein ihrer Modernität und der unvergänglichen Werte, die sie zu bieten hatten — lebten gleich den Staatsmännern und den Künstlern und der ganzen neuen bürgerlichen Gesellschaft in scharfem Kampfe gegen die vorangegangene Zeit. Das Mittelalter allerdings war schon lange versunken, die tiefen Einschnitte der deutschen Reformation und dann der westeuropäischen Aufklärung hatten es abgetrennt, es ist erst durch die historische Forschung wieder aufgefunden worden. Aber der Barock, soeben noch in lebendiger Entfaltung stehend, ist durch die von der Französischen Revolution ausgehende Bewegung in Verruf geraten. Die neuen Staaten, die sich schon seit Jahrhunderten herangebildet und aus der abendländischen Gemeinschaft losgelöst hatten, haben das alte Reich zerstört; zumal in den Mittelstaaten, die sich auf seinen Trümmern eingerichtet hatten, sah man nur mit Mitleid auf jenes barocke Gebilde und auf seine nicht minder barocken „Duodezstaaten“, diese Miniaturausgaben von Staaten gleich Büchern im kleinsten Format; Wort und Begriff des „Kleinstaates“ scheinen damals in jenen „Mittelstaaten“ aufgekommen zu sein als ein Ausfluß von Hohn und Übermut. Und wenngleich dann in den neuen Territorien und unter ihren Beamten, die aus der humanistischen Bildung so starke Kräfte für den Aufbau des Sonderstaates zogen, die nationalstaatliche Bewegung Wurzel schlug, so war doch auch der in sich geschlossene Nationalkörper die Frucht eines Geistes, der es vorzog, „statt Teil eines Ganzen ein Ganzes für sich zu sein“. Auf diese treffende Formel hat Friedrich Christoph Dahlmann die Geschichte der Staatenwelt während der jüngsten drei Jahrhunderte gebracht, er war um 1840 der letzte Vertreter einer humanistischen Geschichtsschreibung, in der die Idee des alten Reiches noch fortgelebt hatte. Mit innerer Notwendigkeit kamen Humanismus, moderner Staat und die führende Schicht der bürgerlichen Bewegung zueinander — im Geiste des Fortschritts, der Aktivität, der rationalen Gestaltung und schließlich auch der Menschen-und Bürgerrechte. Sie haben vereint den Barock zugedeckt, als veralteten Plunder und unschönes Gemäuer, das hier ans Reich und dort an jenen fürstlichen Depotismus erinnerte, von dem die Völker soeben sich befreiten; die ahnten nicht, wie sehr auf dem Kontinent auch die neue Welt der politischen Freiheit dem Erbe der absoluten Monarchie und ihrer Bürokratie verhaftet bleiben werde. Die neuen Staaten, die neue Gesellchaft, die Wissenschaften und Künste hatten sich durchgekämpft durch ein monströses, unförmiges Weltgebilde, durch eine Menge willkürlicher und grotesker Anomalien; aus Staub und Spinnweben und Dunkel hatten sie sich erhoben und waren ihrer fest umgrenzten und klaren Formen froh; auch die Romantik hat diese Position nicht erschüttern können. Der alte Goethe allerdings hat die unerschöpfliche Produktivität des Barock staunend bemerkt und nicht ohne leises, neidvolles Bedauern zu Eckermann davon gesprochen Wie schmal und an Zahl gering erschienen ihm seine eigenen Werke im Vergleich zu denen des Lope de Vega!

Nach nahezu einem Jahrhundert hat dann die Forschung den Menschen den Blick wieder geöffnet für die Fülle, die verschwenderische Kraft, die Mächtigkeit der Barockkultur. Cornelius Gurlitt ist seit 1880 durch stilgeschichtliche Arbeiten vorangegangen. Ein Menschenalter später war Schinkel uns schon so ferne gerückt, daß man sagen konnte, zwischen ihm und uns stehe trennend der Barock. Und jetzt hat ein hochgeehrtes Mitglied unserer Akademie an bezeichnenden Beispielen gezeigt, wie gerade die bayerische Barockkultur doch lebens-kräftig sich behauptet hat neben dem offiziellen Humanismus des Staates und seiner gelehrten Vertreter und wie zeitgebunden und vergänglich all das gewesen ist, was Thiersch, Döllinger oder Klenze über die Menschen des Barock geäußert haben. Gerade über diese drei Humanisten und Klassizisten ist die Nachwelt hinweggeschritten

Unnötig zudem, näher auszuführen, daß auch die Humanisten trotz ihrer Rationalität gelegentlich Menschen waren mit ihrem Widerspruch!

Hegel hat in Nürnberg über den altreichsstädtischen Schlendrian, die „Pegnitzerei“ und über die privaten Schulen recht gering gedacht und sich entsprechend geäußert. Aber er selbst hat in die reichsstädtische Familie der Tücher hineingeheiratet; der Vater der Frau war Senator, der Großvater — Freiherr v. Haller — war Bürgermeister der Reichs-stadt gewesen. Und in Berlin schickte er seinen Sohn Karl, den späteren Erlanger Historiker, in Privatschulen und beim Übertritt in die höhere Schule auf das französische Gymnasium, das eine Stiftung der französisch-reformierten Kolonie war und wo in den Oberklassen der Unterricht in französischer Sprache erteilt wurde; er fand, daß gerade dort der sonst übliche öde lateinische Grammatikbetrieb nicht herrschte

Hiermit soll mehr nicht gesagt sein, als daß geistige Bewegungen, auch wenn sie stark in das Leben wirken, an geschichtliche Umstände, an Staatsformen, Gesellschaftsordnungen, an Vorurteile gekettet sind und niemal eine Panazee, ein Allheilmittel gegen die Nöte späterer Zeiten sein können. Wenn das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft heutzutage als ein höchst aktueller Fragenkomplex angesprochen wird, weil wir aus solchen Forschungen wichtige Einsichten in die Wesens-gestalt der einzelnen Zeitalter gewinnen, so ist der soziologische Aspekt der Wissenschaften nicht minder fruchtbar. Ein ganzes Programm für Historiker der Zukunft ergibt sich aus ihm; er macht auch die Grenzen sichtbar, die der Wissenschaft gezogen sind, wenn sie das Leben zu gestalten sucht. Der ältere Humanist hatte durch die geistige Bildung, die er in Schulen und Universitäten vermittelte, viel zum Ausgleich der Stände beigetragen, indem er wider den Primat der Geburt den Vorrang des Wissens und des Könnens gesetzt hatte. Aber da er gegen die Barockfürsten doch schließlich nicht durchdrang und die absolute Monarchie dem Adel nur die politischen Hoheitsrechte, nicht dagegen die Privilegien fortnahm, nur eine staatliche und keine soziale Umwälzung durchführte, konnte damals das humanistische Gymnasium kein Abbild der Gesellschaft sein und sie auch nicht gestalten. Im Grunde war dieses Bildungssystem mit der absoluten Monarchie und der feudalen Gesellchaft ebenso unvereinbar wie die allgemeine Wehrpflicht. Die letztere einzuführen konnte den Monarchen auf der Höhe ihrer Macht niemals einfallen; und auch der Humanismus wies über die alte Monarchie hinaus. Wo sich seine Schulen überhaupt erhalten konnten, saßen auch im 18. Jahrhundert noch Edelknaben und die Kinder niedriger Herkunft auf der gleichen Schulbank, im gleichen Wetteifer um die höhere Bildung des Geistes: „aequis conditionibus contendunt". Dies war besonders in den französichen Jesuitenschulen so. Aber wenn die jungen Leute alsdann hinaustraten ins Leben, fanden sie, daß man draußen Unterschiede machte. Aus zahlreichen Biographien ersehen wir, wie es Erbitterung erregte, wenn ein begabter und kenntnisreicher junger Mann aus dem Dritten Stande einen unfähigen Junker, der sein Schulkamerad gewesen war, aufsteigen sah. Dies ist eine der Hauptursachen zur Französischen Revolution geworden. Die Tugendgeschichten Diderots und Dantons bieten Beispiele für diesen Sachverhalt. Und Barnave, der Redner der Girondisten, der mit 32 Jahren auf dem Schafott endete, hat in den Aufzeichnungen, die er während der Haft niedergeschrieben hat und die den Eindruck unbedingter Aufrichtigkeit machen, berichtet von seiner Kindheit in Grenoble, wie die Eltern — angesehene Bürger, der Vater Jurist — mit ihm das Theater besuchten und auf Befehl eines Herzogs aus der Loge gewiesen wurden, weil der hohe Herr sie seinem Günstlinge versprochen hatte; die ganze Bürgerschaft der Stadt blieb von da an dem Theater ferne, der Knabe aber gelobte — dies sind seine eigenen Worte — „de relever la caste ä laquelle il appartenait de l’etat d’humiliation auquel eile semblait condamnee“ Es ist kein Wunder, daß auch der Neuhumanismus scharfe Kritik übte an den barocken Zuständen in den alten Monarchien und im Ancien Regime, das den Widerspruch zwischen dem ganz modernen Staatsgefüge und der mittelalterlichen oder barocken Ordnung der Gesellschaft in sich trug. Der Neuhumanismus hat aus seinen ureigensten Prinzipien des Wettbewerbes und des Vorranges von Verdienst und Tüchtigkeit mitgeholfen, die Privilegienordnung und die mechanistische Regierungsweise zu überwinden und jenen Staat heraufzuführen, dessen „metaphysische Anfangsgründe“ Kant zum Abschluß einer jahrhundertelangen ideologischen Entwicklung dargelegt hatte und den man seit Robert Mohl — um 1830 — als Rechtsstaat zu bezeichnen sich gewöhnt hat. Dem Staate war von nun an die unabdingbare Aüfgabe gestellt, die Rechte des Menschen und des Bürgers zu schützen und zu verwirklichen und darunter vor allem auch das Recht jedes einzelnen auf freie Entfaltung seiner Kräfte und Anlagen im Rahmen des ‘Sittengesetzes und der Rechtsidee. Erst der Durchbruch der kapitalistischen Wirtschaftsweise hat dann vor die Frage geführt, ob der völlige Mangel an Subsistenzmitteln und Hilfen und die Aussichtslosigkeit, jemals zu ihnen gelangen, nicht ein ebenso absolutes Hindernis für den begabten und nach Bildung strebenden Jüngling sei wie ehedem der Mangel der Geburt.

Deutscher Neuhumanismus

Es war, wie gesagt, unausbleiblich, daß der deutsche Neuhumanismus und die deutschen Territorialstaaten zueinander gelangten. Denn sowohl die Mattelstaaten wie auch das Preußen der Reformzeit mußten im Humanismus ein verwandtes Element erkennen. Auch sie mußten über die Stände hinwegschreiten, sie brauchten die Gliederung nicht mehr nach der Geburt sondern nach Bildung und Können. Ihnen war die Aufgabe zugefallen, in ihren Territorien ein Staatsvolk zu bilden, das den Willen des Staates mitzuwolken oder wohl gar mitzubestimmen hatte und wo der Staatsbürger also gelernt haben mußte, über die Region der nächstliegenden privaten Zwecke, der Sippe, der Zunft sich zu erheben und ein Ganzes zu überblicken. Bei den Reformen der Verwaltung, des Heerwesens, des Unterrichtswesens handelte es sich immer darum, daß vom Bürger künftig mehr und Höheres verlangt werden mußte als in der reichsstädtischen oder kleinfürstlichen Zeit. So wurde durch den Neuhumanismus der denkwürdige Versuch gemacht, die bürgerliche Bewegung vom „Schlaraffenleben" loszureißen, und dies hieß eben vom Eudaimonismus der Aufklärung und vom Irdischen Behagen.

Das geistige Leben aber gewann in dieser neuen Welt eine Sphäre relativer Freiheit. Denn Staatskultur will nicht gerade reglementierte oder staatlich inaugurierte Kultur besagen. Die absoluten Monarchen freilich hatten immer die Einheit zu bewahren oder zu erzwingen gestrebt und dies auch ausdrücklich proklamiert, mochte es sich um deutsche Territorialherren mit ihrem „jus reformandi“ handeln oder um Philipp II. oder die Königin Elisabeth oder Ludwig XIV. Der Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts und die ihm folgenden Diktaturen sind wie in der Wirtschaftspolitik des Neomerkantilismus so auch in der Kulturpolitik zu diesen oder verwandten Methoden zurückgekehrt. Zwischen diesen beiden Zeitaltern der autoritativen Gestaltung liegt eine kurze Periode der Freiheit. Seit dem 18. Jahrhundert wußte der moderne Staat sich stark genug, um der aus der Hut der Kirchen heraustretenden Wissenschaft einen Raum der freien Betätigung zu gewähren, und der Humanismus fand sich — wenn man von der Sondergestalt Hegels absieht — aus seinem innersten Wesen heraus auch darin mit dem neuen Staate zusammen, daß er die Kultur nur in der Vielgestaltigkeit und in der Verteilung der Autoritäten sich denken konnte. Das Zeitalter des liberalen Fürstentums hat dies weitergeführt, und mancher Humanist hat als ein echter Fürst des Geistes sich neben seinem Landesherren wie ein Ebenbürtiger fühlen dürfen.

Fürwahr, eine noch die Nachwelt überwältigende Stellung hat der Humanismus in dem alten Deutschland eingenommen, kurz bevor das rastlos voranschreitende 19. Jahrhundert jene Umwälzung aller Verhältnisse eingeleitet hat, in deren Mitte wir heute stehen. Die neu-humanistische Bewegung hatte den deutschen Geist von den Römern wieder zu den Griechen gelenkt, die seit Melanchthon fast vergessen waren und dem französischen Geiste immer fremd geblieben sind. Sie hat die Fürsten und Staatsgewalten für sich gewonnen und von dem unvergleichlichen Werte ihrer Bildungsidee überzeugt. Durch Wilhelm v. Humboldt und seine Nachfolger hat sie Besitz ergriffen von den Unterrichtsverwaltungen der deutschen Staaten und die Gelehrten-schulen wie die Universitäten mit ihrer geistigen Art und ihrer Methode erfüllt. Die klassische Philologie, die im Zusammenhang mit der humanistischen Bewegung in Holland und England schon vielseitig ausgebildet war, haben die großen deutschen Philologen seit Friedrich August Wolf dank den Anregungen Herders und der eigenen methodischen Geistesart zu jenem Universalen, in das Wesen der Sprache und des Dichterwerkes eindringenden Wissenszweig ausgebaut, auf dem lange Zeit die Weltstellung der deutschen Wissenschaft im 19. Jahrhundert vornehmlich beruht hat. Wilhelm v. Humboldt aber und Wolf haben damit begonnen, dieses Studium der beiden toten Sprachen und ihrer klassischen Texte zu einem selbständigen Berufsstudium zu machen mit dem Ziele, tüchtige Gymnasiallehrer heranzubilden. Die Vorlesungen hatten schon zu Göttingen in allen Fakultäten nicht nur Resultate gegeben, sondern die Wissenschaft vor den Studierenden erstehen lassen, wie dies dann in Jena und Würzburg durch Schelling 1803 in den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Unterrichts“

ausgeführt und zugleich als Vorbild dargeboten worden ist. Und die zu dieser Zeit erstmals in Halle und Berlin eingerichteten Seminarübungen führten die jungen Leute in die Methoden der Textkritik und der Interpretation ein, die von den Forschern der Zeit immer mehr verfeinert werden. So ist eine wachsende Zahl von Lehrern herangezogen worden, die das Griechentum sich zum geistigen Eigentum gemacht hatten und in die Schalstube trugen. Der Stand des Gymnasial-lehrers ist so überhaupt erst wieder geschaffen worden. Die Theologen, die im altsprachlichen Unterricht tätig sein wollten, mußten künftig Studium und Examen der klassischen Philologie absolvieren. Die Gymnaliallehrer aber erhielten durch ihre Stellung als Staatsbeamte am den staatlichen Anstalten wirtschaftliche Sicherheit, gesellschaftliches Ansehen und einen Rückhalt auch gegenüber hochgestellten Eltern.

Denn es war offensichtlich, daß das staatliche Unterrichtswesen, das jetzt einen so großen Umfang anzunehmen begann, in das Leben der Familien und der Individuen tiefer eingreifen werde als die bisherigen meist auf Stiftungen beruhenden Schulen und die privaten Versuchsanstalten der humanitären Aufklärung und des Barock. Hatte doch noch der friderizianische Staat in den letzten Jahren vot seinem Untergang Anstalten getroffen, um die Entscheidung über die Immatrikulation den akademischen Korporationen zu entziehen und das staatliche Abiturientenexamen wie das Gymnasialmonopol einzuführen! Dies wurde damals als ein schwerer Einbruch in die Rechte der akademischen Genossenschaften und . auch der Väter empfunden. Noch . lange freute man sich in Süddeutschland, daß dem Schlußsemester das gebeizte Repetierem erspart blieb. Staatsgewalt und humanistisches Bildungsgut — diese beiden verbündeten Lebemsmächte — setzten sich auch in dieser Sache durch. Aber daß das Abiturientenexamen das umfassendste und schwierigste aller Examina wurde, hat mehr als alles andere die Gegner der humanistischen Schule auf den Plan gerufen.; und auch das gehört in das Kulturbild jener Vergangenheit, daß viele im späteren Leben von keiner anderen Prüfung so oft geträumt haben wie vom dieser.

