Der folgende Artikel von Whittaker Chambers ist mit Genehmigung des Verlages der Zeitschrift „LIFE, International Edition, 11. Juni 1956, entnommen:
Die Liquidation des Stalinismus auf dem 20. kommunistischen Parteikongreß bedeutet nach Ansicht einer berühmten Autorität „keinen dritten Weltkrieg“, sondern einen heimtückischen Vorstoß zur Gewinnung freier Völker. Auf dem 20. Kongreß der kommunistischen Partei, der im vergangenen Februar stattgefunden hat, elektrisierte Nikita Chruschtschow die Welt, als er den kommunistischen Halbgott Stalin brandmarkte. Er erklärte, daß Stalin nicht ein allwissender Patriot, sondern ein verrückter Verbrecher gewesen sei, der das Land durch Terror regiert habe. Viele von denen, die in seinen Säuberungsaktionen umgekommen seien, wären patriotische Kommunisten gewesen, deren Ruf posthum rehabilitiert werden müßte. Seit dieser Rede ist die Diskussion in der freien Welt über die Beweggründe für diesen ungeheuren kommunistischen Umschwung und seine Bedeutung nicht verstummt. Whittaker Chambers, der einstmals Untergrundfunktionär der kommunistischen Partei in den Vereinigten Staaten gewesen ist, Alger Hiss als einen kommu-nistischen Agenten entlarvte und mit dem Buche „Witneß“ eine der eindrucksvollsten Biographien unserer Zeit schrieb, interpretiert im folgenden Artikel die Bedeutung der neuen kommunistischen Linie.
Es gibt zwei verschiedene Berichte über den 20. Kongreß der kommunistischen Partei der Sowjetunion, und zwar einen über die derzeitigen Vorgänge im ganzen internationalen Kommunismus und innerhalb des kommunistischen Herrschaftsbereichs (einbegriffen die kürzliche Auflösung der Kominform), und einen anderen über die politische Bedeutung dieser Ereignisse für den Westen. Der erste berichtet über den letzten Akt einer blutigen Tragödie, die in der Geschichte nicht ihresgleichen hat. Der zweite hat große Bedeutung für uns alle. Zusammen genommen bedeuten sie eine Gefahr für den Westen. Aber die Gefahr ist verschleiert, weil die politische Bedeutung des zweiten Berichtes Gefahr läuft, durch die sensationelle Fortsetzung des ersten verloren zu gehen.
Der erste Bericht ist die Geschichte „der Säuberung mit umgekehrtem Vorzeichen" — die posthume Liquidierung Stalins und des Stalinismus, die auf dem 20. Parteikongreß verkündet worden ist. Säuberung, Liquidierung, Stalinismus, Kommunismus, Partei — das sind nur Worte. Es gibt keine Sprache, die das Ausmaß der Qual auszudrücken vermag, die sich hinter diesen Worten verbirgt. Es gibt eine Szene in Mussorgskis Oper „Boris Godunow", wo Musik, die kaum mehr Musik zu nennen ist, und Klang, Ausdrude stammelnder, nackter Qual, an Herz und Seele rühren und das aussagen, was anders gar nicht auszudrücken ist. Es ist die Szene, in welcher der Idiot über die Ungerechtigkeit klagt-Seine Kehle stößt tierische Laute aus, die nicht ihresgleichen in der Tragödie haben: „Aoooh . . Aoooh,. . Aoooh,.. Aoooh!“
Der Idiot stößt seine klagenden Laute wegen des grenzenlosen, irrationalen Bösen und Leidvollen als Grundelementen des Lebens selbst aus. Sein Aufschrei ist die äußerste Aussage über die Bedeutung jener Worte: Große Säuberung, Säuberung mit umgekehrten Vorzeichen, kommunistische Revolution, kommunistische Partei, das kommunistische Experiment, wie es Millionen Menschen verführt und zerquält hat. Glücklich waren die, welche starben.
Ich kann nicht den Anspruch erheben, über diese Dinge objektiv zu schreiben. Ich erlebte als Mitglied der kommunistischen Partei die große Säuberung fast bis zu ihrem Ende. Niemand, der dieses einmalige Erlebnis unserer Zeit nicht durchlebt hat, kann wissen, was jetzt im kommunistischen Herrschaftsbereich vor sich geht, so wie niemand, der nicht gefoltert worden ist, wissen kann, was eine Folter ist, sollte er auch alle Beschreibungen hierüber gesammelt haben. Ich lebte während der Säuberung außerhalb Rußlands, aber innerhalb einer geheimen Zelle der Roten Armee, von deren verborgenen Wänden jede Zuckung der Säuberung widerhallte. Die Rote Armee war das letzte große Widerstandszentrum gegen Stalin. Meine engsten Freunde waren kommunistische Soldaten. Die meisten von ihnen sind in kommunistischen Gefängnissen umgebracht worden oder seitdem in kommunistischen Konzentrationslagern dahingestorben.
In den drei Jahrzehnten von 1920 bis 1950, ungefähr vom 10. Kongreß der sowjetischen kommunistischen Partei bis zum kommunistischen Aufstand in Kontinentalchina ist der Wille des Kommunismus, den Gang der Geschichte zu ändern, in einem Manne personifiziert gewesen — im verstorbenen Josef Stalin. Um zur Verkörperung der revolutionären Idee in der Geschichte zu werden, mußte Stalin den Kommunismus vollkommen korrumpieren. Er rechtfertigte sein Vorgehen mit den Erfordernissen dieser Geschichte und der unfehlbaren Partei, der alle Kommunisten dienen. In ihrem Namen behauptete er, daß das, was wahr ist, eine Lüge wäre und das, was eine Lüge ist, wahr sei. Er förderte diese Korruption durch eine Mischung schlau angewandter und brutaler Gewalt-Die Geschichte kennt nichts Ähnliches in solchen Ausmaßen.
