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Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe | APuZ 26/1956 | bpb.de

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APuZ 26/1956 Zum Tag der deutschen Einheit Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe

Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe

WENZEL JAKSCH

Die Beratende Versammlung des Europarats hat das klar erkannt und mit großem Nachdrude ausgesprochen. Sie hat damit im Blick auf Deutschland nur noch einmal wiederholt, was dem Ringen und Streben nach der Einigung der europäischen Völker von Anfang an innegewohnt hat, nämlich die Absage an den Gedanken der Einschmelzung der nationalen Profile, die Absage an die Auflösung der nationalen Wesenheit zugunsten eines abstrakten europäischen Überstaates. Davon konnte und kann gar keine Rede sein. Das vereinte Europa wird ein Bund von Völ-Aberkehren wir zurück, meine Damen und Herren, aus der Weite zurück zu dem, was uns in dieser Stunde, was uns heute und morgen vor allem anderen bewegt! Kehren wir zurück zu der Halle 1 3 der Buna-Werke, wenden wir uns wieder denen zu, die vor anderen die Last und Bitterkeit der Teilung Deutschlands mühsam mit verborgenen Tränen und mit brennenden Hoffnungen auf sich nehmen müssen! Niemand — und das ist unser Elend — kann ihnen sagen, wann ihre Tränen getrocknet und wann ihre Hoffnungen erfüllt sein werden. Aber wir können und wir wollen ihnen heute von neuem sagen, daß mit uns ganz Deutschland sich zu ihnen bekennt. Wir in der Freiheit bleiben die Schuldner der Getrennten und der Bedrückten. Hier ist mit Lippenbekenntnissen nichts getan. Auch das beflissene Bemühen, den politischen Gegner in dieser Sache gelegentlich mit Worten zu übertrumpfen, ist hier fehl am Platz. Hier geht es nicht um eine Sadie dieser oder jener Partei, hier geht es um das nobile officium, um die vornehmste Pflicht der ganzen deutschen Nation. Verlangt wird dafür unser aller guter Wille, und gewogen wird die Tat, im großen wie im kleinen, die Tat des einzelnen wie die des Staates, die Tat der schweigenden Hilfe wie die des großen politischen Einsatzes im Ringen der Weltmächte.

Der Tag kommt doch

Jährliche Durchschnittsleistung per Traktor in Stunden

Vortrag des früheren Vorsitzenden der Sudetendeutschen Sozialdemokratie, Wenzel Jaksch, MdB, anläßlich der Jahrestagung der Seligergemeinde in Bad Brannenburg/Obb. am 17. und 18. Dezember 1955

Die deutsche Demokratie muß in dieser Zeit einen Generalnenner für ihr geschichtliches Wollen finden, ein gemeinsames Konzept aller staatserhaltenden Kräfte für die Bestrebungen zur • friedlichen Selbstbehauptung des deutschen Volkes. Diese Erkenntnis drängt sich mir stärker denn je auf, als ich mich fragte, in welchen gesdiiditsphiloso-plüsdten Rahmen die beiden Schicksalsthemen der Wiedervereinigung und des Heimatansprudtes der vertriebenen Deutschen hineingestellt werden sollen.

So kam ich zu der Ausgangsthese: Wir dürfen diese Forderungen nicht aus einem egoistischen nationalstaatlichen Denken heraus vertreten. Unser Einstehen für deutsche Redttsforderungen muß vielmehr eingegliedert werden in das weltweite Ringen um eine neue Epoche der Menschlichkeit.

Die Unmenschlichkeit ist im Vormarsch, die Menschlichkeit ist in der Defensive.

Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der konstitutionellen Bewegungen, das Jahrhundert der Demokratisierung, eine Epoche der siegreich vordringenden Menschlichkeit. kern sein, deren nationale Integrität und Besonderheit sich lebendig bewahrt und kraftvoll weiter entfaltet. Es wird ein modernes, ein großzügiges, den heutigen und den zukünftigen Weltverhältnissen angemessenes Staatsgebilde sein. Aber es wird gewiß nicht sein ein Eintopf der Nationen. Weil das so ist, deshalb ist der Kampf um die Einigung Deutschlands kein Einwand gegen die weiterbestehende Notwendigkeit der Einigung Europas, und umgekehrt gilt das gleiche: die notwendige Einigung Europas ist kein Einwand gegen, sondern ein Grund mehr für die Einigung Deutschlands.

Kommt der Tag X? Kommt der Tag der Einigung des Vaterlandes? Es war kein leeres Wort, sondern es war der Trumpf eines kalten, bösen Willens, der in jener Halle der Buna-Werke sich damals offen zu erkennen gab mit dem Wort: „Der Tag X kommt nie“. Wir unterschätzen nicht die Gewalt dieses Willens, und wir verkennen nicht, wer ihr einstweilen noch seine große Macht leiht. Der Ernst dieser Lage ist uns bewußt. Wir begegnen ihr mit nüchternem Blick, furchtlos und offen für jeden vertretbaren Versuch, mit den Mitteln des Friedens die Freiheit und die Einheit unseres Vaterlandes herbeizuführen. Die Opfer, die wir dafür möglicherweise auf uns zu nehmen haben, werden uns vielleicht schwerfallen, aber gewiß nicht so schwer wie den anderen hinter dem Eisernen Vorhang die besonnene Geduld, die Zuversicht und der unbeirrbare innere Widerstand gegen die Parole der Knechtschaft und der Verführung. Ohne diese Gesinnung und Haltung wäre der Kampf um Deutschlands Einheit verloren. Weil diese Gesinnung und Haltung aber nicht nur am 17. Juni 1953 lebendig waren, sondern auch heute und morgen lebendig sein werden, deshalb sprechen wir aus einer Gewißheit, die uns diesseits und jenseits der widergöttlichen Scheidewand niemand rauben und nichts zerstören soll: Deutschlands Einheit wird kommen. Der Tag kommt doch

Das 20. Jahrhundert hingegen hat unser englischer Freund, der Labour-Abgeordnete Crossman, das „totalitäre Jahrhundert“ genannt.

Darin steckt eine große Wahrheit. Die revolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts standen im Dienste der Volksrechte und der Menschenrechte. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts münden in die Menschenknechtung moderner Diktaturen.

Die Entwicklungsgesetze des 19. Jahrhunderts standen irgendwie an der Seite des Menschen. Die liberalen Bewegungen jener Zeit haben trotz mancher blutigen Niederlage der Staatsentwicklung in weiten Teilen der Welt ihren Stempel aufgedrückt. In Europa folgten ihnen die großen sozialen Bewegungen auf dem Fuße. Auch sie hat man brutal niederzuhalten versucht und oft auch blutig unterdrückt. Aber aus der Verfolgung schöpften sie neue Kräfte. Der Fehlschlag der Sozialistenverfolgung unter Bismarck ist der klassische Beweis dafür.

Man kann die großen Wahlrechtkämpfe der Jahrhundertwende als die Wachablösung zwischen Liberalismus und Sozialismus bezeichnen. Die Fahne der Demokratisierung wurde aus den erschlaffenden Händen des Bürgertums von der aufsteigenden Arbeiterbewegung übernommen. In Belgien wie in Österreich, in Preußen wie in Ungarn waren die sozialistischen Parteien die Bannerträger des allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlrechts.

Mit aller Deutlichkeit muß hier klargestellt werden, daß die sozialistischen und gewerkschaftlichen Bestrebungen der europäischen Industrieländer von ihren Ursprüngen her iw Dienste des Huwanitäts-gedankens standen. Das Bekenntnis der Pioniergeneration zum Sozialismus war ein Bekenntnis zur Freiheit und Würde des Menschen. Die Menschwerdung des Arbeiters ist ihr völlig eindeutiges Ziel gewesen.

Zur Klärung der Sicht auf die Gegenwartsprobleme ist auch die Feststellung erforderlich, daß die Ideenwelt des freiheitlich-demokratischen Sozialismus entscheidend durch die Auseinandersetzung mit dem An-archiswus geformt worden ist. Sie begann schon 1848 mit dem geistigen Duell zwischen Marx und Bakunin. Auch in unserer engeren Heimat gab es einen heißen Kampf zwischen den sogenannten „WassersuppenSozialisten“ und den Anhängern des individuellen Terrors, welche die Ermordung von Staatsmännern und gekrönten Häuptern als „direkte Aktion" bezeichneten. Erst der Hainfelder Kongreß von 1888— 1889 machte diesem Zwiespalt zwischen „Radikalen“ (Anarchisten) und „Gemäßigten“ (Sozialdemokraten) in Altösterreich ein Ende. Der Anarchismus ist zwischen 1848 und 1890 eine beachtliche Größe in der europäischen Politik gewesen, welche die Entwicklung einer freiheitlichen Arbeiterbewegung um Jahrzehnte verzögert hat.

Aus der Ablehnung der anarchistisdren Putschtaktik ergab sich fast zwangsläufig die Hinwendung der Industriearbeiterschaft zur partamen- tarisdien Demokratie. Gleichzeitig wurden die schlimmsten Ausbeutungsmethoden des Spätfeudalismus und des Frühkapitalismus überwunden. Der Vollendung der Bauernbefreiung folgte um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Beginn der Emanzipation der Industriearbeiterschaft. Den unleugbaren Schattenseiten der europäischen Entwicklung vor dem ersten Weltkriege stand ein mächtiger Drang zur idealistisdien Lebensgestaltung gegenüber, der nicht nur Arbeiter und Studenten, sondern auch weite Schichten der Intelligenz und der Gelehrtenwelt erfaßt hatte. Der Humanitätsgedanke war auch in den absoluten Monarchien auf dem Vormarsch. In den Gefängnissen des feudalen Ungarn durften politische Häftlinge nicht zu niedrigen Arbeiten herangezogen werden. Sie konnten ihre Gefängniszellen in Studierstuben verwandeln. Auch Lenin und Trotzki fanden als Verbannte des letzten Zaren in Sibirien Gelegenheit zum Bücherlesen, zur Jagd und sogar zur Flucht. 1914 ging diese Epoche der Menschlichkeit zu Ende.