Abwertung des Römertums

Gemäß ihrem Prinzip der Reinheit, Klarheit und Echtheit haben die Neuhumanisten auch den Kanon der klassischen Schriftsteller umgestaltet. Cicero und Cäsar blieben unentbehrlich. Aber Virgil, der von Dante bis Racine bei allen Kulturvölkern als der größte Dichter gegolten, dem die Gobelins der Renaissance und des Barock die Motive entnommen und den noch Friedrich Schiller so anmutig in deutsche Alexandriner gegossen hatte, sank tief im Kurs. Niebuhrs wegwerfende Urteile sind oft wiederholt worden. Doch nach England und Frankreich reichten sie nicht hinüber, dort bliebt der Mantuaner als Künder der imperialen Idee; erst im 20. Jahrhundert ist er als ein Vorbereiter christlicher Seelenstimmung auch in Deutschland wieder entdeckt worden.

Auch ein Grieche, Plutarch, hat jetzt seine weltgeschichtliche Laufbahn vollendet. Einst hatte ihn Amyot im Auftrag des Königs Franz ins Französische übersetzt. In dieser Gestalt war er der Lieblingsschriftsteller aller Aufklärer und des „Sturm und Drang“, Friedrichs des Großen und des jungen Schiller: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen". Sein letzter fleißiger Leser war der alte Goethe gewesen: „Was hast Du denn dabei gelernt? Sind eben alles Menschen gewesen“. Vollends Ovid und teilweise auch Horaz waren für deutsche und christliche Jünglinge ganz ungeeignet. Niebuhr vor allem hat den alten christlichen Schulmeistern beigepflichtet, daß durchaus nicht alles, was von Griechen und Römern kommt, „klassisch“ ist.

Statt der abgelehnten Autoren hat der Neuhumanismus andere, fast vergessene hervorgeholt, die in der Barockzeit höchstens in französierter Gestalt bekannt waren. Er hat sich an solche Werke gehalten, in denen der Leser in einer höheren Welt verweilt, an Homer, die Tragiker und an Pindar, dessen Siegeshymnen — trotz Hölderlins Über-setzungen — überhaupt erst durch die Ausgabe und Erklärungen von August Böckh wieder bekannt geworden sind und im patriotischen Aufschwung der Freiheitskriege zur Geltung kamen. Das Verzeichnis der gültigen Werke war, wie man sieht, streng exklusiv; von Prosaisten kamen noch Thukydides, Plato, Demosthenes hinzu — im ganzen also eine stattliche, eine erlauchte Schar. Aber vornehmlich doch die griechischen Dichter waren zur Grundlage der hohen Bildung gemacht. Die Abwertung des Römertums hat in der Tat mit dem deutschen Neu-humanismus begonnen und ihren entschiedensten Ausdruck dann gegen Ende des Jahrhunderts gefunden in Franz Brentano. Sogar die bis dahin gefeiertste geistige Leistung des römischen Genius, das römische Recht, ist hiervon nicht unberührt geblieben; denn beim Zwölftafelgesetz haben, wie Livius selbst berichtet, die Griechen Unteritaliens mitgewirkt; die großen römischen Juristen der Kaiserzeit sind keine Römer gewesen sondern Spanier, Mazedonier, Asiaten, Afrikaner; außerdem schien es keine so geniale Arbeit mehr zu sein, nach Jahrhunderten des Ausscheidens und Konzentrierens die letzten Formulierungen zu finden. So wurde die Meinung ein halbes Jahrhundert nach Theodor Mommsen, der den Römern seine Lebensarbeit gewidmet hatte und den Griechen sich fernehielt. Des Römertums in seiner Größe habhaft zu werden wurde eine viel schwierigere Aufgabe als die Erfassung des Griechentums. Der Neuhumanismus hat dies nicht geleistet; es zeigte sich, daß er eben doch eine ästhetische, sprachliche und schulische Angelegenheit blieb, nicht auch eine politische und gesellschaftliche wurde wie der Humanismus in England und Frankreich.

Das Vorwalten des ästhetischen und sprachlichen Interesses war an sich dem Humanismus von seinen ersten Anfängen mitgegeben. Noch Erasmus hat, wenn er Italien bereiste, nur nach Manuskripten Ausschau gehalten und nur Texte studiert. Erst Lessing und Winckelmann haben die Interpretation der statuarischen Kunst mit der Lektüre der Autoren verbunden, und dies ist unverloren geblieben. Aber das politische Element ist im deutschen Neuhumanismus nur nebenher gegangen. Selbst Wilhelm v. Humboldt, obwohl er als Chef einer preußischen Verwaltung und als Gesandter auf den europäischen Kongressen tätig war, hat als Humanist immer nur das Literarische gepflegt, und auf dem Gebiete der Sprachforschung hat er das denkbar Höchste geleistet. Als er, der Gesandte Preußens, 1814 von dem Wiener zum Pariser Kongreß reiste, fuhr er über Heidelberg und saß dort den Abend über bei Johann Heinrich Voß. Sie übersetzten gemeinsam aus dem Äschylos, skandierten bis tief in die Nacht, und nach Hause berichtet er darüber: „Ein guter Vers lebt ewig, wenn Kriege und Friedensschlüsse vergehen.“

Einbürgerung des Deutschunterrichtes

Trotzdem darf der Anteil nicht unterschätzt werden, den auch dieser ästhetische Neuhumanismus an dem Werden der deutschen Nation gehabt hat. Es soll dabei nicht gesprochen werden von den äußerlichen Anleihen, die man zu gegebener Gelegenheit unter den Vorbildern griechischen Heldentums und griechischer Vaterlandsliebe machte und dabei rasch vom rheinbündischen in den deutschen Ton hinüber-wechselte. Auch dabei soll nicht verweilt werden, daß in der burschenschaftlichen Bewegung und im Turnwesen neben den Anhängern Jahns auch viele Humanisten sich betätigten, darunter Friedrich Thiersch, der zunächst den Griechen als den Nachkommen der alten Hellenen die nationale Freiheit und Einheit zu erringen half und seinen König für den Philhellenismus gewonnen hat. Thiersch hat dem „Turnvater“, der sein Landsmann war, 1820 seine Ausgabe des Pindar gewidmet — ein diplomatischer Zug, um Jahn von seinem antihumanistischen Schulprogramm abzuhalten. Es soll auch nur kurz erwähnt werden, daß nach der „Gesellschaft der deutschen Naturforscher und Ärzte“ die Philologen und Schulmänner die ersten gewesen sind, die seit 1838 in alljährlichen Tagungen aus ganz Deutschland zusammentrafen — in jedem Jahr an einem Orte — und so den Partikularismus von sich aus überwanden; erst 1846 folgten die Germanisten nach. Im Werdegang der deutschen Nation war es jedenfalls kein kleines Moment, daß erst das humanistische Gymnasium seit 1815 die französischen Hofmeister aus den deutschen Herrenhäusern verdrängt und den Vorrang der französischen Bildung beseitigt hat, die trotz Weimar — und auch in Weimar selbst — immer noch herrschte. Dies hatte schon 1781 begonnen, als Johann Heinrich Voß von seiner Übersetzung des Homer den ersten Teil, die Odyssee, herausbrachte und nun die französischen Entstellungen außer Kurs kamen. Was dies bedeutete, erkennt man daraus, daß Schiller den Homer nur in der Voßischen Übersetzung gelesen hat und so eben doch von französischer Abhängigkeit frei war. Bald ging es zu Ende mit der großen Stellung, die Racine, Voltaire, Rousseau in Deutschland einnahmen. Dies war durchaus nicht die alleinige oder notwendige Folge der deutschen Literaturblüte. Unberührt von ihr herrschten das Franzosenwort und die französische Literatur weiter in den Salons, in der Konversation, auf dem Theater, im Briefstil. Wie viele französische Ausdrücke hat selbst Schiller noch in seinen Briefen, in denen er sich ganz anders gibt als in seinen Werken! Erst als statt der französischen Literatur die griechische den Zugang zu den Universitätsstudien bildete und so alle Angehörigen der höheren Stände ihre Söhne auf das Gymnasium zu senden sich veranlaßt sahen, hat sich dies geändert.

Erst jetzt kamen in Deutschland, Racine, Voltaire, Rousseau in den Hintergrund, und an ihre Stelle traten Homer, Sophokles, Plato — also abermals wieder Fremde! Hierzu wäre dann noch vieles zu sagen. In der Art, wie der deutsche Mensch sich den griechischen Geist angeeignet hat, und in dem humanistischen Schulwesen, das er schuf, ist eben doch der deutsche Mensch zum Ausdruck gekommen — sein methodischer, handwerklicher, zielbewußter, gründlicher Geist. Das hat auch Goethe betont, als er an Winckelmann den Sinn für das Reale, die Sachlichkeit rühmt und daß jener deswegen ein so großer Gegner des französischen Scheines gewesen ist. Es ist ein stolzes, vielleicht ein anmaßendes Wort, das Niebuhr gesprochen hat, daß, wenn die Wahrhaftigkeit aus den Geschäften des Lebens verschwunden wäre, sie in der Auslegung der Alten wiedergefunden werden könne. Weiterhin ist zu be-merken: niemand hat für die Einbürgerung des Deutschunterrichtes und vor allem für das Verständnis der deutschen Sprache in den höheren Schulen mehr getan als die Neuhumanisten. Jakob Grimm, der gewiß die Wissenschaft von der deutschen Sprache und von der germanischen Kultur als einen eigenen Zweig aufgefaßt sehen wollte, hat in der berühmten Vorrede seiner Deutschen Grammatik einen eigenen Deutschunterricht im Gymnasium nur dann gelten lassen, wenn er mit dem griechischen Unterricht in der Hand des gleichen Lehrers verbunden werde. Und noch ein halbes Jahrhundert später, 1867 hat Rudolf Hildebrand jene ganz aus humanistischem Geiste geborene Anleitung „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule" geschrieben, die in siebzehn Auflagen zahlreichen Generationen von Lehrern und auch uns selbst noch gedient hat und deren Stellung in der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts hoch bewertet werden muß.

Der Durchbruch des Dritten Standes

So ist durch den Bund von Fürsten und Humanisten dieses durchdachte Schulsystem zur Herrschaft gelangt und hat durch den Staat das Monopol für den Zugang zu den Universitäten erhalten: das Wissen, das der Humanismus zu geben hatte, war eine Lebensmacht geworden. Schon äußerlich ist dies eindrucksvoll hervorgetreten. Wir lesen aus dem vormärzlichen Frankfurt von den glänzenden Progressionsfeiern und den öffentlichen Prüfungen im Kaisersaal des Römers, in Gegenwart des regierenden Bürgermeisters und des Konsistoriums, mit der lateinischen Abschiedsrede des Primus der Abiturienten über ein Thema aus der altklassischen Kultur In Frankreich, wo die Lateiner herrschend blieben, war die Anteilnahme an den humanistischen Studien von Seiten der Regierungen nicht minder stark. Denkwürdig in der französischen Geistesgeschichte ist jene Feierstunde im August 1816, als in Anwesenheit des Ministerpräsidenten, des Herzogs Richelieu, die im Concours general als die besten befundenen Zöglinge der königlichen Gymnasien hervorgerufen wurden und an erster Stelle der Schüler Jules Michelet. Zwölfjährig war er erst zur Schule gekommen, jetzt war er achtzehn Jahre alt, hinter ihm lag eine trostlose Kindheit — der Vater im Schuldturm, die Mutter in Hunger und Kälte gestorben, er selbst als Buchdrucker in harter Fron, vom Leben und von der Gesellschaft verwundet; aber Virgil, Horaz, Tibull — „meine Autoren" — haben in sein verlassenes Dasein einen Strahl der südlichen Sonne gesandt und, wie der Schilderet seiner Jugendentwicklung bezeugt, seinen Lebensmut gestärkt, die Gabe der Äußerung geweckt und ihn in einem für solche Geschenke empfänglichen Volke zum großen Historiker Frankreichs reifen lassen

Sicherlich, ein Werdender wird immer dankbar sein. Aber auch die Lehrer des Gymnasiums standen einige Jahrzehnte lang im Einklang mit dem Zeitgeist; auch wenn die Staatsgewalten nachhalfen, so war es doch die Kraft dieser Erzieher und der innere Gehalt des von ihnen erteilten Unterrichtes, daß sie das intellektuelle und moralische Niveau der führenden Stände weitgehend bestimmen konnten. Durch ihre Schule gingen die Geistlichen, die Ärzte, die Advokaten, die Richter, die Männer der hohen Verwaltung, auch viele Offiziere, die Gelehrten — also die angesehensten Berufe, die es im Staate gab. Und die regierenden Fürsten selbst schickten nunmehr ihre Prinzen aufs Gymnasium.

Es hat gewiß auch jetzt nicht an Lehrern gefehlt, die in Not gerieten oder „invita Minerva“ ihren Unterricht gaben und mühselig im Schulstaube ergrauten — „desudare in pulvere scholastico". Manche hatten in der Jugend wohl keine andere Wahl gehabt, um zu einem höheren Leben zu gelangen. Aber es gab doch auch viele, die vor der freien Entscheidung gestanden waren und die mühsame Arbeit des Schulmanns auf sich nahmen, obwohl ein mäßiger Teil der Anstrengungen, die ihre Studien erforderten, ihnen in der Staatsverwaltung oder im Geschäftsleben zu Wohlstand und Ansehen verhelfen hätte. Lind es hat auch im 19. Jahrhundert noch viele gegeben, die vor der Klasse, vor den künftigen Führern des Volkes die Humanistenregel beherzigten: „maxima debetur puero reverentia". Niebuhr schreibt an den jungen Philologen: „Verwöhnt durch die große Sphäre, worin ich mein Leben zugebracht habe, würde ich wohl nicht mehr zum Philologen taugen“; aber dem jungen Freunde wünscht er, daß er sich nicht so verwöhnen und von dem sicheren, engen Kreise hinwegsehnen möge. Als Friedrich Jacobs in Gotha von seinem Lehramte am Gymnasium schied, da durfte er in der Ansprache im Schulsaal bekennen, „daß ich in diesem Geschäfte immer die Heiterkeit und den frohen Sinn wiedergefunden habe, der mir etwa durch andere Verhältnisse entwichen war — daß ich oft dieses Zimmer voll LInmut betreten, aber niemals mit Unmut verlassen habe“.

Es ist der Durchbruch des Dritten Standes, sein Ankommen auf der Höhe, wovon wir sprechen. Die früheren Humanisten stiegen und fielen in der Gunst der Mächtigen: außer einer kleinen bevorzugten Schar lebten die meisten trotz Dichterlorbeer und Nobilitierung ganz abhängig und würdelos. Das bürgerliche Zeitalter aber hatte mit dem modernen Staatsgedanken die Rechtssicherheit errungen. Viele Lehrer des Gymnasiums gehörten zu den Honoratioren der Stadt und waren entsprechend gestellt, um Geltung beanspruchen zu können. Die Verachtung des Erwerbes, die den geistlichen Gelehrten des Mittelalters gekennzeichnet hatte, ist in der bourgeoisen Welt ohne Zweifel seltener geworden. Aber höher als der Besitz standen die innere Autorität und der Ernst, den ein dem Forschen und Lehren geweihtes Leben mit sich bringt: „laeta viro gravitas et mentis amabile pondus.“ Mancher der Neuhumanisten stand der nationalen Demokratie des Jahrhunderts nahe; aber die meisten waren autoritäre Naturen, die der humanistische Geist hierin gefestigt hatte; sie wußten zudem aus den griechischen und römischen Schriftstellern, welcher Entartung Demokratien fähig sind, und aus Tacitus schöpften sie den Haß gegen die Tyrannis.

So hing man im Kreise der Humanisten der konstitutionellen Monarchie an, wie sie in den deutschen Staaten bis zur Mitte des Jahrhunderts geworden war; man bejahte aber auch die starke Verwaltung, die alle Autoritäten schützte, ohne die Selbstverwaltung und Selbstregierung zu vernichten.

