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Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich | APuZ 33/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 33/1956 Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich

Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich

WALTER A. BERENDSOHN

Fortsetzung und Schluß

Abbildung 2

Jüdischer Widerstand Vom 10. November 1938 an, nach der Niederbrennung der jüdischen Gotteshäuser, steigerte sich der Feldzug gegen die Juden im Dritten Reich zu immer größerer Heftigkeit. In der Wochenschrift „Aufbau“, New York, kann man von Jahr zu Jahr mit erneuter Erschütterung die Panik unter den mitteleuropäischen Juden und das Entsetzen der ganzen Welt nacherleben. Es kamen große Hilfsaktionen zustande, um zu retten, was zu retten war, um die Flüchtlinge nach Übersee zu bringen und sie für die allererste Zeit zu versorgen. Daran beteiligten sich viele große Organisationen. Auch die Länder berieten auf der Konferenz von Evian; aber die Aufgabe, Millionen Juden aus dem Machtbereich Hitlers zu befreien, war während des zweiten Weltkriegs unlösbar. So konnte Adolf Hitler seinen Feldzug planmäßig durchführen und etwa sechs Millionen Juden vernichten. Zugleich aber schweißte er die überwiegende Mehrheit der Juden rings um den Erdball zu einer vorher nicht gekannten opferwilligen Schicksalsgemeinschaft zusammen. Es wurden und werden noch immer Riesensummen gesammelt, um der großen Not zu begegnen und die jüdische Zukunft zu sichern. Das alles ist genugsam bekannt.

Abbildung 3

Aber weniger bekannt ist, daß das wachsende jüdische Gemeinwesen in Palästina nach 1938 350 junge auserlesene Menschen in den Machtbereich Adolf Hitlers entsandte, um den gefährdeten Juden zu Hilfe zu kommen und so viele wie möglich zu retten. Sie wurden z. T. von Flugzeugen mit Fallschirmen abgesetzt. Manche fielen der Gestapo in die Hände und wurden umgebracht. Andere setzten sich mit der Untergrund-und Widerstandsbewegung in Verbindung und nahmen am Kampf gegen das Dritte Reich teil.

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Diese wagemutigen jungen Menschen waren es auch, die in Polen und Litauen unter den in Lagern und Stadtvierteln eingepferchten Juden Aufstände entfesselten, den größten im Ghetto von Warschau im Frühjahr 1943. Ein Tagebuch von Miriam Berg wurde im „Aufbau New York vom 13. Oktober 1944 bis 19. Januar 1945 abgedruckt, auch ein deutscher Kriegsbericht über die letzte Schlacht vom 19. April bis 16. Mai, Bericht des SS-Führers Strümp, Generalmajor, an General Kriger, SS-und Polizeiführer in Krakau, am 11. Januar 1946.

Schon 1944 plante der Freie deutsche Kulturbund in Stockholm eine Aufführung der symphonischen Dichtung von Hans Holewa „Bericht aus dem Warschauer Ghetto“, zu der er selbst den Text gedichtet hatte. Arnold Schönberg hat seither dasselbe Thema für eine seiner Kompositionen gewählt.

Aber es gibt noch mehr Dichtungen, die sich mit dem Untergang der Juden in Polen beschäftigen und sie für die Nachwelt festhalten. Hermann Adler, der selbst zur kleinen Schar der aus Warschau Geretteten gehört, hat folgende Werke veröffentlicht:

Gesänge aus der Stadt des Todes (zuerst im Warschauer Ghetto, dann in Budapest gedruckt), Zürich 1945.

Balladen der Gekreuzigten, der Auferstandenen, der Verachteten, Zürich 1945.

Ostra-Branta, indisches Epos, eine Legende aus der Zeit des großen Unterganges, Zürich 1946.

Adler erhielt den Ehrenpreis der Stadt Zürich für diese Dichtungen.

Ich nenne noch:

Jacob Knoller, New York, Die Schlacht int Warschauer Ghetto, (gedruckt?)

Ernst Sommer, Revolte der Heiligen, Mexico 1944.

Max Zweig, Der Aufstand in Warschau (ungedruckt).

Weitaus die bedeutendste Leistung bilden, soweit ich sehe, die Dichtungen von Nelly Sachs, Stockholm:

In den Wohnungen des Todes, Berlin 1947.

Sternverdunkelung, Amsterdam 1949.

Eli, ein Mysterienbeispiel vom Leiden Israels, Stockholm 1951.

Auch in ihren ungedruckten Dichtungen klingt das ungeheure Motiv noch nach.

Verstärkung der humanistischen Front Die ungestüme Aggressivität Adolf Hitlers von 1938 an erregte die ganze Welt viel tiefer, als er annahm, und rief eine unerwartet mächtige Koalition gegen ihn hervor. Er hatte in „Mein Kampf“ Frankreich als den Todfeind Deutschlands bezeichnet, der niedergerungen werden, und die Sowjetunion als den Gegner, von dem das erforderliche Bauernland mit dem Schwerte geholt werden müsse; aber England sollte auf dem Wege zur stärksten Landweltmacht zunächst Bundesgenosse sein. In diesem entscheidenden Punkte versagte seine „Diplomatie“: England erklärte ihm schon am 3. September 1939 den Krieg, und dies zog später die Vereinigten Staaten von Amerika mit in das Völkerringen hinein. Er verachtete diese Demokratien und hielt sie für völlig unfähig zu solchen militärischen Entschlüssen und Leistungen. Er begriff die Idee politischer Freiheit nie. Auf dem Hintergründe dieses Staaten-bundes gegen Hitler verfestigte sich die humanistische Front der Emigranten.

Ebenso gespannt wie gebannt folgten die Emigranten aus dem Dritten Reich jedem neuen Gewaltakt Adolf Hitlers. Sehr viele traten in die Armeen Frankreichs, des britischen Imperiums, der Vereinigten Staaten und anderer Länder ein, um ihn mit den Waffen in der Hand zu bekämpfen. Für die Juden war dies die natürliche Reaktion gegenüber dem Todfeind. In Palästina z. B., damals englisches Mandat, meldeten sich fast alle waffenfähigen Männer und erwarben so im zweiten Weltkrieg die Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie später beim Aufbau des neuen Staates Israel anwenden konnten. Aber auch nichtjüdische Emigranten kämpften gegen das Dritte Reich, um Deutschland vom Diktator zu befreien.

Rundfunksendungen Die kriegführenden Regierungen, die in der Zeit bis zum Kriegsausbruch 1939 die Warnungen der deutschen Emigranten nicht hören wollten, erkannten nun, daß sie in ihnen natürliche Bundesgenossen hatten und fügten sie auch in ihren Propagandadienst ein. Hier sind vor allem die deutschen Rundfunksendungen zu nennen. Frankreich hatte schon früher das Beispiel gegeben und deutsche Emigranten im Straßburger Sender vom Frühjahr 1936 an beschäftigt. 1938 begann der englische Rundfunk mit seinen deutschen Sendungen. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge lieferten deutschsprechende Engländer. Die der deutschen Emigranten wurden in den englischen Rahmen eingefügt, soweit sie ihnen tauglich erschienen. Die beiden Hauptsprecher waren Karl Anders und Eberhard Schütz; im kulturellen Teil leistete Heinrich Fischer die Hauptarbeit. Bruno Adler verfaßte die beiden wirksamen Serien „Frau Wernicke“ und „Kurt und Willi“. Robert Lucas (Ehrenzweig), Österreicher, schrieb die erheiternden Briefe des Gefreiten Hirnschal „Teure Amalia, vielgeliebtes Weib“. (Eine Auswahl erschien unter gleichem Titel im Europa-Verlag, Zürich 1946.) In österreichischen Sendungen war Hans Flesch in bedeutender Weise tätig. Es gab Spezialsendungen für deutsche Katholiken und deutsche Protestanten, für die deutsche Wehrmacht, für deutsche Seeleute und für die Arbeiter. Nicht dem britischen Rundfunk, sondern dem Auswärtigen Amt unterstand der „Sender der deutschen Revolution“ in dem unter Führung von Waldemar von Knoeringen eine Gruppe deutscher Emigranten, meist Sozialdemokraten, sich an die Opposition im Dritten Reich wandten. Man ließ ihr freie Hand. Als aber 1943 die bedingungslose Übergabe zur Grundlage englischer Politik gemacht wurde, stellte sie ihre Tätigkeit ein.

Der Rundfunk ist in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht einheitlich organisiert wie in den meisten europäschen Ländern, sondern es gibt neben dem Bundessender eine Menge von privaten Sendern, die im allgemeinen von der Reklame der Wirtschaftskreise leben.

Die offiziellen Propaganda-Sendungen „Hier ist die Stimme Amerikas“, 20 täglich, fügten, ähnlich wie die englischen, die Leistungen deutscher Emigranten in ihr amerikanisches Programm ein. Die übrigen deutschen Sendungen waren nicht für die Hörer im Dritten Reich, sondern für die deutschen Emigranten und vor allem für die Deutsch-Amerikaner bestimmt. Im Herbst 1942 wurde z. B. eine Sendung „We fight badz“ begonnen, die über neun Sender u. a. New York, Cincinnati, Chicago, Minnesota, Milwaukee, Philadelphia und St. Louis erreichte, also gerade die Städte mit starkem deutsch-amerikanischen Einschlag, unter Leitung von Ernst J. Aufricht und Manfred George (vom „Aufbau“); an ihr beteiligten sich die besten Kräfte der literarischen und politischen Emigration. Es galt, den sehr aktiven Nazisten entgegenzutreten.

Zeitweilig waren es vier verschiedene Sender, die deutsche Programme brachten, für die Emigranten u. a. Hörspiele schufen z. B.:

Hans Altmann, Die Nadtt zum 14. November, (Erschießung I Prager Studenten durch die Nazi).

Hans Altmann, Mene Tekel, (Religionsverfolgung im Dritten Reich).

Peter Martin Lampel, Die Sdtulzes von Yorkville, (ein fortlaufendes Hörspiel).

Walter Mehring, Der Freiheitssender.

Albert Rudolf, Kraft durdi Feuer.

Hans Sahl, Urlaub vom Tod.

Franz Werfel, Abschied von Wien.

Thomas Mann Von Amerika aus über den englischen Rundfunk hielt Thomas Mann seine Ansprachen an die Deutschen (Deutsche Hörer! 5 5 Radiosendungen nach Deutschland von Thomas Mann, Stockholm 1945). Es ist meiner Erinnerung fest eingeprägt, als wäre es gestern gewesen, daß wir, ein kleiner vertrauter Kreis deutscher Emigranten im Oktober 1940 zum ersten Male seine Stimme vernahmen, die durch den Äther von Kalifornien zu uns ins besetzte Dänemark kam. Er war nicht mehr der überlegene Vorleser aus seinen eigenen Werken, der seine Stimme auf den Wellen seiner ironisch gefärbten Prosa wiegen ließ, er war nun ein zorniger Prediger, der zum Gewissen des deutschen Volkes sprach. Nur eine einzige Stelle will ich anführen, aus der Sendung vom Mai 1941, als die Heere des Dritten Reichs Griechenland niederwarfen: „Ist die Brust Eudt von Stolz geschwellt? Von Stolz worauf? Ein Grieche steht gegen sechs oder sieben von Euch. Daß er es wagt, daß er den Engpaß der Freiheit mit seinem Leibe deckt, ist erstaunlidt, — nidit, daß Ihr siegt. Ist Eudt ganz wohl bei der Rolle, in die das Spiel der Gesdtidite Eudt drängt, — wenn nun das Menschheitssymbol der Thermopylen an Ort und Stelle sidt wiederholt? Die Griedten sinds wieder — und wer seid Ihr?

Eure Gewalthaber haben Eudt eingebläut, die Freiheit sei ein veralteter Plunder. Glaubt mir, die Freiheit ist immer noch — sie wird, unberührt von allem Geschwätz der Philophaster und allen Launen der Geistesgesdtidite, ewig dasselbe sein, was sie vor zweitausend und etlichen Jahren war: das Licht und die Seele des Abendlandes; und die Liebe, der Ruhm der Gesdtichte wird denen gehören, die für sie starben, nidtt denen, die sie mit Tanks in den Grund walzten!

Die Freiheit ist das Licht und die Seele des Abendlandes. Mit solchen und ähnlichen unvergeßlichen und unvergänglichen Wortprägungen wurden Thomas Mann und andere Männer (ungewählt) zu Wortführern der humanistischen Front in der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich. Sie trugen viel zur Verstärkung und Verfestigung des geistigen Widerstandes rings um das Dritte Reich bei. Gerade Thomas Mann nahm die Verpflichtungen, die ihm seine führende Stellung auferlegte, sehr ernst. In allen fünf Erdteilen, in der gesamten Emigrantenpresse, ja, auch in den Händen einzelner Emigranten-Schriftsteller finden sich zahlreiche Zeugnisse dafür, Aufsätze, Glückwünsche zu Gedenktagen, Nachrufe, Rezensionen deutscher Bücher, ermunternde und zustimmende Briefe.

