In unserem landläufigen Geschichtsbild, das seinen getreuen Ausdruck in den Schulgeschichtsbüchern zu finden pflegt, hat die alttestamentliehe Welt Israels
Unsere Lehrbücher der Alten Geschichte pflegen Israel überhaupt nicht oder nur am Rande der altorientalischen Großmächte Ägypten und Mesopotamien zu behandeln. Die Geschichte Israels bleibt gemeinhin dem alttestamentlichen Unterricht im Fache „Religion“ überlassen. Ohne Zweifel aber ist es pädagogisch verhängnisvoll, daß dieser wahrhaft großartige geschichtliche Gegenstand im Rahmen des Religionsunterrichtes im allgemeinen nur auf der kindlichen Altersstufe (9— 12 Jahre) besprochen wird. In späteren Jahren wird der Schüler weder im Religionsunterricht noch im Geschichtsunterricht nochmals an die Bedeutung des Alten Testamentes herangeführt. So kommt es, daß alle seine Vorstellungen über die alttestamentliehe Welt auch später irgendwie in kindlichen Bewußtseinsformen Steckenbleiben und im allgemeinen nie darüber hinauskommen.
Die geschichtliche Einzigartigkeit Israels ist nur im Rahmen der altorientalischen Welt verständlich. Die menschheitsgeschichtliche Bedeutung des Alten Orients beruht einerseits auf den zivilisatorischen Leistungen der Großreiche Mesopotamiens und Ägyptens mit ihren hoch-entwickelten Stromoasenkulturen (Ackerbau, Viehzucht, Bewässerungskunst, Baukunst, Verkehrsmittel, Schrift, Astronomie, staatliche Organisation usw.), andererseits auf dem religösen und moralischen Fortschritt, den der strenge Ein-Gott-Glaube Israels für alle Zeiten gebracht hat.
Noch größer ist die menschheitsgeschichtliche Bedeutung Israels auf religiösem Gebiet. Israel hat als einziges Volk den Gedanken des strengen persönlichen Ein-Gott-Glaubens in die Geschichte eingeführt, wodurch es auch die Wurzeln für die Glaubensüberzeugungen zweier anderer Weltreligionen gepflanzt hat: des Christentums und des Islams. Auch auf dem Gebiete des Rechtes und der Moral hat das alttestamentliche Israel tiefere und wirklichkeitsechtere Anschauungen entwickelt als Hellas. Der hebräischen Geschichtschreibung fehlt zwar die kritische Methode, die ein Thukydides entwikkelt hat, aber sie erweist sich in ihrer ideellen Konzeption als weiter und großartiger denn die hellenische Geschichtschreibung. Im Alten Testament ist die Menschheitsgeschichte zum ersten Male als ein sinnvolles, weil von Gott als dem Herrn der Geschichte geleitetes Ganzes gesehen worden — ein Gedanke, der in keines Hellenen Kopf ging. Schließlich ist auch der schon von Herder gerühmten literarischen Größe der hebräischen Dichtung zu gedenken; die religöse Lyrik der. Psalmen, die glutvollen Liebeslieder, die in dem Hohenlied zusammengefaßt sind, dann die tiefsinnige philosophische Erzählung von Job (Hiob) und schließlich das wahrhaft merkwürdige prophetische Buch von Jeremias, das Geschichtsbericht, lyrisches Lied und Prophetie in einem ist, die entzückende kleine Novelle von der bezwingenden Liebe der Moabiterin Ruth, diese und andere Werke suchen selbst in der Dichtung der Hellenen durchaus nach ebenbürtigen Gegenstücken. Solche schlichten Tat-sahen, die wir uns seit anderthalb Jahrhunderten nicht mehr zu sehen angewöhnt haben, müssen auch im Geschichtsunterricht wieder ihren berechtigten Platz erhalten.
Ein-Gott-Glaube und Menschenwürde
Am großartigsten ist die Leistung des alttestamentlichen Israel für die Herausbildung eines höheren Ideals der Menschenwürde, ausgehend von der auf Offenbarung beruhenden Glaubensüberzeugung, daß der Mensch als „Ebenbild und Gleichnis“ Gottes geschaffen ist.
Die seit dem „Zweiten Humanismus“ in unserer Geisteswelt vorherrschende Anschauung, Hellas sei es gewesen, das die Idee der menschlichen Freiheit und damit der menschlichen Persönlichkeit erfunden habe, wird zwar bis in die unmittelbare Gegenwart hinein immer wieder wiederholt (so auch angedeutet in dem großen Werk des holländischen Altertumsforschers Bolkestein), aber sie ist trotzdem falsch. Die Idee der freien, d. h. gewissensbestimmten Persönlichkeit erscheint zum ersten Male in dem alttestamentlichen Israel. Dieser menschheitsgeschichtliche Fortschritt ist unlösbar verknüpft mit dem monotheistischen Gottesbegriff, durch den das kleine, politisch so machtlose Volk Israel in einzigartiger Weise über alle Völker seiner geschichtlichen Umwelt emporragt. Jahwe ist der eine allmächtige Gott, der Herr des Himmels und der Erde, der Geschichte und der Natur, der Schöpfer, Erhalter und Richter der Welt und der Menschen. Ihm allein gebührt die Anbetung durch den Menschen. Die hohe sittliche Wertschätzung der Menschenwürde ist daher auf Israel als das Volk Jahwes beschränkt, sie ist in den benachbarten Hochkulturen des Alten Orients unbekannt.
Schon Bolkestein hat bemerkt, daß diese Achtung der Menschenwürde in Israel — wie in dem gesamten Alten Orient — eine ausgesprochen soziale Note trägt. Das mosaische Recht hat stets den Schutz des wirtschaftlich Schwachen im Auge.
Bei den Anhängern der Baalskulte dagegen ragen finstere Verirrungen der Unmenschlichkeit noch in die Mittagshelle der Geschichte hinein.
So waren Menschenopfer bei allen benahbarten Völkern und Stämmen üblich. In dem heiligen Gesetze Israels aber waren sie von allem Anfang an unter der Strafe der Steinigung verboten (Lev. 18, 21; 20, 2; Deut. 12, 31; 18, 10). Der abscheuliche Brauch kam in Israel nur dort vor, wo der reine Jahwe-Glaube durch Einflüsse der heidnischen Nachbarvölker verdunkelt war. Dort wurden dem Moloch oder dem Baal — nie jedoch dem Jahwe — Kinder geopfert (IV. Kön. 16, 3; Jes. 57. 5; Jer. 7, 31; Ps. 106, 37 f.), vielfach als Bauopfer bei der Grundsteinlegung von Häusern (wie die Funde zahlreicher Kinderskelette in Fundamenten gezeigt haben).
Die erhabene Vorstellung des Alten Testaments von der Würde des Menschen wurzelt zutiefst in der heiligen Überlieferung, daß der Mensch nach Gottes „Bild und Gleichnis" geschaffen ist. Vor Jahwe, dem Schöpfergott und Herrn der Geschichte, hat sich jeder einzelne Mensch in seiner Gottebenbildlichkeit zu bewähren. Unter derselben Verantwortung wie die Menschen stehen auch die Völker. So kam Israel als erstes aller Völker dazu, die Menschheitsgeschichte als sinnvolles Ganzes zu sehen — eine Betrachtungsweise, zu der sich der helleni-she Geist niemals aufgeschwungen hat. Im Bewußtsein Israels ist die Geschichte der Völker nicht nur in ihrem Gesamtablauf von Jahwe geplant, sondern sie unterliegt auch seiner ständigen wunderbaren Leitung. Die Geschichte rollt ab wie ein großes Drama, dessen ershütternde Handlung mit Erschaffung und Sündenfall beginnt und über alle Prüfungen und Irrwege hinweg auf eine künftige Erlösung durch ein messianisches Friedensreich hinzielt.
Vor dem allmächtigen und allheiligen Jahwe ist sich der Mensch seiner Schwäche und Sündhaftigkeit bewußt. Es bleibt ihm nur die Zuflucht zu Reue, Frömmigkeit und Gottvertrauen. Gott wirkt alles. Ohne seinen Segen ist alle Menschenmühe umsonst; " Wenn nicht der Herr das Haus witbaut, so mühen sich die Bauleute umsonst;
wenn nicht der Herr die Stadt mithütet, so wacht umsonst der Wächter.