Fügen wir noch hinzu, daß die Träger der neuhumanistischen Bewegung Protestanten gewesen sind. Zum Teil waren sie protestantische Freidenker mit scharfer Polemik gegen die „tenebriones" — so weitgehend wie dies im monarchischen Deutschland für einen Jugenderzieher und einen Geheimen Rat überhaupt möglich war. Sogar einem so allseitig gebildeten Geiste wie Wilhelm v. Humboldt ist das Gebiet des Religiösen verschlossen geblieben. Doch es hat auch in jener Zeit einen christlichen Humanismus gegeben. Leopold Ranke gehört ihm an, auch Friedrich Thiersch, und Niebuhr hat sich im Laufe seines Lebens dahin entwickelt. Sehr stark ist auch das Nachleben Kants im 19. Jahrhundert gewesen; die von allem Eudaimonismus und aller Zweckmäßigkeit absehende Ethik, der kategorische Imperativ und der Rechtsgedanke waren eine Macht auch in den Lehrkörpern der Gymnasien und der Universitäten. Wie aber auch die Unterschiede im einzelnen sein mochten, der Neuhumanismus entstammte protestantischem Geiste, und Hegel hat sich sehr Gedanken darüber gemacht, worin dieses Gemeinsame bestehe. Auch er fand es in der Absage an das ausschließlich zweckhafte Sinnen und Trachten und im „Geiste des Nachdenkens und höherer vernünftiger Bildung“, der das „Dressieren zu diesen oder jenen Brauchbarkeiten“ nicht will. Hegel hatte im rheinbündischen Deutschland gelebt und gewirkt, das jedem rationalen Gestalten ein so ungeahntes Feld bot. Aber nach dem Ausgang der napoleonischen Zeit hat er den Satz hinzugefügt, der seine Herkunft aus der protestantischen Aufklärung bekundet: „Die einzige Autorität ist die intellektuelle und moralische Bildung aller, und ihre Garantie sind die deutschen Studienanstalten, die Napoleon gehaßt hat."

Die Initiatoren der neuhumanistischen Bewegung waren, wie man sieht, Menschen mit einem unromantischen Ethos — Feinde jeder Verschwommenheit, keine Enthusiasten und auch nicht weiche Naturen, die etwa wie Hölderlin in Sehnsucht nach dem alten Griechentum ermattet wären. Ihr täglicher geistiger Umgang galt einer fernen und toten Welt, und das Beglückende dieser Studien haben sie dankbar empfunden. Friedrich Jacobs hat es ausgesprochen, „mit welchem frohen Gefühle ich meinen Tag beschließe, wenn ich in dem Dunkel der alten Welt einen Strahl des Lichtes aufgehen oder einen Zweifel gelöst sehe". Aber das neuhumanistische Denken war kein primär geschichtliches Denken. Er konnte nicht eine Kontinuität wieder herstellen, nicht zerrissene Fäden wieder knüpfen, wie dies die Erforscher des Mittelalters taten. Hier waren auch nicht Sammler um der wissenschaftlichen Vollständigkeit willen. Sie beschäftigten sich mit dem Altertum und machten es von neuem fruchtbar, weil sie darin einen absoluten Gehalt verborgen wußten, den die moderne Welt brauchte. Denn sie waren, wie wir hörten, beseelt von dem starken Glauben an die Existenz der Normen, an die ewigen Vorbilder des Wahren, Guten und Schönen im Griechentum, vor allem auch an das Recht als eine ursprüngliche Macht, an der vuog ygacpog; und noch lange haben viele im Römischen Recht die ratio scripta gesehen. Auch waren sie erfüllt von dem Glauben an die schöpferische Kraft des Individuums, das in das Leben wirkt und die Umwelt gestaltet, nicht nur ihr Produkt ist.

Zum Humanisten in seiner höchsten Verwirklichung, auch wenn sie bei weitem nicht allen beschieden ist, gehört ferner noch jene Heiterkeit und Duldsamkeit, ohne die es keine Liebe zum Menschen und zur Menschheit gibt, und nicht zuletzt auch jene große Nüchternheit, die sich nichts vormachen läßt und eine Sekurität verleiht, insofern man nun weiß, woran man ist mit den Menschen. Ganz unhumanistisch, ganz romantischer Enthusiasmus ist es, wenn Felix Mendelssohn, als er Lessings Nathan erlebt hat, ausruft: „Weich’ eine Beruhigung, so viel Vernunft in der Welt zu wissens“ Die Skepsis aber, die man unter allem Idealen, das Literatur und Kunst der Griechen bieten, doch überall spürt, ist großartig ausgesprochen in Jenem Distichon, das Goethe so gerne zitiert hat:

T 8Yta ye/. w;, xo mvta xvg, xo Tvt t Tva yp iE Göyrev GT TX retvueva Es hat, wie sich versteht, auch kleine Geister unter den Humanisten gegeben, von einer grenzenlosen Gläubigkeit an die Macht des Wissens. Die meisten kannten sich zu gut aus in Geschichte und Leben, als daß sie nicht gewußt hätten, wie auch die Wissenschaft nicht vor dem Rückfall in die Bestialität schützt. Niebuhr, wo er in seinen Vorlesungen über die französische Revolution den Terroristen Marat schildert und dabei bemerkt, daß dieser durch seine physikalischen Arbeiten in der Geschichte der Wissenschaften mitzählt, findet es bemerkenswert, daß ihn die Wissenschaft nicht vor seinen Schandtaten bewahrt hat. Lind wo Niebuhr im Flusse der Erzählung zu den Septembermorden kommt, da stockt seine Rede: „Diese Szenen sind so furchtbar, daß es mir unmöglich ist, sie zu schildern; sie zeigen, wie die Tierheit des Menschen wüten würde, wenn nicht höhere Mächte, die uns oft lästig werden, sie bändigten.“ Nur wenige Humanisten sind zu dieser letzten und höchsten Einsicht gelangt, daß das was die Wissenschaft nicht leisten kann, doch wohl durch die Religion erfüllt werden könnte, die trösten und erlösen kann und auch über die Skepsis hinwegführt. Aber ein erhebendes Bild bleibt es doch, wie der humanistische Geist die Welt bereichert und emporgetragen hat.

Eine noch überblickbare Welt

Ohne den inneren Wert des humanistischen Bildungsgutes wären sein Ansehen, seine Macht, seine große Stellung in Staat und Gesellschaft nicht möglich geworden. Aber es gehörten auch äußere Bedingungen dazu, wenn eine ganze soziale Schicht den schwierigen und langwierigen Bildungsweg gehen konnte. Das humanistische Gymnasium war ein Umweg; doch in geistigen Dingen ist die gerade Straße nicht immer die kürzeste. Der Umweg kostete den Familien viel Zeit, Kraft und Geld; es war, nationalökonomisch gesprochen, ein Verbrauch von Werten, damit die produktive Kraft gepflegt wurde und wuchs. Aber um die Werte zu verbrauchen, mußte man sie haben: die Vorbedingung für die Blüte des deutschen Humanismus im 16. und dann wieder im 19. Jahrhundert war jene ganz kurze Zeit, da im alten agrarischen Deutschland Handel und Gewerbe die Anfänge einer urbanen Kultur pflanzten und andererseits das kapitalistische Denken noch nicht hereingetragen war, nur erst in einzelnen großen Häusern sichtbar wurde. Es ist ganz bürgerlich gedacht, wenn Friedrich Jacobs sagt, „daß unter gebildeten Völkern die Sitten an ein gewißes Maß des Wohlstandes geknüpft sind, das nicht wesentlich geschmälert werden kann, ohne die Grundlage der Rechtlichkeit zu erschüttern".

Es war eine noch überblickbare Welt. Wir können sie uns nur noch vorführen, wenn wir etwa in Heidelberg oder in Marburg oder in Jena von den Anhöhen herabblicken und am Stil der Häuser erkennen, wie in diesen Vororten weltumspannenden wissenschaftlichen Lebens selbst noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts alles klein und eng beisammen war. Um wieviel mehr ist dies der Fall gewesen an den vielen anderen Zentren urbaner Kultur, wo die Bürger auf ihre Studenten, nämlich die Gymnasiasten und auch auf ihre Professoren nicht minder stolz waren als die Bürger einer-Universitätsstadt’ Die rechtliche Scheidung der Stände gehörte der Vergangenheit an, und der Kampf der Klassen war hier noch nicht entbrannt, weil in dieser Kleinwelt Kapitalisten und Proletariat fehlten. In diesen Städten der Ackerbürger, der Handwerker und der Krämer waren die Schüler der Gelehrtenschule noch eng verbunden dem praktischen Leben. Unverloren blieb ihnen auch in der humanistischen Schule, daß die Väter als Pastoren, als Richter oder Ärzte mit der werktätigen Bevölkerung Tag für Tag zu tun hatten oder dem schaffenden Volke angehörend Geschäfte betrieben, an denen Frau und Kinder teilnehmen mußten. Die Schüler kannten sich aus in Werkstatt, Kontor oder Gutsbetrieb; die Beziehung zum Leben in der häuslichen Wirtschaft und zum Getriebe des Marktes brauchte noch nicht lehrhaft hergestellt zu werden; wie Kopernikus und Galilei so waren auch noch die großen Physiker der späteren Zeit von Jugend auf in der Lage, sich die Apparate, die sie brauchten, selber zu bauen. In diesen kinderreichen Städten-waren die Gymnasiasten eine kleine erlesene Schar, die dem Alltag sich nicht entfremden konnte, als sie über ihn hinaus in eine höhere Welt geführt wurde, um die geistigen Kräfte zu üben, die sie befähigen sollten, dieses Leben dereinst zu gestalten und weiterzubringen.

Vergessen wir auch nicht, daß alle diese kleinen und mittleren Städte noch eingebettet waren in die Landschaft, mit viel Wald und herrlichem Klima! Wie anmutig lag noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Nürnberg mitten in den beiden ehemals staufischen Königs-forsten von Sankt Lorenz und Sankt Sebald! Wir heute können nur schwer noch begreifen, daß einst unsere rheinischen Städte Hochsitze des Humanismus, die Heimat seßhafter Forscher gewesen sind und Großes in ihren Mauern vor sich ging, das in der Weltgeschichte des Geistes Entscheidungen herbeigeführt hat. Die produktive Arbeit vollzog sich noch bis tief in das 19. Jahrhundert hinein unter günstigeren klimatischen Bedingungen als heute, sie war übrigens auch mehr noch eine Sache des durch geistige Disziplin gestärkten schöpferischen Genius als des enzyklopädischen Wissens. Dieses noch nicht von der alles überwuchernden Kultur zerstörte Dasein verfügte auch noch über einen Reichtum von Fauna und Flora, der bestanden hat, bis die Städte in riesigem Tempo ihre Fangarme nach allen Seiten ausstreckten und alles „bereinigt“ oder überbaut haben. Es ist kein Zufall, daß die Begründer der wissenschaftlichen Botanik im 16. und 17. Jahrhundert Humanisten aus jenen von der Natur mit verschwenderischen Gaben ausgestatteten Städten gewesen sind, die sich von Zürich und Basel den Rhein hinab bis nach Amsterdam aneinanderreihen. Wo die Jugend dies alles in Wald und Feld greifbar vor sich hatte, konnte freilich der Unterricht in Botanik und Zoologie schon in Tertia abschließen und das Übrige dem Leben selbst überlassen bleiben. Mancher mochte dann hinauskommen in die weite Welt, in exotische Länder; und die zu Hause blieben, konnten gewiß noch vieles sich aneignen, was Natur und Geschichte der Heimat ihnen anboten.

Der Historiker darf sich nicht zum „laudator temporis acti" machen.

Er vergißt nicht, daß die furchtbare Geißel der Seuchen erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zu weichen begann, daß das soziale Elend in jener Zeit schrecklich war und daß das humanistische Gymnasium auch viel Lebenstragik in sich schloß, daß überhaupt Glück und Unglück in der Geschichte schwer abzuwägen sind und es zu allen Zeiten miserabel in der Welt zugegangen ist: dies ist eine echt humanistische und zugleich echt realistische Einsicht, die Goethe in diese drastische Form gekleidet hat. Aber es gibt auch Zeiten, die der Pflege des Geistes besonders günstig sind. Noch ist in Deutschland und in England damals der Großstaat nicht geboren, in Frankreich ist er durch Napoleons Sturz in seiner Selbstsicherheit geschwächt, noch ist die Bürokratie in jene Grenzen gewiesen, die ihr nach dem Untergang des absoluten Staates gezogen wurden, und noch sieht man den Reichtum der Kultur in ihrer Vielgestaltigkeit und nicht in der Uniform. Die humanistische Bildung hat sich durch ihre Werbekraft, durch die Einsicht der Staats-gewalten und ohne einen hauptstädtischen Impuls über die vielen Städte ausgebreitet, in denen neben dem Gymnasium noch die anderen Träger eines hochgespannten geistigen Lebens wirkten. Einer dieser kleinen Mittelpunkte war Gotha; in der überströmenden Fülle der Rede hat Friedrich Jacobs seiner Vaterstadt gehuldigt. Nahezu sechzig Jahre lang war er dort im Amt, als Lehrer und Direktor am Gymnasium, als Oberbibliothekar, als Direktor der Kunstsammlungen. Er hat in diesen Jahrzehnten die griechische Anthologie in dreizehn Bänden gesammelt, die unentbehrlich wurde den Gräzisten aller Länder; er hat das Elementarbuch der griechischen Sprache verfaßt, das lange Zeit allem griechischen Unterricht in den deutschen Staaten zugrunde lag. Gotha wurde durch ihn weltberühmt, und ihm bot es Beistand und Schutz. Immer wieder hat er die kleine und doch so weit gespannte Welt gefeiert, die Athen und Rom umfaßte und in der auch das Leben der Gegenwart pulsierte — die geliebte Stadt, mit dem Landesvater und dem Hofe, dem Gymnasium, der Bibliothek, der großen Verlagsanstalt von Friedrich Christoph Perthes, der ältesten Feuerversicherungsgesellschaft, die 1819 ganz unkapitalistisch aus dem Geiste der Selbsthilfe auf Gegenseitigkeit gegründet war und der 1827 die Lebensversicherungsbank in Gotha nachfolgte. Diese Stadt wie die vielen anderen war ein Sitz der Urbanität, gebildeter und in sich gefestigter Bürger.

Blütezeiten der humanistischen Bildung

Die wenigen Blütezeiten der humanistischen Bildung — wo sie ihrer Sache in Wahrheit sicher sein konnte und eine starke Stellung im Staate, in der Gesellschaft und in der voranschreitenden Wissenschaft einnahm — sind in der Tat immer sehr kurz gewesen. Dieses hoch gegriffene und strenge Bildungssystem war seinem Wesen nach gewiß nur für die Elite gedacht, aber es entfaltete von sich aus nur selten eine so breite Wirkung, daß es Adepten in genügender Anzahl gewann, um das Leben des Staates oder wohl gar einer Nation durchdringen zu können. Melanchthon hat in der philosophischen Fakultät, in der er als Humanist, als Lehrer der griechischen Sprache und Literatur berufen worden war, immer nur wenige Hörer gehabt, das Schwergewicht seiner akademischen Tätigkeit hat er in die theologische Fakultät verlegt; den meisten war das Brotstudium doch wichtiger als die litterae humaniores. Zudem steckte in der humanistischen Bewegung von Anfang an ein Zug zur Rationalität und Utilität, der sie den Zugeständnissen an bequemere Ziele und Methoden des Lernens geneigt machte. Schon Erasmus warf dem Melanchthon Inkonsequenz vor: er bemühe sich, alles, auch das Evangelium auf die Vernuft zu gründen, und nur in der Schule sei er umständlich, unpraktisch. Die Wurzel der Gelehrsamkeit, so sagte Erasmus, ist und bleibt die Grammatik; aber man müsse dafür sorgen, daß diese Wurzel nicht so bitter sei. Überhaupt fand Eramus, daß diese Schule zu hohe Anforderungen stelle und man sich vielmehr vornehmlich auf die Eloquenz beschränken solle, da die Rede und nicht die Vernunft es sei, wodurch der Mensch sich von den übrigen Geschöpfen unterscheide — „non ratione sed oratione“. Da lag es nahe, mit Montaigne ein Lernen der Sprache ohne Grammatik, durch lebendige Konversation zu wünschen und zu empfehlen, und es war begreiflich, daß man Sehnsucht empfand nach milderen Sitten auch in der Schule. In den süddeutschen Reichsstädten entstand schon um 1540 eine scharfe Spannung zwischen dem Patriziat und dem Direktor der reichsstädtischen Gelehrtenschule. Die Patrizier sahen nicht ein, warum ihre Söhne so geschunden werden sollten, lediglich weil sie bestimmt waren, später einmal das Gemeinwesen zu regieren. Lind mancher Direktor gab nach. Er reduzierte den griechischen Unterricht auf das Neue Testament und dispensierte davon alle, die nicht Pastoren werden wollten. Das „Studium accuratum linguae latinae" gestaltete er so, daß die Schüler abgerichtet wurden, Denkschriften und Briefe zu verfassen und gute Ansprachen zu halten — dem Cicero also die Phrasen zu stehlen, x? tev. Das Latein war ja damals und noch lange eine lebende Sprache — die internationale Umgangssprache. Die Kenntnis des Latein war notwendig den Diplomaten und Agenten der Fürsten, auch den „Kriegs-und Kaufleuten, auf daß sie mit fremden Nationen sich bereden und mit ihnen umgehen können", wie Luther sagt. Den Gelehrten war es die „lingua nostra“, zumal die deutsche Muttersprache noch unentwickelt und ungelenk war. Aus dem lateinischen und griechischen Unterricht war also jetzt der humanistische Gehalt herausgenommen und das Nützliche und Brauchbare übrig geblieben. Schon um 1600 begegnen uns die Broschüren, wo humanistische Schulmänner diese Entwicklung beklagen und die den Titel tragen; „de barbarie imminente“.

