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Das Geheimnis der russischen Stärke | APuZ 36/1956 | bpb.de

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APuZ 36/1956 Das Geheimnis der russischen Stärke Das Ende einer dunklen Epoche kündigt neue Gefahren an

Das Geheimnis der russischen Stärke

Joseph U. Stewart Alsop

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion veröffentlichren wir den folgenden Artikel von Joseph u. Stewart Alsop, erschienen in der internationalen Zeitschrift „DER MONAT', Juli 1956, Heft 96:

Im vergangenen Sommer war einer der beiden Verfasser dieses Aufsatzes Zeuge der alljähr-lich auf dem Tuschino-Flugplatz bei Moskau stattfindenden Luftwaffenschau. Die äußere Aufmachung war bezaubernd und erinnerte an einen überdimensionalen, jedoch sear fröhlichen Jahrmarkt. Weniger bezaubernd dagegen wirkte was gezeigt wurde — vor allem die neuen sowjetischen Mittel-und Langstrecken-Düsenbomber vom Typ „Bison" und „Dachs“. Als die mächtigen Maschinen über den Platz hinweg-donnerten, hatte einer der anwesenden amerikanischen Luftwaffenattaches den glücklichen Einfall, sein Fernglas auf die Ehrentribüne zu richten, von der aus Chruschtschow, Bulganin und die anderen Sowjetführer die Darbietungen verfolgten. Seinen Augen bot sich ein Bild, das mindestens so aufschlußreich war wie das berühmte Photo von dem Freudentanz, den Hitler nach der Kapitulation Frankreichs vollführte. Seinen Triumphgefühlen freien Lauf Jassend, hüpfte Chruschtschow überschwenglich auf und ab, bis der letzte Bomber hinter dem Horizont verschwunden war. Selbst seine etwas beherrschteren Kollegen konnten sich nicht enthalten, in offen zur Schau gestellter Begeisterung einander zur Beglückwünschung die Hände zu schütteln und auf die Schulter zü klopfen.

Auf diese merkwürdige, schuljungenhafte Weise feierten die Sowjetführer ihren Sieg in einem zwar unsichtbaren, aber tödlich ernsten Wettrennen, das begonnen hatte, als Sowjetrußland die erste Kopie eines während der Luftangriffe auf Japan in Sibirien notgelandeten amerikanischen Langstreckenbombers vom Typ B-20 herstellte. Der gewaltige amerikanische Vorsprung auf dem Gebiet der Luftrüstung war nicht nur eingeholt, sondern in einen Rückstand verwandelt worden, als es den Russen gelang, ihren interkontinentalen Düsenbomber vom Typ „Bison“ in der Hälfte der Zeit herzustellen, die Amerika zum Bau der ähnlich beschaffenen B-52 benötigte. Heute stellt die Sowjetunion dreimal soviel „Bisons“ her wie die Vereinigten Staaten Bomber vom Typ B-52, und sie werden ihr Endziel von zwanzig „Bisons“ pro Monat schneller erreichen als Amerika sein erheblich niedrigeres Produktionsziel von siebzehn B-52 pro Monat. Kein Wunder, daß Chruschtschow vor Freude in die Luft sprang.

So eindrucksvoll dieser Triumph auf einem Gebiet, auf dem der amerikanische Vorsprung für alle Ewigkeit gesichert schien, auch sein mochte, er war lange nicht so bedeutungsvoll wie ein anderer Sieg, den die hier vorgeführten „Bisons" und „Dachse“ verkörperten: diese Maschinen waren nur das augenfälligste Symbol für die Umwandlung Sowjetrußlands in eine moderne industrielle Großmacht.

Das ungeheure Anwachsen der militärisch-industriellen Macht der Sowjetunion ist ein hochaktuelles und verwickeltes Problem; bevor wir ihm wirklich auf den Grund gehen können, müssen wir uns mit einem Paradox befassen, das nahezu allen westlichen Betrachtungen über die Sowjetunion zu schaffen macht. Ein anderer amerikanischer Beobachter der Luftparade von Tuschino formulierte es an jenem sonnigen Nachmittag mit den folgenden Worten: „Wie zum Teufel können die Sowjets solche Flugzeuge bauen, wenn sie nicht einmal imstande sind, ein anständiges Klosett herzustellen? Wenn ich in diesem gesegneten Land jemals eine funktionierende Wasserspülung entdecken sollte, lasse ich den ganzen Apparat unter eine Glasglocke ins Museum stellen, wie einen Pokal von Benvenuto Cellini.“

Ebenso wie der „Bison“ haben auch die ewig defekten WCs der Russen symbolischen Charakter. Sie versinnbildlichen (wenigstens in den Augen der hygienefreudigen Amerikaner) die Trostlosigkeit und Unbequemlichkeit des sowjetischen Alltags, den niedrigen Lebensstandard des russischen Volkes. Über diesen Lebensstandard ist bereits so viel geschrieben worden, daß er sich hier mit zwei kurzen Sätzen umreißen läßt. Das Jahr 195 5 war für das russische Volk das beste Jahr seit einem Vierteljahrhundert. Trotzdem dürfte der Realwert aller vom Durchschnittsrussen in Empfang genommenen Lebensrnittel, Güter und Dienstleistungen weniger als ein Fünftel dessen betragen haben, was der Durchschnittsamerikaner im selben Zeitabschnitt verbrauchte.

Aus eben diesem Grunde — weil das russische Volk noch immer so viel ärmer ist als die freien Völker des Westens — neigen wir im allgemeinen zu der Ansicht, die Sowjetunion sei schwächer als der Westen. Aus eben diesem Grunde werden selbst die amerikanischen und englischen Geheimdienste durch jeden militärisch-industriellen Erfolg der Sowjets seit der Atombombe von neuem überrascht. In Wirklichkeit aber ist die Sowjetunion nur stark, weil das russische Volk arm ist.

Hier berühren wir den Kern der Sache, der das Vorhandensein der „Bisons“ und das Fehlen funktionierender Wasserklosetts nicht nur logisch, sondern sogar unvermeidlich macht. Um ihn richtig zu erkennen, braucht man sich die Sowjetunion nur als ein industrielles Mammut-unternehmen, als einen gigantischen Trust vorzustellen, der nicht nur sämtliche Arten von Industriegütern, sondern auch die Nahrungsmittel für seine Arbeiter produziert, dessen wahre Endprodukte jedoch „Bisons", „Dachse“ und andere Instrumente nationaler Macht sind, genau wie fertige Buicks, Chevrolets und Cadillacs das Endprodukt der mannigfaltigen Aktivitäten von General Motors bilden.

Die Direktion der Sowjetunion AG ist ebenso tüchtig wie rücksichtslos. Ihre Arbeiterschaft zählt viele Millionen, und ihre strenge Disziplin macht Streiks unmöglich; die ihr zur Verfügung stehenden Rohstoffquellen sind außerordentlich ergiebig, ihre Betriebsanlagen von beträchtlichem Umfang. Sie ist jedoch fest entschlossen, den Betrieb noch zu erweitern, bis er alle Konkurrenten überflügelt hat. Das Expansionsprogramm der Direktion wird erleichtert durch das System der Zwangsrekrutierung; zur Beschaffung neuen Kapitals sind weder Kreditaufnahmen noch die Ausgabe von Aktien erforderlich, wodurch Außenstehenden ein Mitspracherecht in der Leitung des Betriebes verschafft werden könnte.