(Ps. 127, 1)
Aber Gott, der das sieht, was im Herzen des Menschen vorgeht, ist nicht nur streng und gerecht, er ist auch gütig und barmherzig, er kommt der Schwäche des Menschen zu Hilfe.
Aus dem Bewußtsein menschlicher Sündhaftigkeit und Unzulänglichkeit ergibt sich für den Gläubigen die entscheidende Frage: „Was soll der Mensch nach Jahwes Willen sein und tun?“
Früh tritt als praktisch-soziale Antwort die Mahnung zu frommen Werken (vor allem LInterstützung der Armen, Witwen und Waisen)
hervor. Die Verdienstlichkeit guter Werke eröffnet einen Weg zu Gott, eine Lehre, die freilich in späterer Zeit leicht zu pharisäischer Werkheiligkeit entarten konnte.
Das heilige Gesetz
Das ideale Menschenbild der alttestamentliehen Jahwe-Religion spiegelt sich am deutlichsten in dem mosaischen Gesetz, d. h. in den religiösen, sittlichen und rechtlichen Vorschriften des Pentateuchs über das Leben Israels
Das Recht Israels unterscheidet sich dadurch wesenhaft von den Rechten der anderen alt-orientalischen Völker, daß es nicht nur die Angelegenheiten des Kultus, sondern das gesamte Leben, vor allem auch die sittlichen und sozialen Fragen in die Religion einordnet. Das religiöse Gesetz übernimmt die Aufgabe, das Leben in allen seinen Äußerungen zu ordnen. Dieser religiöse Grundzug des ganzen Rechts führt dazu, daß der Jahwegläubige in dem Gesetz nicht ein System einengender Schranken, sondern den Weg eines wahrhaft menschenwürdigen Lebens sieht. In dem Gesetz findet der Fromme den Willen Jahwes. Daraus erwächst ihm die beruhigende Gewißheit, daß der Weg des Gesetzes zugleich auch der unmittelbare Weg zu Jahwes Gnade und Huld ist (Deut. 30, 8 ff.).
Das Bewußtsein der moralischen Überlegenheit des eigenen gottgesetzten Rechtes gegenüber allen Rechten der heidnischen Nachbar-völker gab dem Jahwegläubigen auch ein Gefühl des berechtigten Stolzes auf dieses eigene Recht: „Und wo wäre irgendeine große Nation, die solch rechte Satzungen und Ordnungen besäße wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?“ (Deut. 4, 8.) So entsteht jene innerlich freie Auffassung des Gesetzes, die sich nicht mit der äußerlichen Erfüllung eines als Zwang empfundenen Gesetzes begnügt, sondern die das Gesetz als geoffenbarten Gotteswillen mit innerlich freier Hingabe annimmt und zu erfüllen strebt (Deut. 10, 12 f.; Ps. 119).
Der humanere und daher sittlich höherstehende Charakter des mosaischen Rechtes — im Vergleich zu den übrigen altorientalischen Rechten — zeigt sich schon in den uralten Vorschriften des Bundesbuches, in dem einheimische Elemente des kanaanäischen Volksrechtes durch die sittlichen Grundauffassungen der Jahwereligion umgeprägt erscheinen. Es finden sich darin Gebote zum Schutz des Fremdlings, Vorschriften zum Schutz der Armen und des Gesindes, Vorschriften über die gegenseitige Verpflichtung zwischen Sklave und Herrn, Bestimmungen zum Schutze des Sklaven gegen Körperverletzung, ferner Bestimmungen zum Schutze der Sklavin, die sogar nach Tochterrecht behandelt werden soll, wenn sie für die Tochter des Herrn bestimmt ist.
Audi dem Feinde gegenüber verpflichtet Gottes Gebot zu redlichem Verhalten: „Triffst du deines Feindes Rind oder Esel verlaufen an, dann sollst du sie ihm zuführenl Und siehst du deines Widersachers Esel unter seiner Last erliegen und bist du fertig mit seinem Absatteln, dann sollst du mit ihm noch rasten!" (Ex. 23, 4 f.).
Ein weiteres Zeugnis dieses humaneren Charakters des mosaischen Rechtes ist seine soziale Einstellung, die stets den Schutz des wirtschaft-lieh Schwachen im Auge hat. Das Gesetz ist der Anhäufung von großen Vermögen feindlich. Das Zinsnehmen ist verboten (Ex. 22, 24). Die Propheten eifern gegen den Grundbesitz (z. B. Jes. 5, 8). Eine soziale Absicht liegt auch der Einrichtung des Sabbats und des Sabbatjahres zugrunde. Durch den Sabbat sollen Mensch und Tier die Möglichkeit zur Erholung erhalten. Das Sabbatjahr war eine in religiöse Form gekleidete soziale Maßnahme mit dem Ziel, die Grundbesitzer, d. h. die Wohlhabenden, mit einer Abgabe für die Armen zu belegen.
Ein weiteres Zeugnis der hohen ethischen Grundauffassung, die das „Gesetz“ durchzieht, ist auch die Gleichstellung von Vater und Mutter und der erhöhte strafrechtliche Schutz der Eltern. Ja, dieser humane Grundzug des mosaischen Rechtes bezieht sogar das Tier in seine Obsorge ein. Mitfühlende Sorge für das Tier spricht aus dem Satz: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs. Nur das Herz des Gottlosen ist unbarmherzig.“ (Sprüche 12, 10), sowie aus manchen anderen Vorschriften zum Schutz der Haustiere.
Das Menschenideal-Job
Das leuchtende Bild des alttestamentlichen Menschenideals wird in dem Buche Job (Hiob) gezeichnet. Der Dulder Job in seinem Unglück schildert zur Selbstrechtfertigung, wie er versucht hat, auf jegliche Weise Gottes Wort zu erfüllen.
Jobs Reinigungseid:
Wenn meine Schritte wären je vom redeten Wege abgebogen und wenn mein Herz den Augen folgte und wenn an meinen Händen eine Makel klebte, dann ess’ ein andrer meine Saat, und meine Pflanzung werd'entwurzelt! Wenn mich es'je zum fremden Weib gezogen hätte und wenn dem Eheweib des Freunds ich nadrgestellt, dann soll mein Weib für andre mahlen und andre mögen über sie sich. beugen!
Denn dieses wäre eine Schandtat, ein Verbrechen, vom Richter zu bestrafen, ein Feuer ja, das bis zum Abgrund fräße und alle meine Hab’ entwurzeln müßte.
Wenn ich mißachtet hätte meines Sklaven Recht und meiner Magd, wenn wir im Streite waren, was wollt ich madren, wenn Gott Rache nähme und wenn er untersuchte, was ihm dann erwidern?
Hat ER ihn nidtt geformt im selben Schoß wie mich, und sie geschaffen in dem gleidten Mutterleibe? Wenn ich versagte einen Wunsch den Schwachen und schmadcten ließ der Witwe Augen, wenn meinen Bissen ich allein verzehrte und wenn die Waise nicht mitessen dürfte — seit meiner Jugend blickte sie zu mir gleich einem Vater auf, vom Mutterschoß an leitete ich sie wenn ich den nadeten Bettler sah und einen Armen ohne Hülle, wenn alsdann seine Hüften keinen Dank mir wußten und er sich nicht von meiner Lämmer Sdiur erwärmte, wenn gegen eine Waise ich die Faust geschwungen, weil im Gerichtstore ich Beistand für mich sah, dann fallen meine Achseln aus der Schulter und aus dem Rohr werd’ mir der Arm gerissen! — Ein Schredcen wär mir ja das Urteil Gottes; vor seiner Hoheit könnt ich nicht bestehen. — Und wenn idr Gold zu meinem Götzen machte und Mammon meinen Helfer nannte und mich an meinen Schätzen sonnte, daß ich es gar so weit gebracht, und wenn ich das Gestirn erblickte, wenn es sidttbar wurde, den lieben Mond, wie seinen Weg er zog, und wenn mein Herz sich insgeheim betören ließ, und meine Hand zum Kuß an meinen Mund sich legte:
auch das wär ein Vergehn, vom Richter zu bestrafen, dieweil ich in der Höhe Gott verleugnet hätte. Nie freute mich des Feindes Not, und nie frohlockt'ich, wenn ihn Unheil traf.