Als die höheren Schulen ganz nur auf brauchbares Wissen, auf lateinische Grammatik, auf die Imitation und die Eloquenz eingestellt wurden, ist auch der begonnene Ausgleich der Stände wieder rückgängig gemacht worden. Das Talent konnte sich nicht mehr durchsetzen, sobald die Bildung aufhörte, die Kräfte an Aufgaben zu bewähren, die den Geist stählen und über die persönlichen Zwecke hinausführen. Der Adel begann, seine Söhne nicht mehr auf die Gelehrtenschulen zu schikken, die ja jetzt reine Vorbereitungsanstalten für die bürgerlichen Berufe, für Pfarrer, Amtsleute und Geschäftsleute geworden waren. Die jungen Edelleute wurden auf den Ritterakademien erzogen, wo sie von jenen „altmodischen" Fächern der lateinischen Sprache und Eloquenz verschont waren und die „modischen" Disziplinen lernten — Französisch, Mechanik und Mathematik, Reiten, Fechten und Tanzen, auch die Musik. Wohlhabende Eltern haben ihre Kinder wohl auch immer häufiger zu Hause allein durch den Hofmeister unterrichten lassen. Es ist die Zeit des ä-la-mode-Wesens. Vorüber war das Jahrhundert, wo das humanistische Gymnasium durch seinen Glauben an die ausgleichende Kraft des Geistes eine Schule für Vornehme und Niedriggeborene gewesen war und die Standesunterschiede vor der Macht der Bildung zurückgetreten waren. Manches Gymnasium wurde jetzt zu einer Patrizierschule; ihre Lehrer waren von den Wünschen und Gaben der führenden Familien abhängig, und die Edelknaben hatten vor den anderen Schülern Vorrechte voraus. Die Mehrzahl der Knaben ging auf dem kürzeren Wege, über die Lateinschule, zur Universität. Der Verfall der humanistischen Schule in der Zeit vor und nach dem Dreißigjährigen Kriege bezeichnet in der Tat zugleich den tiefsten Stand der bürgerlichen Kultur. Jetzt war wieder die adelige Geburt die unbedingte Voraussetzung für die Stellen im Rat. Die Bürgerlichen hatten dort nur Hilfsdienste zu leisten, sie waren die Aktenmenschen, die Schulfüchse, die Pedanten; dieses Fremdwort stammt aus dem Lehrberuf, vom italienischen pedagogante; es ist nicht zufällig gerade damals in die deutsche Sprache gekommen.

Man mag es in den älteren, umfassenden Werken über die Geschichte der Pädagogik und insbesondere des gelehrten Unterrichts — bei Theo-bald Ziegler oder Friedrich Paulsen — nachlesen, was im Zuge dieser Entwicklung die rationalistischen Elemente, die im Zeitalter des Descartes mehr und mehr zur Alleinherrschaft kamen, aus der Gelehrten-schule gemacht haben. Da die Autoren nur noch Mittel geworden waren zum Erlernen eines eleganten Latein, wurden die Regeln wichtiger als der Inhalt. Der „Nürnberger Trichter“ — um 1630 im Titel einer gedruckten Anleitung zum Dichten erstmals erwähnt — wurde das Symbol dieser Unterrichtsweise. Vom Humanismus stammten dabei nur noch die hohe Bewertung der Poesie und das Bewußtsein, daß Kunst sich auf Regeln gründet. Selbst dem prosaischen Melanchthon war ja die Dichtung Blüte aller Kultur gewesen; große Humanisten hatten die Lehr-bücher der Poetik geschrieben, die jeden Gebildeten befähigten, ein Dichter zu sein. Und wenn man fand, daß die Poesie in der Form der Gesellschaftscarmina doch auch ein sehr nützliches Handwerk sein konnte, so hat man sich dabei auf den Horaz berufen können — „aut prodesse volunt aut delectare poetae".

Früher oder später mußten die Zweifel sich melden, ob dieser öde Drill mit Grammatikregeln und Versmaßen überhaupt einen Sinn habe. Noch mitten im älteren Humanismus hebt die Kontroverse an, ob die Wörter und Begriffe oder die Sachen, die verbales oder die reales, der Sprachunterricht oder der Realunterricht das wichtigste sei. Seither ist der „Realismus“ in den Diskussionen über die Schule und in dem großen Umgestaltungsprozeß des öffentlichen Unterrichtswesens allmächtig im Vordringen bis ins 20. Jahrhundert. Der deutsche Neuhumanismus hat diesen Prozeß nur eben verlangsamt, eine Pause in ihn gelegt. Anfangs wollten die Humanisten die Sachen noch aus den Alten schöpfen; über den altklassischen Realien ging jedoch mancher humanistische Gedanke verloren, und den Bedürfnissen des Tages war doch nicht gedient. Der nominalistische Grundzug der neueren Geschichte, gestärkt und weitergetrieben durch die wissenschaftlichen und praktischen Interessen des voranschreitenden modernen Lebens, hat die Tatsachen — sowohl die der Natur wie jene, die der geschichtliche Prozeß erzeugt hat —, immer entschiedener in den Vordergrund gerückt. Auch das späte Puritanertum, die Sekten und die deutschen Pietisten haben hierzu mitgewirkt, indem sie von den „unnützen -Subtilitäten“ der Dogmatik hinlenkten zu „ipsissimas res“, zu „Dei opera“, zu den Schöpfungen Gottes in der Welt. Von entscheidender Bedeutung wurde es, daß der Handels-und Kolonialgeist von den Holländern und Engländern, die hierzu die Anlage sicherlich seit alters in sich getragen haben, Besitz ergriff. Das Volk Rembrandts, obwohl auch die großen Philologen von Leyden und Hugo Grotius ihm zugehören, hat doch schon bald die Renaissancekultur mehr nur als eine modische Zugabe gepflegt; unbeeinflußt von ihr folgte die holländische Malerei dem neuen Realismus. Die englischen Mittelklassen aber, ohne Beziehung zu den vornehmen humanistischen Colleges, haben sich ganz dem Realismus hingegeben und den Sinn für das Nützliche, das Praktische gepflegt, wie er dem Engländertum eingeboren war und von Lord Bacon und John Locke bis auf Jeremias Bentham und John Stuart Mill eine ununterbrochene Tradition durch zweihundert Jahre hervorgebracht hat. Sie kann handgreiflich illustriert werden durch die Polemik Lockes gegen das Lateinlernen und gegen die Masse „überflüssigen Plunders“, den die Kinder lernen müssen und im späteren Leben nie brauchen. Hierzu rechnet er auch die Beschäftigung mit der Poesie: „Es ist noch selten geschehen, daß einer Gold-und Silberminen auf dem Parnaß gefunden hat; es ist gute Luft dort oben, aber unfruchtbarer Boden."

Man weiß, wie unter allen diesen Einflüssen und zuletzt noch unter dem gewaltigen Eindruck von Rousseaus Auftreten die „naturgemäße Erziehung“ den öffentlichen Geist beschäftigt hat und in privaten Erziehungsanstalten wie auch durch die Hilfe aufgeklärter Absolutisten in staatlichen Schulen erprobt wurde. In der Abwehr der überlieferten harten Pädagogik, des mechanischen Drills ging man immer mehr auf Methoden aus, den Schülern die Arbeit zu erleichtern und ihnen jede unnütze Anstrengung zu ersparen. Sowohl der Lehrstoff wie die Art seiner Darbietung sollten leicht zugänglich sein. Nicht mehr der Humanismus, die Herrschaft des Geistes über den trägen Stoff, sondern der Eudaimonismus, das irdische Wohl und Behagen, bestimmten die bürgerliche Bewegung. Lind der neue Begriff der Humanität zog es vor, der Natur nachzugeben statt sie zu gestalten: der Rationalismus trieb nicht nur den Nützlichkeitsstandpunkt mit dem Glauben an Fortschritt und Glück hervor, sondern auch den eng damit verbundenen Glauben an die All-güte der menschlichen Natur. So stellte man denn in den Schulen entschieden die Kenntnis der Realien voran, denen die Wörter von selbst nachfolgen werden, wie schon der alte Cato gesagt haben soll: „rem tene, verba sequuntur.“ Vom Unterricht wurde jetzt verlangt, daß er unmittelbar zur Anschauung, zur Beobachtung und zur Selbsttätigkeit anleite; das begriffliche Denken und die Gedächtnisübungen waren in Verruf geraten durch die so unhumanistischen Grammatiker. Um so mehr bemühten sich die Reformer, die Schulen zu einem Vorbild und Abbild der „vernunftgemäßen Gesellschaft“ zu machen. Das Nützliche, das Brauchbare stand nun voran. Man ging darauf aus, den Schülern das Lernen zur Freude zu machen durch abwechslungsreichen und interessanten Lehrstoff, also durch das Moderne und Auffallende, durch technische Mechanik und durch Geschichte, durch Handfertigkeit und Leibesübungen, durch Rücksichtnahme auf individuelle Liebhabereien. Es war der Grundgedanke der neuen Pädagogik, daß das Kind seine Natur frei ausleben solle, daß man also dem Kinde nichts eigentlich „aufgeben“ dürfe. Deshalb, und um der Stoffmassen Herr werden zu können, mußte der Lehrer in erster Linie die Methode beherrschen, den Kindern durch anschauliche Darbietung, durch Reime und Sprüche in möglichst kurzer Zeit ein möglichst breites Wissen nahe zu bringen und durch geschicktes Fragen die Antworten aus ihnen herauszulocken. So beseitigte man den Mangel, daß über „leerem Wortkram“ die Sachen vernachlässigt wurden. Aber man setzte an die Stelle Vielwisser ohne die Übung im Denken und Urteilen, kleine Polyhistoriker, und die Lehrer waren das auch — die echten Erzeugnisse des Barocks.

Die humanistischen Reformer

Gegen diese Anschauungen und Zustände haben die Neuhumanisten sich durchgekämpft. Sie haben ihre entgegengesetzten Prinzipien zur Geltung gebracht, dank einer ihnen günstigen Situation. Denn die soeben auf Napoleons Geheiß geschaffene neue Staatenwelt und die neue staatsbürgerliche Gesellschaft standen vor der Aufgabe, eine zusammengestürzte Welt aufzubauen. Unmöglich konnte dies gelingen, wenn man aus den Schulstuben nicht alles Spielerische hinauswies. Allein schon das furchtbare Jahr 1793 hatte gelehrt, wohin es führte, wenn der Weg nach oben allzu leicht gemacht wird. Denn, wie Goethe damals gewarnt hat, in den Händen der Ruchlosen und der Dummköpfe ist die Wissenschaft ein schreckliches Instrument. Fürsten, Staatsmänner und Humanisten wußten sich da keinen anderen Rat, als den künftigen Arzt, den künftigen Richter, die Lenker des Staates in ihren jungen Jahren mit den Werten vertraut zu machen, die durch Beschäftigung mit der strengen Wissenschaft und mit den großen Denkern und Dichtern dem Menschen erwachsen. Dies konnte vielleicht ein untaug-liches oder unzureichendes Mittel sein, aber von dem schon ganz verweltlichten Denken einer weit vorgeschrittenen Zeit ist ein anderer Weg nicht mehr gefunden worden. So hat auch Goethe im hohen Alter 1S 27 die Aufgabe gesehen: „Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Seelenhoheit gelegt hat, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen der griechisch-römischen Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln.“

Jedoch eine Gesellschaft wie die bürgerliche des 19. Jahrhunderts, die trotz Christentum und Kant von der utilitaristischen Ethik durchdrungen und von da zum Ideal der realistischen und enzyklopädischen Bildung gelangt war, konnte durch die humanistischen Reformer nur überrascht, nicht überwältigt werden. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Richtungen, der realistischen und der humanistischen, hinter der ein Kampf der Prinzipien, der Widerstreit von Utilitätssystem und absoluten Normen stand, ist ohne Unterbrechung aus dem Zeitalter der Aufklärung in das naturwissenschaftlich technische oder — wie man unter dem Eindruck der Entdeckung des Energieprinzips das Jahrhundert wohl auch zu taufen gedachte — in das energetische Zeitalter hinüber-geführt worden. Dabei hat sich auf diesem Wege der Gesichtspunkt insofern verschoben, als John Locke und seine Gefolgschaft die Nützlichkeit zum Erziehungsziele gemacht hatten im Hinblick auf das zu erziehende Individuum, das 19. Jahrhundert aber immer die Gesamtheit, den Staat, die Wirtschaft im Auge hat. Während des ganzen Jahrhunderts ist das Utilitätssystem ein Hauptpunkt aller Diskussionen und Kämpfe gewesen, besonders auch im Vaterlande des Francis Bacon und in den Jahrzehnten, da Jeremias Bentham sich eines Welterfolges in Europa und Amerika rühmen konnte. Die Schriften von John Henry Newman — sein „Collected works“ liegen in 37 Bänden vor — beschäftigen sich an entscheidenden Stellen mit der Widerlegung der Utilitaristen.

Wenn Lessing an die Verkünder des LItilitätsystems vergebens die sarkastische Frage gerichtet hatte, worin denn der Nutzen des Nutzens bestehe, und wenn Kant gleichfalls keine Wirkung in die Breite ausüben konnte, so haben die Humanisten des 19. Jahrhunderts das alte Thema — „vis et utilitas litterarum" — mit apologetischem und polemischen Nachdruck abgehandelt. Ausgestattet mit dem ganzen Rüstzeug humanistischer Bildung ist Newman, der spätere Kardinal, den Angriffen entgegengetreten, die von den Anhängern Benthams als den Wortführern der Mittelklassen gegen die Universität Oxfort gerichtet wurden und wobei es um den Gegensatz „nützliche Kenntnisse“ oder „freie Bildung" ging. Newman hat wohl als erster in der abendländischen Welt die „Idee der Universität“ in einer eigenen Schrift herausgearbeitet und dabei dargelegt, daß zwar die Aneignung nützlicher Kenntnisse keine Bildung des Geistes ist, daß aber die Bildung des Geistes, also die Pflege des Verstandes, obwohl sie keine Berufserziehung ist, doch auch eine nützliche Erziehung sein kann. Er bewegt sich dabei in Gedankengängen, die unschwer die Herkunft von Schelling und überhaupt aus dem deutschen Geiste erkennen lassen. Teilweise hat er von den Deutschen gelernt, teilweise handelt es sich um abendländischen Gemeinbesitz, der auf die Griechen zurückgeht und in Oxford immer geläufig gewesen ist, aber im öffentlichen Bewußtsein unter dem wahllos zusammengerafften Ballast einer enzyklopädischen Bildung längst verschüttet war. Es ist ein schon der Popularphilosophie des Cicero inhärenter Gedanke, daß ein an sich Gutes oder Gerechtes gar nicht umhin kann, auch nach außen hin Nutzen und Vorteil zu bringen, selbst wenn es dies nicht verspricht — einfach weil es eben gut oder gerecht ist. Gleich wie die Tugend der Gerechtigkeit sich lohnt — ganz abgesehen davon, daß dieser Vorteil kein Maßstab für ihren inneren Wert ist — so stellt auch das Gut des geübten Verstandes einen Wert an sich dar, und doch hat es zugleich, auch seine Nützlichkeit für den einzelnen wie für die Gesellschaft. Die Parallele ist sehr genau: „Wie der Körper lediglich um seiner Gesundheit willen gepflegt und geübt werden kann, so kann auch der Verstand im Hinblick auf die ihm mögliche Vollkommenheit gepflegt und geschult werden: dies ist Bildung". Aber wie der Körper irgendeiner leichten oder schweren Arbeit unterworfen werden kann, so kann der Verstand in die Dienste irgendeines bestimmten Berufes gestellt werden; dies ist nicht Bildung. Wohl aber ist die Bildung des Geistes im Denken, Urteilen und Beobachten die notwendige Stütze für jede berufliche Arbeit, ganz so wie die Bildung und Gesundheit des Körpers die unentbehrliche Vorbedingung ist für jede Arbeit überhaupt

„Wir sind die Vorausschreitenden . .

