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Zum Tag der deutschen Einheit | APuZ 26/1956 | bpb.de

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APuZ 26/1956 Zum Tag der deutschen Einheit Der Kampf um Wiedervereinigung und Heimatrecht als sozialistische Aufgabe

Zum Tag der deutschen Einheit

EUGEN GERSTENMAIER

Rede des Bundestagspräsidenten D. Dr. Gerstenmaier in der Feierstunde anläßlich des „Tages der deutschen Einheit" am 17. Juni 1956 im Plenarsaal des Bundeshauses Herr Bundespräsident! Herr Bundeskanzler! Exzellenzen! Meine Damen und Herren!

Am 26. Juli 1953, einige Wochen, nachdem russische Panzer den Aufstand gegen die Unterdrückung Mitteldeutschlands nieder-geworfen hatten, wurden die Arbeiter der Buna-Werke bei Merseburg in der Werkhalle B 13 zusammengerufen. Die Regierung Grotewohl hatte einen ihrer tüchtigsten Propagandisten geschickt. Er sollte erreichen, was russische Panzer nicht erreichen können: er sollte aus Unzufriedenen Zufriedene und aus Erniedrigten beglückte Gefolgsleute der Pankower Regierung machen. Der Mann gab sich Mühe. Er pries den Staat der Arbeiter und Bauern. Aber dieser Lobpreis fand bei den Arbeitern der Buna-Werke so wenig Gehör und Echo wie bei den anderen, vor denen er zuvor und danach das gleiche tat. Als ein geübter Mann erfaßte er indessen, woran die Leute vor ihm dachten und woran sie rätselten, und so rief er ihnen denn zu: „Einen zweiten Tag X wird es nie mehr geben!“ Da aber erschallte die Antwort, die einzige, die er erhielt: „Der Tag X wird kommen!"

Ja, der Tag X, der Tag der Wiedervereinigung Deutschlands, wird kommen! Das ist die Parole des heutigen Tages, das ist das Thema aller seiner Feiern. Sie sollen unser Auge weit mehr auf das Zukünftige als auf das Vergangene richten, obwohl sich dieser Gedenktag auf ein fest umrissenes geschichtliches Ereignis gründet. Wir wollen nicht, daß über dem großen, in die Zukunft weisenden Thema dieses Tages das geschichtliche Ereignis des 16. und 17. Juni 1953 vergessen wird. Denn der Aufbruch jener Tage ist nicht nur ein Grund unserer Hoffnung, sondern er hat auch programmatische Kraft und Bedeutung. „Wir fordern Herabsetzung der Normen!“ Das hatten die 300 Bauarbeiter vom Block 40 auf das Transparent geschrieben, mit dem sie am Morgen des 16. Juni 195 3 durch die Stalin-Allee in Ost-Berlin zogen. Es ging ihnen um das Nächstliegende: um tragbare Arbeitsbedingungen und gerechten Lohn. Aber schon in ihrem ersten Zusammenstoß mit den Trägern des Regimes wurde jedem kund, daß es eben nicht allein um etwas weniger oder mehr Brot ging, sondern vor allem darum, daß dieses Brot in Freiheit erworben und in Freiheit gegessen werden kann. Es war ein klassisches Thema der Geschichte der Menschheit, das an jenem Nachmittag in der Leipziger Straße zu Berlin wieder einmal abgehandelt wurde. Es geschah nicht mit feierlichen Reden und nicht im festlichen Rahmen — nein, in der Atmosphäre des Aufstandes kam es zu jener dramatischen Begegnung zwischen Macht und Recht. In wenigen Sätzen schaffte sich die Existenznot der Unterdrückten und die Not der geteilten Nation einen elementaren Ausdruck. Ein unbekannter Bauarbeiter hat der Stunde das Wort und die Deutung gegeben, mit der sie ihren Rang in der deutschen Geschichte gewonnen hat. Er trat vor die Reihen und er sagte, was heute noch im ganzen Bereich der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands so gültig ist, wie es an jenem Nachmittag war; er sagte: „Es geht hier nicht mehr um die Normen und um die Preise; es geht hier um mehr. Wir wollen frei sein! Wir fordern freie und geheime Wahlen!“ Eine Volkserhebung hatte der Mann den Marsch durch Ost-Berlin genannt, und sie war es. In wenigen Stunden sprang sie über auf 3 50 Städte Mitteldeutschlands. Die Herrschaft der Grotewohl, Ulbricht, der Nuschke und ihrer Trabanten wäre im Sturm hinweggefegt worden, wenn die Erhebung nicht von dem Panzerring der russischen Armee erdrückt worden wäre.

