Vortrag, gehalten bei der Erstaufführung des Ernst-Reuter-Films in Berlin am 9. Januar 1956, Als mir angekündigt wurde, daß ich am heutigen Abend das Antlitz von Ernst Reuter auf der weißen Wand erblicken und seine Stimme in diesem Raume vernehmen würde, da trat mir alsbald in plastischer Greifbarkeit die Situation vor Augen, in der mir dieser Mann zum ersten und zum letzten Male entgegengetreten ist. Die Begegnung fand statt zwei Monate vor seinem Tode, in der letzten Woche des Juli 1953. Damals veranstaltete der „Kongreß für die Freiheit der Kultur" eine internationale Tagung in Hamburg. Ihr Thema hieß: „Wissenschaft und Freikeit“ *). Es war eine Tagung, die gerade für den Vertreter der deutschen Wissenschaft den Charakter einer echten Gewissenserforschung trug, weil sie ihn zu der Frage aufforderte, ob und wie weit diese deutsche Wissenschaft in den Anfechtungen, die das Dritte Reich über sie brachte, dem Geist der Freiheit die Treue gehalten habe. Die Verbindung mit der Person von Ernst Reuter aber stellte sich dadurch her, daß er nicht nur am zweiten Tage der Verhandlungen den Vorsitz übernahm, sondern auch in der festlichen Schlußsitzung im Rathause einer derjenigen war, die sich vereinigten, um aus den viertägigen Verhandlungen das Fazit zu ziehen.
Nun könnte man meinen, daß auch so noch die Beziehung zwischen Reuter und der Veranstaltung, die ihn dergestalt in den Vordergrund rückte, von einer relativ äußerlichen und zufälligen Art gewesen sei. Allein so denken — das hieße die damalige Situation gröblich verkennen. In Wahrheit verhielt es sich so, daß Reuter schon durch die Tatsache seiner Anwesenheit zu der den Kongreß beschäftigenden Problematik einen wesentlichen Beitrag lieferte. Durch den Gang seiner Verhandlungen wurde der Kongreß auf gewisse grundsätzliche Fragen hingenötigt, die nicht erörtert werden konnten, ohne daß die Gestalt Ernst Reuters zu einer geradezu symbolischen Bedeutung erhöht wurde.
Ich skizziere kurz den Gedankenzusämmenhang, der auf den entscheidenden Punkt hinführte. Wenn der Kongreß durch sein Thema das Verhältnis von Wissenschaft und Freiheit zur Diskussion stellte, so lenkte er dadurch naturgemäß die Aufmerksamkeit zunächst auf diejenige Freiheit.deren die Wissenschaft selbst sich erfreuen muß, um der ihr gestellten Aufgabe, der Aufgabe der Wahrheitsfindung, in der rechten Weise dienen zu können. Es war diejenige Freiheit, für die einzutreten der Kongreß sich durch die in de totalitären Systemen übliche Geistesknechtung gedrungen fühlte. Allein mit dieser einen Frage verknüpfte sich alsbald die andere, ob und in welcher Weise die in ihrer eigenen Freiheit unbehinderte Wissenschaft dem Menschen beistehen könne, auch außerhalb der Wissenschaft, auch in seinem tätigen Leben, den Geist der Freiheit zu entwickeln und die Mächte der Unfreiheit zu bannen. Was kann die freie Wissenschaft tun, was hat sie zu tun, um dem menschlichen Leben im ganzen zur Freiheit emporzuhelfen?
Nur der von der Wissenschaft geleitete Mensch ist der wahrhaft freie Mensch?