Der zehnte Jahrestag der Bücherverbrennungen Die zehnte Wiederkehr des Tages der Bücherverbrennungen im Dritten Reich, der 10. Mai 1943, gab den Vereinigten Staaten von Amerika eine willkommene Gelegenheit, um in eindrucksvoller Weise ihre Achtung vor der deutschen und europäischen Literatur und der geistigen Welt des Buches zu bekunden. Franklin D. Roosevelt, stets wachsam für das Wesentliche, sagte:

„Wir alle wissen, daß Bücher brennen, aber wir wissen audt, daß kein Buch durch Feuer völlig vernichtet werden kann. Völker sterben, aber Bücher nicht. Kein Mensch und keine Gewalt kann die Erinnerung abschaffen. Kein Mensch und keine Gewalt kann den Gedanken für immer in ein Konzentrationslager einsperren. Kein Mensch und keine Gewalt kann der Welt die Bücher nehmen, die den einigen Kampf der Menschen gegen Tyrannei jeder Art verkörpern. Wir wissen, in diesem Krieg sind Bücher Waffen. Und so ist ein Teil ihrer Bestimmung, sie immer zu Waffen für die Freiheit der Menschen zu brauchen.“ Am 10. Mai 1943, 12 Uhr mittags, sanken in etwa 300 großen Bibliotheken die Flaggen auf Halbmast und überall fanden Feiern statt, bei denen bedeutende Dichter und Denker für die Freiheit des Geistes eintraten. Eine Liste der im Dritten Reich verbrannten und verbannten Bücher wurde an 30 000 Bibliotheken, an Universitäten, Colleges, Schulen und Buchhandlungen verteilt. Ein künstlerisches Plakat wurde in großem Format versandt und an öffentlichen Gebäuden angebracht, außerdem in großen Massen als Postkarte verbreitet: Randi und Flammten aus dem Scheiterhaufen der Büdter ersticken den Feind des Geistes Adolf Hitler/ Der Rundfunk trug viel zu diesem Gedenktag bei: Ein Hörspiel von Stephan Vincent Bennet „They burned the Books“ von den besten Schauspielern wie z. B. Paul Muni gespielt, wurde durch den Äther zu Millionen Hörern getragen. So gedieh der 10. Mai zu einem großen Kampftag für die Kultur. Der Zusammenhang der deutschen Emigranten-Literatur mit dem geistigen Leben der Welt, für den es unzählige Beweise gibt, wurde an diesem Tage weithin sichtbar.

Internationale Zusammenarbeit der Schriftsteller In der ganzen Zeit von 1933— 1945 entstanden zahlreiche Beziehungen zwischen den emigrierten Schriftstellern aus dem Dritten Reich mit denen der Gastländer. Während des zweiten Weltkrieges wuchs die Zahl der Übersetzungen der Emigranten-Bücher. Zwischen den literarischen deutschen Emigranten und den übrigen europäischen aus dem Machtbereich Adolf Hitlers knüpften sich mannigfache Fäden, besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es kam zu lebhaftem Verkehr. zu Zusammenschlüssen, zu gemeinsamen Manifesten und Publikationen. Ich führe nur eine einzige an:

The ten Commendments, edited by Armin L. Robinson, preface Hermann Rauschning. Ten short novels of Hitlers war against the moral Code, New York 1944. Es enthält Beiträge von Thomas Mann (deutsch Das Gesetz, Stockholm 1944), Rebecca West, Franz Werfel, John Erskine, Bruno Frank, Jules Romains, Andre Maurois, Sigrid Undset, H. W. van Loon, Louis Bromfield.

Der PEN-Klub ist der bekannteste internationale Zusammenschluß der Schriftsteller. Seine mannigfaltige Wirksamkeit in der Hitler-Zeit verdient besondere Beachtung.

The Wiener Library, London The Wiener Library, von Alfred Wiener von Berlin zunächst nach Holland gebracht, dann nach London überführt, wurde allmählich ausgebaut zur wohlausgerüsteten Forschungsstätte über das Dritte Reich und alle damit zusammenhängenden Probleme. Sie umfaßt heute 40 000 Bücher und Schriften, viele Zeitungen, Zeitschriften und Zeitungsausschnitte und trägt mit ihrem Material zu zahlreichen Publikationen bei.

Mitarbeit in Kriegsgefangenenlagern Als neue Aufgabe fiel den deutschen Emigranten die Mitarbeit an den Bildungsveranstaltungen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern der Alliierten zu, vor allem im britischen Commonwealth und in den Vereinigten Staaten.

Chefredakteur der Kriegsgefangenenzeitung „DieWodtenpost“ 1941— 1942 und 1944— 1948 war Bernhard Reichenbach, und viele deutschen Schriftsteller aus aller Welt lieferten Beiträge. Zur intensiven Bildungsarbeit in den Lagern wurden Fachleute aus der deutschen Emigration gern herausgezogen auf den Gebieten der deutschen und englischen Geschichte, Volkswirtschaft, Staatsbürgerkunde, Presse, Kunstgeschichte, Literatur und dergleichen.

In Wilton Park schuf man das vielgerühmte Bildungszentrum, in das wechselnde Gruppen von Kriegsgefangenen (später auch Gruppen aus dem besetzten Deutschland) für sechs Wochen ausgenommen wurden. Die Leitung hatte der Historiker Heinz Koeppier. Eine Anzahl deutscher Emigranten wirkten mit. Manche Vorträge bildeten dann die Grundlage zu deutschen oder englischen Publikationen der deutschen Emigranten. Über den Unterricht hinaus kam es zwischen Hunderten von deutsch-jüdischen Emigranten, die als Angehörige des englischen Heeres zur Lagerverwaltung und -bewachung gehörten, und den deutschen Kriegsgefangenen aus dem Dritten Reich zu persönlichen Beziehungen, die wahrscheinlich ebenso viel zum Abbau der nationalsozialistischen Ideologie beigetragen haben als die theoretische Aufklärung.

In den Lagern erschienen viele teilweise recht inhaltsreiche Lager-zeitungen, überwiegend von den Insassen selbst geschrieben, redigiert und vervielfältigt, seltener gedruckt, die Beachtung verdienen. Es ist charakteristisch, daß sich in ihnen auch Niederschläge der im Dritten Reich verpönten deutschen Emigranten-Literatur finden.

Das Wunder von Fanara Im Vorderen Orient waren 18 Lager mit ungefähr 90 000 deutschen Kriegsgefangenen untergebracht. Im Lager 307 (später 380) in Fanara in der ägyptischen Wüste mit 10 000 Insassen wirkte als Bildungsoffizier des englischen Heeres etwa zwei Jahre lang 1946— 1948 der Kinderarzt Dr. med. et phil. Adolf Sindler, früher Düsseldorf, jetzt Haifa. Von seiner Arbeit soll hier beispielsweise berichtet werden.

Da sowohl die englischen Lagerverwaltung als auch die deutschen Kriegsgefangenen in ihrer Mehrheit bald das Vertrauen zu ihm faßten, konnte er mit tatkräftiger Unterstützung und Mitarbeit von beiden Seiten eine vielumfassende, weit und tief wirkende Bildungsarbeit aufbauen und mit intensivem geistigen Leben erfüllen. Er schloß jede parteipolitische Propaganda aus. Überall wurden demokratische Arbeitsgemeinschaften gegründet, in der alle die Möglichkeit hatten, in völlig freier Aussprache, ihre Gesinnungen zu äußern und ihre Kenntnisse auszutauschen. Daraus entstand Das demokratisdie Abc, bestehend aus etwa 30 Vorträgen über alle Aspekte politischer und soziologischer Entwicklung in der Geschichte. „Du bist politischer Analphabet, wenn Du den Inhalt dieser Vorträge nidit beherrsdist“ wurde dann zum Motto der Aufklärungsarbeit.

Es galt u. a. die Untaten des Dritten Reichs ins Bewußtsein zu heben und zugleich den Glauben an den Wiederaufbau der Persönlichkeit jedes einzelnen Deutschen und des deutschen Volkes einzuprägen.

Als im Frühjahr 1946 eine Reihe von Selbstmordversuchen vorkam, sandte Sindler eines seiner Rundschreiben aus, in dem er die Kriegs-gefangenen für das Leben ihrer gefährdeten Kameraden verantwortlich machte. Er hatte überhaupt in allem, was er sagte und schrieb, den Mut, Moral zu lehren und zu fordern. Er richtete eine Beratungsstelle ein, wo jeder Kriegsgefangene mit seinen persönlichen Nöten zu ihm kommen konnte. Vorliegende Zeugnisse beweisen, daß er viele vor Irrsinn und Selbstmord gerettet hat.

Sindler hatte immer neue Einfälle, um aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Die geringe Zahl der verfügbaren Zeitungen und illustrierten Zeitschriften brachte ihn auf die Idee, in einem Wettbewerb Litfaßsäulen schaffen zu lassen für Wandzeitungen mit Bilderschau. Die geringe Zahl der Bücher war für ihn der Anlaß, Lesegemeinschaften zu organisieren, in denen der Inhalt erzählt, die besten Stellen vorgelesen, das Ganze gründlich diskutiert wurde.

Er gab eine Anzahl Schriftenserien heraus, die größtenteils von den Kriegsgefangenen selbst verfaßt wurden.

Warner und Künder, Sdiriftenreihe zur deutschen Selbstkenntnis, 50 Seiten, bis 1000 Exemplare, 9 Folgen.

Bausteine zur Wahrheit, meist über Ereignisse im Zusammenhang mit dem Dritten Reich, 80 Seiten, bis 1000 Exemplare, 8 Folgen.

Gott und das All, Studien für reine Religion und Weltansdiauung.

Anglikana, Auslese aus Veröffentlichungen deutscher Kriegsgefangener in England.

Die Heimat in der Wüste an die Wüste in der Heimat, Sendbriefe Kriegsgefangener.

Dazu Zeitungen und periodische Zeitschriften: Tägliche Rundschau, 1— 2 Seiten, 650 mal 1000 Exemplare.

Der wirklich demokratische Staatsanzeiger, Organ der Regierung Utopia. Jugend, Zeitschrift für Jugend iw Uwbrudi.

SMewihl, Scherz, Satire und tiefere Bedeutung.

Mensch und Wissenschaft Wissenschaft, Technik, Forschung, Entdeckung. Der Pflug, Zeitschrift für kriegsgefangene Offiziere.

Die Kunst, Musik, Malerei, Theater.

Mädchen und Frau, Zeitung im Dienste der Frauenehre. Gegenwart, Aktuelles aus unserem Leben.

Wort und Ton, Funkzeitschrift, 10 Seiten, 600 Exemplare, 75 Nummern. Tribüne, Literarische Zeitsdtrift, Literatur, Kunst, Wissenschaft und Politik, dieses Blatt begann mit 4 und wuchs schließlich auf 200 Seiten an. Es kamen Sondernummern heraus, die Victor Hugo, Shakespeare, Oscar Wilde, Heine, Beethoven, Rathenau, Arnold Zweig und F. S. Großhut (damals Haifa, jetzt New York) gewidmet waren. Von deutschen Emigranten waren F. S. Großhut, Adolf Sindler und Arnold Zweig Hauptmitarbeiter, gelegentlich Martin Buber, Ernst Simon und Otto Zarek.

Im Verlag, der u. a. alle diese Publikationen vervielfältigt herausgab, waren schließlich 150 Kriegsgefangene voll beschäftigt, dazu 500 freiwillige Helfer.

Vom Lager 307 wurden zunächst die nahe liegenden Lager mit Vorträgen und Bildungsmaterial, versorgt, dann die deutschen Kriegsgefangenen im ganzen Nahen Osten beeinflußt.

Für die Jugend wurde regelmäßiger Schulbesuch durchgeführt. Es gab Theater, Konzerte, Filmvorführungen, Vorträge, Kurse.

Das Lager, das anfangs als besonders nazistisch und widerspenstig galt, war schon nach kurzer Zeit wie umgewandelt. Ein einziger tatkräftiger Träger deutscher Humanität zeigte, wieviel zu erreichen ist, wenn man sich an die guten Kräfte in jedem Menschen wendet.

Adolf Sindler verschwieg nie, daß er Jude ist. Seine 80-jährige Mutter ermutigte ihn zu dieser Arbeit, die den Sohn noch so lange nach Kriegsende von ihr fernhielt. Ich habe über die Wirksamkeit Sindlers in einem Aufsatz „Das Wunder von Fanara“ in der Allgemeinen Wochenzeitung, Düsseldorf, berichtet.

Gefangenenlager in den Vereinigten Staaten Nach den Vereinigten Staaten kamen während des zweiten Weltkriegs etwa 400 000 deutsche Kriegsgefangene. Solange in Europa gekämpft wurde, tat die amerikanische Regierung wenig, um sie zu beeinflussen. Am 4. Februar 1944 schrieb S. Aufhäuser einen Artikel „Soll man die Kriegsgefangenen erziehen? Eine bisher verpaßte Gelegenheit", der zu lebhaften Diskussionen führte. Offenbar herrschten in manchen Lagern Nationalsozialisten, Gegner wurden terrorisiert, ja, es kamen sogar Fememorde an Antifaschisten vor. Schließlich griff die Regierung ein. Dann entwickelte sich auch in den amerikanischen Lagern eine ähnliche kulturelle Arbeit wie in denen des britschen Commonwealth. Es erschienen 50 Lagerzeitungen der Insassen.