Jeder Gesellschaft, die sich in einer so günstigen Lage befindet, steht ein sehr bequemer Finanzierungsweg offen: sie kann die Betriebskosten auf ein Minimum senken, indem sie das Lohnniveau niedrig hält, an den Wohnungen der Arbeiter spart oder ihnen gar in den eigenen Läden doppelte Preise abnimmt, so daß sie sozusagen noch ein zweites Mal in ihre Lohn-tüten greift. Auf diese Weise kann die Gesellschaft — wenn auch der Arbeiter dabei der Leidtragende ist — ihre Expansion aus eigenen Mitteln finanzieren, ja bis zu einem gewissen Punkt werden um so größere Mittel zur Investition bereitstehen, je mehr die Arbeiter leiden. Genau das haben die Sowjetmanager getan.

Sollte sich dieser Vergleich Sowjetrußlands mit einem riesigen Industriebetrieb als zutreffend erweisen, so erfordert das beim Studium der sowjetischen Industrie eine völlig neue Betrachtungsweise, insbesondere verlangt es gänzlich neue Kriterien bei der Beurteilung sowjetischer Erfolge und Mißerfolge.

Wenn wir im Westen die Höhe eines Bruttosozialprodukts errechnen, geben wir einem Posten Stahl oder Flugzeugzubehör im Wert von 1 OOO Dollar dasselbe Gewicht wie einem ebenso teueren Posten Hautkreme oder Olivenöl. Die Erfolge oder Mißerfolge der sowjetischen Wirtschaft aber kann man nicht nach den Lebensbedingungen des Volkes bemessen, es sei denn, man verträte die Ansicht, daß die Massen, mit ihrem niedrigen Lebensstandard unzufrieden, sich in Kürze gegen ihre Herren erheben, in Streik treten oder auf irgendeine andere Weise den Produktionsprozeß unterbrechen würden. Wenn ein Waffenfabrikant seine Kanonenproduktion durch Halbierung der Arbeiterlöhne verdoppelt, so steht es einem westlichen Wirtschaftsexperten wie Colin Clark (der an den „übertriebenen Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der sowjetischen Wirtschaft“ Anstoß nimmt) natürlich frei, diese brutale Methode zu beklagen; aber auch er würde nicht bestreiten können, daß der Fabrikant seine Geschützproduktion erfolgreich um 100 Prozent erhöht hat.

In mehr als feiner Hinsicht wird unser Vergleich durch das über Sowjetrußland vorliegende Zahlenmaterial erhärtet. Eine 6Oprozentige Umsatzsteuer z. B. auf alles, was die Russen anziehen, essen und gebrauchen, verdoppelt die Preise und leitet einen erheblichen Teil des jährlichen Verdienstes in den Staatssäckel zurück. Dank dieser Umsatzsteuer kann der Kreml sich mit relativ niedrigen Einkommensteuer-sätzen begnügen und so der Manager-Klasse Verdienstanreize bieten, wie es sie in der kapitalistischen Welt kaum noch gibt.

Aus allen uns bekannten Einzelheiten der sowjetischen Investierungsmethode scheint her-vorzugehen, daß nationale Macht in der rohesten Form das gewünschte Endprodukt des Sowjetsystem ist, wenn auch nicht alles auf eine direkte Verbindung zwischen dem niedrigen Lebensstandard und der rapiden Zunahme des militärisch-industriellen Machtpotentials hin-weist. Diese Zunahme ist zweifelsohne aud durch die zentrale sowjetische Planung gefördert worden, wie die Arbeit der sowjetischen Planer wiederum durch den Rohstoffreichtum Rußlands erleichtert wurde. Aber auch hier wieder ist aus allen verfügbaren Unterlagen ersichtlich, daß die militärisch-industrielle Entwicklung der Sowjetunion in letzter Instanz auf den gewaltsam niedrig gehaltenen Lebensstandard zurückzuführen ist. Das scheint uns nicht nur die einfachste Erklärung zu sein, sondern die einzige, die in jeder Hinsicht befriedigt und sich in allen Punkten mit den zur Verfügung stehenden Unterlagen deckt.

Ein neues Sparta

INHALT DIESER BEILAGE: Joseph u. Stewart Alsop: „Das Geheimnis der russischen Stärke" Whittaker Chambers: „Das Ende einer dunklen Epoche kündigt neue Gefahren an" (S. 568)

Der sowjetische Weg war vorgezeichnet und die Geschichte der sowjetischen Erfolge begann, als Stalin die NEP über Bord warf und 1928 den ersten Fünfjahresplan aufstellte. Dank der NEP war der russische Lebensstandard auf ein zwar noch immer niedriges, aber schon erträgliches Niveau gestiegen. Dagegen hatte die NEP keine nennenswerte Erhöhung der industriellen Produktion bewirken können, die im Jahre 1928 nur um weniges über der des Jahrei 1913 lag. Deshalb der erste Fünfjahresplan; in seiner Auswirkung fiel der Lebensstandard in der Sowjetunion um die Hälfte.

Um diesen Abstieg ins Elend zu erzwingen, mußte der sowjetische Staat der russischen Bevölkerung buchstäblich den Krieg erklären, genau wie die spartanischen Ephoren alljährlich ihren Heloten den Krieg erklärten. Die Kollektivierung der Landwirtschaft mit den sie begleitenden Massakern unter den Bauern war ein direkter und bewußter Versuch, einen größeren Teil des Sozialproduktes für staatliche Investitionen freizumachen. In demselben Maße, in dem der Staat auf diese oder andere Weise seinen Anteil daran erhöhte, nahm der des Volkes ab.

Die Menschenopfer in diesem Krieg gegen die Bevölkerung waren ungeheuer, desgleichen die wirtschaftlichen Kosten. Trotz aller Vergeudung aber, die sich ohnehin hauptsächlich auf den Lebensstandard auswirkte, gewann der Staat den Kampf. Das in den ersten Fünfjahresplänen verkörperte Programm der industriellen Expansion und militärischen Stärkung nahm bis zur Umstellung auf die Kriegsproduktion in den Jahren 1938/39 ohne nennenswerte Störung seinen Fortgang. Die primitive, aber leistungsfähige Industrie, die auf diese Weise aufgebaut wurde, erfüllte ihre Zwecke vollauf und produzierte solche Mengen an Panzern, Geschützen und Munition, daß die Rote Armee allein während des Angriffs auf Berlin mehr Granaten verschießen konnte, als in den Vereinigten Staaten und England während des ganzen Krieges hergestellt worden waren. Seit der Niederlage Hitlers aber wurde das sowjetische Programm in noch differenzierterem und ehrgeizigerem Maßstabe fortgesetzt.

Es ist fraglich, ob Stalin sich von Anfang an darüber klar war, daß er gegen sein eigenes Volk würde Krieg führen müssen,'um sein Programm der militärischen und industriellen Machtentfaltung durchzusetzen. Möglicherweise glaubte er zunächst, daß die Ziele des Fünfjahresplanes durch bloße „bolschewistische Planung und Begeisterung“ zu erreichen seien. Doch sind die kühnsten politischen Neuerungen gewöhnlich aus dem Instinkt gekommen. Wer über den Instinkt verfügt, verdient entsprechende Anerkennung als politischer Initiator. Und wenn man sich mehr für das Wachstum der sowjetischen Stärke interessiert als für die sowjetische Moral, so muß man eingestehen, daß Stalin den originellsten Beitrag zur modernen politischen Theorie und Praxis geliefert hat — die Erkenntnis, daß Armut und Elend des Volkes in Stärke des Staates umgesetzt werden können.