Kein Fremdling durfte je im Freien nächtigen und jedem Wandersmann stand meine Türe offen -(Job 31, 7-32)
Das mosaische Recht und das Recht Hammurabis
Vor allem an Hand des Vergleiches mit dem babylonischen Gesetzbuch des Hammurabi wurde die Frage nach der höheren Ethik des mosaischen Rechtes im Kreise der übrigen altorientalischen Rechte viel erörtert. Manches, was früher als Beweis dafür angeführt wurde, ist in Wirklichkeit dem gesamten Alten Orient gemeinsam, so z. B. die Bestimmungen über den Schutz von Witwen und Waisen ebenso wie das Verbot, Bestechungsgelder anzunehmen. Anderes erklärt sich aus der verschiedenen kulturellen und soziologischen Umwelt. Aber es bleibt eine Anzahl gewichtiger Unterschiede, aus denen die höhere ethische Auffassung des mosaischen Rechts hervorgeht. Die begriffliche Sphäre des mosaischen Rechtes ist viel weiter gespannt als die des baylonischen. Die mosaischen „Gebote" greifen weit über den eigentlichen juristischen Bereich hinaus. Das mosaische Gesetz ist ein theokratisch-religiöses Werk, das Gesetzbuch Hammurabis dagegen ein völlig weltliches Buch. Die Rechtsentwicklung der heidnischen Nachbarvölker geht von rational-profanen Zweckerwägungen aus, das mosaische Ge-Gesetz Israels hingegen ist von einer religiösen Grundauffassung bestimmt, in die auch die zweckhafte zwischenmenschliche Ordnung eingebettet ist. Alle menschlichen Vergehen und Verbrechen — Diebstahl, Lüge, Meineid, Mord, Ehebruch — sind aus letzter religiöser Wertung heraus fluchwürdig: nicht weil sie eine „soziale Ordnung" stören, sondern weil sie den heiligen Gottesnamen Jahwes entweihen. Jahwe hat die Stämme Israels zur Gemeinschaft des „auserwählten Volkes“ berufen, daher sollen die Angehörigen dieses auserwählen Bundesvolkes in demütiger Anerkennung Jahwes alle Friedensbrüche ablehnen.
Besonders aufschlußreich ist der Vergleich der strafrechtlichen Verhältnisse hier und dort. Bei den Babyloniern wird bereits das ganze Strafrecht durch den Staat geregelt. Blutrache und Wergeid sind mitsamt allen übrigen Erscheinungen vorstaatlicher Selbsthilfe verschwunden. Dagegen zeigt Israel auf strafrechtlichem Gebiet noch fast verstaatliche Verhältnisse.
Bei dem Fehlen eines staatlichen Strafrechtes und staatlicher Gerichtorgane gelangen in Israel strafrechtliche Delikte nur auf dem Wege über die „religiöse Schuld“ in die öffentlich-rechtliche Sphäre. Diese Entwicklung wurde freilich nur angebahnt, sie kam infolge des Fehlens einer staatlichen Obrigkeit nicht zum vollen Abschluß. Jedoch stellen auch die alttestamentlichen Bestimmungen über Rache und Talion (d. h.
Wiedervergeltung nach dem Grundsatz „Gleiches mit Gleichem!“) einen wesentlichen Fortschritt dar, da die Rache durch eine Geldbuße abgelöst werden und der der Rache verfallene Täter sich durch die Flucht unter das Asylrecht retten konnte (Deut. 19, 4 ff.).
Obwohl das mosaische Strafrecht so in formaler Hinsicht einen primitiveren Charakter hat als das babylonische, ist es in der grundsätzlichen Auffassung und tatsächlichen Handhabung der Strafe wesentlich humaner. Die grausame Härte der altorientalischen Strafrechte ist in Israel beträchtlich gemildert. Besonders deutlich wird dieser Unterschied in der Behandlung des Diebstahls. Während bei der Verfolgung der Tötungsdelikte die Privatrache sich im mosaischen Rechte durchaus behauptet, ist sie auf dem Gebiet der Diebstahlsverfolgung schon früh zurückgedrängt worden. Das Strafmaß ist viel milder als im Gesetzbuch Hammurabis. Während im babylonischen Recht allgemein die Todesstrafe als Diebstahlsstrafe in Geltung war, tritt an ihre Stelle in Israel die Ersatzleistung, die vielleicht in bewußter Humanisierungstendenz die ehemalige Todesstrafe verdrängt hat. Nur für zwei besonders schwerwiegende qualifizierte Diebstahlsarten, nämlich für Personenraub (Entführung) (Ex. 21, 16; Deut. 24, 7) und für Diebstahl an Gotteseigentum kennt das mosai-sche Recht die Todesstrafe durch Steinigung. Bei dem gewöhnlichen Diebstahl tritt der strafrechtliche Deliktcharakter völlig zurück hinter der vermögensrechtlichen Betrachtungsweise. Die Diebstahlsverfolgung wird grundsätzlich als Sachverfolgung aufgefaßt, die Diebstahlsstrafe ist daher Vermögensstrafe.
Der überaus strengen Verurteilung des Ehebruchs (Job 31, 9 ff.; Sprüche 2, 16— 19; Sirach 23, 18— 26) entsprach das schwere Strafmaß, das darüber verhängt wird. In der Patriarchenzeit wurde die Unzucht einer Unverheirateten mit dem Feuertode bestraft (Gen. 38, 24). In dem mosaischen Gesetz wurde als Strafe für den Ehebruch der Tod bestimmt (Lev. 20, 10; Deut. 22, 22— 24). Mit dem Tode wurden auch bestraft: Gewalt gegen eine verlobte Jungfrau (Deut. 22, 25— 27), Homosexualität (Lev. 20, 13), Blutschande (Lev. 20, 17) und Unzucht mit Tieren (Lev. 20, 15 f.).
Das prophetische Zeitalter
Die große weitere Steigerung der alttestamentlichen Idealvorstellung der Menschenwürde brachte dann das Zeitalter der prophetischen Revolution. Karl Jaspers hat die Wesensart dieses Zeitalters, das er mit einem wenig glücklichen Ausdruck als „Achsenzeit" bezeichnet, in sehr tief einfühlender Weise erfaßt. In diesem Zeitalter einer ungeheuren unterirdischen Bewußtseinsverschiebung entdeckt der Mensch als Einzelner die Möglichkeit, in der Einsamkeit geistig zu wachsen. So wird die Einsamkeit des Denkenden nunmehr zu einer geistig bewegenden Kraft. Der Mensch wird in einem bisher nie gekannten Sinn geistig bewußt. Er macht — ein unerhört revolutionärer Vorgang! — nunmehr sein eigenes Denken zum Gegenstand des Denkens. Zum erstenmal wird damals alles Überkommene einer kritischen Prüfung unterworfen und in Frage gestellt. Die unmittelbare Gegenwart wird nun mit einer unerhörten Eindringlichkeit empfunden, und zwar als Ergebnis einer langen Geschichte. Dieser Aufbruch eines neuen „individuellen“ Bewußtseins erzeugt eine überall spürbare Unruhe des Suchens, Forschens und Fragens. Und es scheint, als ob alles bisher Gültige in dem mächtigen Strudel der neuen Geistesbewegung versinken würde. Jetzt sinnt man auch in ganz neuer Weise über die planmäßige „rationale“ Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens nach. Man stellt Reformprogramme auf für eine bessere Weise des Zusammenlebens, des Regierens, des Verwaltens. Künder dieser neuen Ideen sind Propheten und Philosophen — in Israel Propheten, in Hellas Philosophen. Sie sind Ratgeber und Lehrer der staatlichen Machthaber, oft aber auch deren unbequeme Mahner und Warner.
Das Ergebnis dieses Bewußtseinsumbruches war eine „Vergeistigung“ der Menschheit/„Aus dem unbefragten Innesein des Lebens geschieht die Lockerung, aus der Ruhe der Polaritäten geht es zur Unruhe der Gegensätze und Antinomien. Der Mensch ist nicht mehr in sich geschlossen. Er ist sich selber ungewiß, damit aufgeschlossen für neue, grenzenlose Möglichkeiten. Er kann hören und verstehen, was bis dahin niemand gefragt und niemand gekündet hatte. Unerhörtes wird offenbar. Mit seiner Welt und sich selbst wird dem Menschen das Sein fühlbar, aber nicht endgültig: Die Frage bleibt“ (Jaspers 21).