Es ist hier nicht der Raum, im übrigen das gewaltige Nachleben Bacons darzustellen und die Antworten vorzuführen, die der Humanismus ihm gegeben hat. Daß Wissenschaft ein Gut ist, hat nie ein Kundiger bestritten. Daß sie die Richtung auf das Praktische nehmen muß, ist Aufgabe und Pflicht: das Leben könnte nicht weitergehen, wenn die Wissenschaft nicht betrieben würde. Ob sie aber auch eine Macht ist, wie die drei großen Jahrhunderte seit Bacon fest geglaubt haben, ist von einzelnen prophetischen Denkern seit 1850 doch schon bezweifelt worden. Die Humanisten, weil sie sich in erster Linie für die geistige Bildung verantwortlich fühlten und dabei in der Abwehr standen, haben vornehmlich für nötig erachtet, dafür zu sorgen, daß das Ideal des Wissens um seiner selbst nicht ganz verloren gehe-. Es ist dies, wie sie stets zum Ausdruck bringen, eine Idee, die seit den Griechen immer war und immer sein wird, solange die Natur des Menschen die gleiche bleibt: „sie ist bezeugt durch eine ununterbrochene Kette der Überlieferung,, und nie war sie aus der Welt, seit sie einmal in die Welt gekommen ist". Die Hoffnung, daß dies auch in der neu heraufkommenden Zeit der Maschine so bleiben werde, gründete sich zugleich auch auf die Überlegung, daß die freie Bildung des Denkens auch für die berufliche Tätigkeit unentbehrlich ist, weil ein Mensch, der dazu erzogen ist, sein ganzes Denken auf eine einzige Sache zu konzentrieren, sogar für diese niemals ein guter Beurteiler sein wird. Aber die Humanisten verwarfen überhaupt ein System, das den ganzen Menschen modeln, pressen und härten will in der genauen Form seines berufstechnischen Charakters und ihn so zum Sklaven der wechselnden Konjunkturen in Staat und Wirtschaft macht. In diesem Sinne hat Thiersch 1839 vor Industriellen und Kaufleuten von den Humanisten gesagt: „Wir sind die Voranschreitenden, die der Bedürfnisse der Gegenwart, der Forderungen der Zukunft Kundigen, während die anderen nur ein beschränktes Ziel im Auge haben und für den Bürger die Wege des Helotismus anbahnen". Und Friedrich Jacobs hat auch noch einen Blick geworfen in diese Zukunft, die allem Humanismus ein Ende setzen wird und in die Diktatur mündet. Denn wenn der Mensch nur dazu bestimmt wäre, von den Früchten der Erde zu zehren und seine Kräfte in irgendeinem Kreise bürgerlicher Tätigkeit abzunutzen, ohne je darüber hinauszuschreiten, dann wären freilich das Richtige Despotismus und Kastenzwang, die jedem Individuum die Talente und Fähigkeiten vorschreiben, jedem Kinde seine Bestimmung zuweisen, jede fremdartige Neigung in ihm ausrotten. Es ist dies, wie Jacobs sagt, »ein Zustand der Gesellschaft, vor welchem die Menschheit bebt“

In der Erkenntnis, daß das Bildungsproblem in einer nicht fernen Zukunft zur Entscheidung dränge, haben die deutschen Neuhumanisten den Blick auch nach England gewandt, wo in den klösterlichen Colleges ununterbrochen seit Jahrhunderten die griechischen Studien betrieben wurden. Friedrich Thiersch ist drüben gewesen, hat Eton und Rugby besucht und darüber berichtet. Der deutsche Humanist sah die Unterschiede. Er hätte die Wesensgestalt der deutschen humanistischen Schule preisgeben müssen, wenn er das englische System als Vorbild hätte empfehlen wollen. Die Colleges waren auf einer ganz anderen politischen Grundlage errichtet als das humanistische Gymnasium der deutschen Länder. Es waren Standesschulen für die privilegierte Schicht Englands; von diesen Internaten konnte man gewiß nicht sagen, daß da der Vornehme unter demselben Dache wohnt wie das bloße Talent. Weiterhin vermißte Thiersch die Konzentration auf wenige Autoren.

Es wurden in den Colleges sehr viele Schriftsteller gelesen, aber kursorisch, nur im raschen Lauf und unter Nachhilfe durch den Tutor. Die Schüler konnten mit keinem Dichter genaue Bekanntschaft machen, und die Lehrer nahmen es hin, wenn in den Internaten die Aufgaben hurtig erledigt wurden. Goethe allerdings war geneigt, dem englischen System den Vorzug zu geben: er fand, daß die Deutschen verbildet und die humanistisch gebildeten Engländer „die Courage haben, daß zu sein, wozu die Natur sie gemacht hat.“ Das Gleiche schätzte er so sehr an dem ihm an Jahren vorangeschrittenen Johann Heinrich Voß, der noch nicht durch das neue humanistische Staatsgymnasium verbildet worden sei: „Es war an ihm alles gesund und derb, weshalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältnis hatte.“ Demgegenüber sah er sich nun die Schüler Hegels an; die ihm zugesandten Werke des Philosophen hat er unbedankt in die Regale gestellt. Er fühlte, daß dieser gewaltsame Schwabe im Grunde vollkommener Humanist war. Ein Schüler Hegels, Hinrichs — der über das Wesen der antiken. Tragödie ein Werk im strengen Schema der Hegeischen Ästhetik geschrieben ha t— ist ihm unter die Augen getreten und hat ihn zum Nachdenken angeregt, wie es möglich war, daß ein ohne Zweifel kräftig geborener Mensch von der norddeutschen Seeküste durch die Hegeische Philosophie „so zugerichtet worden, daß ein unbefangenes und natürliches Anschauen und Denken bei ihm ausgetrieben und eine künstliche und schwerfällige Art und Weise sowohl des Denkens wie des Ausdrucks ihm nach und nach angebildet worden, so daß wir in seinem Buche auf Stellen geraten, wo uns der Verstand durchaus stille steht und man nicht mehr weiß, was man liest.“

Die Tragödie des deutschen Neuhumanismus

Den übersteigerten Intellektualismus der neuhumanistischen Schule auf ein richtiges Maß zurückzuführen und sie gleichzeitig im Einklang zu halten mit dem voransdireitenden Leben, wurde das Thema der deutschen Bildungsgeschichte seit dem Ende der klassischen Zeit, das durch den Tod Goethes, Niebuhrs, Hegels, Wilhelms v. Humboldt, des Freiherrn vom Stein, Gneisenaus in dem einzigen Jahre 1831/32 gekennzeichnet ist. In dieser entscheidungschweren Spanne von Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vollzieht sich die Tragödie des deutschen Neuhumanismus. Es gelang ihm nicht, die durch seine eigenen Prinzipien geforderte „aurea mediocritas“ zu gewinnen, von der Horaz spricht — jenes „mediocritatem tenere“ des Cicero. Gerade die Griechen hatten als den größten Vorteil, den die Menschen von der Huld der Musen haben, gepriesen, daß die menschliche Natur durch Wissenschaft und Unterweisung verfeinert und also angeleitet wird, „der Mittelstraße zu folgen und jedes Übermaß von sich ferne zu halten", wie im Plutarch zu lesen ist Die neuhumanistische Schule sah sich während des ganzen Jahrhunderts dem doppelten Angriff ausgesetzt, daß sie einerseits im altsprachlichen Unterricht des Guten zu viel tue, anderseits darüber versäume, lebensnahe zu bleiben. Und wiederum wie ehedem erhob sich der Widerspruch aus den Reihen des jetzt immer mächtiger werdenden Bürgertums. Es wollte nicht nur Reform, sondern ihm wurde die Last, die hier auf seine Söhne gelegt wurde, abermals zu drückend; und den Begriff der „Lebensnähe“ nicht nur äußerlich, sondern in seiner Tiefe zu erfassen, war dem wachsenden Realismus nicht möglich, zumal auch der Unterschied zwischen Humanismus und klassischer Philologie sich zu verwischen begann und die altklassischen Realien wiederum in die Schule drängten.

Wie sich die Stimmen über die Notwendigkeit einer Universitätsreform schon aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sammeln lassen, wobei Gelehrte von Rang schon viele der Probleme aufgriffen, die auch heute noch ungelöst sind, so sind auch die Klagen über die höhere Schule wenigstens in Deutschland schon in der vormärzlichen Zeit Legion. Schon 1830 beginnen in den einzelnen deutschen Staaten die Sitzungen über die Gymnasialreform, sie haben sich dann seit 1890 mit dem Fall des Gymnasialmonopols erweitert zu Beratungen über die Reform der höheren Lehranstalten überhaupt, sie sind in 125 Jahren nur durch die Kriege unterbrochen und dann an den alten Stellen wieder angesponnen worden. Das begann zunächst mit der Klage darüber, daß man im Griechischen um der Systematik und Vollständigkeit willen in die Schulgrammatik jede unregelmäßige Form aufnahm, auch wenn sie nur ein einziges Mal im Homer vorkommt, und daß man die Schullektüre ausgedehnt hatte auf die schwierigsten Dichter, auf Pinder und Äschylus. Anderseits hatten sich jene Kommissionen von Schulmännern und zuständigen Fachgelehrten mit der Tatsache zu beschäftigen, daß nun pausenlos und durch die Jahrzehnte hindurch alles das auch weiterhin angewachsen ist, was das moderne Leben heranbrachte und der Aneignung durch die Schuljugend für wert erklärte

Die im Besitz befindlichen Humanisten waren nur zu seltenen Abstrichen bereit. Die Schulverwaltungen aber konnten sich dem Druck des Zeitgeistes nicht entziehen und bauten die Nebenfächer aus. Schwerlich konnten sie in der anwachsenden nationalstaatlichen Bewegung den Anspruch der vaterländischen Geschichte abweisen, nachdem bisher nur die alte Geschichte als ein allerdings unvergleichliches Bildungsmittel der Jugend in enger Verbindung mit dem Unterricht in den alten Sprachen gepflegt worden war. Bald wurde die Frage des Unterrichtes in der Philosophie aktuell, den die Polyhistoriker in ganzer Breite und ohne Quellen erteilt hatten; das war jetzt überholt, seit Plato gelesen wurde; statt dessen richtete man als „philosophische Propädeutik" den Unterricht in Logik und Psychologie ein. Auch die Naturwissenschaften konnten Mit guten Gründen Anrechte geltend machen, es kam hinzu der sich ausdehnende Wissensstoff der Geographie. Die Folge war die „Überlastung der überbürdeten Schuljugend“: diese Parole dröhnt von nun an durch das ganze Jahrhundert. Die Humanisten gaben dem „VollstopfungsSystem“ in den Gymnasien die Schuld, wenn die Universitäten ihr Niveau nicht halten konnten. Sie forderten die „Amputation der endlosen Bildungsschlange“;

sie bedauerten und tadelten, daß nun jedes Fach die gleiche oder annähernde Wichtigkeit erhielt und sogar Gegenstand der Kompensation werden konnte; sie sahen damit die Grundbedingung aller wahren und höheren Bildung verfehlt — nämlich die Sammlung der Tätigkeit auf wenige und würdige Gegenstände.

Die Angriffe gingen weiter. Angesehene Ärzte wiesen darauf hin, daß die Vielfalt der Unterrichtsgegenstände den Geist abstumpfe und lähme, daß die Vielheit der Unterrichtsstunden den Organismus schädige und daß die Vielheit der häuslichen Aufgaben schuld daran sei, wenn die Schädigungen durch die Schule auch außerhalb der Schule nicht aufgehoben, die Schüler der Natur und selbst der Familie entfremdet wurden.

In Preußen wurden König Friedrich Wilhelm III. und seine Generale unruhig, als sie den hohen Prozentsatz von Militär-Untauglichen unter den Abiturienten sahen. Ein stets wachsender Teil des Bürgertums klagte, daß das Gymnasium und seine Lehrer eine furchtbare Tyrannis über die Familien ausübten. In den Akten der 70er Jahre findet sich oft die Notiz, daß in mancher Klasse ein Drittel der Schüler Privatstunden erhielt und der Gebrauch von Eselsbrücken immer häufiger wurde; oft ist von Konflikten die Rede zwischen dem Direktor des Gymnasiums und dem Buchhändler in der Stadt wegen des Verkaufs der verpönten Übersetzungen.

So wollten die einen die Nebenfächer wieder reduzieren, das Gymnasium in der alten Form wieder hergestellt sehen, die anderen das Griechische streichen. Nur selten meldet sich ein Reformfreund, der in seiner Jugend in Rugby Lehrer gewesen war und das Gymnasium erhalten, aber umgestalten wollte, indem nach-dem englichen Vorbilde die Lust an der Arbeit und zugleich an Spiel und Sport geweckt wurde. Und noch ein Weiteres gehört zum Bilde jener „guten alten Zeit“. Auf den Konferenzen der Direktoren kommt in den 80er Jahren oft zur Sprache und steht in den Berichten gedruckt, daß das „körperliche Verderben der Jugend“

auf das „nichtswürdige Treiben“ der Schülerverbindungen zurückzuführen sei, wo der Konsum ungeheuerlicher Quantitäten von Bier üblich war und die Schüler auf Ehre sich verpflichteten, nichts zu gestehen:

„Und solche Leute werden dann Geistliche, Richter und Lehrer.“

In einer Unmenge von Flugschriften und Akten haben diese Schulkämpfe des vorigen Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden. Durch ganz Europa bis nach Odessa hin ist in allen Städten und unter den Studierenden aller Universitäten über die Vorzüge der verschiedenen Bildungsarten und über die Fragwürdigkeit der bestehenden Schulen diskutiert worden, als der erste Weltkrieg herannahte; auch im zaristischen Rußland gab es die Kämpfe zwischen den Anhängern des griechischen Unterrichts und den Realisten. Ohne daß die beiden Kriege irgendeinen Einschnitt gebracht hätten, sind die antihumanistischenKräfte, die im 19 Jahrhundert sich gesammelt hatten, uns im 20. Jahrhundert zugewachsen und haben die Situation geschaffen, in der wir heute Stehen.

Nicht nur Versäumnisse haben das humanistische Bildungsgut entwertet und den Glauben an seine den Menschen und die Gesellschaft gestaltende Kraft vernichtet. Vielmehr sind viele der vorwaltenden geistigen und sozialen Strömungen, die dem 19. Jahrhundert entstammen oder auch noch älteren Datums sind, durch alles das, was wir bis jetzt im 20. Jahrhundert durchgemacht haben, so begünstigt worden und so übermäßig aufgestiegen, daß jene weltgeschichtliche Krisis entstanden ist, in der wir seit einem Menschenalter leben und in die auch der Humanismus hineingerissen wurde. Denn der Durchbruch in ein neues Weltalter, der im Oktober 1917 mit der bolschewistischen Revolution in Rußland begonnen hat, ist erweitert worden durch den Sturz der Monarchien in Mitteleuropa, durch die Errichtung von Diktaturen, durch den LIntergang des europäischen Staatensystems der Großmächte und der Mächte minderen Ranges, durch den Aufstieg der beiden Weltmächte, durch das Ende des europäischen Kolonialismus, durch die seit 1918 sich vollziehenden sogenannten Emanzipationen, die alles gelockert haben und einer neuen Ordnung zuführen, was frühere Umwälzungen noch stabil gelassen hatten. Alle diese ungeheuren Veränderungen, in deren Mitte wir stehen, haben eine Umwelt geschaffen, die der Individualkultur und damit dem humanistischen Gedanken der Bildung zum Menschen ganz ungünstig ist und vielfach den Menschen in seiner Würde, ja in seiner Existenz bedroht. Dieser Zustand der Krisis ist also keineswegs durch Zufall, durch ein allmächtiges Fatum oder — wie man im Hinblick auf das deutsche Schicksal seit 1933 leichthin behauptet hat — durch ein dem deutschen Volke beigebrachtes Gift über uns gekommen. Sondern alles wurzelt in den nicht minder großen Veränderungen, die schon das 19. Jahrhundert in Geist und Gesellschaft der europäischen Nationen eingeleitet hat. Es ist heute sichtbar geworden, daß das gewaltige Drama, das gegenwärtig abrollt, schon im vorigen Jahrhundert angelaufen ist

Denn weder die deutsche Klassik noch die Romantik hat die Hoffnungen erfüllt, die das Zeitalter der Dichter und Denker auf sie gesetzt hatte. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, wie erwähnt, erfolgte der Umbruch. Stärker als jemals in der Zeit der Aufklärung brachen die alten antihumanistischen Gewalten Europas, die seit der Renaissance und zu einem großen Teile gleichfalls in Anlehnung an wieder entdeckte Autoren des Altertums sich entwickelt hatten, — Materialismus und Utilitätssystem, der Machtgedanke und die aus der Atomistik geborene Idee des Kollektivismus — sich die Bahn in das Leben, so daß bald nach der Mitte des 19. Jahrhunderts Emil Du Bois-Reymond der weithin um sich greifenden Goethefeindschaft Ausdruck geben und an jenen Schriftsteller wieder anknüpfen konnte, den Goethe aus Deutschland verdrängt hatte: „Im Grunde sind wir alle Voltairianer“ Dazu treten nun noch die neuen geistigen Gewalten des 19. Jahrhunderts, nämlich die stets umfangreicher und unübersichtlicher werdende, grenzenlos sich ausdehnende, in immer mehr Spezialgebiete auseinandertretende Wissenschaft, der Positivismus, der Historismus und Relativismus und als ihre sicht-barsten Vertreter die vielen Bestreiter der absoluten Normen auf allen Gebieten. Das Grundanliegen der Philosophie, die Metaphysik, stand seit Hegels Tode tief im Kurse. Vom Bürgertum aus hat dies alles rasch auch den Vierten Stand erfaßt; die Parole gab Ferdinand Lassalle, sie hieß die „Allianz der Arbeiterschaft mit der Wissenschaft". In einem breiten Strome hat dieser Geist in alle Bezirke des Lebens gewirkt und den Staat wie die Gesellschaft, die sich entwickelnde moderne Technik wie die politischen Parteien — diese andere neue Erscheinung des Jahrhunderts — weithin bestimmt.