Es wird erzählt, Nikita Chruschtschow sei mehrmals in Tränen ausgebrochen, als er auf dem 20. Parteikongreß in seiner geheimen Rede ausführlich auf Stalins Lügen und Verbrechen zu sprechen kam. Vielen anderen muß es ebenso ergangen sein: Männern, die einst seine Freunde und jetzt seine Feinde sind, die Ausschnitte und Auszüge aus seiner Rede in fremden Sprachen und anderen Ländern gelesen haben und sich über seine Ziele keine Illusionen machen. Sie haben geweint, nicht wie wir aus Schmerz oder Bedrückung, sondern weil an eine nie heilende Wunde gerührt wurde, so alt und tief, daß manche glauben konnten, sie sei längst vernarbt. Überall in der Welt unterziehen Kommunisten und ehemalige Kommunisten heute nacht, während ich diese niederschreibe, die Vergangenheit und ihr Gewissen einer Prüfung, die an Intensität heutzutage nicht ihresgleichen hat. Millionen anderer Menschen knüpfen neue Hoffnungen an die Zerstörung des kommunistischen Regimes, die mit der neuen Ära Hand in Hand gehen könnte. Chruschtschow und seine Männer versuchen, gerade diese Millionen einzufangen.
Die große Wendung in der kommunistischen Taktik, die die Form einer Liquidierung des Stalinismus annimmt, ist der Anfang eines beispiellosen Kampfes um die öffentliche Meinung. Der Kommunismus möchte alle Menschen im Westen gewinnen, die von seiner Doktrin, seiner Macht und seiner Anziehungskraft in irgendeiner Weise beeindruckt sind. Der Westen könnte keinen größeren Fehler begehen als seinen ersten Eindruck überzubewerten oder das kommunistische Vorgehen einfach nur für einen neuen Machtkampf zwischen den Kremlherren zu halten.
Die Kommunisten sind Realisten. Sie rechnen mit einer Anziehungskraft auf lange Sicht.
Die Anziehungskraft wird auf Millionen Menschen in Kürze intensiv sein. Ist Stalin erst einmal ausgelöscht, dann wird die kommunistische Anziehungskraft in vieler Beziehung groß sein und sich in einer Weise entfalten, die der Westen nicht sofort begreifen wird. Aus diesem Grunde habe ich mich etwas länger über meine persönlichen Ansichten geäußert und möchte auch noch weiterhin einiges dazu sagen.
Drei Bücher haben einen tiefen Einfluß auf meinen Brudi mit dem Kommunismus gehabt. AIs ich 1937 im Zuge einer langsamen geistigen Entfremdung vom Kommunismus, gleich der Ablösung eines lebenden Gewebes, soweit gekommen war, daß ich es wagte, Bücher zu lesen, die den Kommunisten zu lesen verboten waren — wagte, d. h. nicht aus Furcht vor der Partei, sondern gegen meinen eigenen freiwilligen Gehorsamszwang — las ich folgende drei Bücher: Wladimir Tschernawirt „I speak for the silent"; Eugene Lyon „Assignment in Utopia“; Victor Serge „Russia 20 Years After“. In den folgenden Jahren habe ich immer nur einen flüchtigen Blick in alle drei Bücher geworfen, keines von ihnen habe ich nochmals ganz gelesen. Idi habe sie nicht gelesen, weil ich die Qual, die sie mir verursachten, nicht ertragen konnte. Aber als ich den Bericht über die Rede von Anastas Mikojan auf dem 20. Parteikongreß beendet hatte, die erste Rede, die einen unmittelbaren Angriff auf Stalin enthält, und als die Namen der rehabilitierten Bolschewiken aufzutauchen begannen, — Bela Kun, Stanislaw Kossior, Antonow Avseenko — kamen mir die Worte von Macbeth in den Sinn:
.. da war's Gebrauch, daß, war das Hirn heraus, der Mann auch starb, und damit gut. Doch heutzutage stehn sie wieder auf ...“
Ich nahm das Buch von Victor Serge und durchlebte noch einmal Zeile für Zeile den Kampf, den ich 1937 und Anfang 1938 mitgemacht hatte. Hören wir uns Serges eigene Version der damaligen Schreckenszeit an, die heute so jäh in den Ansichten der Kommunisten wieder auflebt:
„In der Regel wird der Verurteilte in der Nacht aufgefordert, seine Zelle zu verlassen. Er weiß nicht, wohin er geht, und der Wächter weiß nicht, wohin er ihn führt. Der Aufzug bringt ihn hinunter zum Hauptflur. Wird er dann eine hell erleuchtete Zementtreppe hin-aufgeführt, fängt er an zu begreifen: Er geht einen zementierten Korridor entlang, der von Rinnen gesäumt ist. Er weiß gar nichts. In der Rege! weiß er noch nicht einmal, daß er zum Tode verurteilt ist, wenn die GPU die Todesstrafe auf dem Verwaltungswege verhängt hat. Ein Mann — der selbst nur eines weiß, und zwar, daß er denjenigen umzubringen hat, der zu ihm gebracht wird, taucht unhörbar hinter ihm auf und jagt ihm eine Kugel in den Kopf. Die Wasserabflußrohre werden geöffnet, der
Körper rollt in den Abfluß oder wird in eine Versenkung gestoßen . .. keine Zeugen. Der Keller dämpft alle Geräusche. Ein paar zuverlässige Henker handeln, ohne etwas Bestimmtes zu wissen. Schweigen, Geheimnis. Ich wurde in der Lubianka gefangen gehalten, als die 35 Funktionäre des Landwirtschaftskommissariats wegen einer bizarren Sabotage-und Spionage-affäre mit Polen (März 1935) dort hingerichtet worden sind. Kein Geräusch unterbrach das Schweigen des vollkommenen Gefängnisses."