Die „Vergeistigung" als Ergebnis dieses Bewußtseinsumbruches wird zunächst jenen zuteil, deren Werk sie ist: den großen Einzelnen, die auf der Gipfelhöhe des-Denkens stehen. Damit wird der vertikale Abstand zwischen diesen und den „Vielen" größer als je zuvor. Aber mittelbar werden auch die „Vielen“ von der neuen „Vergeistigung“ erfaßt — wenn auch mit einer Phasenverspätung.
Das Erstaunlichste an diesem Bewußtseinseinbruch ist, daß er gleichzeitig, aber unabhängig voneinander, bei verschiedenen Völkern auftritt — eine Tatsache, die jeder herkömmlichen kausalmechanischen oder genetischen Erklärung spottet
In Israel zeigt auch der Durchbruch des prophetischen Zeitalters jene besonderen Züge, die die Einzigartigkeit der alttestamentlichen Welt im Rahmen der Menschheitsgeschichte ausma hen. In der prophetischen Verkündigung des Alten Testaments, zu der bisher von der vergleichenden Religionsgeschichte keine vollgültige Parallele beigebracht werden konnte, hat die Religion Israels ihre ideale und höchste Form gefunden. Alles, was das einzigartige Wesen dieser Religion ausmacht, findet in den Worten der Propheten seinen reinsten Ausdruck: der Glaube an den einen allmächtigen Gott Jahwe, der den Menschen sein ewiges Sittengesetz gegeben hat und die von ihm geschaffene Welt nach religiös-sittlichen Maßstäben regiert, die Forderung des unbedingten Vertrauens in Gottes Führung, das Bewußtsein, als „auserwähltes Volk" Träger der Gottesoffenbarung zu sein. Aus dieser idealen vergeistigten Gottesauffassung heraus lehnen die Propheten den Opferdienst entweder überhaupt ab — als sinnloses Tun gegenüber dem unendlichen Gott — oder sie deuten die kultischen Handlungen um in innerlich-religiöse Vorgänge. Dieser Schritt vom Ritus zur Doxa (L. Ziegler) führt bei den alttestamentlichen Propheten zu einer sonst unerreichbaren Verinnerlichung und Verlebendigung des Gottesbegriffes. In die Mitte des Religiösen tritt nunmehr das persönliche Wechsel-verhältnis zwischen dem persönlichen Gott und der Seele des Menschen. Schon bei den Propheten Israels ist es ein echtes Ich-Du-Verhältnis wie bei den Mystikern des abendländischen Mittelalters. Am stärksten und ergreifendsten tritt es bei dem Propheten Jeremias hervor.
Das menschliche Selbstbewußtsein dieses Propheten liegt ausschließlich in seiner Überzeugung, nur Werkzeug und Sprachrohr Jahwes zu sein. So beschreibt Jeremias das erschütternde Initiationserlebnis seiner Berufung zum Propheten:
Das Wort des Herrn erging an midi:
Bevor idi Didi im Mutterleib gebildet, hab ich Didi schon gekannt, und, ehe Du den Muttersdioß verließest, hab ich Dich sdron geweiht und zum Propheten für die Heiden Didi bestellt. Ich sprach darauf: Ach, Herr, o Herr!
O sieh! Ich kann nicht reden;
ich bin zu jung.
Da sprach der Herr zu mir:
Sag nicht: „Ich bin zu jung!“
Vielmehr, wohin nur ich Dich sende, sollst Du gehen, und alles, was ich dir befehle, sollst du künden, Fürcht dich vor ihnen nidit!
Idt bin mit dir, um dich zu schützen.
Ein Spruch des Herrn.
Dann reckte seine Hand der Herr, und er berührte meinen Mund.
(Jer. 1, 4-9)
Aus diesem innerpersönlichen Berufungserlebnis, aus diesem Innewerden von Gottes zwingendem Auftrag erwächst der ungeheuere Mut, mit dem dieser Prophet von nun an als Vorkämpfer für die Rechte der menschlichen Persönlichkeit auftritt.
Die Wirksamkeit der Propheten griff durch ihre soziale Predigt weit über den eigentlichen religiösen Bereich hinaus, und die sozialen Programmpunkte des mosaischen Rechtes wurden von den Propheten wiederaufgegriffen und neu eingeschärft. Von hier ging die soziale Verkündigung der Propheten aus, die als Beschützer der Armen, Witwen und Waisen in leidenschaft-liehen Worten gegen die sittliche Entartung und materialistische Verkommenheit ihrer Zeit eiferten.
Das Recht zum Widerstand gegen ungerechte Staatsmacht
Das prophetische Sendungsbewußtsein schreckte auch nicht zurück vor dem Kampf gegen die Willkür der Staatsallmacht. Die leidensreiche öffentliche Wirksamkeit des Propheten Jeremias ist fast ein einziger großer Kampf mit einer verblendeten Staatsgewalt. In der nachexilischen Zeit, da das Judentum inmitten der großen heidnischen Nachbarvölker um seine religiöse und völkische Selbstbehauptung einen zähen Abwehrkampf führen mußte, wurde die prophetische Abwehrhaltung gegen eine jahwefeindliche Staatsgewalt Gemeingut des ganzen Volkes — im Kampf gegen die babylonische, persische und hellenistische Staatsreligion. Die Geschichte Ezechiels, Daniels und Esthers ist voller Beweis dafür. In der auch dichterisch schönen Erzählung von den drei Jünglingen im Feuerofen hat die Bereitschaft der gesetzesgläubigen Juden, aus Treue zu Gottes Gesetz ungerechten Staats-befehlen auch auf die Gefahr des Martyriums hin Widerstand zu leisten, seine schönste Verherrlichung gefunden. In dem Kampf der Makkabäer gegen den Versuch der griechischen Seleukidenfürsten, die hellenistischen Staatskulte in Jerusalem einzuführen, erweiterte sich diese Abwehrbereitschaft zum gesamtnationalen und religiösen Freiheitskampf. So entgegnet der neunzigjährige Eleazar auf das Ansinnen, sich zum heidnischen Opferdienst zu bequemen: „ . . . ich selbst zöge meinem Alter nur Schimpf und Schande zu. Denn, entginge ich auch für jetzt der Strafe der Menschen, so könnte ich den Händen des Allmächtigen weder lebend noch tot entfliehen. Darum will ich jetzt mannhaft mein Leben lassen und so mich meines Alters würdig erweisen. Dann hinterlasse ich den Jünglingen ein edles Beispiel, wie man entschlossen und hochgemut für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze eines herrlichen Todes sterben soll“ — so sprach er und ging sofort zur Marterbank hin.
(11. Makk. 6, 25-28)
Es ist hier schon jene Einstellung herausgebildet, die dann das Neue Testament noch bewußter und klarer in die Worte faßt! „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (vgl. die Antworten der Apostel Petrus und Johannes vor dem Hohen Rate: Apostelgesch. 4, 19). Der bewußte Ungehorsam gegen ungerechte Befehle des Staates gilt hier nicht nur als erlaubt, sondern er wird zum sittlichen Gebot erhoben. Durch Aufstellung dieses unerhört revolutionären Grundsatzes ist der jüdisch-christliche Monotheismus zum Verteidiger der menschlichen Freiheit und Würde gegen die Omnipotenz und Willkür des totalen Staates geworden. und Kälber, Löwen, Ochsen weiden dann zusammen;
ein kleiner Knabe treibt sie aus.
Und Kuh und Bärin weiden miteinander und werfen ihre Jungen beieinander und Stroh frißt gleich dem Rind der Löwe.
Es spielt der Säugling an der Otternhöhle und an das Natternauge streckt der Entwöhnte seine Hand. (Jes. 11, 6— 8)
Dieses messianische Friedensreich, das von den Propheten verkündet wird, soll alle Völker der Erde — auch die Heidenvölker — in sich schließen. Der universalistisch-übernationale Grundzug der Jahwereligion, deren unverfälschte Bewahrung und Überlieferung zwar dem „auserwählten“ Bundesvolke anvertraut ist, die aber fü. alle Völker bestimmt ist, hat sich schon im mosaischen Gesetz in der warmen und herzlichen Sorge um das Recht der Fremdlinge geäußert. Auch in der Folgezeit war der Gedanke gelegentlich ausgesprochen (z. B. Ps. 2, 8; 46, 11). Der fromme Dulder Job, das Idealbild eines gottesfürchtigen Manes, stammt aus dem Lande Us vom Rande der arabischen Wüste, ist also nicht israelitischer Abstammung. Ruth, wohl die anmutigste Frauengestalt, die das Alte Testament gezeichnet hat, ist Moabiterin. So ist das Bewußtsein, daß auch die Heiden zur Herrlichkeitjahwes berufen sind, in Israel nie erloschen. Nun kam es in der prophetischen Verkündigung immer wieder mit Entschiedenheit zum Ausdruck. Das religöse und geschichtliche Weltbild der Propheten hat jede Enge eines selbstsüchtigen Nationalismus weit hinter sich gelassen. Es umspannt die ganze Menschheit.