Das „totalitäre Jahrhundert" begann 1917, mit dem Oktobersieg der Bolschewiki in den Wirren der russischen Revolution. Halten wir fest: Lenin hat nicht über den Zarismus gesiegt, sondern über eine sozialistisch-liberale Koalition, die die erste Runde der Revolution gewonnen hatte. Bei den Wahlen in die Konstituante (das verfassungsgebende Parlament des revolutionären Rußland) standen 9. 8 Millionen Wählern der Bolschewiki rund 20 Millionen Wähler der russischen Sozialdemokratie (Menschewiki) und der sozialrevolutionären Bauernpartei gegenüber. Diese beiden großen Parteien bekannten sich zum westlidten Humanitätsideal. Gemeinsam mit ihren liberalen Koalitionspartnern unter Professor Miljukow standen sie auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie. Ich habe die emigrierten Führer dieser Parteien, Dan und Martow, noch persönlich gekannt. Wir gehörten mit ihnen seinerzeit der Zweiten Internationale an.

Ich behaupte nicht, daß der ganze Trend zur Totalität seit 1917 eine Erfindung der russischen Kommunisten ist. Drei Fakten müssen wir jedoch wieder ins Blickfeld unserer Gegenwartsorientierung stellen: 1. Bis zum Ende des ersten Weltkrieges und später noch in den Gefängnissen und Lagern des bolschewistischen Rußland hat es eine mächtige russisdie Sozialdemokratie gegeben, die mit der deutschen Arbeiterbewegung viel inniger verbunden war, als etwa die polnischen oder tschechischen Sozialdemokraten;

Bis zum Auftauchen Lenins und seiner Minderheitengruppe im Lager der russischen revolutionären Bewegungen hat niemand ernstlich die Lehren von Marx und Engels im Sinne der Totalität ausgelegt oder zur Begründung eines terroristischen Einparteien-Systems mißbraucht. In den Gestalten von Pledianoff, Axelrod, Dan, Abramo- witsdt sind gerade aus den Reihen der russischen Marxisten glühende Verfechter des demokratischen Sozialismus hervorgegangen; 3. Der führende sozialistische Theoretiker Deutschlands, Karl Kautsky, gleichzeitig der maßgebendste Marx-Interpret der II. Internationale, hatte einen entscheidenden Anteil an der Verhinderung der Bolschewisierung der westeuropäischen Arbeiterbewegung.

Kautsky war in diesem großen Zusammenprall zwischen dem demokratischen und dem totalitären Sozialismus der „Dialektik“ Lenins und Trotzkis durchaus gewachsen. In einer ganzen Serie von Büchern und Schriften führte er von 1917 an den Nachweis, daß das bolschewistische System, unter dem Gesetz des Minderheitenterrors, nachdem es angetreten war, den Staatsterror zum Selbstzweck erheben müsse. Eine dieser Streitschriften Kautskys führte den bezeichnenden Titel: „Sozialismus oder Staatssklaverei?“ Diese Fragestellung am Beginn der zwanziger Jahre zeugte von einer souveränen Erfassung der Situation und von einem geschichtlichen Weitblick, der uns auch heute noch die Beurteilung der sogenannten Errungenschaften der Sowjetzone erleichtert.

Schwäche der geistigen Widerstandsfront Lassen wir uns in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Osten nicht auf das Glatteis falscher Fragestellungen führen! Eines der typischen Argumente zur Verniedlichung der Staatssklaverei in Rußland ist der Hinweis, daß im Vergleich zu den Verhältnissen im zaristisdten Rußland diese und jene Fortschritte erzielt wurden. In Wahrheit aber ist der Bolschewismus nicht als Alternative zum Zarismus auf die Bühne der Geschichte getreten. Er war die Alternative zum demokratischen Sozialismus der Menschewiki und zu dem bäuerlichen Reformprogramm der Sozialrevolutionäre. Man will heute alles, was im weiten Bereich der Sowjetunion groß und sogar gigantisch ist, als Errungenschaft des kommunistischen Zwangskollektivismus hinstellen. Unter einer demokratischen Regierung wären jedoch bestimmt ebenfalls Fabriken und Kraftwerke erstanden. Ebensowenig brauchte man für den Bau der Moskauer Untergrundbahn eine Diktatur. Die Industrialisierung, der Bau von Schulen und Erholungsheimen und die Technisierung der Landwirtschaft gehen auch in der Demokratie gut vonstatten, allerdings ohne Staatspolizei, ohne Schauprozesse, ohne die Menschenvernichtung in den Zwangsarbeitslagern. Mit Programmlosigkeit kann man die. kaltblütige Zielstrebigkeit der kommunistischen Weltrevolution allerdings nicht bekämpfen. Es gilt vielmehr der brutalen Gestaltungskraft der Totalität die Gestaltungskraft einer streitbaren Menschlichkeit entgegenzusetzen.

Die Schwäche der geistigen Widerstandsfront in Westdeutschland kommt entscheidend aus gewollten und ungewollten Mißverständnissen über die Identität von Marxismus und Sowjet-Kommunismus. Dies war auch eine der Hauptursachen des großen Sündenfalls der bürgerlichen Förderer Hitlers. Die „Harzburger Front", die Hitler in den Sattel half, beruhte auf der Erwägung, daß man den marxistischen Teufel mit dem faschistischen Beelzebub austreiben müsse. Ich habe mich schon 1936 mit meinem Buch „Volk und Arbeiter“ im Lager der dogmatischen Marxisten reichlich unbeliebt gemacht, so daß ich in diesem Streit als unverdächtiger Zeuge auftreten kann. Meine Aussage ist, daß die üblichen antimarxistischen Schlagworte als geistige Waffen für die Auseinandersetzung mit dem Osten völlig untauglich sind. Marx ist nun einmal einer der größten Propheten des industriellen Zeitalters, und wenn wir das in seiner Heimat nicht wahrhaben wollen, können wir es über Rangoon oder Tokio erfahren oder aus jeder beliebigen amerikanischen Universitätsbücherei. Marx hat aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts die ökonomischen Faktoren überschätzt. Manche seiner Thesen sind heute überholt, aber im entscheidenden Punkt hat er redtt behalten, nämlich, daß der Mensch des industriellen Zeitalters sein Leben bewußt gestalten muß, wenn er nicht zum Werkzeug unkontrollierbarer Kräfte herabsinken will.

Der Kapitalismus hat die alten menschlichen Bindungen entweder zerstört oder gelockert — man denke an die Zünfte oder an die bäuerB gen des Mittelalters! In Afrika, wo dieser Zerstörungsprozeß der alten Bindungen neuesten Datums ist, sind seine Folgen die Mau-Mau-Bewegung in Kenya, das unlösbare Rassenproblem im Süden und der Aufruhr im Norden.

Der moderne Mensch kann ohne die ordnende Hand der Gemeinschaft nicht leben. Darum sind alle großen Auseinandersetzungen unserer Zeit Kämpfe der Ideologien, d. h. Kämpfe um das Orduuugspriuzip der Menschheit. In diesem Ringen wird der idealistische Kern der Marx-sehen Lehre zu einer Waffe gegen den totalen Machtanspruch des Marxismus-Leninismus. Der junge Marx wird heute wieder aktuell, der den Kampf gegen die Selbstentfremdung des Menschen proklamiert und dessen Ziel die Selbstwiederfindung des Menschen war. Mit dem geistigen Inhalt des Marxismus befassen sich nunmehr in steigendem Maße die evangelischen Akademien in Deutschland und die jüngeren katholischen Schriftsteller Frankreichs, ich nenne nur Emile Baas und Jean Lacroix. Es wäre geradezu ein Akt geistiger Selbstverstümmelung, wenn wir in Westdeutschland den Standpunkt aufrecht erhalten wollten, daß alle Wege des Marxismus nach Moskau führen. Viel wichtiger erscheint es mir, die Gestaltungskraft des weltlichen Humanismus demokratisch-sozialistischer Prägung und des religiös betonten Humanismus katholischer oder evangelischer Observanz auf einen Nenner zu bringen.

Zeitalter der gefährdeten Freiheit Innerhalb der Sudetendeutschen und der Heimatvertriebenen überhaupt muß sich deshalb ein sozialistischer Flügel klar abzeichnen, weil wir den Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht unmöglich unter restaurativen Vorzeichen führen können. Wir Grenzland-Sozialisten bringen im Kampfe der Ideologien Erfahrungen mit, welche nicht mit unseren Alten ins Grab sinken dürfen. Die Kampfgefährten und die Schüler Josef Seligers sind es gewesen, welche am Beginn des ideologischen Ost-Westkonfliktes in der ersten Frontlinie standen. Abend für Abend sind wir vor 35 Jahren in überfüllte Versammlungen hinausgezogen, durch die der heiße Atem der Geschichte wehte und die oft bis Mitternacht von der Leidenschaft eines wahren Glaubensstreites erfüllt waren. Ausgerüstet mit der jüngsten Schrift von Karl Kautsky oder Otto Bauer haben wir uns als junge Kerle damals mit der leninistischen Dialektik eines Willi Münzenberg gemessen. Wir lernten dabei die neuen konspirativen Methoden der Kommunisten kennen. Erstmalig kamen wir mit dem russischen Sendungsglauben in Berührung, der damals wie heute mit den Zungen der deutschen Kommunisten gepredigt wird. In jenen Jahren ist die heutige politische Landkarte von Europa schon vorgezeichnet worden.

Die ungarische Sozialdemokratie wurde von den Kommunisten überrannt, die österreichische Sozialdemokratie hat sich glänzend behauptet. Heute ist das eine Land eine Volksdemokratie, das andere ist frei. Die tschechischen Sozialdemokraten wurden zunächst überrannt, wir haben uns behauptet. Sie sind heute versklavt — wir haben Hitler und die Austreibungen überstanden. Ein Drittel der deutschen Arbeiterbewegung fiel nach 1918 in die Hände der Kommunisten. Seit 1945 ist ein Drittel Deutschlands in ihren Händen. Skandinavien, England, Holland, Belgien und die Schweiz erwiesen sich als Hochburgen des demokratischen Sozialismus. Aber das heutige politische Elend Italiens und Frankreichs begann damals, als die Kommunisten in Paris und in Rom die Sozialdemokratie überflügelten.