Es liegt auf der Hand, an welcher Stelle, in welchen Situationen die zu solcher Hilfeleistung erbötige Wissenschaft ihre Einsatzpunkte finden würde. Ob der Mensch ein freier Mensch ist, das erweist sich in einer jeden der zahllosen Entscheidungen, vor die er sich, sei es als Einzelperson, sei es als Glied der Gemeinschaft, gestellt findet. „Frei“ kann und darf eine solche Entscheidung selbstverständlich nur dann hei-ßen, wenn sie nicht aufs Geratewohl, in blindem Losfahren erfolgt, sondern aus Einsicht entspringt. Kommt aber der Einsicht ein so wesentlicher Anteil am Werden der Freiheit zu, dann muß sich die Frage aufdrängen, ob und in welchem Umfange jene zur letzten Vollendung durch-gebildete Einsicht, die sich „W issenschaft" nennt, dem in die Situation der Entscheidung gestellten Menschen an die Hand gehen kann. Und ist diese Frage erst einmal aufgeworfen, dann geht es von ihr her unaufhaltsam weiter zu der Erwartung, Hoffnung, Forderung, die Wissenschaft möge dem handelnden Menschen die für ihn nötige Einsicht in solcher Vollständigkeit und eindeutiger Bestimmtheit darbieten, daß er durch sie von allen Zweifeln der Wahl, allen Gewagtheiten der Entschließung erlöst werde. Man begreift, wie viel Verlockendes der Gedanke an diese Möglichkeit'für den so oft vor dem Ungewissen erschauernden Menschen an sich hat. Besteht er zu Recht, so dürfen wir in der Wissenschaft die geistige Macht erblicken, die durch die Erleuchtung, die sie dem Menschen spendet, ihm zugleich die vollkommene Freiheit zu eigen gibt. Nur der von der Wissenschaft geleitete Mensch ist der wahrhaft freie Mensch. Denn nur sein Handeln ist Ausfluß schlackenfreier Einsicht.
Wir können gewiß sein, daß die damit in prinzipieller Form gestellte Frage auch Ernst Reuter in jungen Jahren stark bewegt hat. Denn die Partei, der er sich eine Zeitlang aus der Kraft eines gläubigen Herzens anschloß, trat mit einem Programm auf, das seinen Anspruch auf unbedingte Anerkennung mit der Behauptung begründete, daß es in seinem ganzen Umfange nichts als wissenschaftlich begründete Wahrheit enthalte. Hier war nun wirklich die Wissenschaft zum Range der das menschliche Leben lenkenden und eben damit den Menschen zu sich selbst befreienden Macht erhöht. In der Sprache des heutigen Kommunismus ausgedrückt: es ist die durch die Wissenschaft erarbeitete Kenntnis der „Naturgesetze der Gesellschaft", aus der das Aktionsprogramm des Kommunismus seine Unfehlbarkeit herleitet. Der „dialektische Materialismus", der diese Gesetze bloßlegt, ist in seiner ganzen Ausdehnung nicht bloß Glaube, nicht bloß Ausdruck eines auf Umwandlung der Gesellschaft ausgehenden Willens: er ist Wissenschaft. Da aber diese Wissenschaft der Annahme gemäß nicht nur den durch die Vergangenheit bereits realisierten, sondern auch den durch die Zukunft erst zu realisierenden Teil der Menschheitsgeschichte umfaßt, so wird der Mensch, der sich durch sie erleuchten läßt, nicht nur als Betrachtender über den Gang der Menschheitsgeschichte aufgeklärt, sondern auch als Handelnder von der Nötigung erlöst, immer wieder im Angesicht einer in Dunkel gehüllten Zukunft Willensentschlüsse zu fassen, über deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit eben erst die Zukunft entscheiden wird. Wenn die Wissenschaft jeden Schritt des Weges erhellt, dann hat der diesen Weg verfolgende Mensch sich nicht mehr ins Ungewisse hinein zu entscheiden, sondern lediglich auszuführen, was ihm durch die Wissenschaft als der auf ihn entfallende Teil der Gesamtentwicklung zudiktiert wird. Er ist erlöst von der Qual der Wahl, weil durch den unfehlbaren Spruch der Wissenschaft jedem Schwanken ein Ende bereitet ist.
Das Überraschende nun an den Verhandlungen des Hamburger Kongresses war dies, daß, wie sein Verlauf bewies, der Glaube an eine den Menschen von der Not der Entscheidung entbürdende Wissenschaft sich nicht auf die Bekenner der kommunistischen Heilslehre beschränkt, sondern auch in denjenigen Völkern überzeugte Anhänger findet, die sich in ausgesprochener Frontstellung gegen den militanten Kommunismus befinden. Und zwar war es besonders die amerikanische Wissenschaft, die, in gewissen Vertretern, der Wissenschaft eine Lebens-funktion zuweisen wollte, die, bei aller inhaltlichen Abweichung, der ihr durch den Kommunismus zugetrauten und zugedachten Leistung vollkommen entsprach.