Die Amerikaner richteten mancherlei Kurse ein, z. B. im Fort Eustis, wo Captain Moulton, Professor der Harward Universität, Cambridge Mass., und im Camp von Etten, wo Lieutnant-Colonel T. V. Smith, Professor aus Chicago, der beliebte Leiter war; aus seiner Arbeit ging die Zeitschrift „Der Ruf“ hervor. Von ausgewählten Kriegsgefangenen redigiert, wurde sie vom März 1945 bis April 1946 herausgegeben, am Ende in 75 000 Exemplaren.

Man versah die Lagerinsassen auch mit deutschen Büchern. U. a. lieferte der Bermann-Fischer-Verlag mit Zustimmung der Regierung eine Serie von 24 Büchern „Neue Welt“, je in einer Auflage von 10 000 Exemplaren, die zu 25 cts verkauft wurden. Andere Verleger veröffentlichten Nachdrucke wichtiger deutscher Unterrichtsbücher für die Lager-kurse.

Am 1. Oktober 1945 veranstaltete der Verlag Bermann-Fischer einen literarischen Wettbewerb unter den Kriegsgefangenen, der in der Zeitschrift „Der Ruf“ veröffentlicht wurde. Den ersten Preis von 3000 RM erhielt Walter Kolbenhoff (früher Emigrant in Dänemark) für seinen Roman „Non unserem Fleisch und Blut.“

Mitarbeit in den Flüchtlingslagern in Dänemark Nicht lange vor dem Zusammenbruch 1945 hatte Adolf Hitler noch den Einfall, etwa 250 000 Ostflüchtlinge, überwiegend Frauen, Kinder und Greise, nach Dänemark zu schicken und dort meist in Schulen und öffentlichen Gebäuden einzuquartieren. Die meisten ahnten gar nicht, wie feindlich das Land gesinnt war. Manche benahmen sich wie zahlende Feriengäste und kauften die Läden leer, andere meinten, daß der „Führer" ihnen das Land „geschenkt“ hätte und traten anmaßend auf. Sie vermehrten die Plage der Besatzung erheblich. Nach Abzug der fremden Soldaten und Behörden, richtete sich die jahrelang aufgespeicherte Erbitterung der Bevölkerung zunächst gegen diese höchst unwillkommenen „Besucher“. Die deutschen Flüchtlinge wurden in unzulängliche Quartiere hinter Stacheldraht gesetzt. Man versuchte, sie so schnell wie möglich loszuwerden, was am Widerstand der Besatzungsmächte in Deutschland scheiterte.

Aber bald setzte sich in Dänemark trotz Deutschenhaß eine humane Auffassung durch, und man bemühte sich, den 250 000 Eindringlingen ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen. Unter beträchtlichen finanziellen Opfern setzte die Regierung eine Verwaltung der deutschen Flüchtlingslager ein, die bald deutsche Emigranten zur Mitarbeit heranzog „Deutsche Nachrichten, Zeitung für deutsche Flüclrtlinge in Dänemark,“ vorher ein Monatsblättchen in 3000 Exemplaren, wurde zu einem Wochenblatt ausgestaltet und in 20 000 Exemplaren in den Lagern verbreitet. Es gab den Lagerinsassen einen Überblick über die wichtigsten politischen Ereignisse, besonders in Deutschland. Das deutsche Kulturerbe kam in zahlreichen humanen und freiheitlichen Stimmen zur Geltung, auch daheim gebliebene Vertreter des Anderen Deutschland, dazu die Emigranten-Literatur, z. B. wurde Alfred Neumanns Roman „Es waren ihrer sechs“ abgedruckt. Dem Jahrgang 1946 gab Hans J. Reinowski (jetzt Chefredakteur des Darmstädter Echo') das Gepräge. Er steuerte als Hans Reinow zahlreiche Gedichte bei, er schrieb viele Leitartikel und als Joachim Spatz den regelmäßigen „Wochenschwatz“, durch den er mit den Flüchtlingen in regen Meinungsaustausch geriet. Im Jahrgang 1947 lieferte Karl Raloff die meisten Leitartikel.

Auch am Auf-und Ausbau einer intensiven Bildungsarbeit in den Lagern waren deutsche Emigranten stark beteiligt. Es galt, die Flüchtlinge zur Selbsthilfe zu aktivieren. Rundfunk und Film wurden herangezogen, musikalisches Leben geweckt, Theatergruppen gebildet und eine umfangreiche Vortrags-und Unterrichtstätigkeit, diese besonders für Kinder und Jugendliche, eingerichtet. Das alles spiegelt sich in den Deutschen Nachrichten.

Im Sommer 1948 befanden sich noch etwa 60 000 Deutsche in den dänischen Lagern, erst gegen Ende des Jahres verließen die letzten das Land *). Mitarbeit beim Wiederaufbau Deutschlands Was in den Kriegsgefangenen-und Flüchtlingslagern geschah, wiederholte sich im großen Stil im besetzten Deutschland. Die amerikanischen, englischen und französischen Behörden bedienten sich zahlreicher früherer deutschen Emigranten, die inzwischen Staatsbürger und Offiziere in den Gastländern geworden waren, weil sie diese Menschen für besonders tauglich hielten auf Grund ihrer Sprach-und Fachkenntnisse und ihrer Vertrautheit mit den deutschen Verhältnissen. Hiergegen ist viel Kritik geübt worden. Aber alle einsichtigen Deutschen stimmen darin überein, daß diese Männer die Reibungsflächen mit den Besatzungen vermindert, manchen Schaden verhütet und im Ganzen eine gute Arbeit für ihre alte Heimat getan haben. Da sich diese Ereignisse in Deutschland selbst abgespielt haben, bedarf es hier nur dieses Hinweises.

Das Ende der humanistischen Front

Wer meiner Darstellung bis hierher aufmerksam gefolgt ist, wird beobachtet haben, daß ich die Entstehung der humanistischen Front nicht direkt und allein aus der Idee der Humanität der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgeleitet habe, sondern aus der Errichtung des Dritten Reichs, das sie völlig außer Geltung setzte und gerade dadurch den Verfolgten und Vertriebenen ins Bewußtsein hob, so daß sie das große deutsche Erbe in sich selbst um so stärker erlebten und an ihm festhielten. Nur rings um die Schreckensherrschaft Hitlers konnte sich diese humanistische Front bilden. Seine gewalttätigen Aktionen im Innern des Reichs, seine kriegerische Außenpolitik schuf und verstärkte sie. Sie lebte in allen fünf Erdteilen vom Gegensatz zu seiner Brutalität. Sie ließ die Humanität als Leitstern im geistigen Leben der deutschen Emigration stark aufleuchten, stärker als zuvor in der Heimat. Das Andere Deutschland lag gefesselt und verstummt am Boden. Draußen pries man die Freiheit und kämpfte für sie.

Aber mit dem Tode Adolf Hitlers und dem Zusammenbruch des Dritten Reichs im Frühjahr 1945 näherte sich rasch ihre Auflösung im buchstäblichen Sinne. Im Laufe des Jahres 1946 kehrten viele der aktivsten politischen Emigranten zurück, die einen nach Ost-, die anderen nach Westdeutschland, noch andere nach Österreich, während den Sudetendeutschen keine Heimkehr beschieden war. Die Mehrzahl der deutschen Emigranten-Zeitschriften ging um die gleiche Zeit ein, eine Menge der Vereinigungen aller Art ebenfalls. Die Franzosen, Engländer und Amerikaner suchten und fanden unter den Emigranten eine Anzahl Journalisten, denen sie Zeitungs-oder Zeitschriftenlizenzen zur Demokratisierung der öffentlichen Meinung anvertrauten. Der Verlag Bermann-Fischer wanderte von Stockholm nach Amsterdam und rückte damit Deutschland näher; dann ließ er sich in Frankfurt a. M. nieder und nahm den alten Namen S. Fischer wieder an. Die Verleger im Ausland, die sich der deutschen Emigranten-Literatur angenommen hatten, verminderten rasch ihre Veröffentlichungen und stellten sie bald ganz ein.

Die Bücherproduktion in West-und Ostdeutschland und auch in Österreich setzte im Jahre 1945 wieder ein und nahm bald einen ansehnlichen Umfang an. In Berlin fand im Sommer 1947 eine deutsche Buchausstellung der Verleger-und Buchhändlervereinigungen statt, zu der ein Katalog mit etwa 5000 Neuerscheinungen von Mitte 1945 bis Mitte 1947 heraus.

Entscheidend für diese Betrachtung ist, daß sich darunter, so weit ich sehe, schon wieder 40 deutsche Emigranten-Schriftsteller mit 75 Titeln finden. Es handelt sich um Erst-und Nachdrucke von Werken lebender und im Exil verstorbener, heimgekehrter und draußengebliebener deutscher Emigranten. Diese Geneigtheit, die deutsche Emigranten-Literatur in die heimische Bücherproduktion wieder aufzunehmen, ist seither eher stärker als schwächer geworden. Die im Jahre 1933 gespaltete deutsche Literatur fließt um die Jahreswende 1946/47 äußerlich wieder im gleichen Strombett, die Bücher der beiden Lager, der Emigranten und der Daheimgebliebenen, erscheinen nebeneinander bei den gleichen Verlegern, liegen in den gleichen Buchhandlungen aus, stehen in den gleichen öffentlichen und privaten Bibliotheken. Die Spannungen und Gegensätze mögen noch einige Zeit bestehen bleiben. Diese Periode der deutschen Literaturgeschichte ist jedoch abgeschlossen.

Eine Statistik über die Rückwanderung der Emigranten liegt nicht vor. Man darf ihren Umfang nicht überschätzen. Sogar von den politischen Deutschen sind ansehnliche Scharen in ihren Gastländern geblieben. Die Besatzungsbehörden in Westdeutschland waren in vielen Fällen abweisend, und die Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland bis zur Währungsreform 1948 nicht gerade einladend für diejenigen, die sich im Ausland in harter Arbeit eine wirtschaftlich tragfähige Grundlage geschaffen hatten. Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der emigrierten Juden brachte es begreiflicherweise über sich, in das Land der Schrekkensherrschaft der Gestapo zurückzukehren. Wenn also in den Zentren der deutschen Emigration das deutsche geistige Leben, das nach 1938 entstanden ist, noch weiter blüht, so sind die deutschsprechenden Juden die Träger und das Publikum, z. B. in New York, Buenos Aires, Monte-video, Rio de Janeiro und anderen Großstädten. Aber es ist vorauszusehen, daß es in den meisten Städten mit der emigrierten Generation zusammen erlischt, wenn nicht ganz besondere Umstände es länger am Leben erhalten.

IIL Produktivität der deutschen Emigration

Abbildung 1

Deutsche Literatur ein kleiner Teil der Produktivität Es ist nicht ganz leicht einen Gesamtüberblick der überaus reichen und mannigfaltigen Produktivität der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich zu geben. Die Fülle und Vielgestaltigkeit des deutschen geistigen Lebens dieser Emigranten beweist schon, wieviele qualifizierte Begabungen damals die Heimat verlassen haben. Die deutsche Emigranten-Literatur ist von der ganzen Kulturwelt als die repräsentative Literatur anerkannt. Eine kurze Überlegung muß aber klarmachen, daß die Leistungen in deutscher Sprache nur einen sehr kleinen und für die Gesamtheit der Emigration unwesentlichen Teil der Produktivität ausmachen. Für die Masse der Emigranten war ja nur eine tragfähige Lebensgrundlage zu gewinnen, wenn sie sich dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Gastländer so rasch und so rückhaltlos wie möglich einzufügen trachteten. Diese Leistungen aber sind sehr schwer aus dem Produktionsgeflecht der Aufnahmeländer herauszulösen und ihrem ganzen Umfang nach zu erfassen.

Immerhin gibt es in neuerer Zeit eine Reihe Untersuchungen, aus denen man ein Bild von dem Riesenverlust Deutschlands an Produktiv-kraft gewinnen kann.

Diese Forschung wird dadurch erschwert, daß in fast allen in Frage kommenden Ländern, vor allem nach 1938, nicht nur Flüchtlinge aus Deutschland, sondern aus allen von Hitler besetzten Ländern einwanderten (in Palästina Juden aus allen Erdteilen). Wenn überhaupt, so wird meist über die Produktivität der ganzen Emigration der Zeit berichtet, also der ganzen europäischen Emigration aus dem Machtbereich Hitlers. Doch gibt es eine Anzahl Untersuchungen zu dem hier angeschnittenen Problem aus der Frühzeit des Dritten Reichs.