Größe und Redlichkeit der Gesinnung

Der 17. Juni 195 3 mit seinen Toten und seinen Eingekerkerten war kein Sieg des Regimes von Pankow. Er war weit eher eine Demonstration der banalen Wahrheit, daß in der gewaltsamen Auseinandersetzung geladene Kanonen stärker sind als geballte Fäuste.

Der 17. Juni 1953 war auch kein Sieg der Freiheit. Und dennoch ist er kein schwarzer Tag in der Geschichte Deutschlands, sondern er gehört zu den Ereignissen, auf die sich unsere Hoffnung gründet.

Der heutige Gedenktag ist darum weder ein Volkstrauertag noch eine Siegesfeier. Wir sind arm geworden an Siegen. Namen und Tage, die in der Generation vor uns mit Recht Glanz und Klang gehabt haben, sind verblaßt und fast vergessen. Die Kriege und die Niederlagen dieses Jahrhunderts haben ihre Schatten über sie geworfen. Sie haben uns zurückhaltend gemacht gegen den Lobpreis allen Schlachten-ruhms. Aber heißt das, daß wir nun in unnatürlicher Verkehrung unsere Niederlagen besingen? Nein! Niederlagen werden nicht gefeiert; Niederlagen von der Größe und Gewalt, wie sie uns zuteil wurden, dürfen jedoch auch nicht einfach vergessen oder aus unserem Bewußtsein verdrängt werden. Wir würden uns damit um einen tiefen Sinn der geschichtlichen Erfahrung bringen, die wir in dieser Generation gemacht haben. Ja, wir würden den fruchtbaren Kern unserer Opfer und Leiden verschleudern, und wir würden mit leeren Händen auf den Acker der Zukunft unseres Volkes treten. Der 17. Juni erinnert uns daran. Denn jener Aufschrei der Getrennten, der in Unfreiheit und Entbehrung niedergehaltenen 18 Millionen Deutschen ist nicht nur das Aufbegehren gegen die gnadenlose Gewalt, in deren Hand sie sind, sondern er ist auch ein verzweifelter Versuch, die unerträglich gewordene Last, die bitterste Folge des zweiten Weltkrieges, die Teilung Deutschlands, abzuwerfen. Nein, in dieser Stunde, an diesem Tag der deutschen Einheit geht es nicht darum, Niederlagen zu heroisieren, weder die vom 8. Mai 1945 noch die vom 17. Juni 1951.

Diese Stunde hat ein anderes Thema. Sie ist auch nicht auf Klage, kaum auf Anklage gestimmt. Sie gehört vielmehr dem Bekenntnis zu einer Gesinnung und dem Lob einer Tat und Haltung, die beispielhaft sind, auch wenn ihnen bis heute Sieg und Erfolg versagt blieben. Aber ist das berechtigt? Wissen wir nicht etwas davon, daß in der Politik nicht die anständige Haltung und die ideale Gesinnung, sondern die Erfolge, die handfesten Erfolge schließlich den Ausschlag geben? Und fühlt sich heute nicht jeder Anfänger berufen, uns darüber zu belehren, wenn wir auch nur einen Augenblick davon absehen? Nun, es ist so recht eine Aufgabe dieser Stunde, dieser allzu billigen Weisheit wieder einmal die Flügel zu beschneiden in deutschen Landen. In Königsberg, in Ostpreußen, empfingen einst nicht nur die Könige Preußens Krone und Weihe, ehe sie die ersten Diener ihres Staates wurden. Nein, in Königsberg empfing auch das Denken der Deutschen einmal neue Zucht und Klarheit aus der stillen Gelehrtenstube und dem Hörsaal Immanuel Kants. Er hat seine Zeit und alle, die da meinen, nur der Erfolg, der greifbare Erfolg zähle, wieder gelehrt, daß die Größe und die Güte einer Tat nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie von dem Erfolg abhängen, der ihr beschieden ist, sondern von der Größe und Redlichkeit der Gesinnung, die in ihr lebendig, von dem guten Willen, der in ihr mächtig ist.

Hören wir einen Satz Immanuel Kants: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“. Es ist an der Zeit, daß in Deutschland dieser klare und ernste Ton wieder gehört und verstanden wird.