Stalin machte den Kommunismus selbst zu einem perfekten Gefängnis.
Aber da ist noch etwas anderes. Serge fühlt, daß es unmöglich ist, dem Westen, der nicht hören, geschweige denn verstehen will, dieses große Drama der Geschichte, das direkten Einfluß auf unser Schicksal hat, begreiflich zu machen. Er schreibt: „Ich fühle, daß diese Seiten von deprimierender Monotonie sind. Die schrecklichen Schicksale scheinen sich alle zu wiederholen, alle diese Menschen bewegen sich in einer hoffnungslosen grauen Atmosphäre ... ]a, dieser Kampf von Revolutionären gegen die alles zermalmende Maschine hat etwas Deprimierendes, wenn man das Geschehen abstrakt betrachtet, ohne die einfachen und klugen Gesichter zu sehen, ohne ihr Leben zu kennen .. . Ich möchte diesen Eindruck auslöschen. Jeder dieser Männer hat seine eigene Größe. Sie sind nicht besiegt wor- den, sie sind Gegner und ihr Geist triumphiert.“
Und ihr Geist triumphiert ... Und jetzt fordert der Kommunismus diesen triumphierenden Geist auf, sich zum letzten Kampf gegen den Westen auf seine Seite zu schlagen. Er könnte sich als schlagkräftiger erweisen als Armeen. Er wird nicht nur dem Kommunismus wieder Leben einhauchen, dessen Geist verdorrt ist und wo nur noch unfruchtbare Bürokratie, Befehlsgewalt oder blinde Ergebenheit walten, die in einer unaussprechlichen Hypokrisie miteinander verzahnt sind. Sie werden zu denen sprechen, die sie im Westen hören können. Sie werden mit vielen Zungen reden und emotionell und logisch eine reiche Beredsamkeit entfalten. Die Überzeugung, die in allem mitschwingt, was sie sagen und ihren Reden eine besondere Kraft verleiht, läßt sich, wenn auch unausgesprochen, in einem einzigen Satz von Lenins Frau ausdrücken: „Diejenigen, die die Revolution nicht erlebt haben, können ihre große feierliche Schönheit nicht ahnen“.
Der Westen wird sich mit dieser Überzeugung gründlich auseinandersetzen müssen. Diese Wendung, das Drama, das jetzt von seinen eingefleischten Feinden gespielt wird, birgt für den Westen Gefahr. Denn diese Wendung ist im Hinblick auf eine politische Situation vollzogen worden, an der auch der Westen beteiligt ist. Und gerade diese Situation gerät jetzt in Gefahr, im Zuge der sensationellen Entwicklung in Vergessenheit zu geraten.
Das Ziel verändert sich niemals
Und warum? Wie kam der heftige Zickzack-Kurs 1956 auf dem 20. Kongreß der sowjetischen kommunistischen Partei zustande? Die Antwort hat mit einer internationalen Situation, in die wir vollen Einblick haben, und einer internen sowjetischen Situation und einem Machtkampf im Kreml zu tun, wo Mangel an exakten Informationen oder widersprechende Informationen uns zwingen, unsere Zuflucht zur Astrologie zu nehmen-Jeder rätselt herum. Auch ich würde herumraten, wenn hierfür ein zwingender Grund vorläge. Ich ziehe es aber vor, mich auf die internationale Situation zu konzentrieren, die unmittelbar den Westen angeht, denn ich hatte von Beginn an den Eindruck, daß der Zickzackkurs auf dem 20. Parteikongreß in erster Linie auf die internationale Situation gemünzt war.
Auf diesen großen kommunistischen Kongressen werden keine Entscheidungen mehr getroffen. Sie registrieren nur wichtige Entscheidungen, die vorher auf höchster kommunistischer Ebene getroffen worden sind. Dies ist wegen der häufig im Zickzack verlaufenden Parteilinie sehr notwendig. Diese Zickzacklinie ist vielfach mißverstanden worden. Sie hat keine irrationalen Gründe. Der Kommunismus hat ein festes Ziel: Die übrige Welt unter seine Herrschaft zu bringen. Dieses Ziel verändert sich niemals. Nur die Taktik zur Erreichung dieses Ziels wechselt, manchmal scheinbar über Nacht.
Ein heftiger Zickzackkurs in der Parteilinie ist ein Zeichen dafür, daß der Kommunismus bei seiner dauernden Überprüfung des Gleichgewichts der Kräfte, des allgemeinen Machtkonzeptes, zu der Schlußfolgerung gekommen ist, daß sich das Konzept verändert hat, eine bestimmte Epoche der Geschichte also dem Ende zugeht und eine neue ihren Anfang nimmt. Ein neues Machtkonzept verlangt gewöhnlich eine neue Taktik, ''damit der Kommunismus erfolgreich operieren kann.
Der 20. Parteikongreß fiel nach Ansicht der Kommunisten mit der letzten oder vorletzten Epoche des Jahrhunderts zusammen. Er trat zusammen, um die allgemeine Linie einer neuen Taktik zu registrieren, deren Endergebnis im Falle des Erfolges jene Epoche in einer Welt, die völlig kommunistisch geworden oder zu werden im Begriffe ist, im voraus bestimmen würde. Das neue Machtkonzept, das veränderte Gleichgewichtsverhältnis zwischen dem Kommunismus und dem Westen, verlangte eine neue Taktik. Die Genfer Konferenzen der letzten Jahre haben dieses neue Gleichgewicht enthüllt — aber nicht hervorgerufen. Die tatsächliche Verschiebung im Gleichgewicht der Mächte hat schon vor einigen Jahren stattgefunden. Aber nach den Genfer Konferenzen wurde der Zickzackkurs in der Parteilinie zur Gewißheit.