In dieser Schau hat das „totalitäre Jahrhundert“ tatsächlich mit der Spaltung der Arbeiterbewegung begonnen. Die Diktaturen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus kamen später. Sie wurden unter dem Vorwand der Bekämpfung des Kommunismus errichtet. Umgekehrt behaupten nunmehr die Kommunisten in Mittel-deutschland und in den Volksdemokratien, daß ihre Diktaturen den Zweck hätten, eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern. Hinzu kommt, daß die moderne Waffentechnik und Propaganda die Herrschaft von Minderheiten über die Mehrheit begünstigt. Dadurch geraten auch nationalrevolutionäre Aufstände in das Fahrwasser der Totalität. Die Wiener „Arbeiterzeitung“ hat z. B. die republikanische Erhebung in Ägypten als eine soziale Revolution der dortigen Arbeiter und Bauern begrüßt. Aber es wurde eine Offiziersdiktatur daraus. Das Regime Peron in Argentinien war eine Mischung von Offiziersdiktatur und Gewerkschaftsregierung. Diese Regierungsform scheint in Südamerika weiterhin Schule zu machen. Nur in der Türkei erlebten wir den Über-gang von einer nationalrevolutionären Diktatur zu einem Mehrparteienregime. So sagt das heutige Weltbild aus, daß wir im Zeitalter der gefährdeten Freiheit leben.

Fänden wir uns damit ab, daß im August 1914 die Epoche der Menschlichkeit zu Ende ging, dann würden wir auch zugeben, daß wir auf verlorenem Posten stehen. Der Widerstand gegen die Totalität hätte dann nur den Sinn, den Vormarsch der Unfreiheit zu verlangsamen. Von dieser defensiven Einstellung müssen wir loskommen. Es gilt vielmehr den Kampf um eine neue Epoche der Menschlichkeit zu führen. Der Wendepunkt kann nur vom Menschen selbst kommen, von einer neuen Einstellung zum Leben und zur Gemeinschaft, von einem Bekenntnis zur sozialen und geschichtlichen Verantwortung. Die Klage über die verlorene geistige Einheit des christlichen Abendlandes führt uns nicht weiter. Wir können die Wissenschaft des Atomzeitalters nicht in die Klöster zurückverlegen. Völlig abwegig ist es auch, die Bestrebungen nach einer materiellen Besserstellung des Menschen als „Materialismus" abzutun. Alle die an den Errungenschaften unserer technischen Hochzivilisation teilhaben wollen, werden in materielle Lebensziele verstrickt. Manche Wünsche ergeben sich dabei aus den gesteigerten Anforderungen des Berufes und aus der allgemein höheren Lebenserwartung.

Bändigung der Technik durch gesellschaftliche Gestaltungskraft Die oberflächliche Anwendung der Fragestellung „Materialismus oder Idealismus?“ auf den sozialen Alltag ist pharisäerisch. Moeller van den Brucin hatte ausnahmsweise recht, als er seinerzeit schrieb: „Proletarier ist, wer Proletarier sein muß.“ Das Streben nach einem menschenwürdigen Lebensstandard ist Ausübung des Menschenrechts. Bei allen Lohn-und Preiskämpfen geht es doch letztlich um die Wertung des Menschen und seiner Leistungen für die Gemeinschaft. Die Lohnforderungen der Arbeiterschaft sind genau so legitim wie die Gehaltsforderungen der Beamten oder die Handelsspanne des redlichen Kaufmannes. Der Eis-schrank ist weder im Haushalt der Arbeiterfamilie noch auf dem Bauernhof länger als Luxus zu betrachten. Über das Ausmaß der Motorisierung läßt sich streiten. In den Weiten Kanadas müssen jedoch Seelsorger und Ärzte das Flugzeug benützen. In den Alpen ist der Hubschrauber ein Helfer der Bergwacht geworden. Es geht also nicht mehr um die Bejahung oder Verneinung der Technik, sondern um ihre Anwendung im Dienste des Menschen. Unsere Aufgabe ist die Bändigung der Technik durch gesellschaftliche Gestaltungskraft. Dazu brauchen wir den Motor eines sozialen Gerechtigkeitsempfindens, aber auch die Hingabe des beruflichen Sozial-Arbeiters und des Sozial-Beamten. Deutschland würde aber noch mehr selbstkritische Sozialplanung der englischen Fabier brauchen — mit ihrer Leidenschaft für fact-finding — und Sozial-Architekten vom Range eines Lord Beveridge.

Ein Duell der Sozialordnung Von diesen Einsichten her möchte ich einige Folgerungen für den Kampf um die Freiheit und Einheit Deutschlands ziehen. Soweit wir uns künftig mit den Gleichschaltungsforderungen der SED auseinander-zu setzen haben, ist es meine Überzeugung, daß eine sozial fundierte Demokratie in der Sache richtig liegt, daß uns jedoch die totalitäre Entartung des Sozialismus in der Methodik überlegen ist. Pankow ist mit seiner „gesellschaftspolitischen Fragestellung“ im Vorsprung, weil diese dem Kem der Sache, nämlich der Auseinandersetzung zweier Epochen, näherkommt. Der ganze Ost-Westkonflikt ist in erster Linie ein Duell der Sozialordnung und erst in zweiter ein Duell der Machtblocke. Eine Strategie der Selbstbehauptung Westdeutschlands und der Wiedergewinnung des ganzen Deutschland muß diesen Prioritätsstreit klären. Ich habe mich schon mehrfach für eine Teilbewaffnung der Bundesrepublik ausgesprochen, weil ich nicht will, daß uns bei einem zeitweiligen Schwächeanfall der Vereinigten Staaten einige tschechische Divi-sionen überrennen. Dieser Standpunkt, den ich selbstverständlich auch in den berufenen Gremien der SPD vertrat, ist schon mehrfach gegen die SPD zitiert worden: vom Abgeordneten Kiesinger im Bundestag und einige Male vom Bundeskanzler selbst. Deshalb weiß ich mich außerhalb des Verdachtes, daß ich etwa eine billige Ausrede für eine pazifistische Grundhaltung gegenüber der Sowjetpolitik suche. Es erscheint mir im Gegenteil wünschenswert, daß sich alle Gliederungen der sozialdemokratischen Bewegung, auch die Jungsozialisten und die Roten Falken einmal gegen den Zwedtpazifiswus der Kommunisten entschieden abgrenzen.

Die westdeutschen Kommunisten sind keine Friedenskämpfer, sondern verhinderte Rotarmisten. Und wenn das Mißtrauen der Tschechen und Polen den roten Militarismus der SED nicht dämpfen würde, könnten wir von ihm ein ganz schönes Aufrüstungstempo absehen.

Diese Einsiditen veranlassen midi, für die Kombination einer sozialen Offensivpolitik mit den unerläßlidten militärischen Maßnahmen zur Verteidigung der Freiheit einzutreten. Die Bundesrepublik ist dazu herausgefordert. Chruschtschew und Bulganin haben beim Kanzlerbesuch in Moskau den Anspruch vertreten, daß der Osten das Prinzip des geschichtlichen Fortschritts verkörpert und daß der Westen die dortigen Entwicklungen früher oder später nachholen müsse. Bulganin fügte scherzhaft hinzu, die Deutschen müßten eben jetzt die Suppe auslöffeln, welche Marx und Engels mit ihren Theorien eingebrockt haben. Prompt haben anschließend die Papageien von Pankow angekündigt, die DDR wolle mit der Bundesrepublik in einen Wettbewerb um die „bessere und glücklichere Lebensform“ eintreten. Diesen Gefallen sollten wir den Herren Grotewohl und Ulbricht auf alle Fälle tun und die Partie aufnehmen. Den Vorgeschlagenen Wettbewerb um die bessere und glücklichere Lebensform wird der Osten gewiß mehr mit dialektischen Künsten als mit praktischen Leistungen bestreiten. Dessen können wir sicher sein. Die Dialektik haben die Kommunisten aber nicht von Marx gelernt, sondern von Hegel. Sie ist im Wesen eine Begründung des geschichtlichen Fortschrittsdenkens. Den Fortschrittsgedanken hat die russische Intelligenz übrigens schon von Goethes Zeitgenossen Johann Gottfried Herder übernommen. Herder und der Göttinger Historiker Sdilözer haben auch die Behauptung von der angeborenen Friedfertigkeit der slavischen Völker in die Welt gesetzt. Die Friedenstaube Picassos scheint daher ein Re-Export der Ideen zu sein, die einst deutsche Gelehrte nach Rußland importiert haben. Aus der neueren Rußland-Literatur können wir ferner ersehen, daß der deutsche Philosoph Schelling auf die Entwicklung der slawophilen Bewegung einen mächtigen Einfluß ausgeübt hat, welche zuerst den Traum einer Ablösung Europas durch die russische Universal-monarchie verkündete.

In Deutschland wissen heute nur noch wenige Sachkenner um diese Befruchtung der russischen Entwicklung durch die deutsche klassische Philosophie, durch die deutsche Romantik und nicht zuletzt durch die wissenschaftlichen Begründungen des Sozialismus, wie sie Marx und Engels geliefert haben. All die großen Zukunftsträume, die einmal in Deutschland geträumt worden sind, kommen heute in der Gestalt des russisch-kommunistischen Sendungsbewußtseins wieder auf uns zu. Da gibt es kein Ausweichen. Wir können in dieser Partie nur dransetzen, was das deutsche Volk aus dem Erlebnis der braunen Diktatur und anschließend — in Mitteldeutschland und im Osten — aus der roten Diktatur gelernt hat und das ist eine ganze Menge. Im geistigen Felde sind wir nicht mehr Objekt der Weltpolitik. Die ungefesselte Kraft von 50 Millionen Deutschen im Westen hat den geschichtlichen Auftrag, im Namen von 65 Millionen Deutschen zu handeln. Diese Kraft kann sich nicht in der Negierung des Ostens erschöpfen. Ihre Sendung ist die Verwirklichung eines freien und sozialen Deutschland.