Überhaupt ist der Stand der Wissenschaft zu bedenken, wie er im 19. und 20. Jahrhundert geworden ist, wenn man die Krisis des humanistischen Geistes verstehen will. Der Humanismus gehört dem Jugendalter und der Mittagshöhe der abendländischen Völker an. Wenn die geistige Entwicklung noch weiter vorangeschritten ist, dann strömt der methodisch herbeigeholte Wissensstoff ins Unermeßliche, das Alexandrinertum drängt in die Schule hinein. Das Herankommen dieses Zustandes seit zweihundert Jahren läßt sich durch berühmte Aussprüche Lessings und Goethes belegen, und die Schulkämpfe des 19. Jahrhunderts gingen nicht nur um die Frage, was von einem höheren Schüler „unbedingt gewußt werden muß“, sondern auch darum, ob und inwieweit die Verwissenschaftlichung des Unterrichts in den höheren Schulen ihren Humanismus ersetzen könne. Schon wurden damals Klagen laut über den allem humanistischen Geiste entgegengesetzten Zustand, daß man die Schüler auch mit dem doch höchst beweglichen Gebiete der Forschung bekannt zu machen suche, ihnen wissenschaftliche Kontroversen unterbreite, während in die Schule doch nur das gehöre, was wenigstens einigermaßen gesichert ist. Und dieses weit vorgeschrittene Stadium, in dem sich alle Wissenschaften befinden, hat bewirkt, daß der Anlauf, den die Jugend nehmen muß, um zu eigener Wirkung zu gelangen, immer länger, die Vorbereitungszeit immer ausgedehnter wird, immer mehr Bücher gelesen und gelernt werden müssen, der Studierende immer seltener zum Nachdenken, zur Meditation, zur eigenen Bemühung gelangt. Denn wer soll das alles sich aneignen, auch nur in einem einzigen Fach?

Schon Pettenkofer hielt diesen Zuständen entgegen, daß der Tag heute auch nicht mehr Stunden hat als vor zweitausend Jahren und daß die Summe der individuellen Geisteskraft nicht wesentlich größer ist als zu jener Zeit, da die Wissenschaft noch unentwickelter war und es noch keine Setz-und Drudemaschinen, noch keine nach kapitalistischen Grundsätzen arbeitenden Verlagshäuser gab.

Es haben sich im 19. Jahrhundert oft Denker gemeldet, die mit Sorge beobachteten, wie die menschliche Persönlichkeit in dieser Fülle verarmte an seelischer Kraft und daß über Studium und Lehrbetrieb die Lebensbedingungen jeder Kultur verloren gingen. Die Zahl dieser Warner ist nicht klein, es sind erlauchte Namen darunter; ihre Stimmen hat man gesammelt, sie reichen vom alten Goethe bis zu Jakob Burckhardt.

Die humanistischen Schulmänner waren jedoch die einzigen, die durch das ganze Jahrhundert über die Literatur hinaus unmittelbar in das breite Leben der Gesellschaft wirken konnten; sie hatten sich freilich gegen eine durch Kaufmannschaft und Industrie übermächtig werdende Zeitströmung zu wehren, und der Aufgabe waren sie schwerlich gewachsen. Allerdings hat dann der Anbruch des 20. Jahrhunderts eine entschiedene Wende, eine Abkehr von den vorwaltenden geistigen Potenzen, eine Absage an Materialismus und Utilitätssystem, an Historismus und Positivismus gebracht und zu dem denkwürdigen Versuche geführt, einen neuen Geist aufzubauen aus der eigenen Kraft einer neuen Generation. Diese Bewegung hat über den ersten Weltkrieg hinaus durchgehalten. Man denke an Henry Bergson, an die Neuromantik und an die Jugend-bewegung. Unter ihnen hat nur Bergson eine die Zeiten überdauernde, tief in alle Gebiete hineingreifende Nachwirkung gehabt. Im übrigen haben Materialismus, Relativismus und die ihnen verwandten Lebens-mächte des späteren 19. Jahrhunderts standgehalten, sie sind auch weiterhin im Vordringen. Zudem sind die neuen Bewegungen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, gleichfalls unhumanistisch; in ihnen sind vielfach jene älteren Widersacher des Humanismus, die lange seine Anfänge begleitet hatten, in neuem Gewände erstanden. Denn wenn Humanismus alles umfaßt, was dem Maß des Menschen entspricht, so ist unhumanistisch alles, was dieses Maß sprengt. Die Mystiker in der Ekstase, Sektierer und Enthusiasten fehlen im 20. Jahrhundert nicht, ganz wie die Jakobiner der Französischen Revolution eine Sekte von Schwarmgeistern, aber in der modischen rationalistischen Verkleidung gewesen sind. Auch die Prädestination ist in säkularisierter Gestalt, als Rassentheorie aufgetreten. Der Kultus des Genies oder jenes genialischen Menschen, der in drängender Fülle alle Dämme der Regeln, der Konvention niederreißt, hat seine ganze zerstörende Kraft entfaltet. Das Kollektiv ist eine Lebensmacht geworden; das Maß der Maschine ist in überlegene Konkurrenz getreten zu dem Maß des Menschen. Und hinter vielem des Neuen, was das 20. Jahrhundert gebracht hat, steht immer noch jener Denker, der dem Antihumanistischen den konsequentesten Ausdruck gegeben hat. Die Bestialität im Menschen hatten gerade auch Humanisten eingerechnet in ihr Menschenbild. Aber immer galten Glauben und Ziel der Wiederaufrichtung des in Barbarei gefallenen Menschen. Bei Nietzsche aber erscheint nicht mehr das „humanum", sondern das Barbarishe als das eigentlich Schöpferische: „der Mensch ist etwas, was überwunden werden muß“.

Absturz der humanistischen Bildung

Diese geistigen Kräfte, die den Absturz der humanistischen Bildung vorbereitet haben, können nicht überschätzt werden. Denn „die theoretishe Arbeit bringt mehr zuwege als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellungen revolutioniert, dann hält die Wirklichkeit nicht aus“. Dieser Satz Hegels ist ganz aus humanistischem Geiste geflossen, auch wenn der Sprecher selbst hierbei die dem Humanisten eigene skeptische Zurückhaltung vermissen läßt und im übrigen jenen Hegelianismus in die Welt gesetzt hat, der mit seiner Erneuerung im 20. Jahrhundert die Individualkultur ganz unmittelbar bedroht. Aber die gegenwärtigen Aussichten der humanistischen Bildung werden nicht nur durch Ideen, sondern entscheidend bestimmt auch durch die großen äußeren Wandlungen, die im 19. Jahrhundert anheben und heute mit voller Wucht in die weltgeschichtliche Krisis geführt haben, in der wir leben. In dem berühmten Abschnitt über die „historischen Krisen" hat Jakob Burckhardt ausgeführt, daß es immer der Eintritt der Massen in die Geschichte ist, was eine solche Krise hervorruft. Unter diesem Aspekt ist nun aber kein anderes Zeitalter so exzeptionell als jenes, das 1815 begonnen und 1914 in das Weltalter des 20. Jahrhunderts geführt hat. Ein volles Jahrtausend hatte Deutschland gebraucht, um seinen Raum mit 20 Millionen Menschen zu füllen. Ein halbes Jahrhundert später, 1871, waren es schon doppelt so viel, 40 Millionen; in dem einen Jahrhundert, das zwischen 1815 und 1914 liegt, sind zu den 20 Millionen noch 47 Millionen hinzugekommen; die Zahl der Menschen hat sich hier also in einem Jahrhundert mehr als verdreifacht. Und dies hat sich seither fortgesetzt. Den gleichen Vorgang findet man auch bei den anderen Nationen Europas und bei allen atlantischen Völkern überhaupt; er ist geradezu eine planetarische Erscheinung. Nur Frankreich bildet eine Ausnahme"; während seine Bevölkerung noch unter der Herrschaft der Revolution und des Kaiserreiches gewachsen ist, trotz der ungeheuren Blutopfer durch Terror und Kriege, so daß Frankreich am Ende der napoleonischen Zeit immer noch wie in den Tagen Ludwigs XIV. die volkreichste Nation war, ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts sein Anwachsen zum Stillstand gekommen. Frankreich ist im Hinblick auf die Volkszahl damals von Deutschland überflügelt worden, und ohne Zweifel erklärt sich der Rückgang der französischen Geltung seit der Bismarckzeit auch daher.

Eine grundstürzende Veränderung in der Quantität hat nun aber stets Rückwirkungen in qualitativer Hinsicht zur Folge. Überall — in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Heer — gilt es heute, Massen zu lenken, unter Massen Ordnung zu halten. Welch'eine großartige Stellung hat noch vor hundert Jahren die gelehrte Jurisprudenz neben dem Humanismus eingenommen, beide auf dem Boden der Individualkultur erwachsen, und was ist heute alles konkurrierend hinzugekommen, dem der Richter oder der Mann der Verwaltung entsprechen muß, wenn er der Aufgabe gewachsen sein soll, in der ansteigenden Flut von Menschen „suum cuique tribuere", jedem das Seine zu geben! Oder, um von einem anderen Gebiete des öffentlichen Lebens zu sprechen — wenn Scharnhorst bei der Heeresreform sich im Einklang mit der neuhumanistischen Bewegung befunden hatte und dementsprechend die geistige Bildung der Offiziere ihm das wichtigste Anliegen wurde, so daß er gleich Humboldt die Auslese auf das Examen zu gründen begann, so haben zwar schon damals die Gegner diesen beiden Reformern „Prüfungsfanatismus“ vorgeworfen; wie der Rektor Ilgen von Schulpforta gegen die Einführung des Abiturientenexamens protestierte, weil es im Bildungswesen die bürokratische Schablone zur Macht bringe, so hat der General v. d. Marwitz dem „Schulmeister" Scharnhorst, wie er ihn nannte, zu bedenken gegeben, daß der Offizier mehr als anderes jene Qualitäten notwendig brauche, die sich nicht auf der Schulbank lernen lassen, sondern nur sich entwickeln können durch die Gewöhnung von Jugend auf, über Men-sehen zu verfügen. Doch dies waren späte Auseinandersetzungen zwischen dem modern-humanistischen und dem überlieferten aristokratischen und wohl auch absolutistischen Prinzip. Die beiden Prinzipien haben dann im preußischen Heere persönlichen Ausdruck gefunden in den so entgegengesetzten historischen Gestalten Boyen und Roon, diesen beiden größten Kriegsministern der preußischen Geschichte. Sobald mit den gewaltigen Heeresvermehrungen, die dem ersten Weltkrieg voran-gingen, die Massenheere in den europäischen Militärstaaten, zumal in Frankreich und Deutschland aufgestellt wurden, konnte der Nachwuchs zur Besetzung der Offiziersstellen weder von den alten Familien noch vom humanistisch gebildeten Bürgertum in genügender Anzahl geliefert werden. Das Problem aber, das Scharnhorst und Boyen — und in Frankreich zuletzt noch den Marschall Lyautey — so sehr beschäftigt hatte, einen Offiziersstand mit menschlicher Gesinnung und humanistischer Bildung heranzuziehen, war ganz neu gestellt und suchte nach neuer Lösung, als die Mannschaft auch aus Großstädten kam, die Truppen-führung in die Hand der neuen sozialen Schichten gelangte und die hohen Kommandostäbe Massen zu dirigieren hatten, die nur durch Aufwendung aller Errungenschaften der Technik in Bewegung zu setzen sind.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die gewaltig in die Geschichte eintretenden Massen an die Tore der höheren Schule pochten und sich Zutritt erzwangen. Die Situation war den Massen günstig. Seit Jahrzehnten, wie wir hörten, war der humanistische Gehalt der höheren Schule im Schwinden, denn der durch bloße Aneignung zu gewinnende und in den wachsenden Anforderungen des Lebens brauchbare Lernstoff hatte immer breiteren Raum gewonnen. Die Fremdsprachen sowie Mathematik und Physik waren durch das System der Kompensationen aus ihrer vor-waltenden Stellung verdrängt. Dazu kam, daß schon die Zeit vor dem ersten Weltkrieg beherrscht war von dem quantitativen Denken, wie es seit Descartes trotz Humanismus und Romantik ununterbrochen zur Geltung gekommen war und im mächtigen Aufblühen der Städte, dei Produktion des Massenhaften auf allen Gebieten dazu geführt hatte, daß immer nur solche Leute an die führenden Stellen gelangten, die willig mit der Zeit gingen und sich also der Suggestion der Zahl, dem Fetisch des Rekordes beugten. Schon vor dem ersten Weltkriege, noch im monarchischen Deutschland hatte sich eingebürgert, daß die Direktoren der höheren Lehranstalten einer Großstadt sich gegenseitig zu übertreffen suchten in Steigerung der Frequenz. Die gedruckten Jahresberichte dieser Schulen aus jener Zeit geben dem Historiker Kunde davon, wie die Leiter der Anstalten ihren Ehrgeiz darein setzten, durch graphische Darstellungen und steile Kurven anschaulich zu machen, wie sehr sich unter ihrer Direktion die Schule entwickelt habe. An idealistischer Begründung für dieses Verfahren konnte es nicht fehlen; unzweifelhaft verdienstlich war doch die Ausbreitung der Bildung unter den Vielen.

„Invasion" in Schulen und Universitäten

Der erste Weltkrieg hat hieran nichts geändert. Die höheren Schulen, die Fachschulen, die Universitäten mehrten und füllten sich; Eduard Spranger hielt im Jahre 1925 seinen Vortrag über die „Verschulung Deutschlands". Wie weit ein Zusammenhang besteht zwischen diesen Zuständen im Unterrichtswesen und der sich damals vorbereitenden Katastrophe von 1933 kann die Geschichtsforschung erst klären, wenn einmal die alte Wesensart und die alten Zaubermittel verschwunden sind und die Sicht frei ist. Einstweilen geht die Entwicklung ihren Gang. Der zweite Weltkrieg hat die Menschen nicht in der Weise geändert, wie dies durch andere Schicksalszeiten der Weltgeschichte, etwa durch den Einbruch der Germanen in die antike Welt geschehen ist. Niemand wird zudem das Emporkommen des „Dritten Reiches“ auf eine einzige Ursache zurückführen wollen. Wo in Europa der Zusammenhang der wirkenden Faktoren ein anderer ist, hat das Bildungsproblem bisher doch in der gleichen Weise wie in Deutschland sich entfaltet, nur eben noch ohne den Schlußakt. Überall hat die Zahl der Schüler in den höheren Lehranstalten und der Studierenden um ein Vielfaches mehr zugenommen als die Gesamtbevölkerung des Landes. Alle hochentwickelten Völker bieten heute den gleichen Anblick; er zeigt das Einströmen unvorstellbarer Massen in die höheren Schulen und in die Universitäten.

Den Zustand, der so entstanden ist, haben sehr drastisch formuliert amerikanische Schulmänner wie Robert Hutchins, Präsident der Universität Chicago, und Douglas Bush von der Harvard-Universität. Sie sagen: „Die steigende Flut von Schülern der höheren Lehranstalten und von Studenten ist ein unerhörtes Phänomen der Weltgeschichte. Es ist nur zu vergleichen mit der Invasion der Barbaren in die antike Kulturwelt während der Zeit der Völkerwanderung. Der Erziehungsprozeß, der sich daraus ergab, hat damals tausend Jahre in Anspruch genommen.“ Das Problem, das zunächst hiermit gestellt ist, besteht darin, daß kein Staat und keine Gesellschaft, die auf dem Privateigentum beruhen, fähig sind, die ungeheueren Finanzlasten aufzubringen, die notwendig sind, * um die Räume für alle höheren Schulen und die Hochschulen zu beschaffen, und daß kein solcher Staat Bibliothekswände in dem Tempo errichten kann, in dem neue Bücher produziert werden. Schon denkt man in den USA daran, daß Heimunterricht durch Fernsehen billig sei und wohl eine Lösung darstelle und daß die Mehrzahl der Bestände unserer Bibiliotheken, weil nicht benutzt, in Depots zu überweisen sind. Einstweilen — so lauten die Nachrichten aus USA — hat der Strom der Mas-sen zu einer „Nivellierung auf der tiefsten Durchschnittsebene“ geführt: das Ausleseprinzip kann nicht mehr angewendet werden, und — was auch bei uns schon sichtbar wird — es entsteht ein Mißverhältnis zwischen den hohen Anforderungen, die beim Eintritt in den Beruf des Gymnasiallehrers gestellt werden, und den immer niedriger werdenden Lehraufgaben im Massenbetrieb der höheren Schulen und der Hochschulen.

