Vortrag von Prof. Dr. Dr. Ossip K. Flechtheim, gehalten in der Deutschen Hochschule für Politik am 30. Mai 1956 in der Sondervorlesungsreihe „Probleme der Weltpolitik".
Winston Churchill hat einmal das bolschewistische Rußland mit einem Rätsel verglichen, das von einem Mysterium umgeben sei. In der Tat hat es ja nach 1945 eine Zeit gegeben, wo der Eiserne Vorhang — ein Begriff, der auch von Churchill geprägt worden ist — so undurchdringlich zu sein schien, daß selbst die größten Fachleute das Dunkel, das sich damals über das Riesenreich gelegt hatte, nicht mehl zu durchdringen vermochten. Seitdem hat jedoch der Nebel, der alles zu verhüllen schien, begonnen, sich wieder zu lichten. Wir sollten also heute besser imstande sein, die im Halbdunkel verschwindenden Schatten zu erkennen, als es noch vor ein paar Jahren möglich war. Dennoch besteht auch heute noch eine der größten Schwierigkeiten bei der Erfassung des Bolschewismus darin, daß wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das trotz aller Konsolidierung stets im Fluß gewesen und auch heute noch in einem dauernden Wandel begriffen ist.
Vergessen wir aber nicht, daß Rußland nicht erst seit 1945 oder seit 1917 dem fremden Beobachter immer neue Rätsel aufgegeben hat. Schon im 19. Jahrhundert, ja fast seit Beginn der Neuzeit, erschien Rußland immer wieder als die große Sphinx, die Europa als unlösbares Rätsel sich selber aufgab. Wie die Sphinx mit ihrem Löwenleib und ihrem Menschenkopf selber einen unerklärlichen Gegensatz verkörpert, so ist auch Rußland selbst rätselhaft geblieben, weil es, wie vielleicht kein anderes Land, das Land der Gegensätze war, die immer neue Gestalt anzunehmen schienen. Diese Gegensätze hat niemand ausgeklügelt; sie sind einem langen geschichtlichen Werdegang entwachsen, der selber nur als eine Häufung von Widersprüchen verstanden werden kann, von Widersprüchen, die bis auf den heutigen Tag ungelöst geblieben sind.
So haben sich die Gesichtszüge, die sich dem russischen Volke ausgeprägt haben und die insgesamt das ergeben, was man vielleicht als den Nationalcharakter eines Volkes bezeichnen kann, als Ergebnis der Vergangenheit Rußlands unmöglich zu einer klassischen Harmonie formen können. Vielmehr werden sie von dem Leiden des Widerstreits und der Leidenschaft des Widerspruchs geformt.
Die russische Geschichte ist die stets wechselnde Kombination, in der der russische Mensch und die russische Erde zusammenwirken und in Beziehung treten zu fremden Ländern und Völkern. Als in diesem Entwicklungsgang stets wiederkehrende Faktoren erscheinen dabei vor allem die gewaltsamen Eingriffe fremder, insbesondere orientalischer, Völker in das innerrussische Leben sowie die erzwungenen Versuche Rußlands selber, sich dem Okzident anzupassen. In dieser Fülle der historischen Variablen fallen daneben als eine Art von Konstanten, die schon am Beginn russischer Geschichte die gesamte zukünftige Entwicklung mitbestimmen, die geographische und die klimatische Determinante auf. Letzte Ursache für die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft, für die Primitivität der russischen Sozialverfassung, für den autokratischen Zentralismus der juristisch-politischen Organisation und für die Formlosigkeit des russischen Geistes war vielleicht jene schier grenzenlose Weite der russischen Ebene mit ihren dichten Wäldern und spärlichen Wegen, jener Extremismus des Klimas, der im Winter das Land unter einer einzigen Schneedecke begräbt und die Flüsse und Meere unbefahrbar macht und im Sommer die Ernte der Dürre und dem Mißwachs aussetzt, aber auch die — verglichen mit der Größe des Landes -seit jeher nur geringe Dichte der Bevölkerung. An all das sei hier nur erinnert, um von vornherein die Eigenart des russischen Bolschewismus zu betonen, der nur als Produkt der Geschichte Europas und Rußlands verstanden werden kann.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten den Aufstieg und den Niedergang machtvoll-eruptiver Bewegungen, totalitärer Bewegungen der verschiedensten Art, die man mit Recht als Säkular-Religionen bezeichnet hat. Neben dem Kommunismus oder Bolschewismus haben wir Geburt und Tod der faschistisch-nationalsozialistischen Massenbewegungen, Ideologiesysteme und Herrschaftsordnungen miterlebt. Mit Recht haben wir diese ihrem Ursprung nach verschiedenen Bewegungen und Systeme mit dem Sammelbegriff des „Totalitarismus" zu erfassen versucht. Ich glaube, daß heute dieses Wichtige Wesensmerkmal dieser Bewegungen auch hier in Deutschland so klar erkannt wird, daß wir bei ihm nicht sehr lange zu verweilen brauchen. Das Schlagwort vom „roten Faschismus“ und „braunen Bolschwismus" hat die durchaus vorhandene Analogie vielleicht am einfachsten und anschaulichsten erhellt. Wenn wir heute zurückblicken, sehen wir vielleicht klarer als noch vor einigen Jahren, wie unheimlich ähnlich, gerade auch in ihren sozialpathologischen, ja man kann vielleicht sogar sagen psychopathischen Zügen, der vollentwickelte Hitlerismus und der späte Stalinismus gewesen sind.