Das messianische Friedensideal
Einen weiteren großen menschheitsgeschichtliehen Fortschritt brachte die prophetische Verkündigung durch die Verherrlichung des Friedensideals. Auch in die Geschichte Israels tritt damit etwas völlig Neues herein. Die blutrünstige Grausamkeit der Eroberungs-und Verteidigungskriege auf dem Boden des alten Kanaan, wie sie in den-Büchern Josue, Richter und Könige geschildert werden, war schon längst abgeklungen. Das kleine Israel, ohnmächtig zwischen die Weltreiche Mesopotamien und Ägypten eingekeilt, sehnte sich nach dem Ende dieser unaufhörlichen Kriege. Die Propheten verliehen nun dieser allgemeinen Friedenssehnsucht Ausdruck in ihrem Idealbild von dem künftigen messianischen Friedensreich, aus dem Kampf und Streit und Unrecht für alle Zeit verbannt sein werden. Der Messias wird in seinem alle Völker umspannenden Reiche den Frieden zum ungestörten Dauerzustand erheben.
Der messianische Weltfrieden, unter dem sich alle Völker versöhnen werden, wird von den Propheten in großartigen Bildern ausgemalt:
Denn über Sion geht die Lehre weit hinaus, das Wort des Herrn aus Jerusalem.
Und bei den Heiden wird Gericht es halten und großen Völkern Recht dann sprechen; zu Pflügen schmieden sie die Schwerter um, zu Winzermessern ihre Lanzen.
Kein Volk ergreift mehr wider andere das Sdtwert;
man erlernt das Kriegshandwerk nicht wieder.
(Jes. 2, 3 f.)
Dieser Friede des messianischen Reichs ist auf Gerechtigkeit gegründet:
Die Wirkung der Gerechtigkeit wird Friede sein, und der Gerechtigkeit Ertrag wird ewig Sicherheit und Ruhe sein.
Mein Volk läßt sich in einer Friedenswohnung nieder, in sichern Wohnungen, in stillen Ruheplätzen.
(Jes. 32, 17 f.).
Die Zeit der Völkerkatastrophen wird dann vorbei sein:
Sie werden Häuser bauen und sie selbst bewohnen, Weinberge pflanzen, selber deren Frucltt genießen.
Sie bauen nicht, und dann bewohnt's ein anderer;
sie pflanzen nicht, und dann verzehrt's ein anderer. (Jes. 65, 21f.).
Der messianische Frieden erstreckt sich auch auf die Tiere:
Der Wolf wird bei dem Lamme liegen, der Panther bei dem Böcklein lagern Insgesamt ist der Anteil der alttestamentli-eben Jahwereligion an der Herausbildung einer idealen Hochschätzung der Menschenwürde überaus groß. Grundlage und Wurzel ist der transzendente persönliche Gottesbegriff. Aus ihm fließen alle jene Ideen und Anschauungen, mit denen Israel der Menschheit neue Wege gewiesen hat: Geschichtliches Bewußtsein und Geschichtsbild — der Wert der gottebenbildlichen Persönlichkeit des einzelnen vor Gott — die innere Einheit von Religion, Sittlichkeit und Recht in dem höheren Begriff „Gottes Gebot" — der soziale Grundzug des Gesetzes (Sorge für Arme, Witwen und Waisen, Schutz des Sklaven) — Sicherung der Freiheit und Würde des Einzel* nen gegen die Willkür der Staatsmacht — die Überwindung des Nationalismus durch die universalistische Gottesidee — das messianische Friedensideal der prophetischen Verkündigung.
Es ist schwer zu sagen, welcher dieser geistigen Fortschritte am folgenschwersten für die Weiterentwicklung und Aufwärtsentwicklung der Menschheit geworden ist. Vielleicht doch jener — vor allem von den Propheten herausgearbeitete — Begriff der sittlichen Persönlichkeit und Menschenwürde. In seiner neutestamentarischen Weiterbildung hat er unstreitig stärkeren Anteil an der Entstehung des abendländischen Menschenideals als die hellenische Philosophie.
Die Ausschließung des alttestamentlichen Israel aus unserem Geschichtsbild
Von dieser besonderen Stellung und Leistung Israels im Rahmen der Menschheitsgeschichte nimmt unsere herkömmliche Geschichtsauffassung nahezu keine Notiz. In den Geschichtsbüchern unserer Schulen, die in allem und jedem ein getreues Spiegelbild unserer Geschichtsauffassung zu sein pflegen, wird Israel gewöhnlich nur im Vorbeigehen und ganz flüchtig behandelt. Diese flüchtige und unzulängliche Behandlung, die sich gewöhnlich auf die Erwähnung einiger Namen und Zahlen beschränkt, wird dem historischen Schwergewicht des alttestamentlichen Israel in keiner Weise gerecht. In solcher Raumverteilung aber kommt getreu die vulgär-historische Bewertung der großen Kulturen zum Ausdruck. Israel hat unter ihnen in unserem Geschichtsbild und Geschichtsunterricht noch nicht wieder den legitimen Platz, der ihm gebührt.
Dies war nicht immer so. Bis in die Zeit des 18. Jahrhunderts hinein bildete die Welt des Alten Testaments einen festen und unverzichtbaren Bestandteil der historischen Allgemeinbildung. Die Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts — auch die Nicht-Theologen — wußten in den Schriften des Alten Testaments ebenso-gut Bescheid wie in den antiken Schriftstellern der Griechen und Römer. Man denke daran, wie z. B. die Schriften des Hugo Grotius von alttestamentalichen Zitaten erfüllt sind. In dem zweibändigen „Handbuch der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange . . ." von Johann Christoph Gatterer (Göttingen 1764) hat die „Geschichte des Volks Gottes vom Abraham bis auf das Ende der babylonischen Gefangenschaft" einen angemessenen Raum (I, Seite 191— 230). Noch in der Bildungswelt unserer Klassiker — am stärksten sichtbar bei Herder und Goethe — stehen Israel und Hellas gleichrangig nebeneinander. In dem Lebenswerk unseres großen Dichters und Geschichtsdenkers Johann Gottfried Herder, in dessen Weltbild in merkwürdiger Weise sich „aufklärerische" und „romantische“
Gedanken zu einem Neuen verbinden, kommt dies eindeutig zum Ausdruck. Er verdankt entscheidende Anregungen für seine Entdeckung der Volksdichtung und des „Volksgeistes" der Vertrautheit mit der Welt des Alten Testamentes und insbesondere dem Eindringen in den „Geist der ebräischen Poesie". Ihr hat er zunächst eine große Abhandlung gewidmet: „Vom Geist der ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes" (1782). Dann befaßt sich in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1784) ein besonderes Kapitel mit den „Hebräern" (XII. Buch, 3. Kapitel). Mit unnachahmlicher Treffsicherheit charakterisiert er in der Einleitung die einzigartige menschheitsgeschichtliche Sonderstellung des alttestamentlichen Israel:
„Sehr klein erscheinen die Hebräer, wenn Man sie unmittelbar nach den Persern be trachtet. Klein war ihr Land, arm die Rolle, die sie in und außer demselben auf dem Schauplatz der Welt spielten, auf welchem sie fast nie Eroberer waren. Indessen haben sie durch den Willen des Schicksals und durdi eine Reihe von Veranlassungen, deren Ursachen sich leicht ergeben, mehr als irgend eine asiatische Nation auf andere Völker gewirkt; ja, gewissermaßen sind sie, sowohl durch das Christentum, als den Mohammedanismus, eine Unterlage des größten Teils der Weltaufklärung geworden.“
In der Bildungswelt Goethes nimmt das Alte Testament noch einen breiten Raum ein. Nach Goethe schwindet es aus unserer „profanen“ Bildungstradition.