Was entscheidet in der Politik? Der Erfolg? Ja, der Erfolg! Aber wenn man sich zu dieser Antwort entschließt, dann muß man auch wissen, daß nur von dem Erfolg die Rede sein kann, der vor der Geschichte zu bestehen vermag. Wo sind denn die Erfolge des Mannes, der vorgab, Deutschland von Erfolg zu Erfolg zu führen? Wo ist Großdeutschland? Es ist dahin! Das Reich ist zerteilt und zerstückelt, Preußen ist ausgelöscht, und durch das Herz Deutschlands läuft die Schnittlinie zweier Welten. Das ist einstweilen die Wahrheit über unser Vaterland, und sie bleibt auch dann noch wahr, wenn wir dankbar und besonnen nichts, garnichts von dem übersehen, was uns die letzten sechs, acht Jahre an Wiederaufbau hier im freien Teile Deutschlands gebracht haben. Es ist nicht wenig. Im Gegenteil, gewaltige Wundflächen am Körper unseres Volkes sind verheilt. Wir können leben, und die meisten von uns leben nicht schlecht. Wir sind frei, und wir können uns unbehindert in der freien Welt bewegen. Aber wenn wir von Hannover nach Magdeburg oder auch nur durch das Brandenburger Tor in Berlin gehen wollen, dann fangen die Schwierigkeiten an. Dann heißt es Achtung geben, dann heißt es die Worte wägen; denn dann regieren nicht mehr die Freiheit und das Bürgerrecht, sondern dann herrschen die Allmacht einer Staatsmaschine und die Gewalt einer Doktrin.

Unser Elend, unser nationales Elend besteht heute nicht darin, daß wir in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die großen Verlierer gewesen sind. Es besteht nicht einmal heute darin, daß wir Unersetzliches an Gut und Blut, an Land und Leuten vertan und verloren haben. Nein, unser Elend, unser nationales Elend besteht heute darin, daß wir mit dieser Vergangenheit nicht fertig werden können, daß wir böse an sie geschmiedet bleiben, solange Deutschland geteilt und in dieser Teilung weltumspannenden Gegensätzen unterworfen bleibt. Gewiß, es mag außerhalb Deutschlands einigen bequem, ja beruhigend sein, die Neugestaltung des Deutschen Reiches verhindert zu sehen. Wer aber, fragen wir, gewinnt denn dabei etwas?

Idi glaube, wir haben allen Grund, heute auch der fairen Unterstützung unserer Verbündeten zu gedenken, wie es der Herr Bundeskanzler heute hier getan hat. Wir sind dankbar für die entschiedene Vertretung des deutschen Einheitsverlangens, wie sie soeben wieder in der Botschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und in Erklärungen der englischen und der französischen Regierung zum Ausdrude kam. Aber selbst wenn das beharrliche Einheitsverlangen der Deutschen den Weltmächten lästig wäre oder lästig würde, so könnte doch keine Rede davon sein, daß wir deshalb dieses Verlangen aufgeben. Wir können das weder um unseretwillen noch um des Friedens in Europa und in der Welt willen tun. Denn zum Frieden der Welt gehört die Ermöglichung einer freiheitlichen Rechtsordnung, die das ganze deutsche Volk umfaßt und die es insgesamt zu einem verläßlichen Partner des Friedens macht. Wer diese Befriedung Deutschlands verhindert, der tut niemandem, gewiß aber nicht dem Frieden einen Dienst, und wenn er noch so viel von Frieden und Entspannung in der Welt redet.

Außerdem sollte allgemach nicht nur in Pankow, sondern auch in Moskau eingesehen werden, daß die Stunde der Gleichschaltung ganz Deutschlands — wenn sie je einmal da war — für immer vorbei ist. Denn ob geteilt oder vereint — in Deutschland, im deutschen Volk wird der Weltkommunismus weder in seiner aggressiven noch in seiner progressiven Gestalt eine Chance haben. Dagegen verhindert die Teilung Deutschlands gewaltsam den aufrichtig von uns angestrebten Ausgleich zwischen Deutschland und Sowjetrußland, und sie steht, was mindestens ebenso betrüblich ist, unserem Wunsch nach einer friedlichen und freundschaftlichen Begegnung mit dem russischen Volk erdrückend im Wege.