Soziale Aufrüstung

Ich vertrete die Auffassung, daß die Bundesrepublik im Rahmen einer Politik der friedlichen Selbstbehauptung des deutschen Volkes ein Programm der sozialen Aufrüstung entwickeln soll. Damit will ich kein neues Schlagwort in die Debatte werfen. Der Begriff der sozialen Aufrüstung stammt aus unserer sudetendeutschen Grenzlanderfahrung. Der hessische Ministerpräsident Zinn hat ihn in sein erstes Regierungsprogramm übernommen. Die „soziale Aufrüstung des Dorfes", wie sie in Hessen seit 1950 im Gange ist, wurde im Bericht des Luther-Ausschusses als eine „einfallsreiche und wirkungsvolle Verwaltungsleistung" gerühmt.

Der Begriff der „Sozialen Aufrüstung" kann daher nicht mehr als Schlagwort abgetan werden. Wir verstehen darunter eine höhere staatspolitische Zielvorstellung, welche alle Bestrebungen zur Vermenschlichung der Wirtschaft und des Staates umfaßt. Die gesellschaftspolitische Problematik der Gegenwart muß gemeistert werden im Geiste einer humanistischen Sozialphilosophie. Lassen Sie mich mit einigen Strichen unsere Ausgangsposition zeichnen.

Der Mensch der altindustrialisierten Länder ist besonders schutz-bedürftig: nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch der selbständig Schaffende, der Manager wie der Rentner. Am Beginn der Industrialisierung konnte die Wirtschaft bei der Heranholung von Arbeitskräften sozusagen aus dem Vollen schöpfen. Der seit Generationen aufgespeicherte Menschenüberschuß der Dörfer strömt in die Fabriken und Bergwerke. Die Gesundheitsreserven einer überwiegend bäuerlichen Bevölkerung standen ihr zur Verfügung. Zwei oder drei Menschenalter des Raubbaues an der menschlichen Arbeitskraft haben diese Reserven weithin verbraucht. Der Mensch ist das schwächste Glied in der wirtschaftlich-technologischen Entwicklung geworden. Er hat nichts mehr zuzusetzen. Die Energien, die er im Berufsleben und im sozialen Alltag verbraucht, müssen durch seine Freizeitgestaltung wieder erneuert werden. Zwischen Kreation und Rekreation, zwischen Arbeit und Erholung also, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang.

So ist es das zentrale Problem der altindustrialisierten Länder geworden, dem Menschen wieder seinen natürlichen Lebensrhythmus zurüdezugeben, d. h. eine gesunde Lebensplanung muß mit einer umfassenden Sozialplanung Hand in Hand gehen. Im Zeichen der modernen Hygiene ist die durchschnittliche Lebenserwartung höher geworden. Die Glasmacher oder die Weber müssen nicht mehr mit dreißig oder vierzig Jahren sterben, wie es noch um die Jahrhundertwende der Fall war. Auch sie können sechzig oder siebzig Jahre alt werden. Die Lebensplanung des schaffenden Menschen kann sonach wiederum alle vier Jahreszeiten des Menschendaseins umfassen: den Frühling und Sommer, den Herbst und den Winter des Lebens. In der Sprache der gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung übersetzt, bedeutet dies, daß die Schulbeanspruchung des jungen Menschen Raum lassen muß für eine frohe Kindheit und für unbeschwerte Lausbubenjahre; es bedeutet, daß in den Jugendjahren die Gesundheitsreserven aufgespeichert werden sollen für die Scheitelhöhe des Mannes-und Frauenalters; dies bedeutet auch, daß wir uns Zeit lassen sollen für einige Jahre geruhsamer Rückschau im verklärenden Herbstsonnenschein des Lebens. „Zeit lassen!" ist der Gruß der steirischen Bauern, wenn sie einander auf steilen Bergpfaden begegnen. Dieser Zuruf “ Zeit lassen!“ klingt durch alle Bücher der Weisheit, die uns der steirische Volksdichter Peter Rosegger hinterlassen hat.

Selbst der Winter hat im Zeichen des Wintersports für den modernen Menschen seine Schrecken verloren. Warum soll es unsere Lebens-planung anders halten? Die Abrundung der Lebensbahn von Sonnenwende zu Sonnenwende gehört zu unserer natürlichen Bestimmung. Mit anderen Worten: nicht mehr der ausgemergelte Rentner im Altersheim soll das Ziel unserer Lebens-und Sozialplanung sein, sondern der glückliche Opa und die von Liebe umhegte Oma im Familienkreis.

Auch im Völkerleben gibt es die Frage nach der Höhe der Zeit. Ist das deutsche Volk nach zwei verlorenen Weltkriegen so müde geworden, daß es sich aus eigenen Impulsen heraus keine großen Auf-gaben mehr setzen kann? Wir wollen die kommunistisch-panslawistische These von den jungen Völkern des Ostens und den alten Völkern des Westens nicht unbesehen übernehmen. Italiens Volkskraft ist in steilem Aufstieg. Die Holländer reichen fast an die Geburtenstärke der Polen heran. Die „westlichsten Europäer“, die Iren, sind von einer beneidenswerten rustikalen Urwüchsigkeit. Dazu kommt noch, daß die Unver-brauchtbarkeit Amerikas und besonders die wirtschaftspolitische Initiative der Vereinigten Staaten nach dem Kriege neue Voraussetzungen für die Konsolidierung und Erstarkung der ganzen westlichen Zivilisationsspähre geschaffen hat. Was das deutsche Volk anbetrifft, so möchte ich aus meiner Ost-West-Erfahrung die Behauptung wagen, daß es in den Lebensabschnitt der Reife und des inneren Ausgleichs eingetreten ist, wie ihn das britische Inselvolk wohl schon vor 1914 erreicht hatte.

Aus der Beobachtung der englischen Verhältnisse habe ich die Über-zeugung gewonnen, daß die Kraft eines Volkes ebensosehr von einer gesunden Lebensplanung des einzelnen abhängt, wie von der Sozial-planung der Gesamtheit. Von der englischen Lebensplanung können wir in Deutschland viel lernen. Das ganze Erziehungssystem ist dort auf die harmonische Entwicklung von Körper und Geist eingestellt. Dem Spieltrieb des Kindes wird neben dem Lehrzwang des Schulbetriebes ein ebenbürtiger Rang eingeräumt. Der Frühreife der heranwachsenden Jugend wird bewußt entgegengearbeitet. In Schule und Beruf wird der Charakter des Menschen ebenso gewertet, wie sein Können. Der unvermeidlichen Hast des Berufslebens begegnet der Engländer mit einem gesunden Phlegma. Er ist in erster Linie Privatmensch und erst in zweiter Linie Berufsmensdr. Der Engländer arbeitet auf einen geruhsamen Lebensabend hin, den er bei guter Gesundheit und in unverminderter geistiger Frische verbringen will. Männer und Frauen, die zwischen sechzig und siebzig Jahren noch ganz „auf der Höhe“ sind, bilden auf den britischen Inseln eher die Regel als die Ausnahme. Hinter allen Ambitionen der Schaffensjahre steht beim Durchschnittsengländer die Sehnsucht nach dem Rosengärtlein, jene reife Lebensphilosophie, die wir aus Adalberts Stifters „Nachsommer" kennen.

Aus dieser Gesamteinstellung heraus hat man in England aufgehört, große Altersheime zu bauen und dort jene unglücklichen Menschen zusammenzupferchen, die nach einem arbeitsreichen Dasein kein Heim und keinen unmittelbaren Familienanschluß mehr besitzen. Dafür werden zwischen die Normalwohnungen der modernen Wohnsiedlungen billige Wohnräume für alte Leute eingestreut. Der frohe Klang des Kinderlachens klingt dort auch zu ihnen. Die Männer können sich noch durch kleine Handreichungen nützlich machen, alte Frauen werden als Kinderaufpasser gesucht. Manche berufstätige junge Frau ist glücklich, Kinder und Haushalt zeitweise einer älteren Nachbarin anvertrauen zu könen. Eine solche Rücksichtnahme auf ursprüngliche menschliche Beziehungen — besonders auf die ewige Zuneigung zwischen dem abtretenden und dem kommenden Geschlecht — trägt noch viel Sonnenschein in das Leben der alten Leute hinein. Auf solchen Gebieten ist England nicht „alt“ und Rußland nicht „jung“, denn je unverbrauchter ein Volk, desto mehr ehrt es die Weisheit und die Würde des Alters.

In erster Linie Produktionswerkzeug In solcher Grundeinstellung zum Menschen offenbart sich der grundlegende Unterschied zwischen der Sozialkultur freier Völker und dem Gesellschaftssystem des Ostblocks. Für den Zwangskollektivismus des Ostens ist der Mendl in erster Linie ein Produktionswerkzeug. Schaudern und Mitleid erfaßt mich, wenn ich die Bilder von sogenannten „Bestarbeitern“ ansehe, wie sie von Zeit zu Zeit im Prager Kommunistenblatt „Aufbau und Frieden“ erscheinen. Diese leeren Gesichter, diese verkrampften Lippen! Ausgepreßt, wie die Zitronen, sehen diese Menschen aus, ob sie nun dreißig oder vierzig Lebensjahre zählen. Im besten Mannesalter bleibt ihnen keine Spannkraft mehr zu froher Geselligkeit, zur kulturellen Vielseitigkeit, ja, zum Menschsein überhaupt.