Diese schrittweise Ausscheidung der alttestamentlichen Geschichte aus unserem allgemeinen Geschichtsbewußtsein sei hier wenigstens in einigen exemplarischen Stadien beleuchtet: 1. Die von Diderot und d’Alembert herausgegebene „Enzyklopädie"
Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schriftstellern bearbeitet und herausgegeben von J. S. Erseh und J. G. Gruber.
II, 3 (Leipzig 1828), S. 307-329:
„Hebräer“ (A. G. Hoffmann), (umfaßt die Zeit bis zur römischen Eroberung Jerusalems)
S. 337— 364:
„Hebräische Literatur" (A. G. Hoffmann)
II, 25 (Leipzig 1846), S. 107-110:
„Israel (das Reich)“ (Ed. Reuß)
II, 26 (Leipzig 1847), S. 395-397:
„Juda (Stamm und Reich)" (Ed. Reuß)
II, 27 (Leipzig 18 50), S. 1— 238:
„Juden (Geschichte)" (S. Cassel)
S. 253— 315:
„Judenemancipation" (K. H. Scheidler) * S. 324— 347:
„Judenthum, jüdische Religion und Nationalität" (Ed. Reuß)
S. 3 57-471:
„Jüdische Literatur“ (M. Steinschneider)
Was hier in der Stoff-und Raumverteilung vor allem auffällt, ist die skizzenhaft kurze Behandlung der alttestamentlichen Welt und die unverhältnismäßig breite Behandlung des nach-biblischen Judentums. 3. Die im 20. Jahrhundert herausgegebenen weltgeschichtlichen Sammelwerke geben von der Geschichte des alttestamentlichen Israel nur eine kurze Darstellung, während das nachbiblische Judentum völlig unberücksichtigt bleibt. Als Beispiele seien zwei dieser Sammelwerke herausgegriffen: a) Weltgeschichte. Die Entwicklung der Menschheit in Staat und Gesellschaft, in Kultur und Geistesleben. Hrsg, von J. v. Pflugck-Hartung. Der Band „Geschichte des Orients“ (Berlin 1909) behandelt auf S. 3 bis 127:
„Die Kulturwelt des alten Orients", darin auf S. 117— 127: „Die israelitische Kultur.“ b) Propyläen-Weltgeschichte. Hrsg, von W.
Goetz.
I. Das Erwachen der Menschheit. Die Kulturen der Urzeit, Ostasiens und des Vorderen Orients. Berlin 1931.
S. 407— 568:
„Die Völker des Vorderen Orients.“
S. 463— 472:
„Palästina und das Aufkommen Israels.“
491-504:
„Kanaan und die Propheten Israels."
544-568:
Das Perserreich bis auf Alexander.
Zarathuschtra."
Daß hier das alttestamentliche Israel schon wieder etwas mehr Raum erhält, liegt wohl an der Person des Bearbeiters, des Alttestamentlers Rudolf Kittel!
Israel und Hellas
Wie ist es geistes-und wissenschaftsgeschichtlich zu erklären, daß die historisch richtige Sicht der alttestamentlichen Welt, wie wir sie noch bei Herder und Goethe antreffen, in der Folgezeit fast völlig verlorenging? Die Antwort lautet: Die Verengung unseres historischen Weltbildes, die sich an diesem Punkt schrittweise während des 19. Jahrhunderts unzweifelhaft vollzog, ist zurückzuführen auf das Zusammenwirken zweier geistiger Strömungen, die aus ver-
schiedenen geistigen Wurzelgründen kamen, aber in dem einen übereinstimmten, daß sie die menschheitsgeschichtliche Leistung des alttestamentlichen Israel nicht wahrhaben wollten: 1. die Aufklärung, die aus ihrer kirchenfeindlichen Grundeinstellung heraus die alt-testamentliche Welt als religiös geprägt ablehnen mußte; 2.der „Zweite Humanismus,“ der aus einem letztlich geschichtsfernen Enthusiasmus über die Neuentdeckung des hellenischen Altertums und seiner Kunst übersah, daß Israel eine wenigstens ebenso große Bedeutung für die Grundlegung unserer abendländischen Kultur zukommt wie Hellas. Neben der hellenischen Leistung auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Kunst steht die Grundlegung unserer sittlichen und religiösen Überzeugung durch Israel. Der „Zweite Humanismus" konnte, durfte und wollte diese Leistung Israels nicht sehen, um die Ausschließlichkeit der hellenischen Leistung um so nachdrücklicher auch weiterhin behaupten zu können.
Die Ausklammerung Israels aus unserem Geschichtsbewußtsein und unserer Bildungstradition hat dann dazu geführt, daß die historischphilologische Erforschung der alttestamentlichen Welt nunmehr im wesentlichen den Theologen vorbehalten blieb, deren wissenschaftliches Interesse sich begreiflicherweise in der Hauptsache auf innerbiblische Fragen beschränkte. Kaum befaßte sich je ein Althistoriker unserer Universitäten näher mit der’Geschichte Israels. Eduard Meyer bleibt auch hierin vereinzelt.
Gewiß haben die Hellenen auf vielen Gebieten unvergleichlich Größeres geleistet als die Hebräer: vor allem in der Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Politik. Jedoch werden sie in jenen anderen Bereichen, die oben ausführlich erörtert wurden, von Israel weit überragt. Bei aller Großartigkeit griechischer Geschichtschreibung muß es doch ausgesprochen werden: Im Volke Israel wurde zuerst die Geschichte der Menschheit als ein sinnvolles Ganzes gesehen — zu einem Zeitpunkt, da dieser Gedanke noch von keinem Hellenen gedacht wurde. Aber auch auf dichterischem Gebiete haben die Hebräer den Hellenen Ebenbürtigeshervorgebracht. Das Buch Job (Hiob) (in ähnlicher Weise auch das „Memoirenwerk" des Propheten Jeremias) ist nicht weniger gewaltig als die Tragödien des Äschylos, und die Sprachgewalt der Psalmen ist wohl von keiner hellenischen Lyrik je erreicht worden. Diese Tatsachen sind oft von berufenen Kennern (Allgeier, Hempel, Hehn u. a.) betont worden.
Die Abwertung Israels in unserem herkömmlichen Geschichtsbilde ist am stärksten begründet in der Überwertung der hellenischen Geistesleistung, die seit den Tagen Winckelmanns in der deutschen Bildungsgeschichte um sich gegriffen hat. Hier gilt es, aus dem Ab-stande vergleichender Betrachtung die Gewichte wieder richtig zu verteilen.
Aus dem weiteren Abstande menschheitsgeschichtlicher Betrachtung erscheint heute der hellenische Beitrag zum Aufbau unserer abendländischen Geisteskultur zwar nicht weniger gewaltig, aber doch weniger umfassend. Unmittelbar neben den großen Leistungen in der Dichtung, Kunst, Philosophie, Naturforschung, Medizin, Geographie, Astronomie, Mathematik, Geschichtsforschung und Geschichtschreibung werden wir der Grenzen des hellenischen Geistes gewahr. Wie seine Götter in den dunklen Hintergründen der übermächtigen Moira stehen, so ermangelt auch seine sittliche Entscheidung der letzten, dem Schicksal überlegenen Begründung. Und obwohl die Anschauung selbst der bedeutendsten hellenischen Geister, daß Tugend lehrbar sei, nicht schlechthin mit „Intellektualismus“ gleichgesetzt werden darf, weil die „Wissensschau“ des Hellenen, die „Theoria", auch mystische Anteilhabe am „Licht“ ist, so ist doch die Ethik Israels wirklichkeitsechter und tiefer, weil sie von den abgründigen Mächten des Guten und Bösen weiß, die um die Seele des Menschen ringen.
Das geistige Erbe Israels und des Hellenismus stellen gemeinsam die Grundlagen dar, auf welcher die in einer Folge von Völkerwanderungen in die Mittelmeerwelt eintretenden „neuen Völker“ des nördlichen und östlichen Europa die Kultur des werdenden Europa aufbauten: Kelten, Germanen, Slawen, eurasische Reiter-hirten. Beide Geistesströme — Israel (Bibel) und Hellas — gehen in der christlich gewordenen Welt nebeneinander her. Zwar kommt es schon seit frühpatristischer Zeit zu einer schrittweisen Verschmelzung, doch findet diese erst ein volles Jahrtausend später durch die Aristoteles-Rezeption der Hochscholastik im Abendland einen gewissen Abschluß. Aber auch nach der Verschmelzung bleibt noch eine polare Spannung von bedrängender Dynamik.