Die Unnatur dieses Zustandes gefährdet allerdings auch die innere, die seelische Gesundung des deutschen Volkes und seines Nationalgefühls. Der Vertrag von Versailles hat dem deutschen Volk die Unterwerfung unter die unhaltbare Behauptung von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands am ersten Weltkrieg abverlangt. Diese Kriegsschuldlüge hat wie wenig anderes das deutsche Nationalgefühl belastet und Hitlers Aufstieg gefördert. Die gewaltsame Teilung Deutschlands ist geeignet, das Nationalgefühl der Deutschen wach und lebendig zu halten. Aber sie ist noch mehr geeignet, dieses Nationalgefühl von neuem zu verwunden und einen Mythos zu züchten, der der Wiedervereinigung durchaus hinderlich und einer neuen gefährlichen Verdunklung unseres geläuterten Nationalgefühls nur dienlich sein kann. Man muß das sehen, und man muß es auch aussprechen.

Dieser Tag und diese Stunde sind dem Bekenntnis zu einer großen Gesinnung gewidmet. Darum verlangen sie von uns Selbstbesinnung und innere Rechenschaft. Die Gesinnung und Haltung, zu der wir uns bekennen, trägt keinen Zug von nationalistischer Leidenschaft in sich. Sie meint nichts anderes und sie ist nichts anderes als ein schlichter Ausdruck des entschiedenen Willens zu freiem Menschentum.

Der Aufstand in Mitteldeutschland war eine vielleicht verzweifelte, aber völlig eindeutige Kundgabe dieses Willens, der im ganzen deutschen Volk lebendig ist: Wir wollen hinfort Menschen und nicht mehr Objekte einer totalitären Staatsmacht sein! Deshalb war es ein Aufstand des guten Willens, und darum gehört er in die Nachbarschaft des 20. Juli, in die Nachbarschaft jenes anderen Aufstandes, in dem neun Jahre zuvor in einem letzten äußersten Wagnis das Gewissen der Nation sich erhob, um die Rettung des Reiches und seines Bodens, um die Rettung von Millionen von Menschenleben zu versuchen.

Lind der Erfolg? Nun, ein kalter Rechner mag von beiden, vom 17. Juni und vom 20. Juli, sagen, daß sie Fehlschläge, daß sie nutzlose, weil erfolglose Unternehmungen gewesen seien, In Tat und Wahrheit aber sind sie nicht nutzlos gewesen. Denn in ihnen wurde Deutschlands Würde verfochten, und damit sind sie trostvolle Sterne über einem dunklen Stück der deutschen Geschichte geworden.

Zu einem klaren Bild der eigenen Geschichte

Die Dreiteilung Deutschlands ist eine Folge aus diesem Stück unserer Geschichte. Das darf nicht verschwiegen werden. Aber sie ist keine selbstverständliche Folge, und diejenigen, die sie gezogen haben, können sie in Wahrheit vor keinem Recht länger vertreten. Sie ist schon längst zu einem Mittelpunkt, ja, zu einem Brandherd der weltpolitischen Auseinandersetzung geworden. Ihre Beseitigung durch die Wiedervereinigung Deutschlands wird schließlich auch wieder nur das Ergebnis einer weltpolitischen Verständigung sein. Es ist darum nichts mit der Suggestion, daß es nur der heroischen Anstrengung und Entschlossenheit des deutschen Volkes bedürfte, um seine Wiedervereinigung zustande zu bringen. Wohl aber glauben wir, daß die weltpolitische Verständigung über die Einigung Deutschlands nicht zustande kommt, wenn wir selbst nicht unseren ganzen Willen daransetzen! Der Platz, von dem aus ich hier spreche, ist der Ort, an dem mit Verstand und Leidenschaft immer wieder zusammengetragen und geprüft wird, was wir im freien Teil Deutschlands dafür tun können. Von dieser Stelle aus haben die berufenen Sprecher aller hier vertretenen politischen Richtungen und Gruppen sich seit Jahr und Tag im Wettstreit darum gemessen, den besten und den schnellsten Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands zu finden. Heute stehen jedoch hier nicht die politischen Methoden dafür zur Debatte, sondern ihre Voraussetzungen diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges. Von vordringlicher, vielleicht entscheidender Bedeutung bleiben dabei die Kraft und Festigkeit des Freiheitswillens in der sowjetisch besetzten Zone. Solange dieser Freiheitswille lebendig ist, so lange steht der ganze von Panzern und Vopo-Maschinenpistolen gestützte Staatsbau der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik auf Sand. Staatsgebäude aber, die auf Sand gegründet sind, die sind gewiß nicht für die Ewigkeit gebaut. $Selbstverständlich bedarf es in der Bundesrepublik erst recht eines nicht weniger entschlossenen Willens. Der freie Teil Berlins muß uns gerade dann wieder als Beispiel gelten, wenn wir am Horizont unseres Lebens die Gefahr heraufziehen sehen, daß sich nicht wenige diese Freiheit so selbstverständlich und so billig werden lassen, daß ihnen über der Freiheit ihrer eigenen Person, ihrer Gruppe, ihres Verbandes, ihrer Interessenverfechtung die schuldige Achtung vor der Freiheit der ganzen Nation und dem ganzen deutschen Vaterland abhanden zu kommen droht. Ohne die Freiheit des Vaterlandes und den Respekt davor steht aber die Freiheit des einzelnen und seines Kreises auf tönernen Füßen. Dieser Respekt muß sich vor allem in der Bereitschaft ausdrücken, auch vertretbare Opfer zu bringen. Der demokratische, der freiheitliche Rechtsstaat wird ruiniert, wenn er zur Wildbahn der Interessenkämpfe oder zum haltlosen Gefälligkeitsstaat erniedrigt wird. Es gibt indessen keinen hinreichenden Grund, unsere Bereitschaft zu Opfern in Zweifel zu ziehen, wenn damit die Wiedervereinigung erlangt werden kann. Ein nicht vertretbares Opfer wäre allerdings nicht erst die Preisgabe, sondern schon die unzumutbare Gefährdung unserer teuer erkauften Freiheit. Wir müssen offen bleiben für das, was uns der Ablauf der politischen Ereignisse in der Welt an Wandlung unserer politischen Methoden und unserer zeitbedingten Übereinkünfte abverlangt. Keine Rede aber kann und darf davon sein, mit militärischen Operationen oder mit offener oder getarnter Unterwerfung unter die Unfreiheit den Eisernen Vorhang zu heben.