Ohne dieses Prinzip ausdrücklich so zu formulieren, enthüllte Stalin 1946 in seiner epochemachenden Rede über die Nachkriegsziele Rußlands die Rangordnung, die sich zwangsläufig daraus ergab. Obwohl das russische Volk noch immer dem Hungertode nahe war, gab Stalin ungerührt bekannt, daß mit sofortiger Wirkung alle Hilfsmittel des Staates zu mobilisieren seien, nicht um das Los des Volkes zu erleichtern, sondern um erneut an die harte Aufgabe der Errichtung einer überwältigenden militärischen und industriellen Staatsmacht zu gehen. Er setzte die Ziele nicht nur für einen, sondern gleich für drei Fünfjahrespläne fest; und bis man diese Ziele zu erreichen begann, wie es bisher regelmäßig der Fall war, wurde der Lebensstandard des russischen Volkes nur eben auf der Höhe gehalten, die er bei Kriegsende hatte. -

Gewiß, auch die Sowjetführer sind nicht völlig wahnsinnig. Gegen Ende seines Lebens mag Stalin an den Terror als Selbstzweck geglaubt haben, aber selbst er glaubte nicht an das Elend um des Elends willen. Im Zuge der rapiden Erhöhung des Nationalprodukts wurden auch die Lebensbedingungen allmählich verbessert. Prozentual wurde sein Anteil nicht erhöht; ja, man könnte sogar behaupten, daß der Prozentsatz heute niedriger sei als in den beiden ersten Nachkriegsjahren. Da jedoch das Brutto-Sozialprodukt gewaltig zunahm, ver-größerte sich auch der Anteil des Volkes. Das hat offenkundige politische Vorteile und macht sich auch nach den merkwürdigen Gesetzen der sowjetischen Wirtschaft bezahlt, weil das ihr zugrunde liegende erbarmungslose System der Akkordlöhne und Geldstrafen, der wechselweisen Verabfolgung von Zuckerbrot und Peitsche, weitaus besser funktioniert, wenn genügend Zuckerbrot zur Verfügung steht.

Infolgedessen geht es der Bevölkerung Sowjetrußlands nicht mehr ganz so schlecht wie in den dreißiger Jahren oder den harten Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Kriege. Die Massen erhalten reichliche Mengen an Grundnahrungsmitteln, 'genügend Kleidung, um sich im Winter warm und im Sommer einigermaßen adrett anzuziehen, und etwa soviel Wohnraum pro Kopf wie die Häftlinge in den Gefängnissen der weniger fortschrittlichen Staaten Westeuropas. Der Oberschicht — etwa zehn Millionen Bürokraten, Offizieren, Managern, Wissenschaftlern, Technikern, Schriftstellern, Stachanowisten usw. — geht es nach ihrer eigenen Ansicht sogar ausgezeichnet. Sie zufriedenzustellen ist politisch wünschenswert, ja es ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung, ihnen handfeste Anreize und Vergünstigungen zu gewähren. Deshalb versorgt man sie heute reichlich mit so bourgeoisen Luxusgegenständen wie Waschmaschinen, Eisschränken oder, im Fall der hierarchischen Spitzen, sogar Automobilen.

Stärkung der Staatsmacht

Doch diese Tatsachen ändern nichts daran, daß die fühlbaren Verbesserungen im Lebensstandard des russischen Volkes praktisch nur einen marginalen Charakter haben, weil sie mit den wenigen Kräften erreicht werden mußten, die nach der Berücksichtigung vordringlicher Prioritäten noch zur Verfügung standen. Man ist keineswegs von dem zu Stalins Lebzeiten aufgestellen Prinzip abgewichen, daß die Stärkung der Staatsmacht vor das Wohlergehen des Volkes geht. Das augenblickliche Regime in der Sowjetunion verkörpert ja gerade die Bestätigung dieses Prinzips. Malenkow hatte sich während seiner Amtszeit als Premierminister für eine Neuordnung der Prioritäten zugunsten der Konsumgüter eingesetzt, doch eben deshalb wurde seine Amtstätigkeit später als Ketzerei verurteilt, während Chruschtschow sich auf den ersten Platz im Präsidium hinaufschwang. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen müssen die Vorgänge auf dem letzten Kongreß der KPdSU besonders paradox anmuten: die sowjetische Industrieproduktion war inzwischen soweit angestiegen, daß man dem russischen Volk für die absehbare Zukunft eine Verkürzung der Arbeitszeit von achtundvierzig auf zweiundvierzig Wochenstunden versprechen konnte, und Chruschtschow richtete es so ein, daß er selbst diese höchst erfreuliche und populäre Tatsache ver-

ünden konnte. Malenkow, dem unterlegenen Befürworter einer verstärkten Konsumgüterpro-

uktion blieb es dagegen vorbehalten, noch ein-

al mit einem Eingeständnis seiner früheren Fehler hervorzutreten und offen die Warnung nuszusprechen, daß das Wohlergehen des Volkes auch in Zukunft vor der Stärkung der Staatsmacht zurücktreten müsse.

Der „Gosplan“ der Sowjetunion sieht bei der Verwirklichung dieses Grundprinzips offensichtlich vor, daß das Brutto-Sozialprodukt der Sowjetunion in drei Scheiben aufgeteilt wird. Der erste Teil der vorhandenen Mittel dient der Erweiterung der Kapitalgüterproduktion, also der Stärkung der industriellen Basis. Der zweite Teil wird unmittelbar in die Streitkräfte investiert, bzw. alles, was im Haushaltsplan der Vereinigten Staaten unter die Stichworte „Verteidigung“, „Atomenergie“ und „Militärisches Hilfsprogramm“ fällt. Das Volk, der Verbraueher, bekommt schließlich das, was übrig bleibt. Die Rußlandsachverständigen streiten sich nun erbittert darüber, wie diese drei Scheiben im Verhältnis zueinander sind; dabei begeht unserer Ansicht nach die Mehrzahl der Experten den Fehler, im Rahmen des sowjetischen Sozial-produkts den gewaltigen sowjetischen Anstrengungen der letzten zehn Jahre auf dem Gebiet der Rüstung und Kapitalgüterindustrie eine zu geringe Bedeutung einzuräumen. Daraus erklärt sich unter anderem, warum die westlichen Nachrichtendienste immer baß erstaunt waren, wenn die Sowjets auf militärischem oder industriellem Gebiet mit einer neuen Leistung hervortraten; warum die Sowjets weniger Zeit für die Lösung einer bestimmten Aufgabe brauchten, als dies von unseren Sachverständigen angenommen wurde; und warum unsere Experten den Sowjets überhaupt nicht zutrauten, binnen relativ kurzer Zeit zahlreiche Fabrikationsstätten für Düsenjäger aus dem Boden zu stampfen.

Deshalb sollte man von vornherein den für uns ungünstigeren Berichten aus Rußland Glauben schenken. Eine recht überzeugende Darstellung besagt, daß die Sowjets jeweils ein Viertel ihres Sozialprodukts in die Kapitalgüterindustrie und in die Verteidigung stecken, während sie den Verbrauchern nur 50 Prozent zubilligen. Lind wenn unsere Rußland-Sachverständigen sich auch nicht über die einzelnen Zahlen einigen können, so sind sie sich doch alle darüber einig, daß die Sowjets prozentual sehr viel mehr für die Verteidigung und ihre in-dustriellen Anlagen ausgeben als die westliche Welt.

Das Anwachsen der russischen Stärke läßt sich am besten an Hand der vier Grundstoffe zeigen, die die eigentlichen Säulen der sowjetischen Wirtschaftsstruktur darstellen.

Seit dem Jahre 1928 ist die sowjetische Stahlproduktion um das Zehnfache gestiegen — von 4, 5 Millionen Tonnen auf etwa 45 Millionen.

Die sowjetische Kohlenförderung hat sich mehr als verzehnfacht — von 36 Millionen Tonnen auf 390 Millionen.

Die Erdölgewinnung hat sich versechsfacht — von 12 Millionen Tonnen auf 70 Millionen.

Die sowjetischen Kraftwerke schließlich produzieren heute 170 Milliarden Kilowattstunden im Jahr gegenüber 5 Milliarden 1928 — ihre Leistungen sind also um das Vierunddreißigfache gestiegen.