Berichte aus der Vorkriegszeit Schon im Pariser Tageblatt vom 23. September 1934 schrieb Georg Bernhard einen Leitartikel Morgengabe der Emigration. Weshalb sieht man nur die Last? Er weist darauf hin, daß von den etwa 25 000 deutschen Einwanderern in Frankreich höchstens 2000 bis 3000 noch unterstützungsbedürftig sind. Die meisten übrigen finden ihren Lebensunterhalt durch ihre Tätigkeit und setzen als Konsumenten andere in Arbeit. Aber er führt Holland und England als Beispiele von Ländern an, die bei der Aufnahme weniger liberal waren als Frankreich, entgegenkommender aber bei der Erteilung der Arbeitserlaubnis, mit dem Erfolg, daß die speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Flüchtlinge der heimischen Wirtschaft zugute kommen.

In Holland saß schon 1934 ein großer Teil der Herrenkonfektion, die für den Export Deutschlands von jeher eine besondere Bedeutung gehabt hat. Es wurden dort hundert Betriebe mit mehr als 5 Arbeitern ermittelt, die seit dem 1. April 1933 von deutschen Emigranten errichtet waren. Die Gesamtzahl holländischer Arbeiter, die so direkt oder indirekt Beschäftigung gefunden hatten, wird auf 4 500 geschätzt. LI. a. wurden in Holland Metallwarenfabriken, eine für elektromedizinische Instrumente und für Spezialmeßinstrumente gegründet. Von den neuen Textilindustrien wurden u. a. Waren erzeugt, die Holland vorher nicht fabrizierte, wie Charmeuse, Futterstoffe, Nähseide, gestrickte und gehäkelte Waren. Andere neue Unternehmungen produzierten Kleidungsstücke und Wäsche, Hüte, Pantoffeln und Krawatten. Deutsche Chemiker riefen eine Anzahl chemischer Betriebe ins Leben z. B. für Heilmittel, kosmetische und chemisch-technische Erzeugnisse; ferner wurden Koffer, Lederhandschuhe, Gummistoff-und Gummiartikel, Spielwaren, Kunstblumen u. a. m. erzeugt. Etwas später veröffentlichte die holländische Regierung selbst, daß das Land 9000 Flüchtlinge ausgenommen hätte; diese hätten aber nachweislich 15 000 holländischen Arbeitern neue Beschäftigung verschafft.

England Berichte aus England lassen erkennen, daß sich dort die Produktivität der Einwanderer noch viel reicher entfalten konnte. England hatte bis 1937 nur etwa 5 500 Flüchtlinge ausgenommen, änderte aber von 1938 an seine Fremdenpolitik allmählich und hatte bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges etwa 90 000 Verfolgten aus dem Machtbereich Hitlers Zuflucht gewährt. Am 1. Dezember 1938 erklärte die englische Regierung auf eine Anfrage im Unterhaus, daß 11 000 Flüchtlinge aus dem Dritten Reich im Lande seien, die 15 000 englischen Arbeitern neue Arbeit verschafft hätten. Das Problem der Belastung oder Förderung der englischen Wirtschaft wird daher 1939 in England viel erörtert. The Spectator, London, enthält einen Aufsatz — Refuges and Unemployment, der nachdrücklich auf die Beschäftigung englischer Arbeiter in von Flüchtlingen neu gegründeten Industrien hinweist. Der Pelzhandel und die damit verbundene Pelzbearbeitung z. B. ist ganz und gar von Leipzig nach London übergesiedelt. Deutsche Emigranten haben den größten Teil der englischen Industrie für Koffer, Handtaschen aus Leder und Aktenmappen geschaffen. Große Möbelfabriken sind neu entstanden. Der Artikel zählt noch eine lange Reihe von Fabriken dieser Art auf, die Engländern Arbeit geben. Im Neuen Vorwärts vom 9. Juli 1939 steht auch ein Aufsatz „Neue Industrien in England“. Er macht zunächst auf das neue Leben aufmerksam, das in Merthyr, Dowlais und Treforest in Süd-Wales durch neue Betriebe der aus Deutschland und der Tschechoslowakei eingewanderten Juden und Sozialisten entstanden ist. Zuerst ist von einer Knopffabrik und einer für Gablonzer Schmucksachen in Dowlais die Rede. Dann aber wird von 5 5 neuen Fabrik-bauten in Treforest berichtet, in denen Lacke, Farben und andere Chemikalien, Steingut, Nürnberg-Fürther Spielwaren erzeugt werden, die nun statt „Made in Germany“ den Stempel „British made“ tragen und unzähligen englischen Händen Arbeit geben.

Norman Angell, You and the Refugee, 1939 In Norman Angell und Dorothy Frances Buxton, You and the Refugee, London 1939, wird die ganze Frage, die damals die öffentliche Meinung sehr erregte, von ihrer moralischen und ihrer wirtschaftlichen Seite gründlich und grundsätzlich erörtert. Mit guten Gründen aller Experten treten die beiden der landläufigen Auffassung entgegen, daß eine große Einwanderung eine nationalökonomische Belastung sei. LI. a. berichtet Norman Angell aus eigener Erfahrung in kleinen Städten der Vereinigten Staaten von Amerika, daß es dort Vereine gab, die sich zur Aufgabe machten, die Einwohnerzahl zu verdoppeln, da es für sie selbstverständlich war, daß Einwanderung Aufschwung bedeutete. Zahlreiche Beispiele aus der Geschichte werden außerdem angeführt. Nachdem sie die ökonomische Begründung der restriktiven Politik der englischen Regierung gegenüber der Einwanderung aus dem Dritten Reich als völlig falsch und irreführend gekennzeichnet haben, fordern sie ihre rasche und gründliche Änderung und weisen darauf hin, daß Frankreich alles in allem drei Millionen Flüchtlingen aus allen Ländern ein Asyl geboten, während England weniger als 150 000 ausgenommen habe.

Alle diese Veröffentlichungen treten der Auffassung entgegen, daß die fremden Eindringlinge einheimischen Arbeitern das Brot nehmen. Man hält die Emigranten in den meisten Ländern von den Erwerbs-zweigen fern, in der Arbeitslosigkeit herrscht. Sie müssen entweder die untergeordnete Arbeit annehmen, die von einheimischen Arbeitskräften gemieden wird (z. B. Hausarbeit), oder sie müssen sich durch Spezial-leistungen unentbehrlich machen. Am erfolgreichsten sind die, welche die Lücken im Wirtschaftsleben des Gastlandes aufspüren und neue Erwerbszweige schaffen. Von diesen wird aus Holland und England berichtet.

Sir John Hope Simpson, The Refugee Problem, 1939 Viele Einzelheiten zur Lebenslage der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich sind in Sir John Hope Simpson, The Refugee Problem, Report of a Survey, Royal Institute of International affairs, Oxford University Press, London 1939, zu finden. Das Buch behandelt alle Flüchtlingswellen aus der Zeit nach dem ersten Weltkriege, nicht nur die aus Hitlers Machtbereich. Dieses Gebiet ist hauptsächlich von Professor Alfred Meusel bearbeitet, dessen umfangreiche Originalberichte wie die ergänzenden Arbeiten anderer im Chatham House, London, für die Forschung zugänglich sind Die gedruckten Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, wie schwer es ist, die Emigration und ihre wirtschaftliche Lage in zuverlässiger Weise statistisch zu erfassen.

Statistik Ende 1937 Die Statistik der Gastländer unterscheidet nicht die Flüchtlinge von den Einwanderern überhaupt, die Hilfsorganisationen erfassen vor allem die Hilfsbedürftigen. Alle Zahlen sind daher annähernde Schätzungen. Im Appendix VI sind die Ergebnisse in zwei Tabellen zusammengefaßt, die ich einfüge (s. S. 519 und 520 unten).

Die zweite Tabelle ordnet die gleichen Zahlen (ohne die vom April 1934) zusammenfassend, fügt Prozent-Angaben hinzu, um danach eine anschauliche graphische Darstellung zu gestalten. Bei den Berichten aus einzelnen Ländern finden sich auch statistische Angaben über die Zusammensetzung der Emigration nach Altersklassen, Geschlechtern und Berufsgruppen.

U. a. hebt Simpson hervor, daß die Flüchtlinge in England in von ihnen gegründeten Fabriken etwa 25 000 Engländern Arbeit gaben.

Are Refugees an Asset? 1944 Eine weitere zusammenfassende Darstellung gibt die Schrift Are Refugees an Asset? veröffentlicht durch PEP (Political and Economical Planning), London 1944. Von den 73 000 Emigranten aus Deutschland und Österreich waren 25 Prozent unter 16, 3 5 Prozent über 50 Jahre, 57 Prozent Frauen, 90 Prozent Juden. Der zweite Weltkrieg führte einen steigenden Mangel an Arbeitskräften mit sich, der die britische Regierung veranlaßte, die systematische Verwendung der Produktivkräfte der Fremden zu planen und allmählich durchzuführen, ja, sie zur Hilfsarbeit im Heeresdienst und später auch zum Waffendienst zuzulassen. Im Herbst richtete der Arbeitsminister eine besondere Abteilung für ausländische Arbeiter ein, die im Juni 1941 ermächtigt wurde, diese Arbeitskräfte zu registrieren und 1944 etwa 120 000 erfaßt hatte. Nach der Registrierung waren bald 82, 5 Prozent der Männer und 60 Prozent der Frauen beschäftigt; allmählich wurden die Flüchtlinge, soweit irgend möglich, in die Arbeit überführt, die ihren früheren Berufen oder ihren besonderen Fähigkeiten entsprach, z. B. wurden die Ärzte und Zahnärzte zum größten Teil in ihren Berufen beschäftigt. Auf diese Weise wurde nach Überwindung vieler Widerstände und Schwierigkeiten fast die gesamte Produktivität der Einwanderer ausgenutzt. 1939 gab es schon mehr als 400 von Flüchtlingen gegründete Fabriken, die größtenteils Waren erzeugten, die früher importiert wurden oder die neue Exportmärkte für England schufen. Aber auch die britische Industrie gewann durch Einstellung einer großen Anzahl tüchtiger Fachleute.

Etwa 500 frühere Universitätslehrer fanden in England Zuflucht, von denen etwa die Hälfte in der englischen Forschung wirken, während die übrigen als Ärzte in der Industrie, in Schulen aller Art, in der Verwaltung, dem Heeresdienst, dem Rundfunk u. dgl. tätig sind.

Der Bericht erwähnt die Warburg-Bibliothek, die (mit ihren 90 000 Bänden über die Nachwirkung der Antike auf den Gebieten der Kunst, des Lebens und der Religion) von Hamburg nach London gebracht und 1943 der Universität eingegliedert wurde. Sie ist jetzt eine Stätte geschichtlicher Forschung von großem Einfluß, u. a. durch ihre Publikationen und Ausstellungen.

Die Glyndbourne Opera mit ihrem hohen Rang wird als Leistung eingewanderter Musiker anerkannt.

Es ist charakteristisch, daß die Schrift trotzdem in ihrem Titel noch die Frage aufwirft, ob denn die Flüchtlinge für die Wirtschaft und Kultur Englands ein Gewinn seien. Sie zeigt, daß es eine andere Auffassung, ja, eine Gegnerschaft immer noch gibt.

Eine zusammenfassende Darstellung von Seiten der Einwanderer selbst, auf die ich nur hinweise, ist.

Britain’s New Citizens, The Story of the Refugees front Germany and Austria, London 1951.

Jubiläumsnummer des „Aufbau“ New York 1935 bis 1955.

Eine andere Quelle für die Leistungen der Emigration aus dem Machtbereich Hitlers ist in der deutschen Emigrantenpresse zu finden. Sie berichtet bei den verschiedensten Anlässen, z. B. bei den Jubiläen aller Art mit Stolz über die Erfolge deutscher Einwanderer; aber die jüdischen Blätter beschränken sich nicht auf die deutsche, sondern nehmen die gesamte Emigration aus dem Machtbereich Hitlers als Einheit.

Der „Aufbau" in New York z. B. berichtete beim eigenen zehnjährigen und zwanzigjährigen Bestehen in umfangreichen Sondernummern ausführlich über die Gesamtleistung der Einwanderung aus Hitlers Machtbereich in den Vereinigten Staaten. Ich bringe einige Aus-züge aus dem Sonderheft 1935— 1955 vom 1. April 1955, von 112 riesigen Seiten mit dem Titel 20 Jahre Leistung und Erfolg.

Arthur Holde, der Musikkritiker, schreibt u. a.:

„Auf keinem Gebiet künstlerischen Schaffens und Nachschaffens hat die Einwanderung während der letzten Jahrzehnte auf das Kulturleben in den USA einen so tiefen Einfluß ausgeübt wie auf dem der Musik. Rein zahlenmäßig ist das Kontingent der Musiker aller Disziplinen unvergleichlich größer als das der Bühnenangehörigen, der Schriftsteller oder der bildenden Künstler.“

Dann berichtet er von Strukturwandlungen des ganzen Musiklebens und erwähnt die Leistungen der neuangesiedelten europäischen Musik-verleger.