An einem Tag, an dem wir der deutschen Einheit gedenken, darf noch etwas anderes nicht verschwiegen werden. Unser überorganisiertes bundesrepublikanisches Leben mag den Eindruck hervorrufen, als ob das politische Dasein eines Volkes sich in den Meinungsverschiedenheiten des Alltags, in Konjunkturdebatten, Interessenkämpfen und chronischer Parlamentsüberlastung erschöpfe. Das ist ein Irrtum. Das Leben, auch das politische Leben eines Volkes hat eine Innenseite, die sich der öffentlichen Diskussion weitgehend entzieht. Sie wird von dem innen-oder außenpolitischen Methodenstreit des Alltags nur wenig berührt. Im Innenleben eines Volkes sind Antriebe und Kräfte, Überlieferungen und Beispiele lebendig undybestimmend, deren Gewicht und Wert zuweilen von einfach ausschlaggebender Bedeutung für die Lösung einer politischen Aufgabe sind.

In dem Innenleben unseres Volkes vollzieht sich weit mehr als in der politischen Debatte oder in der akademischen Erörterung auch die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Geschichte. Es ist zweifellos wahr, daß die hinter uns liegenden nationalen Katastrophen das Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Geschichte tief betroffen und unser politisches Selbstbewußtsein unsicher gemacht haben. Und es ist auch wahr, worauf ein weitblickender deutscher Gelehrter warnend aufmerksam gemacht hat, daß es im Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands nicht getan ist mit der Berufung auf die Reichsgeschichte, auf unsere geschichtlich gewachsene nationale Einheit. Dem Kampf um die Einheit Deutschlands würde jedoch eine der wesentlichsten, in tiefe Wurzeln hinabreichende fruchtbare Voraussetzung fehlen, wenn sich das deutsche Volk diesseits und jenseits des Eisernen Vorhanges nicht bald wieder zu einem klaren Bild seiner eigenen Geschichte und zu einem neuen geläuterten nationalen Geschichtsbewußtsein durchringen würde. Gerade weil es möglich ist, mit Verwaltungs-und Polizeimaßnahmen widernatürliche Staatsgebilde zu schaffen und am Leben zu erhalten, und gerade weil wir wissen, daß doktrinäre und totalitäre Systeme damit noch besser fertig werden als andere, ist es unerläßlich, daß wir uns ohne die mythische Vernebelung vergangener Jahre, aber ernst und verpflichtend als eine gewachsene Einheit, als einen Geschichtsleib begreifen. Der fortgesetzte Angriff auf die Kulturtradition unseres Volkes in der sowjetisch besetzten Zone und die Isolierung von 18 Millionen Deutschen von der Weiterentwicklung dieser unserer gemeinsamen nationalen Tradition gehören zu den infamsten Mitteln der Pankower Unterdrücker, Wir befinden uns hier in einem Kampf nicht nur um die äußere, sondern auch um die innere Lebensmöglichkeit, um die Seele unseres Volkes. Dabei können wir kein unsicheres, sondern nur ein geläutertes und gefestigtes nationales Selbstbewußtsein gebrauchen.