Bereits vor ein paar Jahren hat aber ein sehr kluger amerikanischer Beobachter mit Recht betont, daß sich die Ähnlichkeit zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus eigentlich nur auf diesen einzigen — allerdings ungeheuer wichtigen! — Charakterzug, nämlich den totalitären Charakter dieser beiden Bewegungen und Systeme — beschränkt. Ich glaube, daß das ganz deutlich wird, wenn wir etwa die folgenden Kontraste auch nur ganz kurz erwähnen: Der Pseudo-Rationalismus des dialektischen Materialismus unterscheidet sich nicht unwesentlich vom offenen Irrationalismus des Faschismus Hitler’scher Prägung. Der radikale Bruch mit den privilegierten Klassen in Rußland steht im Gegensatz zur langsamen Unterwanderung der alten Oberschichten im Dritten Reich. Die Bedeutung der Arbeiterschaft und des Bauerntums für die Bildung der neuen bolschewistischen Elite kontrastiert mit der Entstehung der Nazi-Elite aus den deklassierten Desperados der verschiedensten Schichten, vor allem aber des Mittelstandes. Die Zwangsindustrialisierung eines riesigen unterentwickelten und unterbevölkerten Agrarkontinents unterscheidet sich von der super-imperialistischen Wirtschafts-und Expansionspolitik eines überindustrialisierten und in gewissem Sinne übervölkerten Industrielandes.
Es war daher vielleicht nicht so unbegründet, wenn ein Anti-Kommunist wie Arthur Köstler der „organisierten Zerstörung“ des Nationalsozialismus die „verratene Utopie“ des Bolschewismus gegcnüberstellte und damit in erster Linie den ideologischen Gehalt der beiden Bewegungen und Systeme unterscheiden wollte. Es war auch ebenso wenig Zufall, wenn Rauschning im Nationalsozialismus eigentlich nichts an-deres als die „Revolution des Nihilismus“ sehen wollte. Viele ausgesprochen kritische und ablehnende Beobachter waren hingegen immer wieder gezwungen, für den russischen Bereich im Bolschewismus trotz aller nihilistischen Züge dcch auch noch andere Kräfte und Entwicklungstendenzen — etwa in Richtung auf die Modernisierung und Technisierung rückständiger Gebiete — zu sehen. In der Tat hat der Bolschewismus — anders als der Nationalsozialismus — ein Janusgesicht: Europa zeigt er sein destruktiv entmenschlichtes Medusenhaupt — Asien gegenüber kehrt er immer wieder sein technisch-organisatorisches, national-industrielles Gesicht zu. Insofern liegt sogar ein Vergleich zwischen Bolschewismus und anderen nicht-totalitären Industriealisierungsdiktaturen nicht so fern, wie man zunächst glauben könnte. Schon vor 193 3 hat Michael Freund in einem sehr interessanten Buch über Sorel eine Parallele zwischen dem damaligen Bolschewismus und dem italienischen Faschismus zu ziehen versucht. Heute könnten Vergleiche Rußlands nicht nur mit dem Jugoslawien Titos, sondern auch mit der Türkei Kemal Paschas oder dem Ägypten Nassers sehr aufschlußreich sein!
Bolschewismus, ein Produkt der Geschichte Rußlands
Ich habe vom Bolschewismus als einem Produkt der Geschichte Rußlands und Europas gesprochen. Ich will das jetzt präzisieren: Der Bolschewismus erscheint der Außenwelt gegenüber als eine — wahrscheinlich nur zeitweilige — Synthese von großrussisch-imperialistischen Sendungsbewußtsein einerseits und kommunistisch-weltrevolutionärem Messianismus andererseits — eine Synthese, die sich vielleicht gerade in diesen Tagen, Wochen und Monaten aufzulösen beginnt. Ich will hier nicht auf die unter Historikern strittige Frage eingehen, wie weit etwa die Expansion Rußlands im 18. und 19. Jahrhundert von einem besonderen Sendungsbewußtsein getragen war. Ein hervorragender Fachmann, der aus Rußland stammende, jetzt in Amerika lebende, Professor Karpovich, hat einmal in einem Vortrag hier in Berlin rund heraus erklärt: „In dieser Zeit unterscheidet sich das Vorgehen Rußlands nicht von dem anderer Mächte. Ein Sendungsbewußtsein fehlt. Auch im 19. bis 20. Jahrhundert herrschen realpolitische Erwägungen vor. Der Panslawismus hat nur geringen Einfluß auf die Diplomatie. Bis zur Revolution fehlt der russischen Diplomatie ein ideologischer Einfluß. Sie verfolgt nur beschränkte Ziele.“
Hier ist aber doch zu beachten, daß es sich bei dieser Interpretation ausschließlich um eine Interpretation der offiziellen Außenpolitik und Diplomatie der zaristischen Regierung handelt. In der religiösen und geistigen Haltung des Volkes ebenso wie seiner Eliten hat es immer wieder ein ausgeprägtes christliches, d. h. also griechisch-orthodoxes, Sendungsbewußtsein gegeben. Bereits nach dem Fall von Byzanz, dem sogenannten zweiten Rom, erhob Moskau als das „Dritte Rom“ Anspruch auf die Führung der gesamten griechisch-orthodoxen Welt. 1472 hatte der damalige Großfürst von Moskau die Nichte des letzten byzantinischen Kaisers geheiratet und damit diesen Führungsanspruch auch dynastisch begründet. Der ideologische Anspruch, der wichtiger ist, kommt vielleicht am klarsten in einem bekannten Brief des Mönchs Theophilus an den Großfürsten Basilius III. von Moskau zum Ausdruck. Ich zitiere hier wörtlich einen typischen Absatz:
Die Kirche des alten Rom fiel wegen ihrer Ketzerei, die Tore des zweiten Roms, Konstantinopel, sind'von den Äxten der ungläubigen Türken zerstört worden; aber die Kirche von Moskau, die Kirdte des neuen Roms, sdieint heller als die Sonne im gesamten Universum.