B. F. D o b b i n schreibt über den Beitrag der Emigration zum Kunstleben:

„Daß New York eine Zeitlang — während des zweiten Weltkrieges — Paris und London als Kunstbörse den Rang ablaufen konnte, ist nicht bloß dem Umstand zuzuschreiben, daß sich der Reichtum der Welt hier konzentrierte, sondern auch, daß Europas Kunst und Künstler hier Zuflucht vor geistiger und physischer Vernichtung fanden.“

Der Bauhausgedanke ist von Weimar und Dessau nach Chicago verpflanzt und sammelt unter der Leitung von Ladislaus Mohely-Nagys viele europäische Künstler. 1945 veranstaltete das Whitney Museum eine Ausstellung der aus Europa emigrierten Künstler, die viele der allerbesten Namen aufwies. Auch Kunsthistoriker und Sammler von Bedeutung leben nun in den Vereinigten Staaten.

Ernst Er ich Noth, Chefredakteur von Books Abroad und Professor in Norman, Oklahoma, berichtet unter Nennung zahlreicher Namen über den Beitrag der Wissenschaftler. Aber er kann nur einige wenige Einzelheiten berühren; denn ihr Anteil ist zu groß. Man braucht nur den größten unter ihnen, Albert Einstein, zu nennen.

Eric S. Proskauer schreibt, daß zwischen 1933 und 1939 rund 400 Naturwissenschaftler aus Deutschland und Österreich nach den Vereinigten Staaten einwanderten und berichtet über einige ihrer Leistungen.

Friedrich Porges schildert den Einfluß, den die eingewanderten Filmleute auf die Entwicklung des amerikanischen Films ausgeübt haben in „Die Hundert von Hollywood!“ Über die große produktive Bedeutung der gesamten kulturellen Emigration ist ein Streit unmöglich; aber die wirtschaftliche Produktivität wird meist weniger beachtet. Deshalb sind einige Einblicke in das Erwerbsleben wesentlich.

In einem Aufsatz „Pioniere der Catskills“ wird erzählt, daß deutsche Emigranten einige Sommerfrischen-Gebiete zum Blühen gebracht haben und in ihnen eine Fülle von Hotels und Pensionen erfolgreich betreiben. Anzeigen im „Aufbau" führten ihnen anfangs die erwünschten Gäste in großer Zahl zu.

Auf die großen Leistungen der Frauen weist Vera Craener hin. Sie arbeiteten schon schwer für den nackten Lebensunterhalt, während die fachgebildeten Männer sich noch Arbeit suchten, sich für Examen vorbereiteten oder sich umschulten. Viele konnten dank ihrer Ausbildung in hauswirtschaftlichen und sozialen Frauenschulen, in der Frauenbewegung oder in eigenen Berufen auch in der neuen Heimat befruchtend in das praktische Erwerbsleben eingreifen, z. B. auf dem Gebiet der Modewaren und des Kunsthandwerks, der Konditorei und des Konfekts.

Ein Interview Richard Dycks mit dem Staatssekretär a. D. Prof. Dr. Julius Hirsch und Albert E. Meyer behandelt die Frage, ob die Emigration 1933— 55 als Wertzuwachs für das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten zu betrachten sei. Die beiden weisen u. a. darauf hin, daß die deutschen Einwanderer dank ihrer Fachkenntnisse und Beziehungen Lücken ausgefüllt haben im Außenhandel und seiner Finanzierung. Ferner ist ihnen das Verdienst zuzu-schreiben, daß sie im Anfang des zweiten Weltkrieges eine Menge von Klein-und Mittelindustrien angekurbelt haben.

Sie gründeten auch viele Fabriken von Konsumtionswaren, die vorher von Europa eingeführt wurden, wobei ihnen Sach-und Fachkenntnisse zugute kamen. Sie ergänzten und verbesserten die Industrie für Optik, chirurgische Instrumente, die Lebensmittelindustrie, z. B. Brauereiwesen, Konfitürengeschäft, die Industrie für Kleinlederwaren, moderne Möbel, den Kunsthandel, den wissenschaftlichen Verlag. Schließlich wird noch die Leistung der nationalökonomischen Wissenschaft hervorgehoben.

Dieses Gespräch wird dann sehr aufschlußreich ergänzt durch eine lange Reihe „Geschichten von Arbeit und Erfolg“. Es geht aus ihnen deutlich hervor, daß auch in den Vereinigten Staaten die Einwanderer viel größeren Scharen amerikanischer Arbeiter Beschäftigung geben, als Einwanderer hereingekommen sind.

Auszüge aus einigen besonders orginellen Berichten seien hier eingefügt: Rudolf Flesch, die Autorität für untadeliges Englisch.

Flesch ist 1911 in Wien geboren und 1938 eingewandert. Er war in der Heimat Jurist, wurde in den Staaten zunächst Bibliothekar, nach gründlicher Ausbildung in diesem Fach. An der Columbia University in New York promovierte er zum Ph. D. mit einer Dissertation über Probleme der englischen Sprache. Aus ihr erwuchs sein erstes Buch. The Art of Plain Talk, das in 100 000 Exemplaren verkauft wurde. Vier weitere Bücher folgten, die ihn für hunderttausende von Amerikanern zur Autorität in ihrer Muttersprache machten. Er ist 195 5 nach Indien berufen worden als Konsulent für den englischen Sprachunterricht. Dr. Bruno Fürst — der Meister der Gedächtnis-kunst. Fürst, in Metz geboren, war Anwalt in Frankfurt a. M. Gedächtnis ist Produkt der konsequenten Übung, meinte er. Er entwickelte ein ganz neuartiges System und gründete eine SchoolofMemory and Concentration, die jährlich von 1200 Schülern besucht wird, bisher in ganzen von 30 000, und 20 Filialen in allen Teilen der Staaten, Kanada und Südamerikas unterhält.

Kurt Goldsmith hat seinen Weg zum Erfolg 1946 mit dem feuersicheren Plättbrett gemacht, das mit Asbest geschützt ist. Neuerdings führte er das Küchenhandtuch aus Asbest ein.

Stefan Lorant ist Entdecker von Neuland in der amerikanischen Geschichte. Lorant stammt aus Budapest und saß 193 5 noch in einem Konzentraltionslager Hitlers. Er macht die amerikanische Geschichte in Bildern lebendig. Es gab schon eine riesige Abraham Lincoln-Literatur. Er spürte eine Fülle völlig unbekannten Bilder des Präsidenten auf und fügte sie zu einer anschaulichen Lebensschilderung zusammen, ebenso von Präsident Franklin D. Roosevelt. Wie die Neue Welt aussah, als die ersten Europäer nach Amerika kamen, zeigte er in seinem preisgekrönten Werk The New World. Er ist nun eine im ganzen Lande angesehene Persönlichkeit.

Joe Metzger ist 188 3 in Genf geboren. Als er nach den Staaten kam, war Yogurt dort unbekannt. Da man viel Milch trinkt, meinte Metzger, daß man das erfrischende. und gesunde Getränk populär machen könne. Jetzt werden jährlich 12 Millionen Papierbecher und Gläser mit Yogurt der Firma Dannon verkauft.

Jacques Minkas stammt aus Lublin in Polen, war in Berlin zuerst Typograph, dann selbständiger Buchdrucker für die russischen Emigranten. Er stellte in Amerika zunächst ein kleines Briefmarken-album her, das er zu 10 cts in Millionen Exemplaren durch Ketten-läden verkaufen ließ. Dann schlug er dem Warenhaus Gimbel Brost., New York, vor, in ihrem Betrieb eine Briefmarken-Abteilung einzurichten. Heute wird er der Briefmarkenkönig von New York genannt.

Maurice R. Davie, Refugees in America, New York 1947 Es gibt eine sehr wertvolle Untersuchung über die Einwanderung von Flüchtlingen während der Zeit des Dritten Reichs in die Vereinigten Staaten von Amerika von Maurice R. Davie u. a.: Refugees in America, Report of the Committee for the study of Recent Immigration from Europe, Harper & Brother, New York 1947. Obwohl dieser Bericht mit großen Mitteln unternommen und von allen in Frage kommenden Behörden und Organisationen unterstützt worden ist, zeigt auch er die gleichen Schwierigkeiten wie der von Sir John Hope Simpson u. a. Die vorhandenen Quellen wurden bei der Untersuchung wesentlicht ergänzt u. a. durch Verteilung eines Fragebogens an 50 000 Flüchtlinge, von denen allerdings nur 11 000 in befriedigender Weise ausgefüllt zurückkamen. Es ist, soweit ich sehe, die gründlichste Studie über die Emigration aus der Machtsphäre des Dritten Reichs, die bisher veröffentlicht ist. Sie ist nicht auf die deutsche Emigration beschränkt, sondern umfaßt die gesamten Flüchtlinge Europas.

In einer sorgfältigen Untersuchung wird die Zahl der in die Vereinigten Staaten aufgenommenen Flüchtlinge auf 265 000 berechnet (S. 27). Alle Fragen, die sie betreffen, werden in einer Reihe Kapitel behandelt und mit Auszügen aus den Fragebogen in fesselnder Weise anschaulich gemacht. Aus der Darstellung geht unzweifelhaft hervor, daß man im allgemeinen mit dem produktiven Einsatz dieser Emigration zufrieden ist.

Im Kapitel What Americans think of the Refugees z. B. heißt es einleitend:

The general reaction of Americans toward the refugees may be summed up as one of compassion for the victims of persecution seeking a haven here, and of appreciation of the contribution this superior group of immigrants is making to American life.

Doch wird die hervorgetretene Kritik gegen die Flüchtlinge nicht verschwiegen, nicht einmal fremdenfeindliche Strömungen. Aber im Schlußkapitel faßt der Bericht zusammen:

The weight of the evidence pro and con cited in the chapters above demonstrate that by and large the refugees have shown unusual adaptability, that in a short period of time they have gone a long way toward becoming a pari of the nation, that they have presented little or no probiern to the American Community, and that they have had a beneficial effekt upon this country out of proportion to their numbers. This evidence is nation-wide in scope and based on firsthand and verifiable Information ... Ich führe diese Stellen englisch an, um ihr Gewicht nicht zu vermindern.

Der Bericht hebt die Produktivität gerade dieser Einwanderung kräftig hervor:

Statt Amerikanern Arbeit fortzunehmen, haben die Flüchtlinge die Arbeitsmöglichkeiten vermehrt und sind ein wirtsdiaftlicher Zugang für das Land gewesen. . . Die Flüchtlingseinwanderung ist eindrucksvoll in dieser Beziehung, da ja Flüchtlinge häufiger als gewöhnliche Einwanderer in der Lage sind, Kapital mitzubringen und beruflidte und technische Fähigkeiten, die gar nicht umhin können, von Wert für unser Land zu sein. . . Die Flüdttlinge bradtten ihre Spezialfähigkeiten und -erfahrungen mit sich als freie Gabe in ihr Gastland. Europa hat die teuren Kosten ihrer Erziehung, Ausbildung und Berufsschulung übernommen und hat uns ein Geschenk gemacht in Gestalt fertiger Arbeiter. — Dies ist ganz besonders sichtbar im Falle dieser Flüchtlinge, die besser erzogen, besser ausgebildet und erfahrener sind als die gewöhnliche Masse der Einwanderer. Ihre Fähigkeit und ihre Spezial-kenntnisse sind zum wirtschaftlichen Vorteil dieses Landes eingesetzt worden, wie es sichtbar wurde in der Einführung neuer Produkte und neuer Arbeitsprozesse, sowie in der Entwicklung unseres Handels mit dem Ausland.

Die Beiträge in der deutschen Emigranten-Presse stammen von Flüchtlingen. Man findet in den Aufsätzen der Flüchtlinge keineswegs eine Tendenz zur Übertreibung, sondern eher eine Neigung, auf das amerikanische Nationalgefühl Rücksicht zu nehmen und den Einsatz der Flüchtlinge nicht zu hoch zu bewerten. Dafür gibt es auch tiefer-liegende sachliche Gründe. Die Vereinigten Staaten waren das sehnsüchtig erstrebte Ziel so großer Flüchtlingsscharen, weil sie besonders aufnahmewillig und entgegenkommend waren und besonders aufnahmefähig, auf Grund der von neuem in starkem Aufschwung befindlichen Wirtschaft, die jedem Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Kenntnissen reiche Möglichkeiten bot. Es ist also das Zusammenspiel zwischen beiden Faktoren, das die große Produktivität der Emigration zustande kommen ließ.

Im Appendix C werden die als hervorragend anerkannten Flüchtlinge namentlich verzeichnet, die 12 Nobelpreisträger, die 103, welche in Who is who in America (1944— 45) und die 222 welche in American Men of Science (1944— 45) ausgenommen sind. Dadurch wird die kulturelle Bedeutung dieser Einwanderung noch einmal eindrucksvoll bezeugt.

Der Bericht gibt noch eine Anzahl Beispiele aus anderen Ländern für den günstigen Einfluß der Flüchlinge auf wirtschaftlichem Gebiet.