Die Tore weit auf für alle

So ist die heutige Situation gekennzeichnet durch die Überfüllung der höheren Schulen und durch ihr Korrelat — daß nämlich die geistige Arbeit, soweit sie nicht unmittelbar praktische Bedeutung hat, schon wegen des jedes vernünftige Maß überschreitenden Angebotes im Werte enorm sinkt, während es an Facharbeitern fehlt und man diese aus dem Auslande heranholen möchte, aber auch dort keine mehr erhält, weil überall der soziale Aufbau in gleicher Weise ungesund ist. Trotzdem bleibt Tatsache, daß die Kreise, deren Ideen heute das Unterrichtswesen in der Welt beherrschen, entschieden dafür sind, die Tore weit aufzumachen für alle. Die Vorschläge zu einer Roform der höheren Lehranstalten und zur Universitätsreform — seit zehn Jahren haben bei allen Kulturvölkern unzählige Konferenzen mit diesem Programm stattgefunden — bewegen sich, denn auch ausnahmslos in der Richtung, daß man nach Mitteln sucht, wie durch Schaffung neuer Stellen für Lehrer und Assistenten und andererseits durch Vermehrung der Stipendiaten die bildungshungrigen Massen erfaßt werden können. Dies sind sehr wichtige Maßnahmen der Förderung, weil ohnedies die Aufgaben wachsen, die der höheren Schule und der Universität in der Gegenwart zufallen, angesichts des immer komplizierter werdenden heutigen Lebens, das gemeistert werden muß. Aber kaum irgendwo findet sich, daß durch eine neue Universitätsverfassung, durch eine neue Gestaltung der Prüfungen, durch erschwerten Zutritt zu den Stipendien, durch eine Neu-fassung der Lehrpläne und eine den humanistischen Prinzipien entsprechende Methode des Unterrichtes an den höheren Lehranstalten, die Unberufenen ferne gehalten werden und so den Gefahren begegnet wird, die der Gediegenheit der Studien drohen.

Nur in der Schweiz findet man Ansätze zu einer Lösung der Schwierigkeiten. Die kantonalen Universitäten weisen zwar nicht die großen Ziffern auf wie die hohen Schulen anderwärts, aber die Inskriptionen haben doch viel stärker zugenommen als die Zahl der Bevölkerung und zwar gleichfalls im stürmischen Tempo. Und die humanistische Vorbildung, die zum wissenschaftlichen Studium notwendigen Vorkenntnisse fehlen auch in jenem Lande, wo es wenig kriegsbedingte Nöte gegeben hat. Auch hier werden von den Hochschulen 25 bis 30°/0 der Neu-immatrikulierten für ungeeignet befunden, ein akademisches Studium zu ergreifen, ohne daß es bisher ein Mittel gibt, in dem Massenbetrieb und der Stoffülle das Absinken des Niveaus aufzühalten und dadurch den für die wissenschaftliche Bildung nicht in Betracht kommenden Teil auf eine andere Bahn zu lenken. Die Universität Bern hat aber nunmehr den Weg zur Reform beschritten. Sie hat auf Grund einer umfassenden, von ihrem Historiker Werner Näf verfaßten und im Druck vorliegenden Denkschrift, in Einvernahme mit den staatlichen Instanzen, eine Universitätsverfassung ausgearbeitet, die, durch Volksabstimmung vom 7. Februar 1954 bestätigt, als „Gesetz über die Universität" vorliegt. Hiernach ist ein Rektorat eingerichtet, bestehend aus dem Rektor, dem Prorektor, dem Rector designatus und einem gewählten Vertreter des Senates. In diesem Gremium werden alle wichtigen Angelegenheiten der Universität vorbereitet und viele entschieden, so daß die beamteten Professoren weitgehend der anderswo so lange sich hinziehenden Senats-und Ausschußsitzungen enthoben sind und wenigstens diese freie Zeit für Forschungsarbeit gewinnen, ohne daß man die Konzentration der Geschäfte mit einem Zugeständnis an das „Führerprinzip" erkauft hätte. Ferner ist, damit die auch hier verloren gegangene, dem humanistischen Bildungsgedanken ganz unentbehrliche Zusammenarbeit von höheren Lehranstalten und Universitäten wiedei gewonnen werde, eine ständige „Konferenz von Vertretern der Gymnasien und der Universität“ bestellt und zwar, wie gesagt, kraft Gesetzes.

Sie wird auch von dem „Verein der schweizerischen Gymnasiallehrer“

seit langem gefordert, so daß anzunehmen ist, das Berner Vorgehen werde bald auch in anderen Kantonen Nachfolge finden. Denn die Anteilnahme der Universität an Schulfragen erscheint hier allerdings als ein zentraler Punkt jeder Reform, da nun einmal die Universität die gymnasiale Bildung voraussetzt, andererseits die höheren Schulen ihre Lehrer von der Universität erhalten und niemand in Westeuropa wünschen kann, daß sich irgendetwas an diesem Verhältnis ändere. Daher müssen die Erfahrungen, die man miteinander macht, gegenseitig ausgetauscht werden. Ein wesentlicher Teil der Schweizer Reform gilt denn auch dem Referendarjahr, dessen Gestaltung auch dort recht unbefriedigend war und künftig nicht mehr ohne Mitwirkung der Universität geschieht.

Daß dieser dauernde Kontakt zwischen den Universitätslehrern und den Lehrern der höheren Schulen ehedem auch bei uns sehr fruchtbar gewesen ist und sich aus der gemeinsamen Zielsetzung ergibt, ist nahezu in Vergessenheit geraten. Er wird als eine Bedingung des humanistischen Schulwesens wieder sichtbar werden, sobald einmal die Kultur-pflege der deutschen Staaten in der Vergangenheit aus den Akten erforscht und dargestellt wird, die heute noch zum großen Teile in den Registraturen der Ministerien ruhen. Gelehrte wie Pettenkofer oder in Preußen Adolf Trendelenburg haben einen großen Teil ihrer Zeit und Kraft dieser Aufgabe gewidmet; auch viele andere Namen begegnen uns in den Protokollen und Denkschriften. Es sind nur selten Ressortmenschen darunter, denen es lediglich um die Geltung ihres Faches zu tun war; viele haben aus einem weiten und großen Bildungsgedanken sich darum gemüht, daß die höheren Schulen ausgerichtet blieben auf den zu bildenden Menschengeist; sie haben viel getan, damit die Schulen nicht noch mehr, als ohnedies geschehen ist, ihren Charakter als Vorbereitungsanstalten verloren und mit Wissensstoff überschwemmt wurden, der sie ihrem Ziele entfremdete. Es ist auch wieder als zweckvoll erkannt, daß dieser oder jener akademische Lehrer, der an der Universität Philologie oder Mathematik doziert, im Auftrag der Regierung am Abiturientenexamen beteiligt wird. Denn diese Maturität ist ja die Vorbedingung zum Universitätsstudium, und so kann man einem LIniversitätslehrer mit langer Erfahrung es zutrauen, daß er in der Lage ist, zu beurteilen, ob eine geistige Persönlichkeit durch zuverlässige Kenntnisse, klare Vorstellungen und Begriffe, durch die Gewöhnung an logisches Denken und an die präzise Form des Ausdruckes, durch Einsichten und Fähigkeiten so weit gereift ist, daß sie das Berufsstudium ergreifen kann, ohne darüber in Enge und Befangenheit zu geraten und den Sinn für das Ganze zu verlieren. Dies eben und nichts anderes ist Wesen und Zweck einer vom humanistischen Geiste geleiteten Reifeprüfung.

Daß man in der Schweiz zu ersten praktischen Ergebnissen gelangt, ist dem Zusammenwirken von Llniversitäts-und Gymnasiallehrern zu danken. Diese gemeinsame Arbeit an der Reform dauert an. Der soeben genannte „Verein schweizerischer Gymnasialleherer" hat ungefähr zur gleichen Zeit, da Bern sein Universitätsgesetz formulierte, eine Studienkommission eingesetzt zur Neuordnung der Beziehungen zwischen Gymnasium und Hochschule. Ihr gehören an Vertreter der Hoch-schulen, Rektoren und Lehrer der Gymnasien, die Leiter der staatlichen Behörden und der Standesorganisationen der Ingenieure, Architekten, Ärzte. Die Kommission hat ihren Bericht vorgelegt, der zusammen mit den Anlagen 78 Druckseiten umfaßt. Unverkennbar ist das Bestreben, die Gymnasialbildung und die Hochschulbildung als zwei Stufen eines einheitlichen Bildungsganges zu erfassen, wobei das Gymnasium den Grund legt zur humanistischen Bildung für das ganze Leben, die Hochschule aber die jungen Menschen bildet für die Wissenschaft als Mittel zum Beruf oder für die Wissenschaft als Beruf. Deutlich ist auch das Streben, die Schüler aus der Anhäufung von Stoff und aus der Vernachlässigung des Grundlegenden wieder zur humanistischen Arbeitsweise zu führen, Sprachen und Mathematik als die Bildungselemente voranzustellen. Und da bei einer solchen Neuordnung ein beträchtlicher Teil der Schüler die höchste Stufe nicht erreichen kann, wird ein Abgangszeugnis nach Abschluß der vorletzten Klasse projektiert und ihm bestimmte Berufe in der Verwaltung von Staat und Gemeinde und auch im Wirtschaftsleben vorbehalten. Dies wird die Selektion und wahrscheinlich auch den Verzicht erleichtern.

Bewährung schwieriger als Erwerb

Man darf sich freilich keinen Illusionen hingeben. Die Wieder-stände gegen einen radikalen Abbau des Stoffes entstammen sicherlich nicht nur der Bequemlichkeit gewisser Lehrer, die sich und den Schülern den Unterricht leicht und unterhaltsam gestalten möchten. Denn es ist nicht so, als ob der Humanismus den Stoff nur als Material für die Schulung des Denkvermögens verwenden will; das ist eine enge und trügerische Auffassung von „formaler Bildung". Vielmehr soll das Denkvermögen an ernsten und wissenswerten Dingen geübt und dabei das elementare Wissen angeeignet werden, das Voraussetzung ist für jedes ersprießliche Gespräch und also auch für das Anhören einer Vorlesung. Von hier aus kann freilich der Kreis des Wissenswerten doch wieder willkürlich erweitert, es kann die „Wissensschule" verteidigt werden, und der Schüler, der nur Gedächtnisarbeiter ist, kann doch zum Ziele gelangen, wo er dann eben nur notdürftig seinen Platz ausfüllt. Daher bleibt immer notwendig, daß Schulbehörde und Lehrerschaft zurückgehen auf das Grundsätzliche.

Daß alle diese Gefahren nach wie vor drohen, ergibt sich aus der Macht des Antihumanistischen in unserem Jahrhundert. Wenn schon die früheren Humanisten es für notwendig hielten, dem Bürgertum ins Gewissen zu reden, daß es seinen Söhnen nicht die Ernte wünschen darf, ehe sie gesät haben, so gilt heute um so mehr der Satz, daß jede Position nicht nur errungen sondern auch behauptet werden muß und daß die Bewährung schwieriger ist als der Erwerb. Nach wie vor ist auch heute der beste Staatsbürger jener Mensch, der seine edlen Fähigkeiten voll entwickelt, und der vollkommene Staat ist dort, wo viele Bürger mitwirken, die in diesem Sinne an sich und an dem Staate arbeiten. Aber solche Menschen sind heute viel bedrohter als noch vor einem Jahrhundert, und sie sind zudem seltener geworden als ehedem. Denn in Wahrheit ist gar sehr die Frage, ob überhaupt noch eine Chance besteht, die amorphen, ungegliederten Massen so zu erziehen, daß sie nach Vernunftregeln handeln und nicht bei jeder schwierigen Situation mit Gefühlen reagieren, so daß alles unberechenbar wird. Wenn die Humanisten bei allen Vorbehalten gegenüber dem Menschen doch immer für möglich hielten, ein ganzes Volk auf die Höhe einer nach den Gesetzen der Vernunft, nach absoluten Normen wohlgeordneten Kultur zu erheben, so hatte dabei die Affekten-lehre der Aufklärung nachgewirkt, die nichts davon wußte, daß die emotionalen Regungen, Sympathie und Haß, primär im Seelenleben existieren; man hielt sie für unklare Vorstellungen, die durch Klärung, Aufklärung beseitigt oder gereinigt werden könnten. Mit der alten Psychologie ist dann auch das Zutrauen in die, wenn auch begrenzte, Macht der Unterweisung ins Wanken gekommen. Hatte doch schon Goethe gesagt: „Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft populär werde; Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft nie". Denn die Masse hat ihre eigene Psychologie; das gleiche Individuum, das als Einzelwesen auf Grund seiner Bildung höchst vernünftig denkt und handelt, kann doch, wenn es in der Masse steckt, von der Raserei ergriffen werden. Um wieviel mehr gilt dies vom Normalmenschen, der sich überhaupt stärker von Gefühlen als durch die Vernunft leiten läßt!

Die Lenker der Geschichte, die berufen waren, Menschen zu führen, haben sich der Leidenschaften der Menge gelegentlich bedient, ohne sich von ihnen abhängig zu machen. Dies ist jedoch schwierig und ein äußerstes Wagnis geworden, seit der Voluntarismus Rousseaus die ungeheuren Massen ergriffen hat. Denn die Lehre des Genfers, die in ihre Mitte die „volonte" stellt und daher sehr antihumanistisch ist, hat in einen allem Humanismus ganz entgegengesetzten Zustand geführt. Sie hat mitgeholfen, in den Völkern den blinden, dunklen, abgrundtiefen und grundsatzlosen Willen zu entfesseln; sie hat aus der humanistischen Welt der hellen und fest umrissenen Begriffe hinüber-geführt in ein Zeitalter, durch das die schönen Vorstellungen von Freiheit, vom Volke, ganz umgestaltet und trübe wurden; dunkle Begriffe tönen von da an verhängnisvoll durch die Geschichte — Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Volkstum, Nation und Rasse, Einheit und Nationalwille, Citoyen und Volksgenosse. Der große Wandel im Staate aber, der sich in diesem Zusammenhang vollzogen hat, kann auf eine prägnante Formel gebracht werden — daß es nämlich nicht mehr die Kabinette sind, welche die Völker regieren, sondern daß umgekehrt die Völker es sind, welche die Kabinette bestimmen, und daß dadurch allerdings ein Element in das öffentliche Leben gebracht worden ist, das sich jeder Berechnung entzieht. Die alte Staatskunst hatte es immer, wie gesagt, mit einigermaßen berechenbaren Größen zu tun — mit der Raison des Staates, mit seinen Hilfsmitteln, mit der Psychologie von Königen, Höflingen, Ministern. Jetzt dagegen war eine neue Welt hervorgetreten, der gegenüber Statistik und Psychologie weithin versagen.

Noch ist anfangs die Individualkultur stark genug gewesen, um den neuen Enthusiasmus zu klären und einzuordnen. Wenn der Turnvater Jahn davon geträumt hatte, er könne der deutsche Rousseau werden, so hatte doch, wie wir hörten, schon Friedrich Thiersch humanistischen Geist in die Turnerschaft gebracht, sie vom Massentritt und von der Forderung abgehalten, daß das humanistische Gymnasium in ein „deutsches Gymnasium" umzubilden sei. Jenes alte Deutschland der kleinen Städte und des breiten agrarischen Landes hatte freilich noch keinen Anlaß, von der Schule aus die Leibesübung mit Nachdruck zu pflegen.

Jahn wurde auch von Patrioten wie Hoffmann v. Fallersleben nicht ernst genommen, dieser fand hier viel Geräusch um den bis dahin ganz selbstverständlichen Brauch, für Gesundheit und Elastizität des Köipers zu sorgen. Und Friedrich Thiersch hat den Ruf nach der den Griechen so wertvollen harmonischen Bildung von Körper und Geist ganz im ursprünglichen Sinne der Alten genommen, wo die Übung des Körpers nicht erst noch betont werden mußte: „sit mens sana in corpore sano". Als Friedrich Wilhelm der IV. das Turnverbot aufhob, ist Adolf Trendelenburg entschieden für den Turnunterricht in den höheren Lehranstalten eingetreten. Es steht zwar außer Zweifel, daß die Schule des 19. Jahrhunderts mit dem Wandel der sozialen Lebensbedingungen nicht Schritt gehalten und wenig für die Leibeserziehung getan hat. Aber die Individualkultur hat sichtlich die Bewegung der Turner auch weiterhin geprägt. Gerade in den Leibesübungen ist stets Raum geblieben für die Pflege der individuellen Neigungen, das Vereinsleben ist vielgestaltig geworden, und so sind die großen Turnerfeste, die im deutschen Sprachgebiet von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und bis heute immer mehr der Tausende und Zehntausende aufmarschieren lassen, dennoch keine Demonstrationen der Massen geworden, sondern Kundgebungen der freien Persönlichkeit, die es gelernt hat, einer Gemeinschaft zu dienen.

Die unheimliche Macht des Kollektiven

Trotzdem bleibt die Tatsache, daß die Individualkultur und mit ihr der Humanismus und überhaupt alles, was zu „Alteuropa“ und seiner Kultur gehört, von einer mächtigen, unheimlichen Macht des Kollektiven überdeckt werden, in der die stärkste bewegende Kraft der Wille ist. Seit hundert Jahren und länger ist dies ein zentrales Problem, das den europäischen Geist beschäftigt. Denn wie wird die Welt aussehen, wenn die in einem Jahrtausend herangebildete Persönlichkeit nicht mehr ist und der in einem halben Jahrtausend erstandene Humanismus nicht mehr die Menschen von der verbindlichen Kraft rationaler Aussagen und Formen überzeugt? Die beiden geschichtlichen Gestalten des vorigen Jahrhunderts, von denen die stärkste Wirkung ausgegangen ist, Bismarck und Karl Marx, sind keine Humanisten gewesen, sie waren dem Humanismus ganz und gar abgeneigt; aber ohne die Individualkultur Alteuropas sind sie nicht denkbar. Im Hinblick auf Bismarck leuchtet dies unmittelbar ein;

er entstammte der aristokratischen Gesellschaft des alten Europas und hat aus der geistigen Bildung der europäischen Völker für sich geschöpft. Daß auch Karl Marx erst im 19. Jahrhundert möglich wurde, ist nicht so ohne weiteres sichtbar. Niemals vor der Emanzipation des Judentums wäre Karl Marx zum Studium an einer deutschen Universität und zum Studium der westeuropäischen Philosophie und des Hegel gelangt. Er wäre nicht der Schwager eines königlich-preußischen Ministers geworden und hätte nicht das Leben eines bürgerlichen Gelehrten führen, nicht Jahrzehnte hindurch im Britischen Museum Stoff sammeln und niemals ein System entwickeln können, das so sehr wie das seine auf ganz breite historisch-empirische Grundlegung ausgeht und den Sozialismus oder Kommunismus nicht nur als notwendigen Endpunkt der Entwicklung zu erweisen sucht, sondern in ihm das Ideal der freien Persönlichkeit für den Arbeiter erfüllt sieht.