Dem Historiker stellt sich hier die Frage, welches Geisteserbe an der Grundlegung der europäischen Kultur stärker beteiligt ist: Israel oder Hellas? Das Gebiet der materiellen Zivilisation scheidet von vornherein aus einer solchen vergleichenden Abwägung aus, da auf diesem Gebiete weder Israel noch Hellas etwas Ursprünglich-Eigenes zu bieten hätten. In religiösem Be-reich erlangte das Geisteserbe Israels die Alleinherrschaft. Das gesamte christliche Mittelalter lebte aus einer innigen Vertrautheit mit dem Alten Testament. Der hellenische Einfluß beschränkte sich auf den philosophischen und theologischen Bereich (Aristoteles-Rezeption) und auf die Dichtung, wo seit den Kreuzzügen viele Stoffe der griechischen Sagenwelt (Trojanischer Krieg usw.) eindrangen. Anders wurde dies seit dem italienischen Rinascimento. Die machtvoll hervorbrechende Geistesbewegung des Humanismus mit ihrer Verehrung der vorchristlichen Antike hat das abendländische Bildungsleben unter das Vorzeichen des hellenischen Geisteserbes gestellt. Freilich blieb daneben das aus dem Mittelalter überkommene biblische Geschichtsbild noch lange in Gültigkeit. Erst der „Zweite Humanismus“ — von Winckelmann bis zu Humboldt — hat den Versuch gemacht, der vorchristlichen Antike nahezu die Alleinherrschaft über unser Bildungsleben einzuräumen. Damit wurde ein Weg eingeschlagen, dessen Richtigkeit heute mit gutem Grunde mehr und mehr bezweifelt wird.
Was wiegt schwerer in der geistigen Gesamtentwicklung unserer abendländischen Welt — Hellas oder Israel? Die Antwort kann nicht mehr zweifelhaft sein. Hellas hat sich überhaupt erst seit dem Hochmittelalter ein zunehmend breiter werdendes Nachwirken errungen.
Aber dieses blieb auch nach dem siegreichen Durchbruch im italienischen Rinascimento im wesentlichen auf die Bildungsschicht der abendländischen Völker beschränkt. Die volkstümliche Geisteskultur hat zu allen Zeiten aus den Kräften der biblischen Glaubensüberlieferung gelebt. So kann man — um eine beispiel-förmige Antwort zu geben — sagen, daß die 150 Psalmen des Alten Testaments für die geistige Entwicklung unserer Welt unvergleichlich mehr bedeutet haben als die rund 30 uns erhalten gebliebenen hellenischen Tragödien, die erst im 15. Jahrhundert wieder bekannt wurden, und auch dann nur auf die dünne humanistische Oberschicht Einfluß gewannen.
Die Wiedereingliederung des alttestamentlichen Israel in unser Geschichtsbild
Wie kann dies anders werden? Die einzig sinnvolle Antwort lautet: Dadurch, daß endlich die Geschichte des alttestamentlichen Israel in unseren Geschichtsbüchern wieder jenen Platz erhält, der ihr mit Fug und Recht gebührt. Bei der Verwirklichung dieser Forderung ergibt sich auch die Notwendigkeit, die herkömmliche Formel, wonach die abendländische Kultur auf dem Bündnis von Germanentum, Christentum und Antike beruht, durch den Zusatz zu modifizieren, daß sowohl in der „antiken" als vor allem in der christlichen Komponente des Abendlandes das Erbe Israels geschichtsmächtig weiter-gewirkt hat.
Man braucht nicht zu befürchten, daß die hier befürwortete und geforderte Einsetzung des alttestamentlichen Israel in das volle Licht menschheitsgeschichtlicher Betrachtung der richtigen Einschätzung der hellenischen Leistung Abbruch tun könnte. Vielmehr wird Hellas gerade auf diesem altorientalischen und alttestamentlichen Hintergrund sich um so klarer in seiner bleibenden Leistung abheben, und um so sicherer und eindeutiger wird seine besondere geistige Wesensart in Erscheinung treten. Freilich wird an der seit dem zweiten Humanismus herkömmlichen Überschätzung der hellenischen Leistung mancher Abstrich vorgenommen werden. Man wird die Augen nicht vor der Einsicht verschließen können, daß das leuchtende Ideal-bild des klassischen Hellas, das der „Zweite Humanismus“ gezeichnet hat, nicht unwesentlich von der geschichtlichen Wirklichkeit abweicht. Wenn wir die Freiheit des Menschen wieder in seiner Gewissensbestimmtheit sehen, dann wird unser Blick frei für den Rang, den die vom Gewissen her bestimmte Menschenwürde im Alten Testament hat. Nur ein Zeitalter, dem ein rein ästhetischer Schönheitskult höher stand als die echte Gewissensformung, konnte über dem hellenischen Menschenideal das Menschenideal des Alten Testaments übersehen.
Das nachbiblische Judentum
Schließlich verdient auch die Geschichte des nachbiblischen Judentums in unseren Schulgeschichtsbüchern eine wesentlich breitere Berücksichtigung als dies bisher gewöhnlich geschieht. Zwar ist das nachbiblische Judentum nicht mehr jene sittliche und religiöse Weltmacht wie einst das alttestamentliche Israel, aber auch in der Geschichte seiner leidvollen Verstreuung über alle anderen Völker hin gibt es noch eine Anzahl Züge, die den großen Rahmen der allgemeinen Weltgeschichte streifen.
Mit diesem Fragenkreis der jüdischen Geschichte in nachbiblischer Zeit hat sich in jüngster Zeit der Historikerkreis der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in zwei Arbeitstagungen befaßt (26. November 195 3 und 9. April 1954) und eine ausführliche Disposition von Gesichtspunkten erarbeitet, die als „Anregung für die Geschichtsbuchautoren und als Material für die Verarbeitung" dienen sollen. (Vgl. W. Schreckenberg in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1954, S. 438— 440.)
Solches Bemühen, herkömmliche Fehlmeinungen und Verzeichnungen auf diesem heiklen Gebiet zu berichtigen, sind nicht nur an sich — auch und gerade im Hinblick auf eine richtig verstandene politische Erziehung unserer Jugend — zu begrüßen, sondern auch — darüber hinausgreifend — als Ausdruck des Willens zur notwendigen Ausweitung unseres Geschichtsbildes in jeder Weise. Freilich gehen diese Vorschläge und Erwägungen nicht von der Betrachtung der jüdischen Geschichte und ihrer spezifischen Probleme aus, sondern vorwiegend von der Betrachtung des leidvollen Nachbarschaftsverhältnisses zu den abendländisch-christlichen Völkern. Der geographische Rahmen ist demgemäß das Abendland, d. h. Westeuropa. Damit werden jedoch die eigentlichen Schwerpunkte einer „Weltgeschichte der Judenheit" außer acht gelassen oder nur am Rande gestreift. Denn die folgende Tatsache gilt ‘es mit Nachdruck festzustellen: Die quantitativen und geistigen Schwerpunkte der jüdischen Weltgeschichte liegen außerhalb des geographischen Rahmens des Abendlandes und damit auch außerhalb des herkömmlichen Geschichtsschemas. Sie wieder unserem historischen Wissen einzuverleiben, ist die erste und wichtigste Forderung, die auch an den Geschichtsunterricht gestellt werden muß.
Gerade einer geographischen Betrachtung der Schwerpunkte der jüdischen Geschichte erschließt sich das Gesamtphänomen der jüdischen Geschichte: denn deren Hauptkapitel sind Stationen auf dem Wege einer Wanderung der Schwerpunkte — die mittelalterliche Legende von dem ewig weiterwandernden Ahasverus hat dies in einem mythisch tiefen Bilde festgehalten. Dies sei im folgenden an einigen historischen Feststellungen über die geographischen Schwerpunkte der jüdischen Geschichte gezeigt:
1. Seit dem „babylonischen Exil" (6. Jh. v.
Chr.) liegt der zahlenmäßige und geistige Schwerpunkt der Weltjudenheit nicht mehr in Palästina, sondern im Zweistromland. Die Masse der Exilierten ist dort geblieben, nur ein kleiner Bruchteil ist mit Nehemias wieder nach dem Heiligtum Jerusalem zurückgekehrt (444 v.