Großbritannien In Wirklichkeit zeigte es sich, daß die Zahl der britischen Arbeiter, denen Flildrtlinge Arbeit gegeben hatten, viel größer war als die Zahl der zugelassenen Fliidttlinge. Bis 1945 waren etwa 450 Fabriken von Flüchtlingen gegründet, die etwa 30 000 Briten Arbeit gaben. Etwa ein Drittel dieser Fabriken waren errichtet auf den Trading Estates der Regierung, die erst 1934 eingerichtet waren, in der nächsten Nähe der wirtschaftlich darniederliegenden Gebiete. Diese Trading Estates sollten einem doppelten Zwecke dienen: örtliche Industrien wieder beleben und Industrien und Gewerbe gründen und entwickeln, die schon jahrelang von Fachleuten in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei betrieben worden waren und jetzt eine neue Heimat in Großbritannien suchten.

Kanada Schätzungsweise wanderten etwa 6000 Flüchtlinge, die vom Nationalsozialismus verfolgt waren, in Kanada ein. Nach Zahlen, die das Ministerium für Handel und Gewerbe in Ottava herausgegeben hat, errichteten von 1939— 42 Flüchtlinge 130 Fabriken mit einem Kapital von $39 218 332, beschäftigten 9530 Arbeiter und erzeugten Waren im Werte von $42 555 008. Der Wartime Information Board gab 1943 einen Überblicli über 45 „Flüchtlingsindustrien“, die in Beziehung standen zu Kanadas Kriegsproduktion. Diese Industrien erzeugten in diesem Jahre für $31 556 500 Güter, davon 2/3 direkte Kriegs-materialien. Sie gaben mehr als 5000 Leuten Beschäftigung, wovon 87% Kanadier waren. 23 dieser Industrien erklärten, daß sie neue Gewerbe, neue Prozesse oder neue Produkte in Kanada eingeführt hätten.

Mexiko Mexiko war das erste latein-amerikanische Land, das eine ziemlich bedeutende Zahl von Flüchtlingen aufnahm, schätzungsweise etwa 25 000. . . Wenige von ihnen kamen mit Kapital, aber sie brachten wertvollere Hilsmittel mit, Erfahrung und Strebsamkeit, technische und berufliche Fähigkeiten, neue Ideen, die sie alle dem mexikanischen Leben zuführten. Die Flüchtlinge haben eine ganze Anzahl Fabriken gegründet für Textilien, Lederwaren, Möbel, Kleineisenwaren, Maschinen (die ersten im Lande), Bürsten, Leim, Wein und Zitrusprodukte. Diese Flüdttlingsunternehmen haben nicht nur Arbeit für viele Tausende Mexikaner geschaffen, sondern auch den Lebensstandard gehoben, indem sie im Lande Waren billig erzeugten, die früher importiert wurden und daher völlig außer Reichweite für die meisten Käufer lagen.

Dispersion and Resettlement, London 1955 Aus der Schrift Dispersion and Resettlement, The Story of the Jews from Central Europe, London 195 5 entnehme ich noch Auszüge, die einige andere Länder behandeln.

Frankreich In Frankreich (S. 21), das immer ein Asyl für Flüchtlinge war, fanden mindestens 40 000 Flüchtlinge aus dem Dritten Reich bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges Aufnahme. Da man ihnen aber sehr wenig Freiheit zur Anwendung ihrer Produktivkräfte gewährte, war für viele von ihnen Frankreich nur ein Transitland. 195 5 wurden die Flüchtlinge aus Deutschland auf 7— 8000 geschätzt. Erst einige Jahre nach Kriegsende wurde die französische Fremdenpolitik freundlicher: die meisten erhielten Bürgerrechte, alle Arbeitserlaubnis, nur die Gründung eigener Unternehmen blieb versperrt. Die wirtschaftliche Lage ist daher im allgemeinen nicht so günstig wie in anderen Ländern, die Arbeitslosigkeit wächst mit dem zunehmenden Alter, so daß etwa ein Drittel der Flüchtlinge LInterstützung braucht. Eine Organisation zu schaffen, war bis 1951 unmöglich, um die Aufmerksamkeit der auf Grund vierjähriger Besatzung noch immer erregten Bevölkerung nicht auf sich zu lenken. Aber mit der französischen Umwelt kam es gerade in dieser Zeit gemeinsamer Not überall im Lande zu intimeren Beziehungen, z. B. mit der Widerstandsbewegung. Die Juden sind seither politisch wacher und tätiger geworden als früher in der Heimat. Aber auch in Frankreich hat sich ihre Produktivität bewährt, wo immer man ihnen Gelegenheit dazu gab. Die Einfügung der kulturell tätigen Flüchtlinge in Frankreich hat sich rasch vollzogen.

Belgien In einem Bericht aus Belgien (S. 24) heißt es:

„Was das belgische Volk, seine Regierung, die Behörden und leitende Männer aller Parteien für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland von 1933 bis zum deutschen Einfall und danach während der harten Jahre der Verfolgung getan haben, das wird ein Ruhmesblatt belgischer Geschichte bleiben.“

Eine bedeutende Anzahl deutscher Juden durfte sich in Belgien als selbständige Unternehmer niederlassen. Mehrere Industrien wurden von ihnen neu gegründet oder erweitert. Kaufleute vergrößerten den belgischen Export.

Von Belgien sind etwa 25 000 Juden, davon 8000 deutsche, deportiert, von denen nicht viel mehr als 1000 zurückkamen. Etwa 4000 entgingen in Belgien der Vernichtung, weil Belgier sie unter eigener Lebensgefahr während der Besatzung verborgen hielten und ernährten. Tausende andere, die nach Frankreich entkamen, wurden dort größtenteils ergriffen und deportiert.

Australien Australien (S. 27) hatte auf der Konferenz von Evian eingewilligt, jährlich 5000 Verfolgte aus dem Dritten Reich aufzunehmen. Im September 1939 wurde die Zahl der eingewanderten Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich auf 7100 geschätzt, davon die Hälfte in Neusüdwales. Was in Australien geschah, war ein seltenes und begeisterndes Beispiel von Tatkraft angesichts großer Widerstände. Die Gegnerschaft der Einwohner nach Ausbruch des Krieges wurde u. a. dadurch gemindert, daß 44% der männlichen Einwanderer sich freiwillig zu den Waffen meldeten und 27% wirklich angenommen wurden. 1944 naturalisierte die australische Regierung als erste im Britischen Weltreich fast die gesamten Einwanderer. 1946— 48 kam eine zweite Welle der Einwanderung aus Europa und aus Shanghai (wo etwa 20 000 Flüchtlinge eine sehr fragwürdige Zuflucht gefunden hatten, größtenteils ohne jede Möglichkeit produktiver Arbeit). 1950 gab es etwa 12 000 jüdische Flüchtlinge -Australien, davon etwa 10 000 aus Deutschland und Österreich; bis 1954 kamen noch etwa 3000 deutsche und österreichische dazu.

Schon bei Kriegsende waren die Flüchtlinge verhältnismäßig gut eingefügt in Australiens Industrie, Handel und sonstigen Berufen. 1954 löste sich die Association of New Citizens auf, weil — auf Grund der verbesserten Lage — wenig Bedürfnis für sie vorlag. Etwa 60% sind in Industrie und Handel beschäftigt. Viele sind in ihnen früher fremde Berufe übergegangen. Es gibt wenig Elend, aber auch wenig Geschichten von rasch erworbenem Reichtum unter ihnen. Die Berufsarbeit der Flüchtlinge entspricht dem Durchschnitt der Australier. Das Land verwendet auf kulturellem Gebiet in wachsendem Umfange die Begabungen: „Flüchtlinge sind Dirigenten der staatlichen Symphonie-Orchester, sie haben das einzige permanente Kammermusik-Quartett gegründet, Architekten haben den konventionellen Baustil geändert, Naturwissenschaftler sind in den Universitäten und Forschungsinstituten beschäftigt, Maler wadien sich einen Nanten, Amateure haben II Jahre lang ein deutsdies Theater von anerkanntem künstlerischem Rang gegründet und Weg aufrechterhalten, Schriftsteller und Journalisten haben sich den gebahnt in Verlagsanstalten, Redner erscheinen auf dem Podium gelehrter Gesellschaften, kurz, sowohl die kulturellen wie die wirtschaftlichen Beiträge nehmen zu und hinterlassen ihre Spuren im Lande.

Die Assimilation der Einwanderer ist nicht vollständig, weil sie dazu zu alt waren. Sie leben zweisprachig, auch in ihren kulturellen Veranstaltungen. Die kleinen Kinder, die in die australische Schule eintraten, sind stärker assimiliert, aber sie sprechen doch noch meist die Sprache der Eltern neben der englischen und wählen den Ehepartner meist unter den emigrierten Altersgenossen.

Süd-Afrika Der Aufsatz über Süd-Afrika ist überschrieben Land ohne Flüchtlinge, weil sie so vollständig aufgesogen sind. Man schätzt die Einwanderer aus Deutschland und Österreich auf 7— 11 OOO; der Verfasser meint, daß die höhere Zahl der Wahrheit näherkomme.

In der ersten Hälfte der 30er Jahre kamen junge, unternehmende, wertvolle Menschen mit kleinen Kindern, die sich rasch völlig assimilierten. In einem Lande mit so schweren wirklichen Rasseproblemen konnte man sich ein künstliches gegen Weiße einfach nicht leisten. Daher wurden die Vertriebenen Europas rasch ein Teil der herrschenden weißen Schicht in Süd-Afrika. Sie üben Wohltätigkeit gegenüber den Farbigen, aber sie kämpfen nicht gegen die Rassenpolitik der Regierung. Die deutschen und österreichischen Einwanderer treten daher gar nicht mehr als fremde Gruppe hervor.

Viele haben sich hochgeabeitet und stehen sich heute wahrscheinlich besser als in irgendeinem anderen Lande. Bekannt sind die Ergebnisse einer amtlichen Untersuchung von kurz vor dem zweiten Weltkrieg, die dem Vorwurf der Belastung entgegenwirken sollte: für je 10 Flüchtlinge, die Arbeit bei südafrikanischen Firmen hatten, gab es 13 weiße und 25 farbige südafrikanische Arbeiter, die in Industrien und anderen Unternehmen der Flüchtlinge beschäftigt waren. Viele Fabriken führten neue Fabrikate in dies junge Industrieland ein. Der größte Beitrag der Flüchtlinge zur südafrikanischen Wirtschaft liegt auf künstlerischem Gebiet. Schaufenster-Dekoration und künstlerische Reklame dankt man größtenteils den Flüchtlingen. Der Geschmack auf vielen anderen Gebieten ist durch sie gehoben, z. B. in der Musik und im Film. Johannesburg, wo 2/3 der deutschen Einwanderer leben, hat am meisten dabei gewonnen: In der hektisdien Lntwiddung vom Gruben-Lager über die britische Provinzstadt zur amerikanisierten Metropole madtte die Stadt Halt, um etwas von der Anmut Europas aufzunehmen.

Indien Nach Indien sind bis zum Kriegsausbruch 19'39 nur etwas über 1000 Flüchtlinge mit ihren Familien gekommen, später folgten größere Scharen aus Polen und anderen Ländern. Unter den Deutschen und Österreichern waren etwa 100 Ärzte und Zahnärzte, die bald arbeiten durften, weil so großer Bedarf vorlag. Viele der Einwanderer fanden Beschäftigung bei den europäischen Firmen lind denen der sephardischen Juden z. B. bei Sir Victor Sassoon, dem internationalen bekannten Bankier und Sportsmann. Einzelne Fachleute konnten bei indischen Firmen untergebracht werden, kaum bei englischen. Viele wanderten nach dem Waffenstillstand 1945 weiter, um eine dauernde Heimat zu finden. Die Inder waren während der Jahre ihres Unabhängigkeitskampfes nicht gerade eifrig, Beziehungen zu Europäern neu anzuknüpfen. Doch haben auch hier Flüchtlinge wertvolle Beiträge zum wissenschaftlichen und kulturellen Leben geleistet. Einge wenige haben selbständige Industrien gegründet oder im Dienst indischer Unternehmer produktiv gewirkt.

Brasilien In Brasilien (S. 37) gab es bis 1936 keine Hindernisse für die jüdische Einwanderung, danach wuchsen sie und 1939 war eine Sperre eingeführt. Im ganzen schätzt man, daß 3 5 000 aus Deutschland und Österreich im Lande sind, davon etwa 10 000 in San Paulo und etwa 6 500 in Rio. In dem sich rasch entwickelnden Lande gab es für die meisten mannigfache Möglichkeiten. Der zweite Weltkrieg brachte Brasilien, das so reich an Rohmaterialien ist und für Bombenflugzeuge kaum erreichbar, Aufschwung und Wohlstand.

Die Einwanderer haben bedeutende Leistungen in der Industrie aufzuweisen. Eine Gruppe Chemiker z. B., Flüchtlinge aus Vichy-Frank/eich, gründeten einen chemischen Konzern, beginnend mit der Erzeugung von Coffein, Menthol etc. auf Grund eigener Erfindungen; er wuchs rasch an Bedeutung und spielt heute eine zentrale Rolle im Gebiet der Atomenergie. An der Welt der Mode sind die Flüchtlinge stark beteiligt. Das gleiche gilt für moderne Inneneinrichtung. Viele Flüchtlinge sind hier aufgestiegen zu einem Lebensstandard, von dem sie in ihrer Heimat nur träumten.