Man vergleiche damit Haltung und Gesichtsausdruck jener Arbeiter-generation, die durch die freie Turn-und Sportbewegung ging. Diesen Menschen wurde auch nichts geschenkt. Aber ihnen hat auf steinigen Lebenspfaden ein „inneres Licht“ geleuchtet, die sozialistische Idee in ihrer alten Reinheit, deren Verwirklichung nicht ein erbarmungslos hin-aufgeschraubtes Produktionssoll bedeutete, sondern immer höhere Stufen der Menschlichkeit. Diese Menschen hat der Zehnstundentag nicht niedergebeugt, weil ihnen das Ringen um Freiheit und Menschenwürde seelischen Auftrieb gab. Und aus dem Born ihres seelischen Reichtums wuchs ihre körperliche Spannkraft. Hin und wieder begegnen wir noch diesen alten Sozialdemokraten mit ihren Apostelgesichtern, aus denen eine reine Gesinnung strahlt. Sie sind die Kronzeugen einer humanistischen Epoche, Bewahrer des großen Glaubens aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung, der im Sozialismus die höchste Form der Menschlichkeit sah. Wo sich jedoch die östlichen Diktaturgewalten der sozialistischen Idee bemächtigten, dort erlischt dieses innere Licht einer idealistischen Gesinnung. Der Mensch wird auf Härte und Zweckmäßigkeit zugeschnitten.

Höherer Lebensstandard niemals Selbstzweck Hier sind wir bei dem großen Gegensatz der Zielsetzungen angelangt, die in dem geteilten Deutschland um die Oberhand ringen. Der sozialistisch getarnte Zwangskollektivismus kultiviert ein Teilmensdtentum von kläglicher Einseitigkeit und Seelenarmut. Der freiheitlich-demokratische Sozialismus erstrebt im bewußten Gegensatz hierzu ein Vollmenschentum, das aus selbsterrungener sozialer Sicherheit wächst und sich unter dem Schutz der Menschenrechte entfaltet.

Auf unserer Seite streitet in dieser Auseinandersetzung ein mächtiger Faktor: die höhere Produktivität der freien Arbeit. Auch die Seelen-kräfte sind ein Produktionsfaktor. Die Freude und auch die Liebe spornen den Menschen im Berufsleben an. Man hat dies sogar in der neueren Sowjetliteratur entdeckt und entsprechende Normen verkündet.

Die größere Produktivität des freien Menschen bietet den demokratischen Ländern auch die größere Chance zur Erreichung eines menschenwürdigen Lebensstandards aller ihrer Bürger. Doch der Unterschied von Demokratie und Diktatur ist nicht nur ein Wettlauf um die höchsten Produktionsziffern, der mit verschiedenartigen Mitteln ausgetragen wird. Für uns ist der höhere Lebensstandard niemals Selbstzweck gewesen. Die Apostel des humanistischen Sozialismus — ich nenne Josef Hofbauer einen von ihnen, weil sich sein flammender Pathos mir am tiefsten eingeprägt hat — haben immer wieder betont: unser Kampf um die materielle Besserstellung des schaffenden Menschen ist nur Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel war und ist der Aufstieg des Arbeiters — und zwar des Arbeiters im ehrenvollsten und weitesten Sinne des Wortes — zur selbstverantwortlichen geistigen und sittlichen Persönlidikeit.

Lassen Sie mich nun von diesen Gedanken her einige aktuelle Aufgabengebiete der sozialen Aufrüstung in Westdeutschland besprechen. Ich will damit nicht jenen Fachmännern ins Handwerk pfuschen, welche seit Jahr und Tag über die „Grundsätze" der „großen Sozialreform“ diskutieren. Wenn man die gleiche Diskussion auch in England erlebt und in den skandinavischen Ländern einigermaßen verfolgt hat, dann hat man allerdings den Eindruck, daß die deutschen Sozialpolitiker den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Ihre Fachsprache ist für den intelligenten Laien nicht immer verständlich und der Wust der Anpassungsgesetze wird immer mehr zur Geheimwissenschaft. Erstaunlich ist auch, wie wenig die vielen Lehrkanzeln der Soziologie und die Unzahl der mit ihnen verwandten Forschungsstellen bisher zur Aufhellung der sozialen Problematik eines geteilten Deutschland beigetragen haben.

Einige Grundsatz-Erwägungen

Wir müssen daher für ein System der sozialen Aufrüstung einige allgemeine Grundsätze aufstellen, die vielleicht mithelfen können, über den Streit der Expertenmeinungen hinaus den Blick wieder aufs Ganze zu richten. Der innere Zusammenhang zwischen Lebensplanung und Sozialplanung ist dafür ein Ausgangspunkt. Wir wollen dabei die Entscheidungen der heranwachsenden Generation nicht vorweg nehmen. Jede Generation bringt ein eigenes Lebensgefühl mit; jede stellt sich selbst ihre Aufgaben; -jede ringt um ihren eigenen Lebensstil. Daran können wir nichts ändern. Wir sollten uns jedoch bemühen, ein gesundes gesellschaftliches Klima für eine gesunde Lebensplanung der Jugend zu schaffen. Klafft z. B. die Wertung der Handarbeit und der Kopfarbeit in der Berufseinschätzung allzusehr auseinander, so werden junge Menschen zu Fehlentscheidungen bei ihrer Berufswahl veranlaßt, die sich später schwer korrigieren lassen. Darüber hinaus sollte eine Erziehung zum Sozialbürger dafür sorgen, daß die Lebensplanung der jungen Generation in eine festfundierte und entwicklungsfähige Sozialordnung hineinmündet. Unter den Gesetzen der Selbstbehauptung, die uns aufgezwungen sind, kann der moderne Mensch nur durch Anerkennung der gegebenen Gemeinschaftsbindungen seine Lebenserfüllung finden. Zerbricht die Gemeinschaft im Sturm der Zeit, dann ist der einzelne ein haltloses Blatt im Winde. Die Austreibungen haben es bewiesen.

Sozialplanung ist daher mehr als ein hobby für Sozialpolitiker. Sie soll uns vielmehr die Antwort liefern auf die Frage, wie sich das deutsche Volk als soziale Schicksalsgemeinschaft in den Stürmen der Gegenwart behaupten kann und welches Gewicht es hinter seine Rechts-forderungen zu setzen vermag.

Aus dieser Schau will ich einige Erwägungen anstellen, von denen ausgehend wir dann leichter zu praktischen Schlußfolgerungen gelangen können:

1. Die Verwenschlichung der Schule ist das erste Gebot. Unsere Kinder wachsen in die komplizierteste aller Welten hinein. Sie werden ein ganzes Leben lang zulernen müssen, um sich in dieser gefahrvollen Welt zurechtzufinden. Die Fülle des Lehrstoffes hat aber ihre Begrenzung an der Leistungsfähigkeit des jungen Organismus. Vor allem darf die Überbelastung der Schuljahre dem heranwachsenden Menschen nicht die Lust am Weiterlernen nehmen. Jedes Fachwissen sollte auf einem soliden Grundwissen beruhen. Verfrühtes Brotstudium züchtet armselige Geschöpfe der Zweckmäßigkeit, die ihr ganzes Leben lang unglücklich sind, auch wenn sie in ihrem begrenzten Fachgebiet Erfolg haben. Darum sollte die Hauptforderung einer gesunden Sozialordnung an die Schule sein: Laßt den Kindern ihre Kindheit! Treibt sie nicht in eine intellektuelle Frühreife hinein, laßt ihnen die Fähigkeit, nach der Schulzeit menschlich weiterzuwachsen. Aber gebt ihnen das Grundwissen von der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen und Völker mit.

2. Schulreform und Qesellschaftsreform sind kommunizierende Gefäße. Kein Lehrer kann ein guter Erzieher sein, wenn er die Bedürfnisse der Gemeinschaft nicht kennt, der er nützliche Glieder zuführen soll.

Ohne das geistige Firmament einer humanistischen Sozialphilosophie, ja, ohne das Leitbild eines erstrebenswerten Sozialzustandes, sind auch die besten Erzieher „Wanderer in das Nichts“. Familie, Schule und Berufserziehung haben die gemeinsame Aufgabe, dem jungen Menschen den bestmöglichen Platz in der Gemeinschaft anzuweisen, wo er dem Ganzen dienen und dabei selbst die höchste Lebenserfüllung finden kann. Nicht den Nutznießer sozialer Errungenschaften gilt es im Westen heranzuziehen — der sich im Wettbewerb der Sozialordnungen schließlich dem Meistbietenden verkauft — sondern den Sozialbürger, der mit einem gesellschaftlichen Gestaltungswillen ausgerüstet ist.