Die sowjetische Stahlproduktion zum Beispiel ist heute größer als die Englands und Westdeutschlands zusammengenommen, der beiden größten Stahlproduzenten der Alten Welt. Besteht also an der quantitativen Größe der sowjetischen Industrie kaum noch ein Zweifel, so bleibt nur noch die Frage zu klären, ob die Sowjets auch über das notwendige technische know Itow verfügen, um den von ihnen produzierten Stahl einer entsprechenden Verwendung zuzuführen. Doch auch auf diesem Gebiet sind die Sowjets — wie wir aus verschiedenen Quellen erfahren konnten *) — wie ein gewaltiger kapitalistischer Konzern vorgegangen, indem sie zusammen mit ihrem gewaltigen Plan einer industriellen Expansion ein entsprechendes Ausbildungsprogramm in die Wege geleitet haben. Bei Beginn des ersten Fünfjahresplanes gab es in Rußland noch so wenige fähige Techniker und Ingenieure, daß entscheidende Projekte wie z. B.der Staudamm von Dnjepropetrowsk ausländischen Fachleuten anvertraut werden mußten. Anfang der dreißiger Jahre jedoch wurden alle Institutionen der Volksbildung — die zusammen den größten Volksbildungsapparat der Welt darstellen — an die Aufgabe gesetzt, in kürzester Zeit eine Höchstzahl von Ingenieuren, Wissenschaftlern und anderen Trägern technischer Kenntnisse zu liefern.

Leistungen auf militärischem und industriellem Gebiet

Auf jeden Fall gehört heute schon viel Selbsttäuschung und Selbstgefälligkeit dazu, der noch immer im Westen verbreiteten Theorie anzuhängen, daß die Sowjets einfach nicht über genügende technische Kenntnisse verfügten und daher auf die Arbeit ihrer Spione und verschleppter deutscher Wissenschaftler zurückgreifen müßten, um ihre „Bison“ -und „Dachs" -Bomber, ihre Atom-und Wasserstoffbomben usw. usw. herzustellen. Ausländer und Spione verschiedener Nationalität haben wahrscheinlich weniger zu den militärischen und industriellen Erfolgen der Sowjetunion in den letzten acht Jahren beigetragen als die zahlreichen Wissenschaftler, die während der Nazizeit nach Amerika geflohen sind, zur Explosion der ersten Atombombe über Hiroshima. Diese Theorie von den Spionen und deutschen Wissenschaftlern verschleiert nur die eigentliche Bedeutung der sowjetischen Leistungen auf militärischem und industriellem Gebiet. Die Produktion von Wasserstoffbomben und Düsenbombern neuester Bauart beweist, daß die Sowjetunion heute über eine eindrucksvolle Reihe von technisch hoch-B entwickelten Zubringer-Industrien aller Art verfügt, in denen die kompliziertesten und spezia-lisiertesten Produktionstechniken Anwendung finden.

Es sind uns heute sogar einige Fälle bekannt, in denen die sowjetische Technik der westlichen überlegen ist. Die bewunderungswürdige Konstruktion des „Bison" -Motors, der an Trieb-kraft die Motoren der B-52 um das Doppelte übertrifft, beweist zum Beispiel, daß die Sowjets den Amerikanern in der Konstruktion von Düsen-Triebwerken um ungefähr zwei Jahre voraus sind. Und die Augenzeugenberichte der verschiedenen technischen Missionen, die seit der Genfer Konferenz die Sowjetunion besucht haben, deuten darauf hin, daß es sich hier nicht um Einzelfälle handelt. Ich denke hier u. a. an eine Gruppe westeuropäischer Stahlproduzenten, die unter der Führung von Sir Robert Shone, dem Vorsitzenden des britischen „Iron and Steel Board" nach Rußland kam Sir Robert hält die sowjetischen Stahlwerke für höchst produktiv und modern; „alle nur denkbaren Werkzeugmaschinen waren vorhanden“. Die größeren, voll integrierten sowjetischen Werke seien, was die Produktion pro Kopf des Arbeiters betreffe, erheblich leistungsfähiger als dreiviertel aller englischen Stahlwerke; man könne sie etwa mit den modernsten Anlagen der englischen Stahlindustrie vergleichen. Die britische Stahlindustrie hatte bisher für das sowjetische Angebot, in Indien ein neues Stahlwerk zu bauen, nur Spott und Hohn übrig gehabt; Sir Robert kommt dagegen zu der recht düsteren Schlußfolgerung, daß es den Sowjets, wenn sie sich einmal entschließen würden, den englischen Stahlprodukten Konkurrenz zu machen, sehr wohl gelingen könnte, die Lieferfristen einzuhalten, die englischen Exportpreise zu unterbieten und wegen der niedrigen Löhne in der Sowjetunion sogar nicht unerhebliche kapitalistische Gewinne zu machen.

Noch bedeutungsvoller ist in diesem Zusammenhang der Bericht einer amerikanischen Gruppe von Ingenieuren, die in der Sowjetunion eine Reihe der neuen automatischen Fabrikationsanlagen studierten. Zu der Studien-gesellschaft gehörten nur erfahrene Ingenieure, wie z. B. Nevin L. Bean, der Direktor der neuen, voll-automatisierten Motorenfabrik von Ford — Leute also, die man auf diesem Gebiet nicht mit Potemkinschen Dörfern hinters Licht führen konnte. Sie durften sehen, was sie wollten, und die von ihnen den Sowjets vorgelegte Liste der zu besichtigenden Anlagen beruhte auf einer Zusammenstellung der amerikanischen Geheimdienste.

Bean zeigt sich nach seiner Rüdekehr sehr beeindruckt von den sowjetischen Leistungen auf dem Gebiet der elektronischen Rechenmaschinen, er berichtete auch mit Worten der Hochachtung von der Qualität der sowjetischen Werkzeugmaschinen und hielt nicht mit seiner Mutmaßung zurück, daß die Sowjets heute mehr Werkzeugmaschinen herstellen als die Vereinigten Staaten (ein Beweis seiner Urteilskraft, denn nach einer amtlichen amerikanischen Schätzung belief sich die amerikanische Produktion von Werkzeugmaschinen im Jahre 195 5 auf 88 OOO gegenüber 105 000 in der Sowjetunion). Besonders begeistert zeigte sich Bean von einem der ersten sowjetischen Experimente auf dem Gebiet der Automatisierung, einer automatisierten Kugellagerfabrik, die seiner Ansicht nach besser durchdacht war als irgendeine entsprechende Anlage in den Vereinigten Staaten. Aus diesen Gründen ist Bean heute auch der Überzeugung, daß es den Sowjets gelingen wird, das im laufenden Fünfjahresplan vorgesehene Programm der industriellen Automatisierung zu verwirklichen. Natürlich ist Bean bei seinen Besichtigungen auch einiges Negative aufgefallen, so zum Beispiel die Tatsache, daß in Rußland Material in vielen Fällen nicht wie in den Vereinigten Staaten maschinell, sondern durch ungelernte Arbeiter bewegt wird. Bei dem Umwandlungsprozeß, in dem die sowjetische Industrie sich augenblicklich noch befindet, ist es jedoch nur natürlich, daß sich in der Produktion einige primitive Verfahren noch eine Weile halten. Lastenheber und ähnliche Geräte werden sich erst rentieren, wenn die alten ungelernten Arbeiter durch die in Fachschulen und Technischen Universitäten ausgebildete junge Generation abgelöst worden sind.