Nachrichtenagentur . Wissenschaft'
Ich reproduziere die Grundgedanken, in denen ein repräsentativer Vertreter des amerikanischen Neopositivismus diese Mission der Wissenschaft entwickelte. Jedes Problem, dem der Mensch sich gegenübergestellt findet, ist — so führte er aus — grundsätzlich durch die Methode der Wissenschaft lösbar. Ist es durch sie nicht lösbar, so liegt darin der Beweis, daß es überhaupt nicht lösbar ist. „Probleme, die ihrem Wesen nach der wissenschaftlichen Methode nicht zugänglich sind, sind sinn-leere Probleme.''Die Tragweite dieser Behauptung tritt erst dann voll hervor, wenn man in Betracht zieht, daß sie sich ausdrücklich nicht nur auf die theoretischen, sondern auch auf die p r a k t i s c h e n Probleme bezieht, die das Leben uns aufgibt. Praktische Probleme sind solche Probleme, die den Menschen nicht als Betrachtenden, sondern als Wollenden und Handelnden angehen. Wollen und Handeln richten sich auf die Zukunft. Eine Wissenschaft, die sich anheischig macht, die praktischen Probleme aufzulösen, die dem Menschen gestellt werden, muß eine Wissenschaft sein, die auch der Zukunft kundig ist. Und in der Tat wird hier die wesentliche Aufgabe der Wissenschaft darin gefunden, „klare Voraussagen zu treffen" und „lenkende Funktionen auszuüben". Und keinen besseren, keinen ehrenvolleren Namen weiß dieser Wissenschaftsgläubige für die dergestalt Bevollmächtigte ausfindig zu machen als denjenigen einer „Nachrichtenagentur", Sache dieser Nachrichtenagentur ist es, das Auskunft einholende Leben mit den erforderlichen Direktiven zu versorgen. Als in der Zukunft liegender Zielpunkt ist darnach ein Zustand anzusehen, in dem die Nachrichtenagentur „Wissenschaft" dem Menschen nicht eine einzige von den Auskünften schuldig bleibt, die er nötig hat, um in der ihn jeweils anfordernden Lage das Richtige zu tun und das Falsche zu vermeiden, in dem also die Ungewißheit der wagenden Entscheidung bis auf den letzten Rest aus dem Dasein verbannt ist.
Ohne Zweifel war der amerikanische Gelehrte, der diese Doktrin vertrat, der felsenfesten Überzeugung, daß die Nachrichtenagentur „Wissenschaft“, Wenn sie nur unbehelligt arbeiten könne, unter keinen Umständen Auskünfte erteilen werde, die sich inhaltlich mit den Anweisungen der kommunistischen Ideologie berührten, geschweige denn deckten. Ohne Zweifel versprach er sich von ihr nur die Bestätigung und Unterstützung der Staats-und Gesellschaftsverfassung, die dem amerikanischen Volk zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Aber dieser Gegensatz ändert nichts daran, daß die Lebensfunktion der Wissenschäft von dem Vertreter des östlichen Kommunismus und dem Anwalt der westlichen Demokratie in vollkommener Übereinstimmung festgelegt wird. Der eine wie der andere erblickt in ihr die eigentliche Leitkraft der geschichtlichen Entwicklung. Die totale Verwissenschaftlichung, Szientifizierung des Lebens ist hier wie dort das Ideal, dem die Entwicklung zuzustreben habe. Ich bemerke am Rande, daß dies nicht der einzige Fall ist, in dem gewisse Tendenzen der westlichen Welt mit dem Geist des kommunistischen Osten mehr Verwandtschaft zeigen, als der Gegensatz der gesellschaftlich-politischen Bekenntnisse vermuten lassen sollte. Es wiederholt sich hier die alte Erfahrung, daß erbitterte Gegner mitunter mehr miteinander gemeinsam haben, als sie sich und der Welt eingestehen möchten.