3. Der Stand der Sozialwissenschaften ermöglicht es, schon jetzt die Schwerpunktverteilung zwischen der geistigen und manuellen Arbeit abzuschätzen, wie sie sich in den nächsten Jahrzehnten in einem wiedervereinigten Deutschland ergeben wird. Der steigende Anteil des Angestelltenberufes, des öffentlichen Dienstes, der technisch-organisatorischen Berufe und nicht zuletzt der Forschungsarbeit kann aus dem Entwicklungsbild jener Industrieländer abgelesen werden, welche nicht durch zwei verlorene Kriege soweit zurückgeworfen wurden, wie wir. Auf der anderen Seite ist uns das Wissen zugänglich, daß eine allzu stürmische Abwanderung von der manuellen Arbeit, aus der Landwirtschaft und dem Bergbau vor allem, das Bevölkerungsgefälle des Ostens noch tiefer nach Deutschland hineinführen würde, als es bereits durch das Potsdamer Abkommen geschah. Die Probleme der Berufswahl und der Berufsschulung wurden mithin zu Fragen der Selbstbehauptung. Deshalb ist es an der Zeit, wenigstens die Umrisse einer künftigen gesamtdeutschenSozialordnung zu skizzieren und in deren Rahmen das Arbeitskraftpotential Westdeutschlands und Mitteldeutschlands aufeinander abzustimmen. 4. Die Wiederbesiedlung des deutschen Ostens ist eine gesamtdeut-sdte Aufgabe. Wenn wir die Exportkonjunkturen dieser Nachkriegszeit nicht mit einem Normalzustand verwechseln, dann ist es eine ernste Frage für alle, ob das produktive Potential von 65 Millionen Deutschen auf die Dauer auf ein Rumpf-Deutschland bis zur Oder und Neiße eingeengt werden kann. Sobald wir wieder mehr auf unsere binnenwirtschaftlichen Möglichkeiten zurückgeworfen werden, wird sich herausstellen, daß die begrenzten natürlichen Hilfsquellen Rumpf-Deutschlands die heutige Bevölkerungsdichte nicht tragen können. Allein die Frage der Wasserversorgung wird der industriellen Expansion Westdeutschlands eine Grenze setzen. Dieser kostbarste aller Rohstoffe wird für die Entwicklung dichtbesiedelter Industrieländer vielleicht von ausschlaggebender Bedeutung werden. Es hatte einen tieferen Sinn, daß die deutsche Ostkolonisation bis an die Quellgebiete der Elbe und Oder vorgedrungen ist und wir sollten uns von ihnen nicht dauernd abdrängen lassen. Die deutschen Ostgebiete sind nicht allein für die ostdeutschen Stämme verloren gegangen, sondern auch für die notwendige Breitenentwicklung der deutschen 'Volkswirtschaft schlechthin. Die künftigen deutschen Ostgrenzen werden nicht in letzter Linie von der Bereitschaft der deutschen Jugend gezogen werden, wieder die Felder Schlesiens und Pommerns zu pflügen und die Fabriken und Bergwerke der Austreibungsgebiete zu bemannen. Lernen wir beizeiten von der Opferbereitschaft des jüdischen Volkes. Aus jüdischen Rechtsanwälten und Kaufleuten sind Bauern geworden, als es darum ging, Israel wieder aufzubauen. Diesen Umweg könnten wir uns ersparen, wenn wir mit vorausblickender Berufslenkung das Sozialgefüge der ostdeutschen Stämme vor der völligen Einschmelzung bewahren. 5. Die Sozialordnung Westdeutschlands und später Gesamtdeutschlands ist das Schaufenster der freien Welt gegenüber den Satelliten- Völkern. Wir wissen, daß bei den Tschechen, Polen, Ungarn, Rumänen und Bulgaren die Hoffnungen auf Befreiung durch einen dritten Weltkrieg dahinschwinden. Das mag für sie schmerzlich sein, ist aber ein unvermeidlicher Prozeß der Ernüchterung. Mittlerweile begreift dort die geistig regsame Opposition, daß es im Ost-West-Konflikt primär um ein Duell der Sozialordnungen geht und daß die innere Festigkeit Deutschlands für die Zukunft Osteuropas von großer Bedeutung ist. Bis nach Rußland hinein reicht die Erwägung einer suchenden Generation, daß man mit einer Wirtschaftsform, die zwisdten MonopM- kapitalismus und Zwangskollektivismus liegt, die Grundlagen einer neuen Epodte der Humanität legen sollte. Wenn wir in dieser Richtung reale Fortschritte aufweisen können, überwinden wir zugleich hinter dem Eisernen Vorhang die lähmende Vorstellung, daß die Demokratie einer restaurativen Erstarrung verfallen ist und keiner Zukunftsgestaltung mehr fähig blieb. Es ist vor allem Sache der Bundesrepublik, den sichtbaren Gegenbeweis anzutreten. Damit geben wir auch den Satel-liten-Völkern neue Hoffnung. Jene beträchtlichen Teile der Slowaken und der Tschechen, welche über den heutigen Tag hinausdenken, machen sich mit dem Gedanken vertraut, daß die Alternative zu den Blöcken in Ost und West ein föderativ geeintes Europa sein wird, in welchem sie auch mit einem wiedervereinigten Deutschland beisammen sein werden. Ist die Zusammenarbeit mit einem wirklich freien und demokratischen Deutschland auch mit dem Übergang zu einer höheren Sozialordnung verbunden, dann wird diesen Völkern die Rückgabe der Austreibungsgebiete gar nicht mehr als ein besonders schmerzliches Opfer erscheinen. Die Satelliten-Völker erwarten von uns einen Beitrag zu einer neuen europäischen Lebensform, welche die kulturelle Eigenständigkeit der beteiligten Völker ebenso sichert, wie ihre enge wirtschaftliche Zusammenarbeit. 6. Die Zwischenaufgabe ist jedoch die Beendigung des Raubbaues an der menschlichen Arbeitskraft, wie er in besorgniserregendem Umfange in Westdeutschland, in erschreckendem Ausmaße aber in Mittel-deutschland betrieben wird. Hier wie dort muß an Stelle einer Teil-rationalisierung, die aus dem Menschen das Letzte herausholt, eine Gesamtrationalisierung treten, welche die Mehrproduktion durch ein gutes Zusammenspiel aller Produktionsfaktoren sichert. Auf beiden Seiten der Zonengrenze muß darüber hinaus ein neues Gleichgewicht zwischen Kräfteverschleiß, vorbeugender Gesundheitspflege und physischer Regeneration hergestellt werden. Die heutige Arbeitsintensität ist nur zu Verwaltungsmenschen. Daraus ergibt sich die Aufgabe einer neuen Durchplanung der Kulturlandschaft: Auflockerung der Städte, Vergärtnerung der industriellen Einzugsgebiete, Sicherung einer verkehrs-nahen Wochenenderholung, Abkürzung unzumutbarer Pendler-Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsplatz. Das weite Feld der Sozial-touristik ist noch zu bestellen. Im Zeichen der Freiheit schenkt sie auch den schaffenden Menschen das größere Heimaterlebnis und das Europa-Erlebnis, nach dem vor allem die Jugend hungert. Es wäre eines Versuches wert, die Zonenschranken durch eine gesamtdeutsche Planung der Sozialtouristik niederzureißen. „Sachsen in den Bayerischen Wald“ oder „Ostberliner in den Allgäu“ sind gute Themen für Betriebsversammlungen in Mitteldeutschland. Die Erhaltung der Volkskraft Mittel-deutschlands wäre es wert, daß die Bundesrepublik für solche Sozial-Touristen eine Ostmark für eine Westmark gelten ließe. Umgekehrt sollten wir der Großzügigkeit von Pankow keine Schranken setzen.

Keine Angst vor Kontakten! Streben wir die menschliche Begegnung mit der Bevölkerung der Sowjetzone mit einer klaren Vorstellung des Möglichen an, so ist die Gefahr einer ideologischen Infektion durch den Osten gering. Die politische Grenze beginnt für Sozialdemokraten allerdings dort, wo gelenkte „Delegationen“ durch ihren einseitigen Kon-takt mit den Machthabern der Zone das Schauspiel demokratischer Würdelosigkeit bieten. Idi bitte besonders unsere Freunde in den Betrieben und innerhalb der Betriebsräte, jeden Kontakt abzulehnen, der in seinen Auswirkungen zur Entmutigung aufrechter Sozialdemokraten in der Sowjetzone führen müßte.

In der nächsten Runde kommt es entscheidend auf die Widerstandskraft der Bundesrepublik an und auf die Ausstrahlungskraft ihrer Innenpolitik. Einen akademischen Streit darüber, welche „Errungenschaften" drüben beizubehalten sind, und welche Angleichungsmaßnahmen die Bundesrepublik treffen soll, halte ich für sinnlos. Bedeutsam war die Feststellung, die der katholische Sozialtheoretiker Nell Breuning vor einer Unternehmertagung getroffen hat, nämlich, daß man in Mittel-deutschland, soweit es sich um die Bodenreform und um die volks-eigenen Industrien handelt, das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen kann. Lassen wir es in diesem Punkt bei der Feststellung Erich Ollenhauers bewenden, daß solche Strukturfragen von einer freigewählten gesamtdeutschen Nationalversammlung entschieden werden sollen. Für uns sind Verstaatlichungen von Industriezweigen durchaus kein Selbstzweck. Es ist auch eine offene Frage, ob die heimatvertriebenen ostdeutschen Bauern auf kümmerlichen Neubauernstellen in Mitteldeutsch-land festgenagelt werden sollen. Man kann sich durchaus vorstellen, daß Teile des ehemaligen Großgrundbesitzes, die sich weiterhin zu einer zentralen Bewirtschaftung eignen, in das Eigentum der mitteldeutschen Gemeinden und Kreise übergehen. Umgekehrt müßte es auch für die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft interessant sein, daß unter einer bürgerlich-sozialistischen Koalition in Österreich 20 Prozent der Industrie und der gesamte Bergbau verstaatlicht worden sind, ohne daß die von Prof. Röpke befürchteten schlimmen Folgen eintraten. Die ganze westliche Welt, einschließlich der USA, ist in voller Entwicklung zu einer gemischtwirtschaftlicJ'ien Struktur. Wir Sozialisten werden in diesem Prozeß stets an der Seite der Gemeinschaftsinteressen stehen und die Anhänger der freien Wirtschaft werden sich weiterhin für das Privateigentum an Produktionsmitteln einsetzen. Diese klaren Fronten wollen wir in der Bundesrepublik gerade im Interesse der Demokratie nicht verwischen.

Das Problem der sozialen Integration

Um die Brückenpfeiler für ein Programm der sozialen Aufrüstung zu setzen, sollten wir uns in Westdeutschland über zwei unausweichliche Notwendigkeiten verständigen: a) Über eine Politik der gesicherten Vollbeschäftigung und b) über eine Politik der sozialen Integration der Gesamtbevölkerung.

Eine der größten Hoffnungen der Kommunisten im Kalten Krieg ist die nächste große Wirtschaftskrise, die da kommen soll. Sie muß nicht kommen, wenn die Demokratie willens und fähig ist, die Verteilung des Sozialproduktes zu kontrollieren. Es ist unter amerikanischen und englischen Volkswirtschaftlern-bereits eine Binsenwahrheit geworden, daß man eine Vollbeschäftigung sichern kann, wenn das Volkseinkommen nach einem wirtschaftlichen Gesamtplan in die Kanäle des Massen-konsums sowie der öffentlichen und der privaten Investitionen gelenkt wird. Mit diesem Ausmaß der Kontrolle und Lenkung der Wirtschaft steht und fällt die demokratische Regierungsform. Deutschland kann sich ein zweites Mal keine sechs Millionen Arbeitslose mehr leisten.