Ähnliche Rückstände finden sich auch auf anderen Gebieten. Zahlreiche russische Unternehmen stellen z. B. fast alle Werkstücke — Schrauben, Muttern usw. — selbst her, um nicht das Risiko von Versorgungsschwierigkeiten und damit Verzögerungen in der Produktion eingehen zu müssen. Dazu kommt noch, daß die technischen Leistungen der Sowjets auf dem Gebiet der Rüstung größer sind als in der Industrie im allgemeinen. Auf jeden Fall ist das technische Niveau der Konsumgüterindustrie noch sehr niedrig. Daher dürfte ein Schwerpunkt des laufenden Fünfjahresplanes darin zu sehen sein, durch die Einführung der Automatisierung, durch die Rationalisierung der Industrie und durch andere Neuerungen die noch bestehenden Rückständigkeiten zu beseitigen. Parallel zu diesen Maßnahmen — aber ihnen letztlich untergeordnet — dürften die Bemühungen gehen, die Leistungsfähigkeit der Konsumgüterindustrie zu steigern, und zwar nicht auf dem Wege einer Neuverteilung der Investitionsprioritäten, sondern indem man zu ihrer Finanzierung allein den Teil des Sozialprodukts heranzieht, der nicht bereits in die Rüstungsund Kapitalgüterproduktion eingespannt ist. Die Beseitigung veralteter Produktionsverfahren ist heute schon deshalb ein dringendes Anliegen der sowjetischen Planer, weil die Industrie unter einem Mangel an Arbeitskräften zu leiden be-ginnt. Auch eine Ankurbelung der Konsumgüterindustrien ist durchaus notwendig, solange diese Aufgabe nicht Mittel beansprucht, die im Rahmen des „Gosplans“ für dringendere Projekte benötigt werden. Diese beiden Aufgabenstellungen veranlassen die Sowjets heute, sich mit industriellen Verfahren des Westens zu beschäftigen, die ihnen bisher höchst bedeutungslos erschienen waren.

Kommen wir zurück zu Beans abschließendem Urteil: „Die Sowjets treten jetzt in die Ära technischer Höchstleistungen ein. Die Folgen dieser Entwicklung scheinen mir in jeder Hinsicht mehr als beunruhigend zu sein.“ Hat der Westen tatsächlich Veranlassung, sich vor dem militärischen und industriellen Fortschritt der Sowjets zu fürchten?

Auf den ersten Blick gibt es kaum einen Grund zur Besorgnis. Die sowjetische Volkswirtschaft steht heute trotz ihrer Fortschritte noch weit hinter der amerikanischen, und das Kräftegleichgewicht verschiebt sich noch mehr zuungunsten des kommunistischen Machtbereiches, wenn man die Hilfsquellen der gesamten atlantischen Gemeinschaft mit in Betracht zieht. Die amerikanische Stahlproduktion belief sich z. B. im Jahre 195 5 auf 117 Millionen Tonnen, während in der Sowjetunion im gleichen Zeitraum nur 45 Millionen Tonnen hergestellt wurden, was der amerikanischen Produktionsrate vor achtunddreißig Jahren entspricht. Das amerikanische Brutto-Sozialprodukt, in dem natürlich auch die landwirtschaftliche Produktion und die anderen nichtindustriellen Beschäftigungszweige enthalten sind, hat jetzt die phantastische Höhe von 187 Milliarden Dollar erreicht und ist damit dreimal so groß wie das sowjetische.

Diese beruhigenden statistischen Angaben lassen jedoch die für uns besorgniserregende Auswirkung des sowjetischen Wirtschaftsprinzips außer acht, daß der Volkswohlstand immer hinter die Stärkung der Staatsgewalt zurückzutreten hat. Indem sie den Lebensstandard niedrig halten und alle Anstrengungen auf die Kapitalgüterindustrien konzentrieren, sind die sowjetischen Machthaber nicht nur in der Lage, ihr Land zu einer industriellen Weltmacht zu entwickeln, es gelingt ihnen auf diesem Wege außerdem noch, den Abstand zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten aufzuholen, — wie es ihnen schon vor Jahren gelungen ist, Deutschland und England auf wirtschaftlichem Gebiet einzuholen. Allein eine Übersicht über die letzten acht Jahre beweist, wie schnell sich die letzte Lücke schließt.

Der große Wettlauf

Die Periode von 1948— 1955 ist von besonderer Bedeutung, denn in diesen acht Jahren kam die Wirtschaftsexpansion der Sowjetunion auf volle Touren. In den Jahren vor 1948 errichteten die Sowjets die Grundlage für die Ausweitung ihrer industriellen Produktion. Sie machten sich vertraut mit den Gefahren und Möglichkeiten ihres außergewöhnlich komplizierten Planungsprozesses. Von 1941— 1945 hatten sie einen vernichtenden Krieg zu überstehen, und die Jahre von 1945 bis 1947 sahen sie am Wiederaufbau.

Von 1948 bis 195 5 jedoch stieg die sowjetische Stahlproduktion um nicht weniger als 143 Prozent, die amerikanische dagegen nur um 48 Prozent.

Die sowjetische Erdölförderung stieg um 141 Prozent, die amerikanische nur um 22 Prozent.

Die Erzeugung elektrischen Stroms stieg in der Sowjetunion um 158 Prozent, in Amerika dagegen um 68 Prozent.

Die sowjetische Kohlenförderung lag 195 5 um 8 5 Prozent höher als 1940, die amerikanische dagegen um 22 Prozent niedriger.

Wie zu erwarten, findet dieser hohe Produktionsanstieg in den sowjetischen Grundstoffindustrien sein Gegenstück in starken Produktionserhöhungen bei allen anderen Industrie-zweigen. Nach einer Berechnung der amerikanischen Regierung stieg die gesamte sowjetische Industrieproduktion in diesem Zeitraum um 70 Prozent, die amerikanische dagegen nur um 2 5 Prozent.

Mit anderen Worten: die sowjetische Industrie hat sich in der letzten Fünfjahresplan-periode beinahe dreimal so schnell entwickelt wie die amerikanische. Diesen Unterschied im Entwicklungstempo kann man natürlich nicht auf die nächsten Jahre projizieren, denn die Rate der Produktionszunahme fällt unvermeidlich mit der Zunahme der wirtschaftlichen Stärke.

In der nächsten Fünfjahresplanperiode werden die Russen mehr Stahl und andere Industriegüter ihrem Sozialprodukt hinzufügen als je zuvor, der prozentuale Zuwachs gegenüber der laufenden Produktion wird dagegen erheblich niedriger liegen, da das Gesamtprodukt in der Zwischenzeit gestiegen ist. Dazu kommt natürlich noch, daß sich die sowjetische Produktivität höchst ungleichmäßig entwickelt hat. Die Industrie ist weit vorgeprellt, Landwirtschaft, Wohnungsbau und die anderen Produktionszweige, die eigentlich zum Wohlstand eines Volkes beitragen, sind dagegen erheblich zurückgeblieben.

Während also die Lücke zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Industrieproduktion in relativ kurzer Zeit geschlossen werden konnte, weil sich die sowjetische Industrie trotz des oben erwähnten Tempoverlustes in der Wachstumsrate noch schneller als die amerikanische Industrie entwickelt, dürfte das gesamte amerikanische Sozialprodukt eben wegen dieser ungleichmäßigen Entwicklung in Rußland noch auf Jahre hinaus dem sowjetischen Sozialprodukt überlegen sein.