Zwei Rom sind gefallen; aber das dritte steht fest. Ein viertes kann es nicht geben!
Im 16. Jahrhundert ließ sich Iwan der Schreckliche, der sich nur mit Mühe gegen seinen eigenen Adel durchsetzen konnte, zum Zaren, d. h. also zum Kaiser und Weltherrn, krönen. Schon früh bekam so der russische Absolutismus eine theokratisch-messianische Färbung, wie man sie sonst nur etwa beim spanischen Absolutismus oder im arabisch-türkischen Kalifat noch finden kann. Weder Sprache noch Abstammung erschienen als das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zur russischen Nation. Allein die christliche Rechtgläubigkeit war entscheidend. Zugleich wurde aber diese christlich-rechtgläubige „orthodoxe“ Kirche dem Staat unterworfen und zu einem Instrument in der Hand des Zaren. In diesem katholisch-orthodoxen Rußland, das ja wie kaum ein anderes Land von der Reformation unberührt geblieben war, entwickelte sich so bereits seit dem 16. Jahrhundert ein Cäsaropapismus von ganz anderer Expansionskraft als sie etwa das protestantische Staatskirchentum West-und Mitteleuropas im 16., 17. oder 18. Jahrhundert besaß.
Sendungsbewußtsein des Marxismus
Wie tief die Wurzeln der Orthodoxie im rechtgläubigen Volke Rußlands lagen, das zeigt im 19. Jahrhundert etwa die Erscheinung eines Dostojewskij oder der Kampf der „Slawophilen" gegen die „Westler“. Noch bei den revolutionären Volkstümlern, den sogenannten Narodniki, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, oder den Agrarsozialisten des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, den so-genannten Sozialrevolutionären, klingt die Idee von der besonderen Bedeutung und Würde, von der einzigartigen Mission des russischen Bauernvolkes und seiner agrarkommunistischen Gemeinde, dem „Mir“, immer wieder nach. Selbst Lenin und die Bolschewiki stehen mit einem Fuß in dieser Überlieferung des russischen Messianismus und Chiliasmus, allerdings nur mit einem Fuß — mit dem anderen Fuß bleiben sie in der alten utopisch-chiliastischen Tradition Westeuropas.
Der verstorbene anglikanische Erzbischof Temple hat einmal gesagt, der Nationalsozialismus sei antichristliches Heidentum, der Kommunismus hingegen eine christliche Ketzerei. Damit hat er vielleicht mehr Recht gehabt als man zunächst glauben möchte. Der Bolschewismus ist historisch gesehen ein Ausläufer sowohl der großen häretischen Über-lieferung griechisch-orthodoxen östlichen Christentums, wie auch des westeuropäischen Christentums, des Katholizismus römischer Prägung und des Protestantismus. Ja, wie alle großen geistigen Strömungen Europas fußt er sogar in gewisser Beziehung auch in der Kultur der Antike. Die Reihe seiner Ahnen könnte man mit Plato eröffnen, mit dessen kommunistisch-autoritär-hierarchischem und in gewisser Beziehung fast totalitärem „Staat“. Diese Tradition schließt dann im 13. Jahrhundert den Chiliasmus eines Joachim von Floris ebenso ein wie den Liebeskommunismus eines Franz von Assisi. Sie verdankt dem Heiligen Thomas Morus Namen und Begriff'der „Utopie“. Bei Fichte und Hegel, Saint Simon und Fourier finden sich Ansätze eines Sendungsbewußtseins, das, mehr oder weniger revolutionär getönt, stärker national oder universal, aristokratisch oder demokratisch gefärbt, doch zur großen utopisch-chiliastischen Tradition des Westens gehört, ohne das auch der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus eines Karl Marx und Friedrich Engels nicht denkbar wäre.