Lippenbekenntnisse zur Vollbeschäftigung genügen allein nicht. Zunächst müßte der Bundesfinanzminister in den fetten Steuerjahren die Reserven ansammeln und auch die Handhaben dafür sichern, daß der Staat machtvoll mit öffentlichen Investitionen in die Bresche springen kann, wenn ein ernster Rückschlag in der Weltwirtschaft eintritt. Verkehrswirtschaftliche und wasserwirtschaftliche Projekte entsprechenden Umfanges wären für diese Eventualität bereitzuhalten. Ganze Stadtviertel warten noch auf den Wiederaufbau und andere Stadtviertel mit Altwohnungen, die den Krieg überlebt haben, wären zum Abbruch reif. Die Auflockerung der Dörfer, wie sie Dr. Lübke mit Recht fordert, erfordert ebenfalls eine große Initiative. Anstatt die Bevölkerung mit der Hoffnung auf einen Dauerzustand der Prosperität einzuschläfern, sollte ihr Wachsamkeit und die Bereitschaft zur Umstellung gepredigt werden. Die Umstellung auf Automation oder auf atomare Energiequellen bietet weitere zusätzliche Produktionsaufgaben, wenn sie auch nicht von heute auf morgen kommen wird. Zunächst geht es aber darum, den einseitigen Sog des Ruhrgebietes und anderer Industriezentren Westdeutschlands zu dämpfen und auch in den Notstands-gebieten neue Industrien zu schaffen. Eine halbwegs gesunde Bevölkerungsverteilung der Bundesrepublik verlangt den Aufbau eines Sektors der geförderten Wirtschaft neben dem Sektor der freien Wirtschaft.

Eine Politik der Vollbeschäftigung erfordert außerdem ein positives Verhältnis zwischen „Wirtschaft“ und „Faktor Mensch“. Wenn einmal die Unternehmer nicht mehr aus dem Vollen der Volkskraft schöpfen können, dürfen sie auch den arbeitsuchenden Fünfzigjährigen nicht von ihrer Schwelle zurückweisen. Die Vermehrung der Leistungsjahre des einzelnen ist die beste Sozialpolitik, weil dann den wirklich Versorgungsbedürftigen auch entsprechende Hilfen gegeben werden können. Der Gesetzgeber hat vielen Kriegsversehrten den Zutritt zu Arbeitsplätzen erzwingen müssen und nachher haben in den allermeisten Fällen die Arbeitgeber herausgefunden, daß sie ausgezeichnete Mitarbeiter gewonnen haben. Auch die Zivilversehrten und Teilerwerbsfähigen sollten im Interesse einer Vollbeschäftigung die gleiche Berücksichtigung finden.

Menschen, die aus der Bahn geschleudert werden, bedürfen einer Hilfe zu neuem Existenzaufbau. Dies gilt insbesondere für Fälle von erzwungenem Berufswechsel. Kränkliche Menschen, die zu schwerer Arbeit nicht mehr fähig sind, können noch jahrelang einen Tabakladen führen. Ebenso ist einer arbeitsfähigen Witwe oftmals durch eine Existenzgründung mehr geholfen als durch eine Rente. Die Schaffung von kleinen selbständigen Existenzen kann mit verhältnismäßig geringen Mitteln gefördert werden. Wir haben es bei den Heimatvertriebenen ausprobiert und der Staat kassiert jetzt die Zinsen in der Form höherer Steuereingänge ein.

Eine soziale Demokratie muß dem Schwächeren das Gefühl der Geborgenheit geben und dem Aufstiegswilligen eine faire Chance. Es wäre nicht gut, wenn ein neuer Industrie-Feudalismus schließlich nur die zwei Klassen der Arbeitnehmer und der Manager hervorbringen würde. Im Wettbewerb mit den Wirtschaftsgiganten in Ost und West braucht Deutschland vielmehr eine ausgeglichene Wirtschaftsstruktur, in der auch der kleine Selbständige und der mittlere Unternehmer seinen Platz hat. Auch die Bewahrung eines selbständigen und freien Bauerntums ist für Westdeutschland eine Lebensnotwendigkeit.

Drüben im Ostblock geht die Zwangskollektivierung unerbittlich vorwärts. In der berechtigten Abwehr dürfen wir aber den Individualismus nicht auf die Spitze treiben, indem jedes Bäuerlein mit seinem eigenen Traktor herumfährt, sich auf eigene Faust verschuldet und sich damit für die Apostel des Radikalismus reif macht.

An diesem Punkt wird besonders deutlich, daß wir auf den extremen Kollektivismus des Ostens nicht mit einem extremen Individualismus antworten können. In einer Veröffentlichung der Vereinten Nationen über die Mechanisierung der Landwirtschaft („Farm Mechanisation“ 1950) wird angeführt, wie z. B. die Struktur einzelner Länder die maximalen Nutzungsmöglichkeiten des Traktors bestimmt.

Die genossenschaftlichen Landmaschinenhöfe in Kärnten holen hingegen jährlich 1500 Arbeitsstunden aus einem Traktor heraus. Die gleiche Rekordleistung erreicht die gemeinnützige Landmaschinenhilfe der englischen Grafschaft Huntingdon, die ich im Vorjahr studiert habe. Im Vergleich der Traktoren-Leistung von UdSSR und USA ist die kollektivistische Nutzungsweise der individualistischen Anwendung um mehr als das Doppelte überlegen. Gleichzeitig aber kommt der genossenschaftliche Einsatz von Landmaschinen in Kärnten und England an die sowjetischen Spitzenergebnisse heran. Hier wird die Formel von Staatssekretär Thedick bestätigt, daß man gegen das Prinzip des Kollektivs das Prinzip der Gemeinschaft setzen muß.

Aus diesen Erwägungen heraus hat es das Land Hessen unternommen, mit der Förderung der Dorfgemeinschaftshäuser neue Mittelpunkte der Gemeinschaftsbildung zu schaffen. Da und dort haben Kirchen und Gastwirtschaften in diesen Dorfgemeinschaftshäusern eine Konkurrenz vermutet, doch diese Mißverständnisse sind längst überwunden. Eines dem Maße, in dem wir mit den humanen Methoden der sozialen Inte(Krs. Marburg) gebaut, und zwar durch die Initiative eines katholischen Geistlichen, der lange in russischer Gefangenschaft war. Dort lernte er, daß man sich nur in der Gemeinschaft gegen das Kollektiv behaupten kann!

Von der Fürsorgepflicht zur Eingliederungspflicht

Jede Einzelmaßnahme der sozialen Aufrüstung, wie etwa die Förderung kommunaler oder genossenschaftlicher Maschinenhöfe mit öffentlichen Mitteln, muß ihre Rechtfertigung in dem betreffenden Fachgebiet finden. Es kommt aber ebensosehr auf den Zusammenklang dieser Maßnahmen an. Sie werden sich werbend für die Demokratie auswirken, wenn sie in den Dienst einer höheren Zielvorstellung gestellt sind. Die gesellschaftspolitische Konzeption der Demokratie muß im Wettbewerb mit der Totalität Gemeinschaftsziele herausstellen, die in ihrer Art ebenfalls Gesamtlösungen der sozialen Frage repräsentieren. Im Grundsätzlichen erfordert dies, daß die Demokratie über die Anerkennung der Fürsorgepflicht hinausgeht und die Verpflichtung zur produktiven Eingliederung des einzelnen und zur sinnvollen Zusammengliederung der Gesamtheit übernimmt.

Der Weg führt also von der sozialen Aufrüstung zur sozialen Integration. Der Begriff der Eingliederung ist in Westdeutschland bei der Behandlung des Vertriebenen-, Flüchtlings-und Evakuiertenproblems geläufig geworden. Wir konnten dabei Erfahrungen sammeln, die weit über den Wirkungsbereich der bisherigen Sozialpolitik hinausgreifen. Was man so unter dem Begriff der „Flüchtlingsverwaltung“ abtut und möglichst bald zu Gunsten der „klassischen Verwaltung liquidieren will — alle Rechnungshöfe der Bundesrepublik sind sich darüber einig — das ist in Wahrheit ein großartiges Instrument einer neuen Sozial-technik. Wir haben im Nachkriegsdeutschland nach den Grundsätzen der Freiwilligkeit und des bestmöglichen produktiven Einsatzes fast eine Million Menschen von Land zu Land umgesiedelt. Nimmt man die Um-siedlungsmaßnahmen der Länder hinzu, so ist diese Hilfe zwei bis drei Millionen Menschen geleistet worden. Kein Kaiser, König oder Diktator hat uns das bisher vorgemacht. Wer redet außerdem in der Sowjetzone, in den Satellitenstaaten oder in der UdSSR von „Familienzusammenführung"? Wir praktizieren sie in Westdeutschland seit Jahr und Tag. Nur Familien, die jahrelang getrennt waren, wissen, was Trennung oder Zusammenführung in der Bilanz des Menschenglücks bedeutet. Wir haben in Westdeutschland gelernt, Menschen an die Arbeitsplätze heranzuführen und ihnen gleichzeitig menschenwürdige Wohnungen zu schaffen. Und als Gegenstück brachten wir neue Arbeitsmöglichkeiten zu den Bewohnern der Notstandsgebiete; im Rahmen des Hessenplans haben wir in Hessen allein einige hundert neue Fabriken und vielfach die neuen Wohnungen dazu.

Wir haben gelernt, neue mittelständische Existenzen aufzubauen; die Existenzaufbauhilfen aus dem Lastenausgleich und die Kleinkredite der Länder, teilweise auch die ERP-Mittel, werden in den Dienst zielbewußter Existenzschöpfung gestellt. Wo kann ein anderes europäisches Land dergleichen aufweisen?