Auf viele Menschen im Westen übten die Genfer Konferenzen des vergangenen Jahres nahezu physisch eine niederschmetternde Wirkung aus. Die erste der beiden Konferenzen, die sogenannte Gipfelkonferenz, die die Illusion des „Genfer Geistes" nährte, deprimierte stärker als die zweite Konferenz, die die erste nur zu Grabe zu tragen schien. Daß Präsident Eisenhower der Gipfelkonferenz das Prestige seiner Gegenwart geliehen hatte, löste nicht den Schock aus, mit Ausnahme von verhältnismäßig Wenigen. Als Staatsmann hatte er wenig Wahl. Die Hochflut an volkstümlichen Illusionen bewies ganz klar, wie eng sein Spielraum für praktische Manöver gewesen ist.
Genf hat enthüllt, wie wenig dem Westen angesichts des kommunistischen Reiches geblieben ist, womit er handeln könnte. Der Westen hat nichts anzubieten, was die Kommunisten wirklich begehren (abgesehen von einer totalen oder successiven Unterwerfung) und nichts, was sie wirklich fürchten (abgesehen von einem totalen Atomkrieg). Und sie wissen, daß sie einen totalen Atomkrieg nicht wirklich zu fürchten brauchen.
So haben sich die Vereinigten Staaten in Fortsetzung von Genf zu einem langwierigen Gespräch (das immer noch nicht beendet ist) mit einem Vertreter der nicht anerkannten Peking-regierung zusammengesetzt, um eine vergleichsweise geringe Anzahl ihrer Bürger, die ungesetzlich von den chinesischen Kommunisten festgehalten werden, aus Zuchthäusern zu befreien, wo noch immer viele ungesetzlich zurückgehalten werden. Daher wurde auch der wichtigste strategische Freund des Westens in Europa, Bundeskanzler Adenauer von der Bundesrepublik Deutschland, bald danach gezwungen, der sowjetischen Regierung für die Freilassung von einigen Tausend deutscher Kriegsgefangenen schwerwiegende Konzessionen zu machen.
Nicht eigene Unfähigkeit, sondern das grundsätzlich veränderte Gleichgewicht nötigte die westliche Diplomatie, mit dem Kommunismus auf einem Niveau zu verhandeln, das nicht höher war als das einer Famile, die mit Kidnappern ihrer gestohlenen Kinder wegen verhandelt. Doch die Bedeutung der Veränderung im Gleichgewicht der Mächte, in der Geschichte etwa gleichbedeutend mit dem Absinken von Land-massen in der Natur, scheint in das Bewußtsein der Westmächte kaum Eingang gefunden zu haben.
Zwei miteinander verquickte Umstände technischer und politischer Natur liegen der Veränderung zugrunde. Der technische ist ein offenes, von den Genfer Konferenzen dramatisiertes Geheimnis, nämlich daß die Atombombe, wenigstens in dem von Sir Winston Churchill verstandenen Sinne, nicht mehr das Schild der freien Welt ist. (Beide Seiten sind im Besitz von Vergeltungswaffen, die so tödlich sind, daß ein Rückgriff auf einen Atomkrieg für beide Seiten Selbstmord bedeuten würde.)
Aber im Hintergrund der in eine Sackgasse geratenen Waffenprobleme ist eine politische Situation entstanden, die für den Westen letzten Endes viel schwerer wiegt. Der Schlüssel zu dieser Situation ist China gewesen. „Meine Staatskunst“, schrieb Henry Adams *) 1903 (dieses Datum ist bemerkenswert), „ist noch ganz bei China, wo der letzte Kampf um die Macht ausgetragen wird . . . Das einzige Land, das jetzt wachsam ist, ist Rußland, und wenn Rußland China als Wirtschaftsmacht organisiert, dann wird das kleine Geschichtsdrama in einer Vernichtung unserer plumpen westlichen Zivilisation enden ... In diesem Falle glaube ich, daß bis 1950 unsere Zeit um ist." Auch das Enddatum ist von Interesse. Als der 20. Kongreß zusammentrat, war das kommunistische China schon seit einiger Zeit mit der Massenkollektivierung seiner Bauern befaßt — eine Art menschlicher Terrorisierung, die den ersten Schritt auf dem Wege zur Organisierung eines sozialistischen Landes in eine moderne Industriemacht darstellt. Es war der Zusammenbruch Chinas, der letzten Endes die Grundlagen des Gleichgewichtes der Mächte in der Welt verschob und damit die Probleme des Westens sehr verkomplizierte.
Es ist kaum 35 Jahre her, seit die damals schwache kommunistische Regierung in Baku im sowjetischen Georgien einen großen Kongreß der Völker des Ostens einberief. Damals haben die damaligen kommunistischen Führer die Menschenmassen des Fernen Ostens, Indiens und des Islam aufgerufen, Krieg gegen den Imperialismus zu führen. Eine Proklamation, die zum Heiligen Krieg unter dem Banner des Komintern aufrief, deutete schon auf die unglaublichen Ereignisse der Zukunft hin.