Das „Wagnis“
Nun aber bin ich Ihnen Rechenschaft darüber schuldig, aus welchem Grunde ich gar nicht anders konnte als diese Auslassungen des wissenschaftsgläubigen Amerikaners mit der Person des damaligen Verhandlungsleiters, nämlich Ernst Reuters, in Verbindung bringen. Es drängt sich mir im Blick auf dieses Auskunftsbüro „Wissenschaft" die Frage auf, ob in dem von ihm aus geleiteten Leben für einen Mann wie Reuter noch Verwendung, ja ob nach ihm überhaupt Nachfrage sein würde. Die Antwort lautete: Menschen seiner Art würden unter den angenommenen Voraussetzungen überflüssig werden. Die Wissenschaft würde sich fortschreitend an ihre Stelle setzen. Ein Problem auf die Form einer wissenschaftlicher. Frage bringen: diese Aufgabe erfordert ein methodisch diszipliniertes Denken. Die durch die Wissenschaft erteilte Auskunft in die Wirklichkeit umsetzen: das erfordert ein die Vorschrift genau befolgendes Handeln. Eine Kombination von forschendem Scharfsinn und ausführender Gewissenhaftigkeit: darin erschöpft sich das, was die von der Wissenschaft gesteuerte Lebenswirklichkeit dem Menschen abverlangt. Verschwunden ist aus diesem Gefüge von Theorie und Praxis jener dunkle Posten der Lebensrechnung, den wir das „W a g n i s“ nennen. Denn ein Wagnis auf sich zu nehmen ist der Mensch nur dann genötigt, wenn der Ausgang des von ihm Unternommenen fraglich ist.
Daß mit dem Fortschreiten der Wissenschaft das Wagnis immer mehr aus dem Dasein verschwindet, darin wird der Anbeter der Wissenschaft den Triumph seiner Göttin erblicken, und er wird in jedem Rest von wagender Ungewißheit, der sich im Leben behauptet, einen durch die Wissenschaft zu beseitigenden Schönheitsfehler beklagen. Wir aber fragen uns, ob ein Leben, welches sich in allen Teilen den Anweisungen der Wissenschaft zu unterstellen hätte — ein Leben, innerhalb dessen für den Wagemut, der es mit dem Unvoraussehbaren aufnimmt, kein Platz mehr wäre: ob ein solches Leben überhaupt „Leben" zu heißen verdiente. Wäre doch dies Leben alsdann der Abwicklung eines in allen Einzelheiten vorgeschriebenen Geschäfts gleich geworden. Es wäre ein Triebwerk, das nur den zuverlässigen Konstrukteur und den wachsamen Aufseher nötig hätte, um einwandfrei zu funktionieren.
Das schlagende Herz der menschlich-geschichtlichen Welt Ich meine, man braucht sich nur das Zukunftsbild auszumalen, auf dessen Realisierung diese Wissenschaftstheorie glaubt hinarbeiten zu sollen, um auszurufen: Gott sei Dank, daß dieses Bild nicht nur nicht realisiert ist, sondern auch niemals realisiert werden wird. Wohl uns, daß menschlich-geschichtliches Dasein immerdar eine Gestalt haben wird, in der es Menschen wie Ernst Reuter nicht nur duldet und erträgt, sondern mit unsäglicher Inbrunst herbeisehnt und mit durchschlagender Wirkung für sich einsetzt. Das Wagnis dessen, der, von seinem Gewissen getrieben, es mit dem Unvoraussehbaren aufnimmt — das Wagnis dessen, der sich ohne vorsorgliche Sicherung seinem Schicksal stellt: es ist nicht ein unaufgelöster Rest von Irrationalem, mit dem die fortschreitende Wissenschaft aufzuräumen hätte — es ist das schlagende Herz der menschlich-geschichtlichen Welt. Welcher Irrtum, zu meinen, Probleme seien nur insoweit echte, d. h. lösbare Probleme, wie sie sich auf die Form einer wissenschaftlichen Frage bringen ließen! Als ob das Leben uns nicht tausendfältig Probleme in den Weg würfe, die nicht durch wissenschaftliches Räsonnement erledigt sein wollen, sondern nur durch die Entscheidung dessen gelöst werden können, der durch seine T a t die Antwort auf die Frage gibt, die die Lage an ihn stellt! Und was für die Richtigkeit der von ihm getroffenen Entscheidung den Beweis erbringt, das ist dann nicht eine wissenschaftliche Gedankenführung, sondern die Wendung der Lage, die durch die erlösende Tat herbeigeführt wird. Dieses Geflecht von Entscheidung, Wagnis und Wandlung durch eine wissenschaftliche Lebenslenkung ersetzen wollen — das heißt den Menschen zum Funktionär einer über ihn verfügenden Theorie erniedrigen. Weil mir in Ernst Reuter damals ein Mensch vor Augen stand, der durch sein geschichtliches Werk von der Unersetzlichkeit der sich dem Schicksal stellenden Persönlichkeit so überwältigend Zeugnis abgelegt hatte, darum wurde er für mich, ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte, zum flammenden Protest gegen eine Denkweise, die das menschliche Dasein in ein nach Regeln aufzulösendes Rechenexempel verwandeln möchte.