Es ist höchst selten in der deutschen Geschichte, daß ein Aufstand, daß der Widerstand in Staatsakten gefeiert wird. Das Geschehen des 17. Juni wie das des 20. Juli sind jedoch Ereignisse, an denen sich das deutsche Nationalgefühl zu klären und aus Unsicherheit und Verwirrung zurückzutasten vermag zu einem Bewußtsein seiner selbst, das der deutschen Geschichte angemessen ist. Unserem nationalen Geschichtsverlauf, dem, was uns darin an Größe wie an Schuld zugefallen ist, werden wir weder mit einem nationalen Minderwertigkeitskomplex gerecht noch mit gedankenloser Überheblichkeit. Hier stehen wir, hier steht unser Volk von einer Aufgabe, die in unsere Vergangenheit und in unsere Zukunft, sie verbindend, greift. Es ist eine schwierige Aufgabe. Sie verlangt Gewissen, Geist und Charakter. Hier hilft kein Ausweichen, hier hilft keine Flucht, und das Dümmste und Unehrerbietigste dazu wäre es, den Gewissenlosen und den Hysterikern diese Aufgabe zu überlassen oder jenen Rechnern, die nur in handfesten Erfolgen zu denken vermögen. Das erbitterte Ringen um die Wiederherstellung ganz Deutschlands verlangt von uns jedenfalls ein ungewöhnlich hohes Maß an Willen, Zucht und Weisheit. Dieser Kampf ist weder mit moralischen Appellen noch mit dem politischen Methodenstreit allein zu bestehen. Er bedarf fester, geklärter innerer Voraussetzungen. Sie müssen nicht nur in der Vernunft, sondern auch in der Seele unseres Volkes begründet sein.

Wir würden uns jedoch selber untreu, wenn wir von diesen nationalen Voraussetzungen unseres Ringens um die Einheit Deutschlands redeten, ohne uns der tragischen Situation bewußt zu sein in der wir uns dabei befinden. Wir Deutsche gehen im Kampf um unsere nationale Einheit nun in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wir folgen dabei einer Aufgabe, die uns schon im 19. Jahrhundert gestellt war und die — darauf hat ein bedeutender deutscher Historiker mit Recht verwiesen — in Tat und Wahrheit auch die Idee des 19. und nicht die des 20. Jahrhunderts ist. Diese Situation und der Zwang, unter den sie uns stellt, tragen die spürbare Gefahr in sich, daß vielen Frauen und Männern unserer Generation und vielleicht auch der heranwachsenden der Blick verbaut wird auf das, was die eigentliche, die legitime Aufgabe dieses Jahrhunderts auch für uns Deutsche ist. Es war kein romantischer Einfall oder eine Schwäche der noch nicht überwundenen Niederlage, wenn es in der Präambel des Grundgesetzes heißt, daß das deutsche Volk gewillt sei, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. In diesem Satz ist das legitime Thema unseres Jahrhunderts angesprochen. Es ist schlichte Wahrheit: „Die übernationale Friedensordnung ist die wahrhafte Idee des 20. Jahrhunderts“. Das ist wahr und das bleibt wahr, auch wenn wir uns noch so verkämpfen müssen um die Wiederherstellung einer einheitlichen, gesamtdeutschen, nationalen Lebensordnung. Wir sollten das tun, ohne im mindesten auf jenes andere, weiter hinausgreifende Leitbild der deutschen Politik zu verzichten. Zu einem solchen Verzicht besteht keinerlei moralische oder nationale Notwendigkeit. Wir erschweren uns das Leben unnötig; wir komplizieren ohne Grund unsere politischen Grundbegriffe und unsere Grundorientierung, wenn wir unseren Willen zur nationalen Einheit dem Willen zur Einigung Europas gegenübertreten lassen. Denn es ist ja eine fundamentale Erkenntnis, die alles Wollen für die Einigung Europas bestimmen und erhellen muß, daß man die Integration Europas nicht durch nationale Desintegration erreichen oder, mit anderen Worten, daß man ein vereintes Europa nicht schaffen kann zu Lasten der nationalen Einheit der geschichtlich gewachsenen europäischen Volks-und Lebens-gemeinschaften. Wer die Einheit Europas will, der muß die Einheit Deutschlands erst recht wollen.

Fussnoten

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