Selbst Kommunisten lächelten bei privaten Zusammenkünften darüber. Aber sie arbeiten ohne Lächeln daran, die Strategie Lenins bezüglich der „Kolonialfrage“ voranzutreiben. Ihr Endziel: Den Westen aus dem Hinterhalt zu treffen und durch Aufwiegelung Asiens, Afrikas und Lateinamerikas gegen den Westen das Potential dieser Länder dem Kommunismus zufließen zu lassen und dadurch dem Westen die überseeischen Absatzmärkte und Rohstoffquellen zu entziehen, die die auswärtigen Grundlagen seines wirtschaftlichen Lebens bilden. Der Kommunismus hofft, daß die Staaten Europas und Nordamerikas gleich Dachfirsten aus der steigenden Flut der Abneigung herausragen werden, wie Inseln im Meer. Der letzte Konflikt würde sich dann zu der Frage zuspitzen: Wer wird die „Dachfirste“ kontrollieren?
Zweifellos hat der damalige sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow schon in Genf gewußt, daß ein. sowjetisch-ägyptischer Waffenhandel bald diese Flut (in Form eines gesteigerten arabischen Nationalismus) gegen den Westen entfesseln würde. Er wußte auch, daß der Aufstieg der Sowjetunion zur Industrie-macht, verstärkt durch die Produktion und die wissenschaftliche und technische Kapazität von halb Deutschland und der ganzen Tschechoslowakei, es den bolschewistischen Geschäfte-machern Chruschtschow und Bulganin ermöglichen würde, sich Zugang zu den Kolonialmächten zu verschaffen und einen wirtschaftlichen Wettbewerb herauf zu beschwören, der zwangsläufig auch eine politische Seite hat. Das alles könnte außerdem im Schutze der Atombombe geschehen. Dies war, grob vereinfacht, das internationale Machtkonzept, das neue Gleichgewicht der Kräfte, das die neue auf dem 20. Parteikongreß proklamierte Taktik bedingte.
Verfeinerte Formen der Aggression
Irgendwann, vermutlich einige Zeit vor Stalins Tod, muß der Kommunismus, als er seine Blicke aufmerksam über den Westen und die nichtkommunistischen Staaten Asiens schweifen ließ, zu der verblüffenden Einsicht gekommen sein, die sich in folgendem Satz zusammenfassen läßt: „Diejenigen, die nicht gegen uns sind, sind für uns.“ Mit anderen Worten, für den Kommunismus stellte sich das Problem, die amorphen Vorstellungen, die man „Internationalismus" oder „Neutralismus“ nennt, von einer negativen in eine positive Kraft, von einer Kraft, die lediglich den westlichen Widerstandswillen gegen den Kommunismus schwächt, in Verbündete umzuwandeln, die Seite an Seite mit dem Kommunismus marschieren. Es kam darauf an, die gröberen Formen der kommunistischen Aggression, die das günstige Gleichgewicht der Mächte bewirkt haben, durch feinere zu ersetzen, die das Gleichgewicht sowohl erforderte als auch gestattete. Das ist die Grundtendenz der auf dem 20. Parteikongreß festgelegten Taktik.
Chruschtschow als Sekretär der kommunistischen Partei machte die grundsätzlichen Ausführungen über die neue Taktik. Seine Rede beläuft sich auf mehrere tausend Worte. Ihr Inhalt, von schaumgummiartigem Wust, der bei allen kommunistischen Äußerungen üblich ist, befreit, offenbart die Programmpunkte der neuen Taktik: 1. Friedliche Koexistenz;
2.friedlicher wirtschaftlicher Wettbewerb mit dem Westen;
3. Wiederbelebung der Volksfront;
4. kollektive kommunistische Führung im Gegensatz zu Stalins Ein-Mann-Regierung.
Der Sinn kann auf drei Worte konzentriert werden: Kein dritter Weltkrieg.
Wie ernst es die Kommunisten damit meinen geht aus dem Umstand hervor, daß es nach Chruschtschows ausdrücklichen Worten notwendig war, einige Schlußfolgerungen Lenins noch einmal einer Prüfung zu unterziehen. In seinem Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, bis dahin ein grundlegendes kommunistisches Werk, das Lenin während des ersten Weltkrieges geschrieben hat, stellte er die Behauptung auf, daß der Kapitalismus schließlich in einem allgemeinen Krieg Selbstmord begehen werde. Dieser Standpunkt ist aber überholt. Drei Ansichten Chruschtschows erfordern unsere besondere Aufmerksamkeit:
1. Er behauptete, der Kommunismus spreche jetzt für die Mehrzahl der Menschen. Er kam zu dieser Feststellung, indem er vor allem die freundlich gesinnten Massen Indiens zu den Kommunisten zählte. Hierbei übertrieb er nicht einmal besonders. Seit langem ist es klar, daß sich die Waagschale zugunsten des Kommunismus senken würde, wenn eine weitere Volks-masse — Indonesien zum Beispiel — zum Kommunismus umschwenken würde.
2. Chruschtschow drückte sich sehr deutlich über die Aufstellung von Volksfronten aus. Er sagte es mit folgenden Worten: „Hier ist die Zusantrnenarbeit audt mit anderen Teilen der sozialistischen Bewegung, die in der Frage des Übergangs zum Sozialismus (d. lt. hauptsächlich über die Zwed^mäßigkeit gewaltsamer Revolutionen) eine abweidtende Meinung haben, möglich und notwendig. Heute sind viele Sozialdemokraten (d. h. Sozialisten und Linksliberale im amerikanischen Sinne) für einen aktiven Kampf gegen Kriegsgefahr und Militarismus, für engere Beziehungen mit sozialistischen (d. h. kommunistischen) Ländern und für die Einheit der Arbeiterbewegung. Wir heißen die Sozialdemokraten aufriditig willkommen und sind bereit, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um unsere Anstrengungen zu vereinen.“
3. Chruschtschow betonte sorgfältig, daß der Kommunismus immer noch militant revolutionär sei. Es könnten immer noch, sagte er, selbst nach dem Säuseln warmer Frühlingswinde und der zersetzenden Tätigkeit der Volksfront, einige Widerstandsnester im Westen übrigbleiben, die so unausrottbar seien, daß sie nur durch die Anwendung revolutionärer Gewalt zur Vernunft (d. h. zum Kommunismus) gebracht werden könnten. Damit sind in erster Linie die Vereinigten Staaten gemeint.