Im Mittelpunkt des Marxschen Denkens steht die Überzeugung von der weit-und menschheitserlösenden Mission des Proletariats. Wie etwa der Psychoanalytiker dem Patienten nur sein wahres Selbst erschließt, so glauben auch Marx und Engels nur die im Proletariat unbewußt bereits vorhandenen Strebungen und Ideen bewußt machen zu müssen. Hat das Proletariat einmal das richtige „echte“ Klassenbewußtsein erarbeitet und erkämpft, so ist es gewappnet, den Kampf um die Emanzipation der Menschheit aufzunehmen und zum siegreichen Ende zu führen. Diese Weltbewegung und Weltrevolution einer internationalen Klasse reicht über alle Ländergrenzen hinweg. Allerdings melden bereits Marx und Engels — und hierin waren sie echte Schüler Hegels! — dieser zutiefst demokratischen Massenbewegung gegenüber sehr laut und deutlich einen Führungsanspruch für sich selber an, für sich selber als Mitglieder einer geistigen Elite. Dieser Führungsanspruch war schon zu ihren Lebzeiten so wenig überhörbar, daß er etwa einen Bakunin dazu veranlaßte, in diesen Weltbürgern autoritäre Preußen zu sehen.
1917 wagten Lenin und Trotzki ihren Staatsstreich nur in Erwartung der angeblich unmittelbar bevorstehenden Weltrevolution. Ebenso wie die anderen führenden Bolschewiki glaubten sie damals, die kommunistische Revolution würde wie ein Waldbrand über den Planeten hin-wegfegen. Lenin erklärte ganz offen, daß in einigen Monaten, äußersten-falls in einem oder zwei Jahren, nicht mehr Moskau, sondern Berlin oder Paris oder Lodon die Hauptstadt dieser neuen kommunistischen Weltrepublik sein würde. In dieser ersten Periode, deren Höhepunkte die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 und dann die Gründung der Kommunistischen Internationale 1919 darstellten, und die bereits zu Beginn der zwanziger Jahre zum Abschluß kommt, in dieser frühen Periode interpretiert sich der Kommunismus noch durchaus als einheitliche proletarische Weltbewegung. Die Mission der Bolschewiki in Rußland, die Mission Rußlands selber, ist lediglich die einer Avantgarde des Weltproletariats.
Ein neues Moment ist allerdings bereits mit Lenin in das Sendungsbewußtsein des Marxismus eingedrungen. Seit der Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland und der Begründung einer eigenen bolschewistischen Organisation — zunächst als Fraktion und dann als Partei — also schon seit 1903, hat Lenin alles daran gesetzt, den Führungsanspruch der geistigen Elite, der bei Marx und Engels noch verschwommen und unklar ist, zum eindeutigen Diktaturanspruch für die Kaderpartei der Berufsrevolutionäre zu verhärten. Was bei Marx nur eine Entwicklungstendenz war, wird hier bei Lenin zu einer vollendeten Tatsache. Die Weltrevolution des internationalen Proletariats kann nur siegen, wenn dieses Proletariat in allen entscheidenden Ländern von den kommunistischen Parteien geführt wird. Diese Parteien selber sind zwar zu Lebzeiten Lenins und nach seiner Auffassung theoretisch noch gleichberechtigte Partner in der Kommunistischen Internationale. Praktisch haben sie aber doch bereits damals weitgehend nur die Stellung von Lehrlingen, die sehr wohl daran tun, die weisen Ratschläge der viel erfahreneren und erfolgreicheren Bolschewiki sehr genau zu beherzigen.
Moskau -das Mekka aller Werktätigen
Um 1921 herum beginnen Lenin und die Seinen einzusehen, daß der kommunistische Frontalangriff auf die alte Welt zum Scheitern verurteilt ist. Es ist damals eingetroffen, was eigentlich niemand für möglich gehalten hätte, weder die Bolschewiki noch ihre Gegner: Die Bolschewiki haben den Weltkapitalismus nicht besiegen können — aber ebensowenig haben die kapitalistischen Kräfte außerhalb Rußlands oder in Rußland selber die neuen Machthaber im Kreml zu stürzen vermocht. Der Bolschewismus ist nun auf Rußland zurückgeworfen, aber hier in Rußland erhält er sich und verfestigt sich. Und hier beginnt er nün, sich in einem noch viel stärkeren Maße, als das bis dahin der Fall war, zu russifizieren. Dieser Prozeß beginnt bereits zu Lebzeiten Lenins. Seinen Höhepunkt erreicht er allerdings erst unter Stalin, insbesondere im zweiten Weltkrieg. In dem Vierteljahrhundert, in dem Stalin in Rußland das Gesicht des Bolschewismus geprägt hat, hat er gegen Trotzkis internationalistische Theorie von der „permanenten Revolution", derzufolge sich kein Land aus der weltrevolutionären Entwicklungskette loslösen kann und darf, die Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ entwickelt, derzufolge Rußland in der einzigartigen Lage ist, auch beim Ausbleiben der Weltrevolution in den anderen Ländern ganz allein bei sich den Sozialismus aufbauen und vollenden zu können. Es ist also jetzt die nationale Mission der Sowjetunion, der bolschewistischen Partei, ihrer Führer und letzten Endes natürlich Stalins, die Arbeiterbewegung der ganzen Welt im Kampf um den Sozialismus und den Kommunismus zu lenken und zu steuern. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit aller Sozialisten, Proletarier, ja letzten Endes aller anständigen Menschen in allen Ländern, diesen Führungsanspruch anzuerkennen und mit durchzusetzen — einen Führungsanspruch, der schließlich im sogenannten „Großen Vaterländischen Krieg“ mit der Glorifizierung des Großrussentums, seiner Kultur und seiner Sprache einen absoluten und absurden Höhepunkt erreicht hat.