Chr.). Für anderthalb Jahrtausende bleibt Mesopotamien die Mitte der jüdischen Geschichte.
Dort befinden sich die Hochschulen jüdischer Gesetzeswissenschaft, dort entsteht jenes umfangreiche Schrifttum, das wir mit dem Namen des (babylonischen) Talmud zu bezeichnen pflegen. Von den wenig mehr als drei Jahrtausenden jüdischer Geschichte stehen rund anderthalb Jahrtausende (bis um 1000 n. Chr.) im Zeichen der Vorrangstellung Mesopotamiens. Hier liegt daher die geographische Mitte einer Weltgeschichte der Judenheit, wenn wir wirklich den Mut aufbringen, sie vom Innerjüdischen her zu sehen.
Mit intuitiver Treffsicherheit hat Oswald Spengler
„Es war die große und rassekräftige Menge, die diesem Gedanken in Wirklichkeit ganz fern stand, ihn nur als Gedanken, als Traum gelten ließ, ohne Zweifel ein tüchtiger Bauern-und Handwerkerschlag mit einem in Bildung begriffenen Landadel, der ruhig in seinen Besitzungen blieb, und zwar unter einem eigenen Fürsten, dem Resch Galuta, der seine Residenz in Nehardea hatte. Die Heimziehenden sind die Wenigsten, die Hartköpfigen, die Eiferer. Es waren 40 000, mit Weib und Kind. Das kann kein Zehntel, nicht einmal ein Zwanzigstel der Gesamtzahl gewesen sein. Wer diese Ansiedler und ihr Schicksal mit dem Judentum überhaupt verwechselt, der vermag in den tieferen Sinn aller folgenden Ereignisse nicht einzudringen. Die judäische Kleinwelt führte ein geistiges Sonderleben, das von der gesamten Nation geachtet, aber durchaus nicht geteilt wurde. Im Osten blühte die apokalyptische Literatur, die Erbin der prophetischen, prachtvoll auf. Hier war eine echte Volksdichtung zu Hause. ... In Judäa gedieh nur das Gesetz; der talmudische Geist erscheint zuerst bei Hesekiel und verkörpert sich seit 450 in den Schriftgelehrten (Soferim) mit Esra an der Spitze. ... Jerusalem wurde das Mekka der Strenggläubigen. ... Aber in diesem Kreise war kein Platz für eine weltliche Kunst, Poesie und Gelehrsamkeit. Was im Talmud an astronomischem, medizinischem und juristischem Wissen steht, ist ausschließlich mesopotamischer Her kunft. . .. „Das Gesetz und die Propheten“ — das ist beinahe der Unterschied von Judäa und Mesopotamien. ... Die Entscheidungen von Jerusalem wurden allenthalben anerkannt; es fragt sich aber, wieweit sie befolgt worden sind. Schon Galiläa war den Pharisäern verdächtig; in Babylonien durfte kein Rabbiner geweiht werden. ...
Es ist noch eine zweite Betrachtung nötig. Das Judentum hat sich wie das Persertum seit der Zeit des Exils aus sehr kleinen Stammesverbänden ins Lingeheuerliche vermehrt, und zwar durch Bekehrung und Übertritte. ... Im Norden drang es über den Judenstaat Adiabene schon früh bis zum Kaukasus vor, im Süden, wahrscheinlich längs des persischen Golfes, nach Saba; im Westen gab es in Alexandria, Kyrene und Cypern den Ausschlag. Die Verwaltung von Ägypten und die Politik des Partherreiches lagen zum großen Teil in jüdischen Händen.
Aber diese Bewegung geht einzig von Mesopotamien aus. Es ist apokalyptischer und nicht talmudischer Geist darin. In Jerusalem erfindet das Gesetz immer neue Schranken gegen die Ungläubigen . . . Aber daraus folgt die geistige Überlegenheit des weiten Ostens. Mochte das Synedrion in Jerusalem von unbestrittener religiöser Autorität sein, politisch und damit geschichtlich ist der Resch Galuta eine ganz andere Macht . ..
Die Zerstörung Jerusalems traf nur einen sehr kleinen Teil der Nation und politisch wie geistig bei weitem den unbedeutendsten.“
Diese Tatsachen, die im Lichte der talmudischen, syrischen und arabischen Geschichtsquellen eindeutig feststehen, sind ebenfalls dadurch verdunkelt worden, daß man sogar die Bearbeitung dieses Forschungsgebietes — als eine Art Anhängsel — überwiegend der Exegese des Alten Testamentes überließ.. In der Betrachtungsweise des Alten Testamentes aber steht die jüdische Rückwanderung nach Palästina (unter Führung des Esra'und Nehemia) im Vordergrund. Und das Neue Testament schien es als Tatsache zu bestätigen, daß das jüdische Volkstum noch immer seinen Schwerpunkt in Palästina hatte, worüber sein eigentliches historisches Fortleben in Mesopotamien in den Hintergrund trat.
Von dem geistigen Zentrum in Mesopotamien aus hat sich die jüdische Volks-und Geistesgeschichte während des 1. Jahrtausends n. Chr. nach allen Seiten entfaltet. In der islamischen Welt gewann das jüdische Element einen großen geistigen Einfluß. In den ersten islamischen Jahrhunderten treffen wir überall jüdische Gelehrte, Ärzte und Übersetzer. Gerade als Übersetzer haben die Juden großen Anteil an der Vermittlung des hellenischen Geistesgutes (Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie) an die sich entfaltende islamische Welt. Von dem mesopotamischen Schwerpunkt aus ist es der jüdischen Mission dann auch gelungen, in dem Großreich der Chasaren (in der Ukraine) die Vorherrschaft — wenigstens in der Oberschicht — zu erringen. Es ist dies in der mittelalterlichen Geschichte unserer Welt das einzige Beispiel eines jüdisch geführten Großstaates. 2. Ein zweiter völkischer und geistiger Schwerpunkt des Judentums hat sich dann im Gefolge der arabischen Machtausbreitung in Spanien herausgebildet. Als geistiges Zentrum blieb Spanien innerhalb der abendländischen Judenheit führend bis zur spätmittelalterlichen Vertreibung (1492). Die Vermittlertätigkeit jüdisch-spanischer Übersetzer ist aus der abendländischen Geistesgeschichte — insbesondere der werdenden Scholastik — nicht wegzudenken. 3. Im Gefolge der deutschen Ostkolonisation sind jüdische Kaufleute — mit einem gewissen Phasenabstand und als kommerzielle Nutznießer — in die neuerschlossenen Wirtschaftsgebiete Ostmitteleuropas eingewandert. So hat sich dort im Spätmittelalter als Folgeerscheinung der deutschen Ostkolonisation das „Ostjudentum" herausgebildet, das sich selbst als „aschkenasisch" oder „daitsch" bezeichnet und sich einer mit hebräischen Brocken durch-setzten deutschen Mundart — des sogenannten „Jiddischen“ — bedient. Dieses Ostjudentum — in dem Dreieck zwischen Adria, Ostsee und Schwarzen Meer — stellt den neuzeitlichen Schwerpunkt des Weltjudentums dar (vom 16. bis in das 20. Jahrhundert).
4. Schließlich ist seit dem wirtschaftlichen Aufschwung der USA infolge der einsetzenden Industrialisierung dort seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein neuer Schwerpunkt entstanden, der heute — nach den Folgen von Hitlers Ausrottungspolitik — den jüdischen Schwerpunkt Nr. 1 darstellt — zahlenmäßig, geistig, wirtschaftlich, politisch.
5. Die schrittweise Schaffung eines jüdischen Nationalstaates „Israel“ in Palästina hat dann dort einen neuen, unter dem Drude der umliegenden . arabischen Staaten gefährdeten jüdischen Nationalstaat entstehen lassen. 6. Eine Erwähnung verdient schließlich auch der gescheiterte sowjetische Versuch, durch die Gründung der kleinen jüdischen Sowjetrepublik Birobidschan in Ostsibirien an der Grenze der Mandschurei die Judenfrage im Sinne Moskaus zu lösen und gleichzeitig auch dem Zionismus den Wind aus den Segeln zu nehmen.
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