Tatsächlich sagt Chruschtschow: „Seht, die Bombe geht nicht los. Wir entfernen jetzt die Zündpatrore — ein kitzliges Geschäft. Natürlich wollen alle Menschen guten Willens uns dabei helfen.“ Um dieser Taktik Stoßkraft und LInterstützung der Massen zu verschaffen, ist es notwendig, die Volksfront wieder aufleben zu lassen. Um ihr den Anschein von Glaubwürdigkeit zu verleihen, besonders bezüglich der kürzlichen Vergangenheit, ist es notwendig, den Kalten Krieg abklingen zu lassen. Für beide Fälle ist es zweckmäßig, Joseph Stalin zu liquidieren. Denn Stalin hat durch seinen zynischen Pakt mit Hitler nicht nur die alte Volksfront der dreißiger Jahre zerstört, sondern sich auch als Meister des Kalten Krieges erwiesen.
Wir wollen einen kurzen Blick auf den Kalten Krieg werfen. In gewisser Beziehung hat der Kommunismus stets eine Politik des Kalten Krieges verfolgt. Sie ist seine Spezialität. Aber erst nach dem zweiten Weltkrieg war der Kommunismus in der Lage, diese Politik auf Welt-ebene zu führen. Erst dann kam der ungläubigen Welt die Bedeutung des Kalten Krieges zum Bewußtsein. Tatsächlich streift der Kalte Krieg hart an eine Kriegspolitik, und wer immer es mit ihm aufnimmt, spielt, ob er will oder nicht, mit der Kriegsgefahr. Denn die erpresserische Wirkung des Kalten Krieges besteht darin, einen Widersacher zum Spiel mit der Kriegsgefahr zu drängen, so daß jeder neue Widerstand die Kriegsgefahr in schwindelerregender Weise erhöhen muß. Außenminister John Foster Dulles hat diese Erfahrung in seinem viel mißbrauchten Satz in einfachen und zutreffenden Worten beschrieben. Adlai Stevenson beschrieb sie ebenfalls und geschickter als er ahnte, denn er schoß aufs falsche Ziel, als er sie „Russisches Roulette" nannte.
Der Kalte Krieg enthält natürlich ein echtes Risiko. Und der erste Mann im Westen, der die Kühnheit besaß, bis an den Rand des Krieges zu gehen, nämlich der ehemalige Präsident Harry S. Truman, zwang die Kommunisten, Farbe zu bekennen. Dies verdarb ihr Spiel. Die Vereinigten Staaten haben den Korea-Krieg verloren, weil sie die Gefahr eines größeren Krieges fürchteten, mit welcher der Kommunismus weiterhin „Russisches Roulette" spielte. Der Westen hatte Angst. Aber die Kommunisten müssen entsetzt gewesen sein, und zwar mit mehr Grund. Das Letzte, was der Kommunismus sich wünschen konnte, war ein Weltkrieg. Deshalb muß die ursprüngliche amerikanische Reaktion im Korea-Krieg die Kommunisten veranlaßt haben, die Politik des Kalten Krieges schon vor dem Tode Stalins einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen, wenn auch sein mächtiger Einfluß sie vielleicht gezwungen hat, weiterhin am alten Kurs festzuhalten. Denn auf Grund eines natürlichen Beharrungsvermögens läuft ein politischer Kurs unvermindert weiter, auch nachdem seine Logik angefochten und seine Risiken aufgedeckt sind. Lind der Westen hat sich in Korea selbst zum Narren gemacht, als er aus Furcht vor einem allgemeinen Frieden auf einmal alles über Bord warf, was er dank seiner ursprünglichen Initiative, der Strategie von General Douglas McArthur und der Tapferkeit amerikanischer Männer gewonnen hatte.
Wie schnell haben sich auch die Kommunisten in vollem Siegeslauf mit der knappen Hälfte von Vietnam zufrieden gegeben. Wie vorsichtig sind bisher trotz beängstigendem Kriegsgeschrei und Stinkbomben die Aktionen der chinesischen Kommunisten in der FormosaStraße gewesen. Diese Zurückhaltung wie jene in Vietnam ist zweifellos ein Beweis für die umfassende Anstrengung Chinas auf dem Gebiete der Kollektivisierung und Industrialisierung. Das steht wiederum in direktem Zusammenhang mit der gegenwärtigen kommunistischen Friedensstrategie, die nebst anderen Zielen für den Ausbau Kontinentalchinas als neues kommunistisches Industriezentrum Zeit gewinnen möchte.
Eine Art waffenloser Krieg
Selbst während des Kalten Krieges zur Zeit des Stockholmer Friedensappells haben die Kommunisten eine Organisation der „Friedenskämpfer“ gefordert. Dieser Ausdruck sollte die Tatsache versinnbildlichen, daß der Friede, so wie ihn die Kommunisten verstehen, eine Art waffenloser Krieg ist. Man dachte dabei an die Zeit, wo die „Friedenskämpfer“ eventuell als Kerntruppe bewaffneter Partisanengruppen dienen könnten.
Die neue kommunistische Strategie plant die Ausweitung einer gewaltigen Friedenskämpfer-Bewegung in der ganzen Welt. Ihre Formationen werden die Volksfront bilden. Eine darüber hinaus gehende, noch durchgreifendere Änderung ist bereits angedeutet worden: Ein grundsätzlicher Wandel des ganzen politischen Klimas des Westens, weit über reine Volksfronten hinaus, die in ihrer Wirksamkeit offensichtlich Grenzen haben, wenn sie auch zu beeinflussen und zu steuern sind. Für diesen. Klimawechsel sind nicht nur die politischen, sondern auch die emotionellen Vorbedingungen vorhanden.