Es gibt einen liberalen, pluralistischen Nationalismus, der letzten Endes auf die mittelalterliche Vorstellung vom Corpus Christianum und die Naturrechtslehre von der Civitas Maxima zurückgeht. Dieser pluralistische und humanitäre Nationalismus mißt der einzelnen Nation nur einen relativen Wert bei. Den absoluten Wert sieht er in Gott, der Christenheit oder schließlich säkularisiert in der abendländischen Kultur und der Gemeinschaft der Nationen. Der bolschewistische Supernationalismus stellt dagegen in seiner Verschmelzung von großrussischem imperialistischem Messianismus und kommunistisch-weltrevolutionärem Utopismus einen andersartigen absoluten Nationalismus dar. Dieser erinnert in manchem an die alttestamentarische Idee vom Messias und seinem auserwählten Volk, an das calvinistische Sendungsbewußtsein, das in den angelsächsischen Nationen eine große Rolle gespielt hat und zum Teil noch spielt, an die Idee von der Weltmission Frankreichs als Trägerin klassischer Kultur und Zivilisation oder an den deutschen Super-nationalismus, der etwa das Wort geprägt hat: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
Weit konsequenter als diese Vorläufer hat jedoch der stalinistische Bolschewismus Ernst gemacht mit der Vorstellung von der absoluten Sendung des bolschewistischen Rußlands. Für ihn ist die Sowjetunion nicht einfach die Heimat, für die sich der Russe als Russe einzusetzen hat. Die Sowjetunion ist die Trägerin der höchsten Kulturwerte aller Zeiten und Völker. Sie ist das, wenn nicht von Gott, so Joch von der Geschichte auserwählte Land des allein seligmachenden Sozialismus und Kommunismus. Nicht nur die Bürger der Sowjetunion und der Volksdemokratien, sondern alle Demokraten, Friedensfreunde, anständigen Menschen haben der bolschewistischen Partei und ihrem größten Führer Stalin zu dienen. Jeder, der sich ihm entgegenstellt, begeht damit eine Todsünde wider den Weltgeist der Geschichte und der Menschheit. Moskau ist das Mekka aller Werktätigen, und wehe denen, die die Wallfahrt zum Kreml scheuen! Früher oder später werden sie den Gang nach Canossa tun müssen, der mit ihrer geistigen und oft sogar ihrer physischen Liquidierung endet. Der Bolschewismus ist also unter Stalin die neue Staatskirche Rußlands geworden. Und ebensowenig wie die aller-ältesten Kirchen hat er die geringsten Skrupel, wenn er von der verschiedensten Menschen und Gruppen überall in der Welt gebieterisch verlangt, daß sie nur leben und wirken, kämpfen und sterben — at majorem gloriam eclesiae, zum größeren Ruhm, zur größeren Ehre dieser neuen Staatskirche.
Es wäre sehr töricht, wenn wir behaupten wollten, daß diese Politik ohne jeden Erfolg geblieben ist. Selbst unter Stalin ist es der kommunistischen Elite in Moskau gelungen, ihre Macht zu sichern und zu steigern. Sie hat das Versagen ihrer Gegner des öfteren nicht ungeschickt auszunutzen verstanden. Die Krisen und Kriege unserer Zeit, vor allem die Katastrophenpolitik eines Tschiang-Kai Tschek oder eines Hitler, haben dabei den Kommunisten immer wieder in die Hände gespielt. Hätte Hitler sich nicht erdreistet, 1942 das Hakenkreuzbanner über Stalingrad aufzupflanzen — die Fahne mit Hammer und Sichel wehte heute nicht über dem Brandenburger Tor! Infolge der Katastrophen der beiden Weltkriege kam ja der Kommunismus 1917 in Rußland, 1945 in Osteuropa und Ostdeutschland, 1949 in China zur Macht.
Diesen weltgeschichtlichen Erfolgen folgten aber ernste Rückschläge: Auch hier kann man vielleicht mit Wheeler-Bennett von der „Nemesis der Macht“ sprechen. Der Versuch, in Westeuropa einzubrechen, rief die Gegenkräfte Europas und Amerikas wach. Die Überrumpelung der Tschechoslowakei enthüllte — wie schon einmal 1938 — den Charakter eines Regimes, das Europa nichts zu bieten hat. Die Berliner Blockade zeigte, daß es sogar in Deutschland Kräfte demokratischer Abwehr zu mobilisieren gab. Der Verlust der universal-kosmopolitisch-humanitären Charakterzüge des Kommunismus, den die Russifizierung mit sich ge-bracht hatte, die Identifizierung des Bolschewismus — einer angeblichen Weltbewegung — mit der zivilisatorisch-technisch-organisatorischen Rückständigkeit Rußlands und Eurasiens, offenbarten die Schwäche des Stalinismus in seinem Kampf mit dem zumindest technisch-zivilisatorisch überlegenen Westen.