Wenn also der Kommunismus und die erörterte Spielart des Positivismus in ungewollter Übereinstimmung die Freiheit des Menschen dadurch glauben vollenden zu können, daß sie ihn der Lenkung einer das Leben gängelnden Wissenschaft unterstellen, so müssen sich beide des nämlichen Irrtums überführen lassen. Beide verkennen, daß der Mensch unter der Vormundschaft einer jeden einzelnen Schritt vorschreibenden Wissenschaft — gesetzt den Fall, es gäbe eine solche! — der Freiheit ebenso unfehlbar verlustig gehen würde, wie ihm das bei Unterwerfung unter zwingende „Naturgesetze" widerfahren würde. Wenn ihm auf jeder Station seines Lebensweges von der Wissenschaft gesagt wird, was er zu tun und zu lassen hat, dann ist er als sich selbst verantwortliches Subjekt ausgeschaltet, und er kann sich über die damit geschehende Ent-mündigung nicht mit der Überlegung trösten, es sei doch schließlich seine, die vom Menschen hervorgebrachte Wissenschaft, in deren Vormundschaft er sich begeben habe. Denn ein Leben, das der Theorie eine so uneingeschränkte Herrschaft über sich selbst eingeräumt hat, hat damit bereits alles das in sich zur Dienstbarkeit verurteilt, was nicht Theorie ist, und das heißt vor allem: es hat seinen Willen zur Abdankung gebracht.
Ein Menetekel für alle Lind man hüte sich vor der Meinung, daß die damit geschehende Aufhebung der Freiheit nur im Reiche des reinen Gedankens stattfinde, dagegen das praktische Leben unbehelligt lasse. Mit unfehlbarer Sicherheit setzt sie sich überall da in die Wirklichkeit um, wo die Menschen, die auf eine dergestalt die Wissenschaft inthronisierende Heilslehre schwören, einen Einfluß auf die Gestaltung der gemeinsamen Dinge gewinnen, der sie in den Stand setzt, den Übergang aus der Theorie in die Praxis in aller Folgerichtigkeit vorzunehmen. Diesen Fall uns in Reinkultur vorgeführt zu haben ist das welthistorische Verdienst des Kommunismus. Wenn der Kommunismus so unermüdlich auf die Wissenschaftlichkeit der durch ihn proklamierten gesellschaftlich-politischen Doktrin pocht, so tut er dies nicht in dem Wunsche, theoretisch Recht zu behalten — er tut es in der Absicht, dem System der allumfassenden Freiheitsberaubung, als welches er in der geschichtlichen Wirklichkeit dasteht, dadurch alles Anstößige zu nehmen, ja den Schein des Angemessenen und Gebotenen zu geben, daß er es als Ausführung des durch die Wissenschaft selbst Vorgeschriebenen und deshalb Unwiderlegbaren hinstellt. Wer in der Theorie die „Naturgesetze der Gesellschaft" ausfindig gemacht zu haben vertraut, der muß, ist er erst einmal ans Ruder gekommen, seine Sendung darin sehen, diesen Naturgesetzen zur denkbar vollkommensten Realisierung zu verhelfen, und das heißt nichts anderes als: er muß sich nicht nur berechtigt, nein, verpflichtet glauben, die Menschen zu demjenigen Verhalten zu bringen, das der Unterwerfung unter diese Naturgesetze gleichkommt. Damit ist dann die in der Theorie vorgezeichnete Aufhebung der Freiheit zur faktisch-praktischen Aufhebung geworden. Die diabolische Ironie aber des Vorgangs, der sich damit vollzieht, liegt darin, daß diese Transposition aus der Theorie in die Praxis, wird sie bis auf den Grund durchschaut, sich als krasseste Widerlegung der Doktrin enthüllt, deren Verwirklichung sie zu sein behauptet. Denn der Wille, der sich angeblich bis aufs letzte der den Weg weisenden Wissenschaft unterwirft, denkt in Wahrheit nicht daran, als eigenmächtige Potenz aus dem Leben zu verschwinden. Er wird nur in dem Millionenheer derer ausgelöscht, die das totalitäre System zur Rolle der naturgesetzlich determinierten Funktionäre verurteilt. Aber er taucht in potenzierter Gestalt wieder auf in der kleinen Minorität der Machthaber, die den riesenhaften Mechanismus dieses Arbeitsgetriebes so dirigieren, wie der in ihnen selbst lebende Wille zur Macht es gebietet. Eben deshalb sind gerade sie diejenigen, die das größte Interesse daran haben, die diesen Gesamtzustand