Die ganze Welt sehnt sich nach Frieden. Die besten Elemente des Westens — die klugen, humanen, schöpferischen — verabscheuen den Gedanken an einen Krieg. Die Dinge sind sogar noch einfacher: Männer und Frauen schauen ihre Kinder und Enkel an und denken, es darf nicht sein. Das sind ideale Vorbedingungen für einen Klimawechsel. Der kommunistische Blizzard muß aufhören, die Hoffnungen der Menschen auf den Aufgang einer warmen und das Eis schmelzenden Sonne über den Steppen gefrieren zu lassen. Das Wetter muß sich ändern. Es ist nicht notwendig, daß der Kommunismus die kommunistische Gefahr liquidiert. Es ist nur notwendig, daß der Kommunismus die Kriegsgefahr liquidiert.
Somit unterscheidet sich für den Kommunismus das taktische Problem nicht wesentlich von dem des Windes und der Sonne in Äsops Fabel, die miteinander wetteifern, um einen Mann zu bewegen, seinen Mantel auszuziehen. Um den Mann — nämlich den Westen — zu bewegen, seinen Mantel auszuziehen, dazu brauchte der Kommunismus nur die Sonne scheinen zu lassen. Im Gegensatz zur Parabel konnte der Kommunismus die Sonne aber bisher nicht scheinen lassen. Aus überwiegend historischen Gründen, die in der Person und de. offiziellen Mythologie Joseph Stalins verkörpert waren, konnte sie nicht scheinen. Er personifizierte die Erinnerung, die den Westen und selbst Tausende von Kommunisten verletzte und zu Mißtrauen, Abneigung oder Abscheu vor dem Kommunismus führte.
Lenin und Stalin — „das entsetzliche Paar" wurden sie manchmal anzüglich genannt, als ihre beiden einbalsamierten Körper im Grabe am Roten Platz in Moskau friedlich nebeneinander lagen. Doch haben wahrscheinlich selbst die treuesten Anhänger Stalins im tiefsten Innern eine bezeichnende Pause zwischen die Namen Stalin und Lenin gemacht. Schließlich diente der getreue Anhänger in erster Linie dem Kommunismus, nicht Stalin, und Stalin hauptsächlich deshalb, weil er dem Kommunismus zu dienen schien. Viele haben im Laufe der Jahre vergessen, daß Lenin vor der Revolution Stalin als einen „wundervollen Georgier" pries. Anti-Stalinisten im besonderen erinnern sich lieber daran, daß der bestürzte Lenin zwei Jahre vor seinem Tode, als er Stalins Machenschaften beobachtete, auf dem 11. Parteikongreß erklärte: „Die Maschine entgleitet Euren Händen.“ Vielleicht hatte er vergessen, wie so viele andere, daß er, Lenin, Stalin erst die Kontrolle in die Hand gespielt hatte.
Es geschah auf dem 10. Kongreß der Sowjetischen Kommunistischen Partei im Jahre 1921. Lenin selbst hatte den historischen Wendepunkt angekündigt. Von nun an würde es keine organisierte Opposition mehr gegenüber dem Mehrheitsstandpunkt der Partei geben. Lenin sagte:
„Wir brauchen jetzt keine Opposition wehr, Kaweraden, es ist nicht die Zeit dafür ... Es ist nicht richtig, wir dafür Vorwürfe zu wachen. Die Umstände erfordern es.“
Die organisatorischen Veränderungen, die auf diesen Beschluß des 10. Parteikongresses folgten, brachten Stalin dichter an die Macht und schwemmten einiger seiner Anhänger nach oben, von denen zwei, nämlich Molotow und Woroschilow, noch immer im Präsidium der kommunistischen Partei sitzen. Dieser düstere Abschnitt der kommunistischen Geschichte ist zum Verständnis des 20. Parteikongresses von hoher Bedeutung. Aus ihm geht die Kontinuität der kommunistischen Planung hervor und in welchem Maße der Kommunismus unverändert bleibt, je mehr er sich ändert.
Gleich Lenin im Jahre 1921 konnte Stalin später seine schlechtesten Taten mit den Worten rechtfertigen: „Es ist nicht riduig, wir dafür Vorwürfe zu wachen, die Umstände erforderten es." Die Umstände, die Stalin dazu benutzte, das kommunistische Reich auf den Gipfel der Macht zu führen, schlossen die Kollektivierung der Bauern und Industrialisierung der Sowjetunion ein. Um hierfür inmitten der drohenden internationalen Situation Zeit zu gewinnen, verriet Stalin die spanische Republik während des Bürgerkrieges, die Volksfront und die deutsche kommunistische Partei. Zu diesem Zwecke umwarb er Hitler heftig, unterzeichnete einen Nichtangriffsvertrag und machte damit den Weg für den zweiten Weltkrieg frei, damit sich der Westen selber gründlicher und schneller zerstörte als der Kommunismus je hoffen konnte, ihn zu zerstören. Fast verlor er das Spiel, als sich die Deutschen gegen ihn wandten. Doch selbst diese drohende Katastrophe wußte Stalin in einen Triumph umzuwandeln, indem er durch den Erfolg der sowjetischen Waffen viel von dem guten Willen zurückgewann, der ihm im Westen verlorengegangen war.
Inzwischen überspielte und manövrierte er die Staatsmänner des Westens in einer Reihe von großen Konferenzen aus — Teheran, Jalta und Potsdam —, in denen der Westen viel verschenkte, indem er die kommunistischen Grenzen bis ins Herz Europas vorschob und sein Werk mit der kommunistischen Eroberung Chinas krönte. Aus diesem Grunde sind die Männer, die jetzt den toten Stalin liquidieren, dem lebenden gefolgt.