Aber alle in der Individualkultur wurzelnden Strömungen des 19. Jahrhunderts haben sich im 20. von ihr gelöst. Über dem Imperialismus, als er in den siebziger Jahren aufkam, hatte das Losungswort Disraelis gestanden: „imperium et libertas." Der Nationalismus, der die freie Entfaltung und Bewegung der Person auch für die überindividuelle Persönlichkeit des nationalen Staates reklamiert, hat dann gleich dem Imperialismus auf dem Kontinent an die noch aufrechten Institutionen der absoluten Monarchie, an Bürokratie und Militärmacht wieder angeknüpft, sie durch die Möglichkeiten, die das demokratische Zeitalter bietet, gewaltig gestärkt und den Machtgedanken in sich ausgenommen. Auch die Bewegung des Vierten Standes hat sich von der Individualkultur getrennt, vom parlamentarischen Sozialismus mit seiner individuellen Aktion, vom geistigen Wettkampf durch Diskussion und Publizität, von den rechtsstaatlichen Sicherungen. An die Stelle sind weithin in der Welt getreten Obstruktion, Terror, Diktatur. Überall machen sich die dem Eigenleben des Individuums feindseligen Wandlungen geltend. An den Bildungszentren des ganzen Erdkreises erhebt sich der Kollektivismus. Überall zielen die äußeren Bedingungen und der schon lange vorbereitete Geist ganz unmittelbar auf Ausmerzung der Individualitäten, der Persönlichkeiten eigenen Ranges, der Stammeseigentümlichkeiten, der historisch gewordenen Unterschiede. Es war die große Tat des deutschen Geistes von Herder bis in die Romantik und zumal auch des deutschen Neuhumanismus gewesen, daß der Sinn für die Verschiedenheit und damit für die Freiheit neu erweckt wurde; jetzt ist in der Welt die Nivellierung von Geschmack und Meinung die Aufgabe der staatlichen Kulturpflege geworden. Man will den Normalmenschen, der sich einfügt in die Norm der Gesellschaft, in die Einheit des bestehenden Staates, obwohl dieser oft nicht einmal mehr Nationalstaat ist und keine verbindliche Geisteskultur mehr besitzt. Was das Modell des zukünftigen Menschen ist, zu dem man erziehen will, ist in den freien Debatten durchaus strittig, aber vergeblich ist der Hinweis, daß der massige Organismus gewiß nicht der am besten organisierte ist: wir haben es erlebt, wie sehr das durch die Entwicklung der Jahrhunderte so fein und individuell gestaltete Menschentum gekränkt wird, wenn Norm und Einheit das Ziel sind — keine Klassen, keine Konfessionen, keine Parteien, keine Stämme!

Man mag entgegenhalten, daß auch der Humanismus einen einheitlichen, sogar weltbürgerlichen Geist darstellte mit festen, verbindlichen Normen; dies gehört sogar zu seinem Wesen. Aber seit seinen Ursprüngen war es den Männern, die sich als Humanisten bekannten, zuerst um die menschliche Persönlichkeit zu tun. Alle haben die Spannung zwischen Ursprünglichkeit und Gesetzlichkeit durchgelebt, und viele verdanken ihr Großes; aus Albrecht Dürers Leben und Werk spricht sic ergreifend zu uns. Der Kollektivismus dagegen ist das bezeichnende Erzeugnis des späten 19. Jahrhunderts. Er hat damals sogar schon eine kollektivistische Geschichtsschreibung hervorgebracht, und im 20. Jahrhundert greift er in die Breite des ganzen Lebens und der Gesellschaft über. Er bekämpft das Einmalige und leugnet seine Funktion im Leben der Kultur; er sieht den Einzelnen nur als Produkt der gestaltenden Umwelt.

Da aber die Schule ihrem Wesen nach viel mehr Erzeugnis als Gestalterin der Ordnungen ist, gewissermaßen im Auftrag der jetzt sehr verweltlichten Lebensmächte arbeitet, in die der Mensch hineingestellt ist — als da sind Familie, Staat, Sozial-und Berufsordnung — so entfernt sich heute auch die Schule immer weiter vom humanistischen Gedanken und will brauchbare Menschen schaffen, die dem Bilde der „vollkommenen Gesellschaft“ entsprechen. Nicht mehr der Mensch als Selbstzweck und seine Entfaltung um seiner Persönlichkeit willen ist das Ziel, sondern die Einpassung in die Gesellschaft, in das soziale Milieu, in den Staat. Daß die im Umgang mit der Welt des Geistes gereifte Persönlichkeit um so heilvoller und stärker in die Gesellschaft wirkt, wird bestritten. Vielmehr rückt in der Schule die Sozialkunde in den Mittelpunkt; Geschichte im Unterricht wird immer mehr so zurecht gelegt, daß sie auf die modernen Probleme hinweist. Die angebliche „Standesschule“ der geistigen Elite — so ist mit Recht von berufener Seite dargestellt worden — ist zwar abgeschafft, aber die statt ihrer seit dem Ende des Ersten Weltkrieges zu breitem Durchbruch gekommene normalisierte und überfüllte Oberschule hat an die Stelle nichts weiter gesetzt als eine „Typisierung bei einem Minimum von Bildungseffekt“.

Große Aufgaben erwarten die Jugend

Wenn wir von der Größe und Weltwirkung des humanistischen Gedankens in der Vergangenheit gesprochen haben, so mußten wir auch darstellen, daß und warum in unserem öffentlichen Leben und in unseren Bildungsstätten nicht viel mehr als noch ein Schatten von ihm zu finden ist. Aber auch der Schatten ist noch etwas: „et inanem prosequar umbram“. Wesen und Sinn der humanistischen Bildung sind durch die wissenschaftliche Forschung geklärt, ihr Zusammenhang mit den Wandlungen von Staat und Gesellschaft durch die Jahrhunderte ist offenkundig, ein Ausweg aus der heutigen Lage zu finden ist Aufgabe unserer Generation, und sie wird nicht lange mehr zögern dürfen. Alle theoretischen Vorfragen sind seit zehn Jahren mehr als genug diskutiert; es gilt entsprechend zu handeln. Man muß brechen mit einem System, das an die Stelle mühsamer Geistesschulung die Abfütterung mit einem möglichst umfangreichen Wissen gesetzt hat. In der Volksschule und in den höheren Schulen kann die Menge des heute beigebrachten Wissens, wie von Fachleuten und Männern der Wirtschaft immer wieder betont wird, ohne Schaden auf ein Zehntel reduziert werden; in den Fakultäten dürfte die Lage im einzelnen verschieden sein, aber auch da kann man viel Ballast opfern, um Zeit und Kraft zu sammeln auf das Wesenhafte. Jeder von uns möge daher die Sonderinteressen seines Faches zurückstellen und so mithelfen, daß das wieder hervortritt, was fern von bloß gelehrtem Wissen lebendig ist oder wieder werden kann und eine Kraft darstellt zum Aufbau der Persönlichkeiten und des beruflichen Könnens in der heranwachsenden Jugehd. Es muß durchaus nicht alles, was in philosophischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten geforscht und gelehrt wird, auch in die höheren Lehranstalten hinein. Die Lehrmittelfabrikation wird sich dann nicht mehr steigern, die Mappen der Schüler und der Studenten werden dünner werden. Es wird aber auch die Rechtssicherheit wieder hergestellt, so daß die jungen Leute sich an die festumgrenzten Ziele halten können, denen sie unweigerlich entsprechen müssen.

Man soll auch die äußeren Bedingungen ändern, die heute so furchtbar auf der Jugend lasten — die Wohnungsnot vor allem und die Ablenkungen durch die Flut des Lesestoffes und durch die anderen Reizmittel, da ein geschäftstüchtiges Unternehmertum auf die Kundschaft der Jugend spekuliert. Es gibt demgegenüber Lichtpunkte genug in unserer Gegenwart, an die Hoffnungen anknüpfen können. Wer von uns in Wahrheit möchte noch einmal in der Zeit unmittelbar vor 1914 leben? Es war doch eine Ära ungegründeter Illusionen, leerer Konventionen, künstlich aufrecht erhaltener Autoritäten, und die höhere Schule war schon ganz entschieden im Niedergang. Es war Hoch-konjunktur für Erfolgsmenschen, die doch nicht der Tüchtigkeit entstammte, sondern einer den europäischen Industrievölkern gerade noch günstigen Situation. Heute macht der Kult der Äußerlichkeiten und des Komments keinen Eindrude mehr. Die Jugend ist von einer betonten Nüchternheit; das Spielerische der ehemaligen Jugendbewegung hat sich verloren. Die Elite unserer Studenten kennt das Leben, läßt sich nicht täuschen, drängt zum Werk, sie studiert mit Fleiß und mit Geduld, aber sie möchte zu konzentrierter Arbeit angeleitet werden. Große Aufgaben liegen vor dieser Jugend; sie weiß es. Sie hat nicht gedankenlos den Fortschritt voranzutreiben, sie wird ihn in Schranken zu halten haben; dies aber verlangt, viele Gesichtspunkte zugleich zu beachten, und daß neue, noch ungeahnte Wege beschreiten muß, wer bei der Wissenschaft bleiben will. Das sind gute Aussichten für den qualifizierten Nachwuchs. Und zu den Lichtpunkten zählt heute doch wohl auch die Familie. Sie ist da, wo sie besteht, eher stärker geworden als ehedem. Wenigstens in den Kreisen, die für die höhere Bildung emp-fänglich sind und Söhne und Töchter ihr zuführen, bietet die Familie eine ganz andere Grundlage dem jungen Menschen als in unserer eigenen Jugend, wo das anspruchsvolle öffentliche Leben, die Korporation, das Vereinswesen, die Väter fernhielten. So wird möglich sein, daß unsere Bildungsstätten wieder etwas vom humanistischen Geiste in sich aufnehmen und eine Zukunft erwächst, die wieder einen Sinn gewinnt für Gesetzlichkeit und schönen Stil, für das Handeln nah Vernunftgründen. Alsdann werden auch jene Tugenden wieder erstarken, die den Menschen bestimmen, Anteil zu nehmen am Schicksal des Nebenmenschen, sein Anderssein zu verstehen, zu tolerieren und überhaupt eine Sphäre der Freiheit gelten zu lassen. Heute mehr denn je müssen wir uns an das erinnern, was von vielen, sich ablösenden Geschlechtern als das innerste Anliegen und eigentliche Kennzeihen eines Kulturvolkes erkannt, ausgesprohen und erstrebt worden ist. Es gipfelt in der mit jeder neuen Generation neu gestellten, auch gegenwärtig oft umschriebenen und immer wieder vergessenen Aufgabe, dafür zu sorgen, daß eine niht zu kleine Shar mit humaner, humanistischer, auf das Menschentum zielender Bildung erhalten bleibt, damit die Achtung vor der Größe und der Shönheit des menshlihen Denkens und auh die Sorgfalt gegenüber den von ihm drohenden Gefahren niht aussterben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Goethe zum Kanzler v. Muller 20. 6. 1827.

  2. Dieser Absatz beruht zum größten Teil auf der jüngsten, viele Zusammenhänge höchst geistreich klarenden Darlegung über de. -Humanismus bei Friedr. Klingner, Römische Geisteswelt, 3. Auf. 1956 S. 600 ff.; bes. S. 613— 19.

  3. Ebenda S. 620— 62

  4. Rudolf Pfeiffer, Humanitas Erasmiana. 1931. passim.

  5. Hier ist ganz besonders zu verweisen auf Bruno Snell, Die des Geistes, 2. Auf. (1948) S. 235 ff.

  6. Thukydides 2, 40.

  7. Ernest Renan, Souvenirs d'enfance et de jeunesse (1883) p. 135— 40.

  8. Franz Schnabel, Humanismus und bürgerliche Bewegung, in . Neue Rundschau" (1942) und die Arbeiten von Alfred v. Martin, Soziologie der Renaissance (1932; 2. Ausl. 1949); Bürgertum und Humanismus, in „Archiv für Kulturgeschichte Bd 32 (1944), wieder abgedr. in A. v. Martin, Geist und Gesellschaft (1948) S. 148 ff. 253/54.

  9. Corpus Reformatorum XI 106 ff.

  10. Corpus Reformatorum Vol. XI — dazu grundlegend noch heute Karl Hartfelder, Melanchthon als Praeceptor Germaniae (1889).

  11. Wilh. v. Humboldt, Gesammelte Schriften. Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, bes. Band XIII.

  12. Barthold Georg Niebuhr, Brief an einen jungen Philologen, zuerst in den „Lebensnachrichten" II (1838) 200— 212. Sonderdruck von Karl Georg Jacob (Leipzig 1839).

  13. hrsg. von Johannes Hoffmeister in der „Philosophischen Bibliothek" des Verlages Felix Meiner.

  14. Die amtlichen Denkschriften Trendelenburgs findet man bei Erich Feldmann, Der preußische Neuhumanismus I (1930).

  15. Max v. Pettenkofer, Wodurch die humanistischen Gymnasien für die Universität vorbereiten. München 1869. — Derselbe, Rerum cognoscere causas. München 1890.

  16. Corpus Reformatorum 26, 92/93.

  17. Zu Eckermann 20. 2. 1831.

  18. F. Klingner, a. a. O. S. 639/40, 650.

  19. „laus vitae scholasticae" und das Gegenstück „de miseriis paedagogorum": Corpus, Refozmatorum 3, 464 u. 11, t? 1

  20. Reskript des preußischen Kultusministeriums d. d. 29 3. 1829 bei Georg Varrentrapp, Johannes Schulze (1889), S. 369.

  21. Zu Eckermann 20. 4. 1825 u. 26. 7. 1826.

  22. Max Spindler, Der Ruf des barocken Bayern. Histor. Jahrbuch 74 (1955) 319— 41.

  23. Karl Hegel, Leben u. Erinnerungen (1900) S. 3— 4.

  24. Sainte-Beuve, Causeries du Lundi TI (1851) 28.

  25. Willibald Beyschlag, Aus meinem Leben I (1896) 50 ff.

  26. Werner Kaegi, Historische Meditationen II (1946) 81— 121.

  27. W. v. Biederm ann , Goethes Gespräche 2. Auf. H ((1909) 253.

  28. John Henry Newman, The Idea of a University (1852)', deutsche Übersetzung in Newmanns Werken IV (1927) bes. 168 ff., 182, 188.

  29. Die Reden, von Thiersch etc. in Verhandlungen der Versammhmgen der deutschen Philologen und Schulmänner II (1839).

  30. Coriolan cap. 1.

  31. Für diesen und die folgenden Abschnitte sind grundlegend die Dokumente bei Georg Varrentrapp a. a. O. und bei Erich Feldmann a. a, O. — beide aus den preußischen Archiven.

  32. Hans Freyer, Die weltgeschichtliche Bedeutung des 19. Jahrhunderts. Kiel 1951.

  33. Emil Du Bois-Reymond, Voltaire als Naturforscher (1868); Goethe und kein Ende (1882); wieder abgedruckt in s. Reden I (1885).

  34. Hans E. T ü t s c h (Detroit), Studien und Studenten in Amerika. Neue Züricher Zeitung 28. Febr. 1955; dazu 26. März u. nachfolgende Replik von Tütsch.

  35. Werner Näf, Wesen und Aufgabe der Universität; Denkschrift im Auftrage des Senates der Universität Bern. Verlag Herbert Lang, Bern 1950. — Gesetz über die Universität v. 7. Febr. 1954, publiziert 16. Febr. 1954.

  36. Gesetz über die Universität Art. 9; auf Grund von Näf S. 59.

  37. Bericht der Studienkommission „Gymnasium — Universität" des Vereins, gedruckt in der Zeitschrift „Gymnasium Helveticum", Oktober 1955.

  38. Adolf Trendelenburg, Das Turnen und die deutsche Volks-erziehung (1842); abgedruckt in seinen Kleinen Schriften II (1871) S. 112 ff-;

  39. Werner Kohlschmidt, Unzeitgemäße Betrachtungen zum Staatlich-Allzustaatlichen, in der Zeitschrift Die Sammlung hrsg. von H. Nohl, Juli-August 1955.

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