legitimierende Doktrin zu allgemeiner und unbedingter Anerkennung zu bringen. Hilft sie ihnen doch, den sie erfüllenden Machtwillen durch die angeblich an seine Stelle tretende Wissenschaft zu maskieren und gleichzeitig jeden Widerspruch als durch die Wissenschaft widerlegt zu ersticken. So liefern sie durch ihr Tun den Beweis für die UInverdrängbarkeit des Willens, dem sie durch ihre Lehre die Eigenständigkeit genommen haben. Ausgetilgt ist dieser Wille nur in den Ungezählten, die, zu Rädern einer allumfassenden Maschinerie entselbstet, aus Personen recht eigentlich in Sachen, d. h. in Objekte theoretischer Berechnung und praktischer Ausnutzung verwandelt werden. Wahrlich ein Menetekel für alle die, die im Raum der westlichen Welt dem Gedanken einer totalen Verwissenschaftlichung des menschlichen Lebens das Wort meinen reden zu sollen!
Der Kommunismus — das Grab der Freiheit Nicht ohne Bewegung gedenken wir der Tatsache, daß es in der Entwicklung Ernst Reuters eine Phase gegeben hat, in der er von der in solche Konsequenzen einmündenden Doktrin das Heil der Menschheit erwartete. Wir haben keinen Grund, an dieser Tatsache verlegen vorüber-zugehen. Sie verdient schon insofern ernst genommen zu werden, als sie uns beweisen kann, daß es sehr überredende Gründe sein müssen, die zu Gunsten des kommunistischen Programms zu sprechen scheinen, und daß auch Menschen von lauterem Wollen und klarem Urteil von diesen Gründen beeindruckt, ja ergriffen werden können. Reuter war nicht der Mann, sich durch oberflächliche Argumentationen und flüchtige Lockungen fangen zu lassen, und am wenigsten reicht der Verdacht an ihn heran, daß die Hoffnung auf Befriedigung persönlichen Ehrgeizes oder der Blick auf Machterwerb und Machtgenuß ihn in dies Lager gezogen habe. Wenn er, der Sohn eines im ausgesprochensten Sinne bürgerlichen Hauses, sich auf eine gewisse Zeit hin der Partei anschloß, die der bürgerlichen Welt als Inkarnation des Bösen galt, so geschah dies in der Überzeugung, daß nur von ihr die Herstellung der vollkommenen sozialen Gerechtigkeit zu erhoffen sei. Aber auch insofern ist diese Episode in Reuters Leben nicht als ein Intermezzo, das man lieber missen würde, zu übergehen, als sie von ihm durchschritten und durchlitten werden mußte, damit der Entschluß, durch welchen er sich vom Kommunismus ablöste, sein ganzes Schwergewicht und seine das Persönliche überschreitende Bedeutung gewinne. Wir haben es in unseren Tagen ja mit fassungslosem Staunen erlebt, wie wenig es manchen Zeitgenossen ausmacht, das eine politische Bekenntnis mit dem anderen zu vertauschen. Menschen von der inneren Gewissenhaftigkeit eines Ernst Reuter fällt es ebensowenig leicht, der Sache, der sie sich einmal gelobt, abzuschwören, wie es ihnen eingefallen ist, ihr in flüchtiger Aufwallung beizutreten. Es müssen sehr in die Tiefe gehende, sehr das Gemüt erschütternde Erfahrungen gewesen sein, durch die Reuter dazu vermocht worden ist, sich von dem Glauben an die Segenskraft der kommunistischen Botschaft loszureißen und den Kampf gegen sie mit kompromißloser Entschlossenheit aufzunehmen. Daß er Theorie und Praxis des Kommunismus nicht in flüchtiger Berührung kennen gelernt hat, sondern in tätiger Teilhabe durch sie hindurchgegangen ist: dies und nur dies ist es, was seiner Absage jene Vertrauenswürdigkeit verleiht, die nur dem unter Schmerzen vollzogenen Glaubenswechsel zusteht. Wie wenig dieser Wechsel als Preisgabe letzter Überzeugungen verstanden werden darf, beweist das unveränderte Beharren desjenigen, was seit je das A und das O von Reuters Leben und Streben gewesen war: was blieb, das war die unbedingte Entschlossenheit, sich mit ganzer Kraft für die Verwirklichung einer Lebensordnung einzusetzen, durch welche der Forderung der sozialen Gerechtigkeit Genüge geschehe. Was verabschiedet wurde, das war die Meinung, der Kommunismus sei diejenige Bewegung, deren Sieg den Triumph dieser Gerechtigkeit mit sich bringen werde.