Die sowjetische Wirtschaft

Niemand, der sich ernstlich mit der sowjetischen Wirtschaft beschäftigt hat, kann noch bezweifeln, daß sie, selbst an den strengsten westlichen Maßstäben gemessen, schneller expandiert als die des freien Westens. Um wieviel schneller — das ist die Frage, die man heute mit einiger Erhitzung debattiert. Doch bei dieser erbitterten Auseinandersetzung scheinen mir die Sachverständigen außer acht zu lassen, daß es doch noch mehr darauf ankommt, was eigentlich wächst, als in welchem Tempo dieses Etwas wächst. Ein Falke kann z. B. viel schneller oder auch nur ein bißchen schneller wachsen als ein Paradiesvogel. Sehr viel erheblicher als diese Tatsache ist, daß dem Paradiesvogel ein schönes Gefieder, dem Falken dagegen in erster Linie ein stahlharter Schnabel und ebensolche Krallen wachsen. Auf dem Gebiet der Industrie besteht leider ein ganz ähnlicher Gegensatz zwischen der sowjetischen und amerikanischen Entwicklung. Dazu genügt ein Blick auf eben jenen Industriezweig, der heute als Index der amerikanischen Wirtschaft und Stolz der amerikanischen Nation gilt.

Im Jahre 195 5 produzierten die Vereinigten Staaten annähernd acht Millionen Autos. In unserem Zeitalter haben serienmäßig hergestellte Kraftwagen dem Leben der Amerikaner ein für allemal den Stempel aufgedrückt; sie haben die Art und Weise, in der Menschen leben, arbeiten, sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben und ihre Freizeit verbringen, von Grund auf umgestaltet. So ist das Vorhandensein einer großen Anzahl von Kraftfahrzeugen für den Amerikaner einfach zu einer Notwendigkeit geworden, und in diesem Sinne bilden sie einen Bestandteil seiner nationalen Stärke.

Nehmen wir nun einmal an, daß der Privat-besitz von Automobilen für Amerika niemals zu einer solchen Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit geworden wäre, daß das Auto niemals die Gelegenheit genabt hätte, das Gesicht des amerikanischen Lebens umzugestalten. Audi dann würden die Amerikaner vermutlich irgendwie von der Stelle kommen, indem sie die verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel oder auch ihre Beine benutzen. In vieler Hinsicht wäre ihr Leben ärmer, aber — so „unamerikanisch"

das klingen mag — die Gesamtsumme der nationalen Stärke wäre deshalb nicht wesentlich gemindert.

Aus eben diesem Grunde ist die sowjetische Autoindustrie heute noch ein so winziger Zwerg, der im letzten Jahr nur ungefähr 3 50 000 Lastkraftwagen und 80 000 Personenwagen produziert hat. In der Sowjetunion erfüllen Eisenbahn und Wasserwege noch heute die Aufgabe des Fernverkehrs, während die Produktion an Lastkraftwagen gerade ausreicht, um den Bedarf des Kurzstreckenverkehrs und der Wehrmachtsteile zu decken. Der Bevölkerung bleibt nur die Wahl, entweder zu Fuß zu gehen oder sich wie Sardinen in die entsetzlich überfüllten Straßenbahnen und Busse bzw. bei längeren Reisen in Züge oder Flußdampfer pressen zu lassen. Allein einer Auswahl aus der Klasse der Privilegierten ist es vergönnt, die Freizügigkeit kennenzulernen, die der Besitz eines eigenen Autos mit sich bringt.

Dafür aber beansprucht die Automobilindustrie der Sowjetunion nicht ein volles Fünftel der jährlichen Stahlproduktion, zuzüglich riesiger Mengen von Gummi, Glas, Leichtmetall und Kunststoffen, nebst eines beträchtlichen Prozentsatzes der gelernten Arbeiter. Dafür wird auch nicht ein Drittel der jährlichen Erzeugung von Erdölderivaten durch den Automobilverkehr verbraucht. Dafür erfordert die

Konzentration auf die nationale Stärke

Was in der amerikanischen Automobilindustrie geschieht, läßt sich natürlich beliebig durch die Vorgänge in allen anderen kräftig heranwachsenden Industriezweigen ergänzen, die den amerikanischen Konsumenten beliefern. Dazu muß man noch die Milliarden von Dollar rechnen, die man in westlichen Ländern alljährlich auf die Verbesserung des Wohnungsbaus und die Leistungssteigerung der Landwirtschaft verwendet.

Alle diese Investitionen dienen in erster Linie dazu, unsere Bequemlichkeit und unser Wohlbefinden zu vermehren. In Friedenszeiten verbrauchen diese komforterhöhenden Investitionen allein drei Fünftel der jährlichen Kapitalanlagen, so daß für das Gebiet der Schwerindustrie, der Bewaffnung und des Verkehrswesens, durch die unsere nationale Stärke unmittelbar gesteigert wird, bestenfalls nicht mehr als zwei Fünftel der Gesamtsumme übrigbleiben.

Im Gegensatz dazu leiten die Sowjets etwa vier Fünftel aller Investitionen Zwecken zu, die unmittelbar zur Vermehrung ihrer Stärke beitragen, und verteilen nur ein knappes Fünftel auf bessere Ernährung, besseres . Wohnen und alle sonstigen Güter zu Nutz und Frommen der Bevölkerung. Außerdem ist zu berücksichtigen, daß die sowjetische Investitionsrate möglicherweise bis zu 60 Prozent höher liegt als die amerikanische.

So ist es durchaus denkbar, daß die Sowjets, obwohl ihre Gesamtproduktion nur ein Drittel der amerikanischen ist, heute schon größere industrielle Investitionen mit dem Ziel zunehmender Stärke machen als die Amerikaner, gemessen am absoluten Maßstab des Roh-materials und der aufgewandten Arbeitsleistung.

Das Hauptprinzip der Sowjets — daß das Wohl der Bevölkerung an zweiter und die Vermehrung der Macht des Staates an erster Stelle zu stehen habe — wird zu allen Zeiten, auf allen Gebieten und mit höchst beachtlichen Ergebnissen befolgt.

In den letzten fünf Jahren hat dieses Prinzip zwei verschiedene wirtschaftliche Auswirkungen gehabt. Einerseits ist die sowjetische industrielle Produktion in diesem Zeitabschnitt, wie wir gesehen haben, sehr viel schneller gewachsen als die amerikanische. Auf der anderen Seite ist sie, eben wegen der Verschiedenartigkeit der Investitionsweise, die wir eben untersucht haben, ausschließlich in einer Richtung gewachsen, die zur Erhöhung der nationalen Stärke beigetragen hat, während die amerikanische Industrie hauptsächlich angewachsen ist, um Wohlbefinden und Bequemlichkeit des Individuums zu erhöhen. Dank dieser eisernen Konzentration auf die nationale Stärke haben die Sowjets heute den amerikanischen Vorsprung von drei zu eins eingeholt, ja in bezug auf die bloße Stärke haben sie die Vereinigten Staaten schon überholt, wie aus der erstaunlichen Veränderung hervorgeht, die sich in Form und Wesen der sowjetischen Streitkräfte zeigt. In gewisser Hinsicht haben die sowjetischen Streitkräfte freilich schon immer einen merklichen Vorsprung vor den amerikanischen aufweisen können; schon allein auf Grund des unterschiedlichen Lebensstandards waren die sowjetischen Soldaten schon immer sehr viel billiger als die amerikanischen.

Besoldung, Verpflegung, Unterbringung usw.

eines amerikanischen Soldaten kosten heute 7 700 Dollar im Jahr, während sie für den sowjetischen Soldaten etwa ein Zehntel dieses Betrages erreichen. Teilweise dank dieses Unterschiedes im Lebensstandard haben die Sowjets auch immer etwa die dreifache Anzahl einsatzfähiger Frontkämpfer aus einer gegebenen Anzahl von Uniformträgern herauswirtschaften können: sie stellen heute aus 72 000 Mann etwa drei kampfkräftige Divisionen auf, während in der amerikanischen Armee aus der gleichen Truppenzahl nur eine einsatzfähige Division hervorgeht. Auch sind die sowjetischen Streitkräfte immer erheblich größer gewesen als die amerikanischen, wenn sich hier das Verhältnis in jüngster Zeit auch etwas verändert hat.