Drei entscheidende weltgeschichtliche Ereignisse
Ich glaube, daß es außerhalb Rußlands vor allem drei weltgeschichtliehe Ereignisse oder Entwicklungen waren, die den Bolschewismus beeinflußt und zu den Veränderungen, die sich jetzt abzuzeichnen beginnen, entscheidend beigetragen haben. Das erste epochale Ereignis ist der Sieg der Demokratien über die Diktaturen. Dieser Sieg muß den bolschewistischen Führern gezeigt haben, daß diese angeblich so dekadenten Systeme und Völker doch eine unerwartete Widerstandskraft und latente Stärke hatten. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, daß gerade Hitler während der Jahre, da er seine großen Erfolge hatte, eine unheimliche Faszination auf Stalin ausgeübt hat und daß dieser damals nicht ungern alles in seinen Kräften Stehende getan hat, um die Sowjetunion dem Dritten Reich anzupassen. Nach dem kläglichen Ende Mussolinis, Hitlers, der japanischen Diktatoren entfiel dagegen für die Bolschewiki jeder Anlaß, den Wettbewerb an Grausamkeit mit ihnen zu versuchen. Nach 1945 lohnte es sich schon eher, sich — zumindest äußerlich-formal — an die demokratischen Usancen, Gepflogenheiten, Ideologien und Formen anzupassen. Gerade auch in den Augen der neutralen Länder konnte man eigentlich nur so den Kampf mit den westlichen Demokratien gewinnen.
Der zweite Faktor ist die Entwicklung der Atom-und Wasserstoff-bombe, die ja zunächst nur die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten mit sich brachte, inzwischen aber, seitdem auch die Sowjetunion über diese grauenvollen Vernichtungsinstrumente verfügt, einfach das Risiko eines neuen globalen Atomkrieges untragbar erscheinen läßt. Ich glaube, daß jetzt selbst die Militärs einzusehen beginnen, daß Weltkrieg Nr. 3 zu gefährlich ist und daß er sogar auch die Generalstäbe sehr ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die Militärs sprechen zwar noch von der Möglichkeit der Lokalisierung und technischen Begrenzung des Krieges. Die führenden Staatsmänner, sowohl in Amerika wie in Rußland, dürften inzwischen wahrscheinlich zu der Auffassung gelangt sein, daß selbst das Risiko eines lokalen Krieges zu groß ist, da, wenn ein solcher Krieg einmal entbrannt ist, es vielleicht niemandem möglich ist, ihn zu lokalisieren. Die Genfer Konferenz der Großen Vier hat wahrscheinlich entscheidend dazu beigetragen, allen Beteiligten diesen Sachverhalt klarzumachen und, was vielleicht noch wichtiger ist, auch jedem einzelnen zu verdeutlichen, daß auch der Gegner diesen Sachverhalt kennt und selber weiß, daß der andere ihn auch kennt. Gerade Eisenhower war hier wohl der richtige Mann, Chruschtschow, Bulganin und Schukow klaren Wein darüber einzuschenken, daß auch er wußte, was in einem solchen Kriege auch für Amerika auf dem Spiel stehen würde. Dieses zunächst mehr oder weniger stillschweigende Einverständnis unter den Großen Vier ist ja inzwischen so deutlich geworden, daß jetzt auch die Völker langsam aufatmen, da sie merken, daß jetzt endlich alle Staatsmänner den Krieg nicht einmal mehr als ultimo ratio der Politik ernstlich in Betracht ziehen.
Schließlich haben sich aber die Bolschewiki insofern geirrt, als sich weder der Zusammenbruch der Demokratie noch der Ausbruch eines neuen Weltkrieges als unvermeidlich erwiesen haben; sie haben auch die wirtschaftliche Stabilität der kapitalistischen Welt ganz erheblich unterschätzt. Die von Stalin und anderen immer wieder vorausgesagte große Wirtschaftskrise, die ja womöglich noch katastrophaler sein sollte als die Krise von 1929, ist nicht eingetreten. Die Prosperität Amerikas ebenso wie die Englands und anderer Länder hat die Bolschewiki auch zur Korrektur ihrer weltpolitischen Perspektiven gezwungen. Es ist kein Zufall, daß der bedeutendste kommunistische Wirtschaftstheoretiker, Eugen Varga, der bereits zu Lebzeiten Stalins dessen Wirtschaftsprognosen anzuzweifeln wagte, kürzlich wieder erklärt haben soll, der Westen würde zwar eine Wirtschaftskrise erleben, diese Krise würde aber nicht das ungeheuerliche Ausmaß der Krise von 1929 haben.