Was es aber war, das einem Ernst Reuter die Loslösung vom Kommunismus unumgänglich machte, darüber läßt die Gesamtheit der Kundgebungen, in denen er als regierender Bürgermeister dieser Stadt sich an ihre Bürger, an das deutsche Volk und an die Weltöffentlichkeit gewandt hat, keinen Zweifel. Ist es doch immer eine und dieselbe Idee, in deren Namen er seine Mitbürger zu standhaftem Ausharren und die Welt zu tatkräftiger Hilfeleistung aufruft: es ist die Idee der F r e i h e i t. Es ist, als ob in diesem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Freiheit etwas von neuem zum Leben erwachte, was der Student Ernst Reuter noch vor seinem Eintritt in die große Politik in sich ausgenommen. In Marburg war er dankbarer und hingerissener Schüler der Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp gewesen. Aus ihrem Munde hatte er jenes Evangelium der Freiheit vernommen, das sie als Erben und Nachfolger eines Kant ihren Hörern einprägten. Wie hätte nicht das damals gläubig Aufgenommene aus dem Seelengrunde heraufgerufen werden sollen durch das intensive Eintauchen in eine politische Bewegung, die, das Bekenntnis zu Freiheit und Menschenwürde auf den Lippen, durch ihre politische Praxis das Angepriesene mit Füßen trat! Aus Reuters unermüdlichem Aufruf zu echter und wahrer Freiheit können wir ersehen, daß seine Abkehr vom Kommunismus genau und nur durch dasjenige bewirkt worden, worin wir den tiefen Widerspruch dieser Bewegung erkannt haben. Es ist ihm aufgegangen, daß der Kommunismus, indem er dem menschlichen Leben eine Ordnung auferlegt, von der er behauptet, daß sie durch die Wissenschaft als die einzig bejahenswerte und zugleich als die einzig der Verwirklichung sichere Regelung der menschlichen Dinge erwiesen werde, in Wahrheit einen allumfassenden Apparat aufbaut, der die Masse der Menschen zu willenlosen Funktionären versklavt und nur die kleine Minderheit der Regierenden im Besitz ihres Willens beläßt. Der Kommunismus wird verneint, weil er das Grab der Freiheit ist.
Die Bedeutung Ernst Reuters Es wäre schon verdienstlich genug gewesen, wäre Reuter nur als führender und richtungweisender Politiker einem politischen System in den Weg getreten, das in seiner realen Gestalt der Vernichtung der Freiheit und damit der Menschenwürde gleichkommt. Aber es hieße seine Bedeutung weit unterschätzen, wollte man in ihm nicht mehr sehen als den unermüdlichen Gegenspieler des östlichen Totalitarismus. In Wahrheit hat er nicht nur den der Freiheit feindlichen Mächten immer wieder die Stirne geboten — was immerhin nur eine prohibitive Leistung gewesen wäre — er hat auch und erst recht durch seine Person und durch sein Wirken Zeugnis davon abgelegt, was der seiner Freiheit mächtige Mensch als bewegende Kraft des geschichtlichen Lebens bedeutet. Jene Lehre, die die Eingebungen des auf eigene Rechnung und Gefahr sich aussetzenden Menschen durch die Anweisungen der Wissenschaft überflüssig machen möchte — sie klingt wie der reine Hohn im Angesicht eines Mannes, der es fertig gebracht hat, wie ein Zentrum allseitig ausstrahlendcr Energie die Bürger einer Millionenstadt zu einer stählernen Einheit des Willens zusammenzuschweißen. Denkt man sich an seine Stelle einen Menschen, der sich durch das Auskunftsbüro „Wissenschaft" darüber belehren läßt, wie er sich zu verhalten habe, dann gewinnt man ein Bild von der Verödung, der das Leben zum Opfer fallen müßte, wenn es dahin käme, daß es in die Verwaltung einer die Persönlichkeit verabschiedenden wissenschaftlichen Bürokratie überginge.