Und schließlich ist die Ansetzung des heimatvertriebenen Landvolkes in der Bundesrepublik, so ungünstig auch die allgemeinen Voraussetzungen sein mögen, wohl eines der besten Beispiele einer sozial gesteuerten Siedlungspolitik. Die Kombinationen der verschiedenen Kreditarten und die Methoden der Siedlerauswahl sorgen in hohem Maße dafür, daß der richtige Mann an die richtige Stelle kommt. Das Flüchtlings-Siedlungs-Gesetz könnte z. B. in jedem westeuropäischen Lande als ein Instrument gegen die Landflucht übernommen werden, weil es dem kapitalschwachen Bewerber ermöglicht, in auslaufende Bauernhöfe einzutreten.

Westdeutschland hat in den letzten zehn Jahren ein Viertel seiner heutigen Einwohnerschaft als Neubevölkerung schlecht und recht eingegliedert. Mit Rücksicht auf den herrschenden Kapitalmangel mußte dabei aus der Intelligenz und der Arbeitsfreude der Bevölkerung das meiste herausgeholt werden. Diese Leistung ist besonders für jene Länder interessant, welche aus anderen Gründen mit einem stürmischen Bevölkerungszuwachs rechnen müssen, und die ebenfalls unter einem chronischen Kapitalmangel leiden. Anstatt die sogenannte Flüchtlings-politik abzubauen, ehe noch die eigentliche Eingliederung der Vertriebenen, Sowjetzonenflüchtlinge und Evakuierten in den Grundzügen vollendet ist, sollte die westdeutsche Staatspolitik ernstlich prüfen, welche dieser Hilfsmaßnahmen in ein System der sozialen Integration zu übernehmen sind, daß der Gesamtbevölkerung dient.

Das Prinzip der sozialen Integration

Hier stoßen wir wiederum auf die Kampflinie zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. In dem Streben der Völker und Staaten nach einem möglichst großen Anteil an dem Zeitalter der technischen Hochzivilisation müssen überall neue Hilfsquellen erschlossen und neue wirtschaftliche Schwerpunkte geschaffen werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit großer Verschiebungen im Einsatz der menschlichen Arbeitskraft. Die Diktaturen verschieben die Bevölkerung einfach mit Zwangsmaßnahmen. Die Demokratien sind durch das Prinzip der Freizügigkeit gebunden. Sie müssen mit den Mitteln der Berufserziehung und Berufsberatung, mit Kreditlenkung, übergebietlicher Arbeitsvermittlung und mit der wirtschaftspolitischen Steuerung des sozialen Wohnungsbaues ihr Auslangen finden. Diese Mühen tragen jedoch ihre reichen Dividenden in der höheren Produktivität der freien Arbeit. In dem Maße, in dem wir mit den humanen Methoden der sozialen Integration Erfolg haben, entziehen wir dem Zwangskollektivismus seine eigentliche Begründung, nämlich die, daß gesellschaftlicher „Fortschritt“ mit den Mitteln des Zwanges vorangetrieben werden muß. Die planmäßige soziale Integration ist das eigentliche Gegenprinzip zu einer sozial-fortschrittlich getarnten Totalität.

Das Ziel einer solchen Integrationspolitik ist die sinnvolle Gruppierung der Nation um ihre produktiven Aufgaben. Zu seiner Verwirklichung bedarf es eines Grundstocks von Sozialkapital, welches in ständigem Umschlag begriffen ist. Mit billigem Sozialkapital, wie es der Lastenausgleich für die Hilfen an verschiedene Geschädigtengruppen zur Verfügung stellt, könnten folgende Förderungsmaßnahmen für alle sozial schwachen Bevölkerungsschichten eingeleitet werden:

Existenzaufbauhilfen Wohnbaudarlehen Aufbaukredite für Jungverheiratete Umsiedlungshilfen Kredite für Arbeitsplätze in den Notstandsgebieten Siedlungskredite.

Zum Teil sind diese Maßnahmen schon im Gange, wie die jährlichen Mittelzuwendungen des Bundes und der Länder zum sozialen Wohnungsbau. Aber der soziale Wohnungsbau ist durch die Bestrebungen gefährdet, welche die ganze Wohnungswirtschaft wieder dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterwerfen wollen. Der Lastenausgleich wird ebenfalls mehr und mehr von den sozialen Hilfen auf die Hauptentschädigung umgeschaltet werden. Was sich jedoch in den schwierigsten Aufbaujahren bewährt hat, sollte nicht als vorübergehende Notstandsaufnahme so rasch als möglich zum alten Eisen geworfen werden.

Deshalb ist die Zusammenfassung der bisherigen Eingliederungsmaßnahmen in ein langfristiges Programm der sozialen Integration unerläßlich. Im Grunde geht es darum, dem kleinen Mann den Zutritt zu billigen Kapitalsquellen zu erschließen. Die Verschuldung einer Arbeiter-oder Angestelltenfamilie aus einer beruflichen Übersiedlung ist oft eine Bürde für Jahre hinaus. Noch schlimmer ist es, wenn Jungverheiratete ihre Wohnungseinrichtung auf Raten kaufen müssen. Ratenschulden kosten 12 Prozent Zinsen im Jahr. Das Hessische Aufbauwerk gibt jedoch Darlehen für Hausratsanschaffung mit zweijäriger Laufzeit für einen dreiprozentigen Verwaltungskostenbeitrag. Der tiefere Sinn solcher Maßnahmen ist, dem kleinen Manne eine gesunde Lebensplanung zu ermöglichen. In Westdeutschland könnte das ERP-Sondervermögen von 5, 6 Milliarden durch entsprechende Umfinanzierungen in rotierendes Sozialkapital verwandelt werden. Dazu kommen noch die zwei Milliarden Vermögen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung, denen im Zeichen der Vollbeschäftigung eigentlich keine Leistungsverpflichtungen gegenüberstehen. Bund und Länder könnten ihre bisherigen Leistungen für den sozialen Wohnungsbau und für die verschiedenen Eingliederungsmaßnahmen entsprechend verlängern, bis sich der laufende Bedarf an Sozialdarlehen aus den Rückflüssen deckt.

Aus den Notstandsprogrammen zur Eingliederung von Vertriebenen, Flüchtlingen und Evakuierten könnte damit ein Wohlstandsprogramm zur ständigen Verbesserung der Sozialstruktur geformt werden. Einzelne Verbesserungen werden oft ohne viel psychologische Wirkungen hingenommen. Die Gesamtkonzeption eines demokratisch regierten Volkes zum Aufbau einer freien Sozialkultur an den Grenzen der Tyrannei würde in Deutschland und außerhalb Deutschlands die Herzen und Hirne in Bewegung setzen. Den Begriff der „deutschen Sozialkultur“ habe ich zum ersten Male einem Vortrag des oberschlesischen Sozialdemokraten Johann Kowoll entnommen. Er erläuterte uns seinerzeit als Gastredner, daß bei der oberschlesischen Volksabstimmung Tausende polnischer Arbeiter für Deutschland gestimmt haben, nicht weil sie ihr Volkstum verraten wollten, sondern weil sie die höhere deutsche Sozial-kultur bejahten. Man hat es vom Grenzland her wahrscheinlich besser gesehen, daß Deutschland, im Vergleich zu seiner Umwelt, das Geburtslandeiner neuen Sozialkultur war. Wirtschaftlicher Aufstieg und das Kulturstreben der breitesten Volksschichten gingen hier Hand in Hand. Die Erhöhung des Realeinkommens des Arbeitnehmers setzte sich in Deutschland fast automatisch um in schönere Wohnungen, in Bücher, Urlaubsfreuden, Turnhallen und Sportplätze. Wohnkultur, Freizeitkultur und Musikkultur sind aus dem Gesamtbild des Lebens in Deutschland nicht wegzudenken, weil aus der inneren Sauberkeit des einfachen Volkes das Bedürfnis nach einer sauberen, geordneten und verschönten Umwelt wächst.

Darum betrachte ich das Arbeitsethos des freien Menschen, eine von menschlichem Höherstreben getragene soziale Aufrüstung, eine der Gemeinschaftsbejahung entspringende soziale Integrationspolitik und ein mächtiges Verlangen der schaffenden Menschen nach höherer Sozialkultur als die wahren Geheimwaffen Deutschlands in der Auseinandersetzung mit dem Sendungsglauben des Ostens.

Wenn ich die jungen Menschen sehe, die fast täglich als Besucher durch die Gänge des Bundestages strömen und ihr lebhaftes Interesse für allgemeine Dinge bekunden, dann schöpfe ich immer wieder Hoffnung, daß sie ein neues Zeitalter der Menschlichkeit heraufführen werden, wenn jung und alt bis dahin für die Bewahrung der Freiheit zusammenstehen. An der Front der Menschlichkeit ist Platz für die Achtzehnjährigen wie für die Achtzigjährigen. Irgendwie muß die Lücke überbrückt werden, welche die herausgeschossenen Jahrgänge der Mittelgeneration hinterlassen haben. Deshalb muß die ältere Generation im Ringen für Menschenrechte und sozialen Fortschritt ausharren, bis wieder eine tragende Generation in die Bresche springt. Denn nur ein soziales Deutschland hat eine Zukunft.

Anmerkung:

Wenzel Jaksch, geb. 25. September 1896 in Langstrobnitz (Sudetenland). 1929 bis 1938 Abgeordneter der Prager Nationalversammlung. März 1938 Parteivorsitzender der sudetendeutschen Sozialdemokratie. 1939 bis 1949 emigriert. 1950 bis 1953 Leiter des Hessischen Landesamtes für Flüchtlinge. Mitglied des Deutschen Bundestages.

D. Dr. Eugen Gerstenmaier, Oberkonsistorialrat, geb. 25. August 1906 in Kirchheim/Teck (Württemberg). 1935/36 Habilitation an der Universität Berlin. 1937 Entziehung der Dozentur. Mitglied des Kreisauer Kreises um Graf Moltke. Wegen Beihilfe am Staatsstreich des 20. Juli 1944 verhaftet und zunächst zum Tode, später zu langjähriger Zuchthausstrafe verurteilt. 1945 Gründer und Leiter des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland bis 1951. Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Mitglied des 1. Deutschen Bundestages. Delegierter bei der Beratenden Versammlung des Europarates. Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Präsident des Deutschen Bundestages.

Fussnoten

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