Erste Dividenden einer neuen Politik
Zu diesen und anderen Entwicklungen in der nichtkommunistischen Welt kommen nun neue Entwicklungen in der Sowjetunion hinzu, die ich hier nur ganz stichwortartig andeuten kann. Nach vier Jahrzehnten einer unerhört dynamischen Entwicklung in der Sowjetunion, die man trotz konterrevolutionärer Züge als eine „permanente Revolution“ nicht nur im technisch-industriell-ökonomischen Bereich, sondern auch in den sozialen und politischen Beziehungen und Prozessen bezeichnen kann, scheint sich jetzt endlich doch der — um mit Max Weber zu sprechen — „traditionalistische und bürokratische Alltag“ durchsetzen zu wollen. Selbst die rücksichtsloseste und totalitärste Diktatur scheint nicht vier Jahrzehnte lang den Massen dauernd den Gedanken suggerieren zu können, daß sie bloß Zukunftsdünger sind. Vor allem verlangen aber auch die neuen Oberschichten nach einer Konsolidierung und Normalisierung der Verhältnisse. In der neuen russischen Gesellschaft der Techniker und Ingenieure, der Fabrikdirektoren und Wirtschaftsmanager, der Künstler und vielleicht auch der Generale scheint sich eine neue Saturiertheit zu verbreiten. Das Rußland von heute erinnert in manchem nicht nur an das Frankreich Napoleons, sondern vielleicht sogar — so paradox das klingen mag — an das der Bourbonen. Man möchte sich endlich des Lebens freuen und die Mission sowohl des großrussischen Imperialismus wie auch des weltrevolutionären Kommunismus für eine Zeitlang vergessen. Gerade diese Oberschichten sind jetzt vielleicht zum erstenmal in einer so starken Lage, daß sie ihre Forderungen laut anmelden können: die Forderung nach Rechtssicherheit, nach Frieden, nach Ruhe und Ordnung; ja, ich glaube sogar, daß sich hier und da bereits leise und doch vernehmbar Stimmen regen, die eigentlich das verlangen, was wir eine freiere Entfaltung des Individuums, eine große Spontanität der Persönlichkeit, nennen würden. Von hier bis zu solchen Dingen wie Pressefreiheit oder Meinungsfreiheit in unserem Sinne ist natürlich noch ein weiter Weg. Vergessen wir nicht, daß Rußland diese Freiheit kaum je wirklich gekannt hat. Die Parteiführung scheint jetzt endlich diesem Druck zögernd und widerwillig in manchen Punkten nachzugeben. Man kann also schon von den Anfängen einer „Liberalisierung" sprechen, oder besser: von einer Lockerung des Regimes. An seinem totalitären und diktatorischen Charakter hat sich bisher allerdings grundsätzlich eigentlich gar nichts geändert. Aber wir sollten uns davor hüten, den Abbau des Persönlichkeitskults, den Abbau des Massenterrors einfach zu übersehen. Richard Löwenthal hat in einem sehr beachtlichen Aufsatz im „Monat“ von der „Versöhnung“ der Partei mit der neuen Sowjet-gesellschaft gesprochen. Er zieht dort die auch von anderen schon vorher gezogene Parallele zur Geschichte des Absolutismus. Ja, er spricht sogar bereits von einem „aufgeklärten Absolutismus“. Man kann sich hier wohl fragen, wie weit die Analyse eines „aufgeklärten“ Absolutismus wirklich haltbar ist. Aber selbst wenn dieser Absolutismus mehr an die Zeit vor der Aufklärung erinnert, nicht an das 18. Jahrhundert, sondern eher an das 16. oder 17., so wäre bereits der Übergang von einem extremen — pathologischen, totalitären und terroristischen System zu einer normalen totalitären Diktatur etwa im Stile des Rußlands der zwanziger Jahre oder des Mussolinischen Italiens eine sehr ernstzunehmende Veränderung.
Diejenigen, die die Beschlüsse des 20. Parteitages und der 3. Parteikonferenz der SED eingehend studiert haben, glauben auch hier einen bedeutsamen Funktionswandel in der Stellung der Parteien wahrnehmen zu können. Idi zitiere hier aus einem beachtlichen Artikel von Carola Stern über die Dritte Parteikonferenz der SED: „Die Partei stellt ihren Charakter als dogmatische Weltanschauungspartei eher in den Hintergrund und zeigt Tendenzen der Umformung in ein pragmatisches Organisationszentrum, das sich zwar an bestimmten marxistisch-leninistischen Grundkonzeptionen orientiert, jedoch jederzeit bereit ist, starre ideologische Formeln über Bord zu werfen, wenn sie in irgendeiner Beziehung den wirtschaftlichen Aufstieg hemmen.“
Das würde etwa bedeuten, daß der Bolschewismus, der bisher trotz aller Institutionalisierung wesentliche Züge einer dynamischen Machtbewegung, einer eclesia militans, einer streitbaren Kirche beibehalten hat, jetzt den Weg alles Fleisches zu gehen beginnt, und sich zumindest so weit „normalisiert", wie das bisher alle dynamischen Bewegungen der Weltgeschichte meist erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten getan haben.
Trotz allen Erschütterungen und Krisen, die eine solche Umstellung mit sich bringt, insbesondere wenn sie in der ruckartig-radikalen Weise erfolgt, die ja für die Tötung der Stalin-Mythologie typisch ist, zeigen sich bereits die ersten Dividenden dieser neuen Politik. Außenpolitisch hat sie sich bisher in Europa nicht in einer grundlegenden Änderung der Strategie und Taktik, in einer wirklichen Frontschwenkung, ausgewirkt. Sie hat sich aber weltpolitisch bereits ausgewirkt in einer Ver-legung des Schwergewichts der russischen Außenpolitik von Europa weg nach Asien, Afrika und anderen unterentwickelten Gebieten, eine Verlegung, die gerade hier in Deutschland im Zusammenhang mit der Frage der Wiedervereinigung sehr ernst zu nehmen ist. Der Bolschewismus erscheint nun in diesen sogenannten unterentwickelten Gebieten nicht mehr nur als ideologisch-propagandistischer Gegner des imperialistischen Westens, sondern auch als technisch-fortschrittliche Industrie-und Finanzmacht, die den unterentwickelten Ländern helfen kann, ihre wirtschaftliche Rückständigkeit zu überwinden. Es scheint mir, als wenn wir uns über das Ausmaß, das diese Wirtschaftshilfe bereits heute erreicht hat, noch durchaus nicht klar geworden sind. Erlauben Sie mir daher, Ihnen einige wenige Zahlen zu geben.