Nur wenige Intellektuelle und Künstler wanderten in Brasilien ein. Zur brasilianischen Kunst haben sie wenig beigetragen, eher zur Entwicklung der Naturwissenschaften.

Etwa 60 Familien aus Deutschland gründeten eine Siedlung im Staate Parana nahe bei dem Städtchen Rolandia (S. 42 f).

Argentinien Die deutschsprechenden Juden in Argentinien zählen etwa 40 000, von denen die große Mehrheit in Buenos Aires und seinen Vororten lebt. Es gibt keine Hindernisse auf den Gebieten des Wohnsitzes und der Arbeit. Nur die politische und teilweise die kulturelle Betätigung sind den geborenen Argentiniern vorbehalten. Bis 1949 konnte man nach 2 Jahren die Bürgerrechte erwerben, unter Perön nach 5 Jahren. Der Paß, den man erhält, zeigte, daß der Inhaber naturalisiert ist. Erst nach 5 Jahren kann er wählen, nach weiteren 5 Jahren gewählt werden. Manche Ämter sind ihm für immer versperrt. Daher sind viele Leute noch nicht Argentinier geworden, und manche haben sogar von neuem deutsche Pässe erworben. Ebenso sind die Fremden von der kulturellen Welt Argentiniens ziemlich ausgeschlossen. Daher bilden sie nationale Gruppen mit eigenem kulturellen Leben. Die jüdischen Gruppen sind bedeutend durch ihre Zahl und ihre Organisation; unter ihnen ist die deutsch-sprechende die jüngste.

Von 1940 an und besonders seit 1943 verbesserte sich die wirtschaftliche Lage offensichtlich und fünf Jahre später hatten die deutschsprechenden Juden einen Aufstieg erlebt, der alle ihre Erwartungen übertraf: er wurde begünstigt durch die phantastische Entwicklung der ganzen Wirtschaft Argentiniens. Die Flüchtlinge kamen mit eigenen Kenntnisse und Erfahrungen. Sie verstanden die Verhältnisse und erkannten die Aussichten für die leichte Industrie. Ihre Beziehungen zu Verwandten und Geschäftsfreunden in anderen Ländern erwiesen sich als nützlich. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sie Erfolge erreichten, die sie in ihren Heimatländern nie erhoffen konnten. Sie arbeiten im Handel, in der Industrie, als Klein-oder Großunternehmer oder als Angestellte in leitenden Stellungen, und ihre Leistungen haben viel zur wirtschaftlichen Entwicklung Argentiniens beigetragen. Große Textil-, chemische, pharmazeutische und elektrische Industrien sind von Juden aus Deutschland gegründet worden. Ein nicht unwesentlicher Teil des argentinischen Exports und Imports ist in den Händen deutschsprechender Juden. Manche Merkmale des argentinischen Lebens haben sie geschaffen, z. B. die elegante Mode zu mäßigen Preisen für den Mittelstand, die Einheitspreiswarenhäuser und die Neugestaltung der gesamten Innendekoration.

Die Einführung der akademischen Berufe ging sehr langsam vor sich. Dagegen haben Flüchtlinge viel zum Musik-und Theaterleben Argentiniens beigetragen, und ebenso zun spanischen Literatur, z. B. hat ein Dr. Sigisfred S. Krebs 50 wissenschaftliche und literarische Werke be-kannter Autoren zum ersten Male ins Spanische übersetzt (!). Auch sonst gibt es Erfolge einzelner auf zahlreichen Gebieten.

Chile In C h i 1 e ist die Zahl der Juden aus Deutschland etwa 10 000 und aus Österreich etwa 2000, wovon etwa 90°/o zwischen Mai und August 1939 ankamen. Die Mehrzahl konnte sich der Geschäftswelt Chiles einfügen, da die Wirtschaft des Landes sich während des Krieges stark erweiterte. Die Lage der selbständigen Unternehmer ist gut, Angestellte haben es schwerer, nur Alte und Kranke bedürfen der Unterstützung.

Uruguay In Uruguay fanden etwa 6000 Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich Zuflucht. 5% kamen zwischen 1934 und 1937, 85°/o zwischen 1938 und 1942, der Rest zwischen 1943 und 1954. Vor 1933 gab es keine deutsch-jüdische Einwanderung. Große Vermögen konnten in Uruguay nicht erworben werden. Nur einige wenige konnten bedeutende Unternehmen aufbauen. Etwa 75°/o erwerben den Lebensunterhalt als Agenten, Kaufleute oder Ladeninhaber, etwa 10°/o sind Angestellte, etwa 12% haben kein Einkommen und leben von Unterstützung.

Bolivien In B o 1 i v i e n leben 5500 deutsche Juden, die größtenteils nach 193 8 einwanderten. Sie konnten in den Städten, da das Land zurückgeblieben war, Warenhäuser und Geschäfte aller Art neu einrichten. Manche gründeten Industrien. So war ihr Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung recht ansehnlich, und ihre wirtschaftliche Lage ist gut. Sie unterhalten gute Beziehungen zu den Bolivianern, ohne an ihrem politischen und sozialen Leben teilzunehmen. Als die Regierung und ihre Fremdenpolitik sich zu ihren Ungunsten änderte, wanderten etwa 4000 weiter nach den Vereinigten Staaten, Kanada und anderen latein-amerikanischen Ländern.

Israel Nach israelischer Statistik sind in der Zeit von 1932— 47 etwa 275 000 Juden aus Europa ins Land eingewandert, zweifellos zum allergrößten Teil auf Grund der Verfolgung im Machtbereich Hitlers, die in manchen Ländern nach 1945 nicht aufhörte. Wenn irgendwo, so setzt in diesem Lande jeder seine besten Kräfte ein, nicht nur um sich, sondern um das jüdische Gemeinwesen, seit 1948 den jungen Staat, vorwärts zu bringen. Israel ringt ja schwer um sein wirtschaftliches Gleichgewicht in einem Lande, daß seit fast 2000 Jahren vernachläßigt daliegt, eine Steinwüste, die nun wieder fruchbar gemacht wird, wie sie 2. Z.der Bibel war (vgl. Berendsohn, Aufbauarbeit in Israel, Berlin 1953). Die deutschsprechenden Einwohner aus Mitteleuropa schlossen sich zusammen, als Adolf Hitler in Deutschland zur Macht kam, um die neue Einwanderung zu beraten und ihr bei der Einfügung im Lande zu helfen. Im Jahre 1943 erschien eine Schrift 10 Jahre Neue Alijah (Einwanderung), die einen kurzen Überblick über die Geschichte und die Leistungen der deutschsprechenden Juden im Lande gab. Die Organisation besitzt ein Mitteilungsblatt, das am 16. Mai 1952 eine Sondernummer, 28 Seiten Zeitschriftenformat stark, 20 ]ahre Organisation der Alijah aus Mitteleuropa, 20 Jahre Mitteilungsblatt herausgab, die den zweiten Überblick in zahlreichen Beiträgen bietet. In diesen beiden Drucksachen findet man eine Fülle Material über die besonderen Leistungen, die diese Gruppe Einwanderer zur Entwicklung des Landes beigetragen hat, u. a. hat sie eine ganze Anzahl landwirtschaftlicher Siedlungen und den ersten Badeort Naharia geschaffen, wichtige Industrien aufgebaut und in Literatur, Musik, bildender Kunst und Wissenschaft wesentliches geleistete. Ein ursprünglich vorhandener Gegensatz zum früher eingewanderten Ostjudentum hat sich bald vermindert, und die Gemeinschaft ist noch fester geworden, als die Einwanderung aus Ländern anderer Kultur in Asien und Afrika den Staat Israel vor völlig neue Probleme stellte.

Da Israel drei schwere Lasten zu tragen hat, die unverhältnismäßig große Rüstung, die Einfügung der riesigen Einwanderung (100 % in wenigen Jahren) und die Erschließung des Landes, bedeuten die Wiedergutmachungslieferungen der Deutschen Bundesrepublik eine große Hilfe beim Aufbau; sie tragen wesentlich dazü bei, die Spannung zwischen dem stetig wachsenden Export und dem notwendigen Import auszufüllen.

Zusammenfassung Aus manchen dieser Berichte geht hervor, daß objektive Beobachter besonders in den angelsächsischen Ländern, die Einwanderung aus dem Machtbereich Adolf Hitlers im ganzen für überdurchschnittlich wertvoll ansehen. Eine eindringliche vergleichende Untersuchung würde aber m. E. zeigen, daß die meisten Emigrationen den Aufnahmeländern wirtschaftlichen Gewinn gebracht haben. Es wird immer wieder auf bekannte historische Beispiele hingewiesen, z. B. die jüdische Emigration aus Spanien, die der Hugenotten aus Frankreich, die Besiedlung Amerikas, Süd-Afrikas und Australiens von Europa aus usw. Diese Auffassung hätte also schon längst Geltung gewinnen können. Wenn sie im Völkerbund geherrscht hätte, wäre es 1933— 1939 möglich gewesen, Hunderttausende der Opfer Hitlers zu retten. Was 1938 auf der Konferenz von Evian beschlossen wurde, war an sich gut, aber völlig unzureichend.

Es scheint aber, daß in den zwanzig Jahren, seitdem der erste Hohe Kommissar für die Flüchtlinge James G. McDonald 1935 sein Amt, gegen die Untätigkeit des Völkerbundes protestierend, niederlegte, eine Änderung eingetreten ist.

Die in diesem Kapitel behandelten Länder sind unter sich sehr verschieden, es sind kleine und große, hochentwickelte und unterentwickelte. Wo immer man den Flüchtlingen Spielraum gewährt, tragen sie zur wirtschaftlichen Entwicklung wesentlich bei.

Die angeführten Beispiele genügen auch, um eine anschauliche Vorstellung zu gewinnen von der Qualität der Flüchtlingsscharen, die Adolf Hitler aus Europa vertrieben hat.

Eine zusammenfassende Darstellung der jüdischen Flüchtlingsfrage geben Arieh Tartakower und Kurt R. Grossmann The Jewish Refugee, New York 1944. Ich konnte sie nicht zur Haupt-grundlage meines Kapitels über die Produktivität der Emigration aus dem Dritten Reich machen, weil die späteren Berichte für dieses Problem ergiebiger sind. Aber ein Hinweis auf diese sehr sorgfältige Untersuchung von jüdischer Seite ist doch notwendig. Im Vorwort weisen die Verfasser selbst auf die Schwierigkeiten hin, die teilweise auf den Hindernissen während des zweiten Weltkrieges beruhen, teilweise auf der unzulänglichen Erfassung der Flüchtlinge selbst durch Regierungen und Organisationen. Trotzdem enthält das Buch manche wesentliche Ergänzung zu meinen Ausführungen.

Da es sonst keine Monographie über die Einwanderung aus dem Machtbereich Hitlers und ihre Schicksale in Frankreich gibt, ist Kapitel VI, verfaßt von Henri Sinder, besonders willkommen; ebenso aufschlußreich ist das Kapitel IX über die Schweiz, ferner Kapitel X, in dem u. a. über die Tschechoslowakei (S. 302 ff), Dänemark (S. 309) und Norwegen (S. 310) berichtet wird, also über Länder, die vom Dritten Reich besetzt wurden, und Italien (S. 310 ff), das unter Hitlers wachsenden Einfluß geriet. Auch die kurze Geschichte der 20 000 Flüchtlinge in Shanghai (S. 322 ff), die großenteils unterstützt werden mußten, verdient Beachtung ) *. Schließlich enthält das Buch eine wertvolle Bibliographie mit 880 Titeln (S. 597-658).

Zum Schluß will ich noch auf das ausgezeichnete Buch von Jacques Vernant, The Refugee in the Port-War World, London 1953, aufmerksam machen, das auf Veranlassung des Hohen Kommissars für Flüchtlinge G. J. van Heuven-Goedhart mit großzügiger Unterstützung der Rockefeller-Stiftung und mit Hilfe eines Stabs von Mitarbeitern zustande gekommen ist. Es entspricht dem Werk von Sir John Hope Simpson, The Refugee Problem, London 1939, nur daß es den Stand 14 Jahre später festhält. Da die Arbeit alle Arten von Flüchtlingen umfaßt und alle diejenigen, die Bürgerrechte im Gastlande erworben haben, ausschließt, ist der Personenkreis ein anderer als in meiner Darstellung. Trotzdem gehört das Werk aus mancherlei Gründen in mein Essay hinein. Die meisten Flüchtlingsbewegungen der Zeit nach dem zweiten Weltkriege sind noch Folgen der Weltmachtspolitik Adolf Hitlers. Die Darstellung Vernants zeigt, daß die Ausrottung der 6 Millionen Juden im Dritten Reich bei den Verantwortlichen in der ganzen Welt einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hat. Die Organisationen der Vereinten Nationen, die sich in der Nachkriegszeit mit der Flüchtlingsfrage beschäftigen, arbeiten weit effektiver als die des Völkerbunds in der Hitlerzeit zwischen den beiden Weltkriegen. Audi gewinnt man den Eindruck, daß vielen Regierungen die Produktivität der Einwanderungen nicht mehr unbekannt ist. Daher kommt es zu einer planmäßigen Zusammenarbeit zwischen den internationalen Organen für die Flüchtlinge und den Aufnahmeländern und die vorliegenden Aufgaben, wie groß und schwierig sie auch sein mögen, werden gelöst. Es ist daher vielleicht zu hoffen, daß, wenn wieder einmal eine Minorität in Not und Gefahr gerät, rasch und planmäßig Maßnahmen ergriffen werden, um sie vor der Vernichtung zu retten. Darüber hinaus gibt der umfangreiche Bericht (827 Seiten) eine vollständige Übersicht über die Aufnahme-Länder, ihre Lage, Größe und wirtschaftliche Verhältnisse, eine Geschichte ihrer gesamten Fremdenpolitik und die Lage der aufgenommenen Flüchtlinge. Schließlich bringt er eine Bibliographie, die 10 Seiten füllt und für die künftige Forschung unentbehrlich ist. Daher ergänzt diese vorzügliche Untersuchung meine kurze Darstellung in mannigfaltiger Weise.