Und nun müssen sie sein Andenken liquidieren. Denn um seine Erfolge zu erringen, mußte Stalin die kommunistische Partei terrorisieren, das sowjetische Volk ans Kreuz schlagen und Verbrechen begehen, die ihn der Menschheit entfremdet haben. Verbrechen, die angesichts der veränderten Umstände seine Liquidierung zur Vorbedingung für einen kommunistischen Fortschritt in einer neuen Zeit gemacht haben. . Jedoch darf man nicht vergessen, daß der Kommunismus in seiner furchtbaren Gestalt eine seiner höchsten Manifestationen gefunden hat. Die Kommunisten, die Stalin liquidierte, haben den geringsten Teil der von ihm umgebrachten Menschen ausgemacht. Aber gerade um diese klagt der 20. Parteikongreß am meisten. Und gerade auf jene Opfer reagiert der Westen am stärksten. Aber zwischen Stalin und dem Westen liegen außerdem, um nur eine Sparte herauszugreifen, drei bis sechs Millionen Bauern, die Stalin (d. h. Stalin und die kommunistische Partei) aus wohlüberlegten politischen Gründen tötete, indem er sie verhungern ließ. Wer kümmert sich um diese Toten?
//Das Eis geht dahin"
In den zwanziger Jahren begegnete ich per Zufall dem Militärattache an der Washingtoner Botschaft aus der Zarenzeit. Aus Liebe zur russischen Musik lauschten wir manchmal gemeinsam dem Idioten in „Boris Godunow“. Ich erinnere mich, daß mir dieser geduldige russische Militär im Exil einmal aus der Tiefe seiner Sehnsucht nach der russischen Heimat, die er nie wiedersehen sollte, erzählte, wie nach endlosem Winter das Eis in den russischen Flüssen aufzubrechen beginnt. Dann laufen die Bauern-jungen an den Ufern entlang und versuchen mit den klirrenden Eisschollen Schritt zu halten und rufen im Laufe: „Lyot idyot“ — „Das Eis geht dahin“. Genau diese Wirkung hatte der 20. Parteikongreß auf diejenigen, die bis zur Neige die Tragödie unserer Zeit erlebt haben, wo immer sie vom Kommunismus angerührt worden ist.
Nach meiner Ansicht wird der Westen die volle Bedeutung jener Wirkung wieder nicht richtig beurteilen, wenn er nur vermerkt, daß die Männer, die für diese Wirkung verantwortlich sind, ehemalige Helfer Stalins bei seinen schlechten Taten waren, oder wenn er meint, ihre geriebenen Pläne seien nur aus Zynismus geboren und deshalb stehe ihre Arglist außer Zweifel. Ich zum Beispiel glaube nicht, daß die Tränen Chruschtschows vor den Kongreßdelegierten simuliert waren oder daß dieses Auditorium sich von simulierten Tränen hätte beeindrucken lassen oder Chruschtschow sich dieses eingebildet haben könnte. Es handelt sich um mehr: „Lyot idyot“ — das Eis geht dahin; das Eis, das während des langen (aber in kommunistischer Sicht) gerechtfertigten Stalinistischen Albtraumes den messianischen Geist des Kommunismus vereist und gelähmt hat. Der Kommunismus dürfte nicht ungefährlicher sondern gefährlicher werden. Daher das erregende Gefühl, innerhalb von vierzehn Tagen von einem Zeitalter in ein anderes geschritten zu sein.
Der Kommunismus hat sich nicht geändert. Die Diktatur der kommunistischen Partei ist nicht zu Ende. (Der 20. Parteikongreß diente ihrer Stärkung.) Es ist unwahrscheinlich, daß die Sklavenarbeitslager aufhören oder auch nur wesentlich eingeschränkt werden. (Die Sklaven-arbeit spielt eine zu wichtige Rolle in der kommunistischen Wirtschaft, und die Opfer der neuen Säuberung, überhaupt jeder, der Widerstand leistet, werden bald den Platz der politischen Gefangenen einnehmen, die jetzt vielleicht entlassen werden.) Die kommunistische Aggression des Westens wird nicht aufhören. Auf dem 20. Parteikongreß ist dieser Aggression eine neue, verfeinerte, massivere Form gegeben worden, deren zersetzende Energien zuerst auf besonders weiche Stellen entlang der kontinentalen Grenzen des Kommunismus und weit darüber hinaus — auf Westdeutschland, Frankreich, Italien, England, Indien, Burma, Indonesien — gerichtet sind. Jugoslawien vollzieht schon einen „langsamen Übergang“ zurück in das sowjetische System — eine Heimkehr, die Moskaus offizielle Auflösung der Kominform beschleunigen soll. Denn die Kom-inform, eine Organisation der kommunistischen Parteien Westeuropas und der Satelliten, wurde von Stalin in erster Linie zur Bekämpfung Marschall Titos und seiner besonderen Art von Ketzerei benutzt.
Aber vor allem wird die Vernichtung der stalinistischen großen Lüge das Klima verändern und einen Einfluß über die rein orthodoxen kommunistischen Gefolgsleute hinaus auf die internationalistische und neutralistische Haltung des Westens ausüben. Wenn das dunkle Idol Stalin vernichtet ist, kann der Kommunismus hoffen, den Wettbewerb um die öffentliche Meinung wieder aufnehmen zu können, besonders um die Jugend, wo sein Einfluß fast verschwunden ist. Der 20. Parteikongteß wollte den Kommunismus wieder radioaktiv machen — das hat er vielleicht auch erreicht