Eine große amerikanische Presseagentur, die United Press, berichtete am 15. April, die Wirtschaftshilfe der kommunistischen Nationen, Rußlands und der anderen, an die unterentwickelten Völker habe bislang bereits 506 Millionen Dollar betragen. Das wären also über 2 Milliarden D-Mark. Nach ebenda zitierten Statistiken der Regierung der Vereinigten Staaten sollen davon Ägypten allein 165 Millionen Dollar erhalten haben, Indien 150 Millionen, Afghanistan 115 Millionen, Jugoslawien 83 Millionen, Indonesien 20 Millionen und die anderen Länder kleinere Beträge. Ich kann mich natürlich für diese Zahlen nicht verbürgen; vielleicht handelt es sich hier zum Teil um die Verrechnung von Leistungen und Lieferungen, die vielleicht auch anders vorgenommen werden könnte. Eines scheint mir aber unbestreitbar: Der Kampf um den neutralen Gürtel ist in ein neues Stadium getreten. Und der Westen hat es jetzt nicht mehr nur mit einem Gegner zu tun, der eine mehr oder weniger anziehende Ideologie zu liefern versucht, sondern mit einem Konkurrenten, der Waffen und Maschinen, Techniker und Ingenieure produzieren und offerieren kann.
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Dieser neuen Politik der Sowjetunion gegenüber muß sich eine Politik des Kolonialismus, Rassismus und nationalen Partikularismus, die an Traditionen um der Traditionen willen und an Positionen um der Positionen willen festhielt, unterlegen zeigen. Der Stalinschen Strategie gegenüber konnte die Truman-Politik der „Eindämmung" noch gewisse Erfolge erzielen. Heute erweist sich hingegen eine Kritik, die ich vor drei Jahren formuliert habe und die ich hier zitieren darf, als richtig: . . . Daher stellt die Alternative, die in letzter Zeit in der amerikanischen Außenpolitik eine so große Rolle gespielt hat, nämlich die zwischen Eindämmung und Befreiung, ein unlösbares Dilemma dar. Der Kommunismus kann auf die Dauer nicht rein defensiv eingedämmt werden. Er kann aber ebensowenig durch eine rein amerikanische Offensive eliminiert werden. Der Westen muß also über sich selber hinauswachsen, will er den Kommunismus global überwinden. Das kann er nur, indem er den Wettkampf mit dem Kommunismus um die Herzen und Hirne der Klassen und Massen aller fünf Erdteile aufnimmt.
Der Westen sieht sich also heute einer neuen großen Aufgabe und ernsten Herausforderung, einer wirklichen „Challenge" — um diesen Ausdruck Toynbees zu gebrauchen — gegenüber. Die Antwort kann nur sein: größere Einigkeit, stärkere Dynamik, weiterreichende Solidarität gerade auch mit den Hunderten von Millionen in Asien, Afrika und Lateinamerika, die heute noch dahinsiechen und hungern. Nur dann kann der Westen hoffen, daß die prekäre Koexistenz der beiden Welten, die nun eigentlich schon seit 1917 eine Tatsache ist, in einer vielleicht doch nicht allzu fernen Zukunft zur wirklichen Normalisierung, Liberalisierung und schließlich sogar Demokratisierung des Bolschewismus führen wird. Nur mit Hilfe einer aktiven, dynamischen, selbstlosen Politik kann der Westen sein Teil dazu beitragen, daß die sich jetzt zum erstenmal andeutende Tendenz zur Auflösung der Stalinschen Synthese von weltrevolutionärem Messianismus und großrussischem Imperalismus zu einer dauernden Wirklichkeit wird.
Die erste Hälfte unseres Jahrhunderts stand im Zeichen der Kriege und Bürgerkriege, der Revolutionen und Konterrevolutionen, des Siegeszuges charismatisch-totalitärer Massenbewegungen und fanatisch-intoleranter Säkularreligionen. In seiner großartigen Betrachtung über den „Kaiser“ hat Walter Rathenau schon am Ende des vorigen Krieges vorausgesagt, daß die russische Revolution eine neue Epoche einleiten wird, die im Zeichen der „Auflösung der europäischen Schichtung unter der “ Staatsform sozialisierender Freistaaten und schließlich der Ersetzung der Staatsformen „durch ein bewegliches System selbstverwaltender Kulturverbände" stehen werde. Vielleicht ist das, was sich heute diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs abspielt, nun doch ein erstes Anzeichen dafür, daß das Zeitalter der Despoten und Diktatoren wirklich zu Ende geht und daß unsere Kinder noch in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Erfüllung der Rathenauschen Prophezeiung erleben werden.