Die Emigration aus dem Dritten Reich als Aufgabe der Forschung

Ein erster Versuch Dies ist ein erster Versuch. Ich habe zweifellos nicht alle Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich erfaßt. Die europäische Emigration mit anderer Muttersprache habe ich bei Seite gelassen. Die meisten Hauptprobleme der deutschsprechenden Emigration sind, meine ich, eingeschlossen. Aber ich habe sie keineswegs erschöpfend dargestellt, sondern mich bei vielen begnügt, sie kurz zu berühren, um nachdrücklich auf dieses große, fesselnde, wenig bearbeitete Forschungsgebiet hinzuweisen. )

Die nichtjüdische deutsche Emigration Das Verhältnis der jüdischen Emigration aus dem Dritten Reich zur übrigen deutschen Emigration wird mehrmals mit 90: 10 Prozent angegeben; aber das sind nur Schätzungen. Über den wirklichen LImfang der nichtjüdischen deutschen Emigration gibt es wenig zuverlässiges Material. Vgl. Vernant S. 60: We do not know the exact number of Die non-Jewish refngees from Germany, Austria and Czechoslovakia.

aktiven antinazistischen Gruppen in den Emigrantenzentren (an denen ja auch Juden teilnahmen) waren nicht groß, einige Hundert, wenn man von Paris, London und New York absieht. Wie viele nichtjüdische deutsche Flüchtlinge durch die Erwerbsverhältnisse und die Fremdenpolitik der Regierungen auf die Provinzen verteilt waren, ist schwer zu schätzen. Vielleicht könnten die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die katholische und die protestantische Kirche und andere verfolgte Organisationen in Deutschland Auskunft geben über die Stärke der Emigration aus ihren Reihen. Ebenso ist der Umfang der Rückwanderung dieser Emigranten, die ihren Aufenthalt in der Fremde überwiegend als Exil auffaßten, schwer festzustellen; aber zweifellos ist ein erheblicher Teil im Ausland geblieben. Die weitgehende Zersplitte-rung der nichtjüdischen Emigration in mannigfaltige Gruppen erschwert ihre Erfassung, sowohl die statistische wie die ihrer Leistungen. Meine Darstellung des geistigen Lebens, an dem sie ja sehr starken Anteil hatte, ist nur ein Ausschnitt, wenn auch ein wesentlicher, da er in der Emigranten-Literatur dauernden Niederschlag gefunden hat.

Die deutsche Emigranten-Literatur Auf das geistige Leben der deutschen Emigration und auf die Emigranten-Literatur als dessen greifbaren Niederschlag bin ich am ausführlichsten eingegangen, weil es mein eigenes Fachgebiet ist, auf dem ich am meisten gearbeitet habe. Bisher war das Interesse für diesen Zweig der deutschen Literaturgeschichte unter den deutschen Literatur-historikern sehr gering. Ein angesehener Ordinarius der deutschen Literaturgeschichte fragte mich ernsthaft, ob denn überhaupt irgend etwas von dauerndem Werte da draußen entstanden sei. Es war ihm offenbar ganz unbekannt, daß 1933 der größere Teil der deutschen Schriftsteller von Rang geflohen ist. Audi sonst konnte ich Unwissenheit und Gleichgültigkeit feststellen.

Was geschieht zu ihrer Erforschung?

Auf Professor Dr. Wolfgang Mohrs Aufforderung hin schrieb ich für die neue Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte einen knapp angelegten Überblick über die Emigranten-Literatur der Hitlerzeit. Der zweite Teil meiner Arbeit „Die humanistische Front“ blieb, wie schon erwähnt, ungedruckt und liegt mit dem zugehörigen Material in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main zum Gebrauch künftiger Forschung. Professor H. W. Eppelsheimer bemüht sich sehr um die Ergänzung der Sammlung. Noch wichtiger ist, daß er die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt veranlassen konnte, Mittel zu bewilligen, daß ein deutscher Emigrant in London, Herr W. Sternfeld, ein biographisches Lexikon der emigrierten deutschen Schriftsteller ausarbeitet. Professor Karl Pinthus, Columbia University, New York, hat eine Bibliographie der deutsch veröffentlichten Bücher und Schriften der Emigration aus dem Dritten Reich fertiggestellt, die 3 000 Titel umfaßt. Wenn erst diese beiden Arbeiten gedruckt vorliegen, wird die ganze Fülle und Vielgestaltigkeit dieser deutschen Emigranten-Literatur in gedrängter Form sichtbar. An ihr ist die nichtjüdische deutsche Emigration zweifellos mit mehr als zehn Prozent beteiligt.

Politische Hemmungen Die Wissenschaft beschäftigt sich im allgemeinen lieber mit den Leistungen der Vergangenheit, sie meidet aus guten Gründen die noch aktuellen Probleme. Dazu kommen in diesem Falle noch weitere Hemmungen. Es wird den meisten Deutschen überaus schwer, sich mit der jüngsten Vergangenheit, mit dem Dritten Reich, auseinanderzusetzen. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, folgten sehr viele in nationaler Leidenschaft Adolf Hitler, der Deutschland zu neuer Macht zu führen schien, obwohl sie mit nationalsozialistischen Terror-, und Propagandamethoden keineswegs einverstanden waren. Als Volk in Waffen identifizierten sich die meisten Deutschen mit dem Dritten Reich. Ein großer Teil der deutschen Emigranten bekämpften Adolf Hitler in Wort und Schrift, ja, sehr viele sogar eingefügt in die feindlichen Heere. Es wird offenbar vielen Deutschen schwer, diese Emigranten nicht als Gegnet Deutschlands oder gar als „Landesverräter" anzusehen, während die Emigranten selbst überzeugt waren, für die Befreiung des Andern Deutschland von der nazistischen Terrorherrschaft zu kämpfen. Es bedarf zweifellos einer gewissen Zeit, um hierin eine entscheidende Wendung herbeizuführen.

Wird bald eine Wendung eintreten?

Aber vielleicht ist der richtige Zeitpunkt bald gekommen. Nadi dem ersten Weltkrieg kam die Hochflut der literarischen Weltkriegsbücher etwa 10 Jahre nach dem Waffenstillstand. Der Millionenerfolg von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ ereignete sich 1929 und er bahnte den Weg für die riesige Weltkriegsliteratur in vielen Sprachen, die schätzungsweise etwa 1500 Werke von einiger Bedeutung umfaßt. Was sich als Schicksal über die Völker hingewälzt hatte, einem schweren, langandauernden Gewitter vergleichbar, wurde in diesen künstlerisch gesteigerten und verdichteten Werken zum Menschheitsproblem umgestaltet. Es scheint, als wenn sich dies nun wiederholt. Unter der Herrschaft der Wasserstoff-, Kobalt-und anderen Atombomben und -waffen will sich die Menschheit wiederum mit der furchtbaren Wirklichkeit des zweiten Weltkrieges auseinandersetzen, in dessen Mitte das Dritte Reich und sein „Führer“ zur Weltmacht standen.

Bedeutung dieser Forschung Dann aber rückt das geistige Leben der deutschen Emigration und die Emigranten-Literatur in den Gesichts-und Interessenkreis. Hier ist ein großes Gebiet, das sich dem Machtbereich Adolf Hitlers völlig entzogen, ja sich ihm entgegengesetzt und die Sympathie der Welt gewonnen hat. Es ist ganz ungewöhnlich, daß ein Volk aus dem Munde aktiver Träger der eigenen großen humanen Kulturtradition eindringliche Urteile über die eigene Vergangenheit lesen kann. Daß diese Emigranten-Schriftsteller sich nicht nur die innere Freiheit wahrten, daß sie die äußere Freiheit im Ausland anwandten, ihre Überzeugung in einer Fülle mannigfaltiger Werke niederzulegen und gegen alle Irrlehren und Untaten der Hitlerschen Schreckensherrschaft zu kämpfen, das sollte sie der deutschen Forschung sehr anziehend machen. Mir scheint, daß das Studium des deutschen geistigen Lebens der Emigration aus dem Dritten Reich und die deutsche Emigranten-Literatur große kulturpolitische Bedeutung gewinnen kann zur Klärung der öffentlichen Meinung, zur Überwindung der schicksalsschweren unpolitischen Neu-romantikunter den Intellektuellen, zur Stärkung des Andern Deutschland, das endlich dauerhafte politische Wirklichkeit werden muß. Diese Forschung kann den Weg zur politischen Moralität und Reife finden helfen.

Aufgaben Es gibt sehr viele ungelöste Aufgaben auf diesem Felde. Es würde sich lohnen, eine Monographie über jedes Land zu schreiben, in denen sich Zentren deutschen geistigen Lebens gebildet haben, mit Hilfe aller zugänglichen gedruckten und handschriftlichen Quellen und der noch lebenden Persönlichkeiten, die aktiv daran teilgenommen haben. Dies wären kulturpolitisch gerichtete Arbeiten.

Aber die Emigranten-Literatur selbst birgt ebenso ungelöste Aufgaben im engeren Sinne literaturgeschichtlicher Art. F. C. Weiskopf schrieb in seinem Buche „Unter fremden Himmeln“, ein Abriß der deutschen Literatur im Exil, Berlin 1947, daß 1946 noch etwa die Hälfte der Emigranten-Literatur ungedruckt vorlag. Manches ist inzwischen erschienen, aber m. E. gibt es noch sehr viele Manuskripte, die vor dem Untergang gerettet werden müssen.

Ich habe in diesem Versuch eine Skizze entworfen, wie der Zusammenbruch Frankreichs die deutsche Emigranten-Literatur angeregt und befruchtet hat. Ähnliche Darstellungen über andere Länder sind fesselnde Themen. Vor allem aber ist es möglich, über eine lange Reihe führender Gestalten der Emigranten-Literatur Monographien auszuarbeiten, die viel völlig unbekanntes Material, z. B. aus der Emigranten-Presse an den Tag bringen würden.

Es müssen sehr viele Vorarbeiten geleistet werden, ehe man daran denken kann, eine zusammenfassende Literaturgeschichte der deutschen Emigration aus dem Dritten Reich zu schreiben.

Allzulange darf die Arbeit auf diesem Gebiete nicht aufgeschoben werden. Denn die emigrierten alternden Schriftsteller sterben, das deutsche geistige Leben in den früheren Zentren der deutschen Emigration welkt schnell dahin, die Zeugen und Zeugnisse der Blüte verschwinden. Es gilt also rasch zuzugreifen, um zu retten, was noch vorhanden ist. Nur wenn das deutsche Mutterland diese Schätze in seine eigene Kultur-tradition aufnimmt, bleiben sie lebendig und fruchtbar für künftige Generationen.

Noch einmal sei betont, daß diese deutsche Leistung der Emigration das einzige Gut aus ihrer reichen mannigfaltigen Produktivität ist, das die Heimat sich überhaupt aneignen kann, dank der Liebe und Treue der Emigranten zur deutschen Sprache und Kultur. Die gesamten übrigen produktiven Leistungen sind im Dienste der Gastländer zustande gekommen, ihrem Wirtschafts-und Kulturleben restlos eingefügt und verschmolzen und Deutschland für immer verloren gegangen.

Von allen anderen historisch-politischen, national-ökonomischen, soziologischen, psychologischen Forschungsaufgaben im Zusammenhang mit den Problemen der Emigration aus dem Dritten Reich sehe ich hier ab.

Hitlers Schreckensherrschaft hat nicht nur Hunderttausende von politisch wertvollen Menschen im innerpolitischen Kampfe vernichtet oder zeitlebens schwer an Leib und Seele geschädigt, nicht nur in seiner kriegerischen Außenpolitik Millionen deutscher Leben sinnlos geopfert, dazu durch die Vernichtung von 6 Millionen wehrloser Juden Deutschland eine nie ganz sühnbare Schuld aufgeladen, sondern auch noch viele hunderttausende qualifizierte Menschen in die Fremde getrieben. Das Dritte Reich war für das deutsche Volk ein sehr teures Experiment!

Fussnoten

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