Heute stehen 3, 5 Millionen Soldaten in der Sowjetunion etwa drei Millionen in den Vereinigten Staaten gegenüber.

In den letzten fünf Jahren haben die Sowjets aber nicht nur ihren langjährigen militärischen Vorsprung aufrechterhalten können, sondern obendrein gerade auf den Gebieten die Führung übernommen, auf denen die Vereinigten Staaten bisher dank ihrer stärkeren Industrie und überlegenen Technik das Heft in der Hand hatten. So wurde beispielsweise die Rote Armee nach dem zweiten Weltkrieg von Grund auf neu organisiert und gänzlich neu ausgestattet. Doch ein beträchtlicher Teil dieser Ausstattung wird heute schon wieder abgeschafft, zugleich mit einer Verminderung der Truppenzahl, zugunsten eines Programms, nach dem etwa sechzig sowjetische Infanteriedivisionen den Anforderungen des Atomzeitalters angepaßt werden sollen. In den Vereinigten Staaten stehen dagegen nur 18 Divisionen unter Waffen, von denen die meisten noch ihre Ausrüstung aus dem zweiten Weltkrieg behalten haben, während nur fünf an eine moderne Kriegführung angepaßt worden sind. In ähnlicher Weise haben die Sowjets ihre taktische Luftwaffe, ihre Heimatverteidigung und die Luftwaffen der Satellitenstaaten zwischen 1949 und 1954 mit nicht weniger als 15 000 Düsenjägern vom Typ Mig-15 ausgestattet, jedoch auch diese riesige Kapitalsanlage heute wieder zur Verschrottung verurteilt, insofern als alle Mig-15 so schnell wie möglich durch die weit überlegenen Tag-jäger vom Typ Kolchosnik und Nachtjäger vom Typ Blitzlicht ersetzt werden. In den Vereinigten Staaten dagegen sind im gleichen Zeitraum nur ungefähr 2 800 Düsenflugzeuge vom Typ F 86 erzeugt worden, während noch kein einziges unserer höher entwickelten Jagdflugzeuge in das Stadium der Massenproduktion eingetreten ist.

Wohlfahrt oder Stärke

Alles in allem sind also die sowjetischen Streitkräfte nicht nur größer als die amerikanischen, sondern auch im Begriff, weit besser ausgerüstet zu sein. Gerade auf dem entscheidenden Gebiet der in der Luft eingesetzten Atomwaffen haben die Sowjets ihre größten Fortschritte gemacht. Ihre Mittelstrecken-und Langstrecken-Düsenbomber sind ebenso wie die Tag-und Nachtjäger den amerikanischen an Qualität gleichzusetzen und, was ihre Massenproduktion angeht, schon weit überlegen. Auf dem Gebiet der Atomkernwaffen sind die amerikanischen Bestände vorläufig noch größer als die sowjetischen, doch erreicht deren Vorrat schnell entsprechende Proportionen. Bei den ferngelenkten Geschossen ist die sowjetische Technik zur Zeit der amerikanischen voraus, denn dort wird zur Zeit ein Geschoß von 2 500 km Reichweite praktisch erprobt, während alle ähnlichen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten noch nicht aus dem Stadium der Planung herausgekommen sind.

Man darf auch nicht vergessen, daß die Schlagkraft des amerikanischen Strategie Air Coinwand fast ganz von dessen überseeischen Stützpunkten abhängt, über welche die Vereinigten Staaten politisch kein Verfügungsrecht haben und die außerdem bald den neuen sowjetischen ferngelenkten Geschossen von 2 500 km Reichweite ausgesetzt sein werden. Bei den Sowjets ist die Lage ganz anders; sie bauen heute an Atomwaffen von phantastisch weitreichender Schlagkraft, die völlig unabhängig von Basen außerhalb der Sowjetunion sind. Infolgedessen steht uns, wenn nicht sehr bald etwas dagegen unternommen wird, eine Epoche bevor, in der die Schläge des Westens höchstens verwunden können, die Schläge des Ostens aber unbedingt tödlich wirken.

Die bedrohliche Entwicklung im Verhältnis der amerikanischen und sowjetischen Stärke wird auch nicht etwa durch ein Anwachsen der militärischen Schlagkraft der anderen Partner der westlichen Allianz kompensiert. Wenn wir in unsere Betrachtung die andern Partner auf der westlichen Seite ebensowenig wie die sowjetischen Satelliten einbezogen haben, so hauptsächlich, weil die dazu erforderlichen statistischen Daten schwer zu beschaffen und noch schwerer gegeneinander abgewogen werden können. Eine Tatsache steht jedenfalls fest und läßt eigentlich alle übrigen Untersuchungen überflüssig erscheinen: das gesammelte Potential von China, Nord-Korea, Nord-Vietnam und den sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa ist mindestens fünfmal so groß wie sämtliche westlichen Alliierten mit Ausnahme der Vereinigten Staaten zusammengenommen; ja, das Verhältnis würde auf eins zu zehn absinken, wenn Großbritannien nicht im Besitze von Atombomben wäre.

Im ganzen gesehen hat also der Wandel im wirtschaftlichen Gleichgewicht eine ziemlich abrupte Veränderung auch des militärischen nach sich gezogen. Darüber hinaus hat diese rapide Verschlechterung im Kräfteverhältnis eine andere unmerkliche Entwicklung nach sich gezogen, die ebenfalls fast ausschließlich von ungünstiger Wirkung ist. Wie schon der erste und der zweite Weltkrieg gezeigt haben, eignet es gewöhnlich den unfreien Gesellschaften, Stärke im Dauerzustand an den Tag zu legen, während die freien Gesellschaften sich dadurch auszeichnen, im Notfall erstaunlich große Reserven mobilisieren zu können. Bei beiden früheren Gelegenheiten wurden die westlichen Alliierten im ersten Anprall des Kampfes in die Enge getrieben und erlitten die entsetzlichsten Verluste, eben weil ihre von vornherein paraten Kräfte sich als unzulänglich herausstellten. Bei beiden früheren Gelegenheiten jedoch gewannen die westlichen Alliierten die Endrunde dank des langsamen Prozesses, in dem sich ihre wirtschaftlichen und personellen Reserven allmählich in „force-in-being“ verwandelten und schließlich ihre endgültige Überlegenheit sich ergab.

Im Zeitalter der neuen Waffen aber sind die klügsten Militärsachverständigen der Anschauung, daß die „force-in-being“, worin die Sowjets in zunehmendem Maße überlegen sind, an relativem Wert zugenommen hat. während die Reserven, an denen die freie Welt noch immer so reich ist, in etwa entsprechendem Maße an Wert verloren haben. Wir dürfen uns deshalb nicht länger darauf verlassen, im Kriegsfall das Kräfteverhältnis verändern zu können, indem wir etwa unsere Automobil-fabriken auf Kriegsproduktion umstellen. Gewiß, die Entscheidung wird möglicherweise oder sogar wahrscheinlicherweise nicht durch einen Krieg herbeigeführt werden. Die Sowjets sind ganz augenscheinlich bemüht, ein überflüssiges Risiko zu vermeiden, und nichts liegt uns ferner als der Gedanke, den Wasserstoffbombenkrieg zu prophezeien. Doch das Zeitalter der absoluten Waffen wird noch durch einen anderen neuartigen Wesenszug bestimmt: bisher konnte eine bedrohte Nation, wenn das Kräfteverhältnis sich allzu besorgniserregend zu ihren Ungunsten zu verändern begann, noch immer einen ver-zweifelten Versuch zur Verteidigung machen und mit einigem Glück und Mut einen solchen Krieg auch gewinnen, selbst wenn die Aussichten anfänglich noch so ungünstig sein mochten. Doch was der in die Enge getriebene Neville Chamberlain noch 1939 tun konnte, wird man im Jahre 1959 nur mit noch viel größerem Widerstreben tun: die Kriegserklärung wäre in solchem Falle gleichbedeutend mit der Verurteilung der Nation, auf der Stelle ausgelöscht zu werden. Paul Nitze *) hat in einem der wichtigsten Aufsätze, die bisher über das Thema der Strategie im Atomzeitalter geschrieben worden sind, darauf hingewiesen, daß heute wahrscheinlich schon die bloße Erlangung der unbestrittenen Luftüberlegenheit die Entscheidung mit sich bringt. Eine Nation, die nur mehr die Kraft hat, den Gegner zu verwunden, wird vermutlich keine andere Nation mehr herausfordern, die im Besitz der neuen, sicheren todbringenden Waffe ist.