Es ist als ein besonderer Glücksfall anzusehen, daß der Mann, der durch sein Leben die Grenzen der von der Wissenschaft zu erhoffenden Erleuchtungen so überzeugend zur Datstellung gebracht hat, durch die Fragestellung des Hamburger Kongresses angeregt worden ist, sich darüber auszusprechen, welche Bedeutung er der Freiheit im Verhältnis zur Wissenschaft beimaß. Vor meinen Augen steht das Bild der glänzenden Versammlung im Hamburger Rathaus, der er zuruft: „Im wissenschaftlichen Bestreben des Menschen offenbart sich die elementare Kraft, Mensch sein zu wollen und der Stimme des eigenen Gewissens zu folgen.“ Sein ganzes Gewicht aber gewinnt dieses Bekenntnis zur Freiheit der wissenschaftlichen Forschung erst durch die Fortführung des Gedankens, in der der Politiker Ernst Reuter sich die Frage vorlegt, was die in Freiheit sich selbst gehörende Wissenschaft für den Staat bedeutet. Und da fällt nun der Ausspruch, der allen von der einen oder der anderen Seite her ausgehenden Übergriffen Einhalt gebietet: „Auch der Staat kann ohne dieses bohrende, niemals aufhörende, jeden Preis in Kauf nehmende Drängen des Menschen, seiner eigenen Gewissensstimme zu folgen, frei sein zu wollen, nicht existieren“. In diesem Satze ist selbstverständlich zunächst jeder Versuch des Staates zurückgewiesen, die Wissenschaft als Vorspann für die in ihm selbst lebenden Willenstendenzen zu mißbrauchen. Allein der Staat wird nicht nur deshalb angehalten, von der Wissenschaft die Hände zu lassen, weil sie als seine Handlangerin dem eigenen Lebensgesetz entfremdet würde — nein: es wird ihm zu bedenken gegeben, daß er durch Vergewaltigung der Wissenschaft sein eigenes Leben verwirren, ja seine Seele vergiften würde. Denn gesund darf nur der Staat heißen, in dem die Wahrheit auch dann ihre Stimme erheben darf, wenn das, was in ihrem Namen zu sagen wäre, den Machthabern unbequem ist, ja das Konzept verdirbt. Erst mit dieser Verhältnisbestimmung ist zwischen den beiden in Rede stehenden Instanzen die rechte Beziehung hergestellt. Sie verbietet es der einen so gut wie der andren, sich dem Gegenglied über ordnen zu wollen. Aber sie bekräftigt mit dem gleichen Nachdrude die Z u Ordnung der einen zur anderen — das Wechselverhältnis, kraft dessen beide aufeinander angewiesen sind. Wer diese Verhältnisbestimmung als verbindlich angenommen hat, der kommt so wenig in Versuchung, die Wissenschaft zu überfordern, indem er sie zu einer den Staat gängelnden Nachrichtenagentur erhöht, wie er daran denken kann, sie dadurch zu entmündigen, daß er sie der Kommandogewalt eines über sie verfügenden Staates unterstellt. Der Staat des in Freiheit sich selbst regierenden Volkes und die Wissenschaft des in Freiheit die Welt erforschenden Geistes: beide sind durch die Bande der engsten Solidarität aneinander gefesselt. Es tröstet und es beglückt uns, diese Solidarität aus dem Munde eines Mannes bekräftigt zu hören, der in der Welt der politischen Tat so vorbildlich die Probe bestanden hat. Lassen wir uns in dieser umwölkten Stunde unseres nationalen Schicksals durch das Wort beherzter Zuversicht aufrichten, mit dem Ernst Reuter seine Hamburger Aussprache abschloß: „Der Tyrann ist tot, die Tyrannen, die noch leben, werden ihm in den Tod folgen; die Freiheit wird siege n“. Tun wir das Unsere, daß er Recht behalte!