So übernimmt offenbar das bloße Kräfteverhältnis heute die Rolle, die im Zeitalter eines Moritz von Sachsen der Kunst des Manövrierens zufiel: der wackere Marschall konnte eine größere Schlacht unter Vermeidung von viel Kanonendonner und Blutvergießen einfach dadurch gewinnen, daß er sich geschieht in den Besitz der vorteilhaften, d. h. höher gelegenen Stellungen zu setzen verstand. Doch leider handelt es sich heute um keine solchen Paradekriege, sondern um die endgültige Auseinandersetzung über die Weltbeherrschung.

1 Unter diesen Voraussetzungen sollte die Lieblingsbeschäftigung des Westens — irgendwelche eingebildeten Schwächen auf sowjetischer Seite zu suchen — endgültig ihr Ende finden. Auch zu irgendwelcher Selbstzufriedenheit angesichts der tatsächlich vorhandenen Schwächen, unter denen das Sowjetsystem — etwa auf landwirtschaftlichem Gebiet — heute noch leidet, gibt es keinen Anlaß. Zunächst einmal sind diese Mängel bedeutend weniger bedrohlich als die bisher nur selten erwähnten Schwächen des Westens, wie sie etwa die wirtschaftliche Abhängigkeit einider Länder, insbesondere Großbritanniens, vom Mittelosten und Fernosten, Gebieten also, die heute in ziemlich unmittelbarer Gefahr sind, darstellt. Andererseits erlauben es die industriellen Fortschritte der Sowjetunion durchaus schon, einen Tauschhandel mit Industrieerzeugnissen und Waffen gegen Nahrungsmittel und Pflanzenfasern mit unterentwickelten Ländern wie Burma und Ägypten zu treiben, wodurch sich für sie nebenbei auch beträchtliche politische Vorteile ergeben. Es hat sich gerade in letzter Zeit sehr deutlich gezeigt, daß ein solcher Austausch in der Zukunft vermutlich innerhalb der weltwirtschaftlichen Beziehungen eine sehr viel prominentere und für uns unbequemere Rolle spielen wird. Und sollte sich die Nahrungsmittelknappheit in der Sowjetunion nicht auf die eine oder andere Weise beheben lassen, so bleibt immer noch der Ausweg, sich der Polizei zu bedienen. Davor sind die Sowjets früher nicht zurückgeschreckt und werden es auch in Zukunft schwerlich tun, solange es sich darum handelt, das dumpfe Grollen derjenigen zu ersticken, die unpatriotischerweise die Wohlfahrt der Bevölkerung an die erste statt an die zweite Stelle rücken.

Das Hauptproblem

Es hat also für uns wahrhaftig die Stunde geschlagen, uns mit unseren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, statt uns der Erörterung sowjetischer Probleme hinzugeben. Was sich uns als Hauptproblem stellt, ist freilich ausgesprochen unerfreulich. Das unfreie System der Sowjets hat uns ad oculos demonstriert, daß es den freien Systemen des Westens an Tüchtigkeit überlegen ist, indem es fähig war, die Stärke der Nation schneller, fester und mit geringeren Mitteln aufzubauen. Die Ironie der Weltgeschichte will es, daß im gleichen Augenblick, da die sowjetische Gesellschaft uns nach ihren eigenen Begriffen ihre Überlegenheit beweist, auch die westlichen Gesellschaften ihre Überlegenheit, nun ihrerseits nach eigenen Begriffen, unter Beweis gestellt haben: in Gestalt des britischen Wohlfahrtsstaates und des amerikanischen Goldenen Überflusses bzw.der allgemeinen westeuropäischen Hoch-konjunktur. Doch die Weltgeschichte kennt leider kein Beispiel einer solchen Auseinandersetzung um die Weltmacht, bei der die eine Partei mit dem Feldgeschrei: „Freie Zahnprothesen für jedermann!“ oder mit ganzen Geschwadern chromblitzender Cadillac-Limou-sinen und Mercedes-Sportwagen gewonnen hätte. Ganz im Gegenteil — die Geschichte lehrt uns recht eindringlich, daß die großen Machtkämpfe wie der, in dem wir uns leider befinden, in letzter Instanz ausschließlich durch nackte Stärke entschieden worden sind. Dabei wird es den Überlebenden einer solchen Auseinandersetzung verhältnismäßig gleichgültig sein, ob diese Stärke wie bisher unmittelbar zum Einsatz kommt oder auf indirektem Wege, wie es im gegenwärtigen Falle wahrscheinlicher ist.

Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt selbstverständlich ziemlich nahe. Die gesamten Hilfsmittel der Vereinigten Staaten und der übrigen westlichen Alliierten sind noch immer unendlich viel größer als die gesamten Hilfsmittel der Sowjetunion und ihrer diversen Satelliten. Das Problem des Westens beruht allein auf dem Gebrauch, den die westlichen Nationen von ihrem großen Reichtum machen. Könnten sie sich dazu entschließen, wesentlich mehr für die nationale Verteidigung auszugeben — und noch bedeutend mehr für Erziehung und Ausbildung —, könnten sie sich auch nur zu den beschei-

dendsten Maßnahmen entschließen, um der Vergeudung ihrer nationalen Kräfte und Mittel zu steuern und die ganze Struktur der allgemeinen Investitionen etwas knapper und straffer zu halten, so würde das allein völlig ausreichen, um den Zeitplan abzuändern und alle in diesem Aufsatz gezogenen Schlußfolgerungen auf den Kopf zu stellen.

Die Frage ist nicht, ob wir das zu unserem Überleben Erforderliche tun können, sondern ob wir es tun wollen. Um zu dieser Bereitschaft zu gelangen, ist ein Maß an Offenheit vonnöten, wie es von unseren demokratischen Führern nur ungern aufgebracht wird, und ebenso ein Maß an Selbstverleugnung, das bei den freien Völkern, denen man lange genug eingeredet hat, die Erfüllung aller Wünsche als den vorteilhaftesten Kurs zu betrachten, schwerlich eine begeisterte Aufnahme finden wird. Wenn wir aber das Erforderliche tun, so besteht nicht der geringste Zweifel darüber, daß die freien Gesellschaften im Wettbewerb mit der unfreien sowjetischen Gesellschaft bis zum jüngsten Tag friedlich koexistieren können, oder jedenfalls bis zu dem Tage, an dem die oft zitierten sittlichen Kräfte das eiserne Sowjetsystem zwingen werden, sich in irgendeiner heute noch nicht absehbaren Richtung zu verändern bzw. längs einer heute noch nicht erkennbaren Nahtstelle auseinanderzubrechen.

Im anderen Falle aber wird die hier geschilderte Entwicklung weitergehen und sich vermutlich beschleunigen, bis die Geschichte ihr endgültiges Urteil gesprochen hat, ein Urteil, das möglicherweise für die altmodischen Anhänger der Freiheit außerordentlich hart ausfallen wird.

Fussnoten

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