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Wo steht Rußland heute? | APuZ 25/1956 | bpb.de

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APuZ 25/1956 Wo steht Rußland heute? Der freie Mensch in der versachlichten Welt Unser Geschichtsbild und Israel

Wo steht Rußland heute?

JANE DEGRAS

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus der englischen Zeitschrift „THE TWENTIETH CENTURY" (April 1956) übernommen.

Es wäre ein leichtes, sich in einem Aufsatz ausschließlich mit den theoretischen Schwächen und logischen Brüchen vieler Reden des 20. Parteitages der KPdSU zu befassen und zu untersuchen, wie in diesen Reden die Konflikte, Rückständigkeiten und Schwierigkeiten aufgedeckt und 25 Jahre demütigender Autokratie und Mißwirtschaft zugegeben wurden, — Zustände, an denen ja alle Redner des Parteitages handelnd mitschuldig gewesen sind. Ein solcher Aufsatz wäre leicht zu schreiben, würde aber vollständig irreführend sein.

Der Tenor des Parteitages ist nämlich der eines unerhörten Selbstvertrauens sowohl auf dem Gebiet der Innen-wie der Außenpolitik. Es ist klar, daß die führenden Politiker Rußlands heute glauben, ein Gleichgewicht der Kräfte mit dem Westen beinahe, wenn nicht vielleicht sogar schon ganz, erreicht zu haben. Diesem Glauben gegenüber werden andere Aspekte relativ unbedeutend. Es ist völlige Zeitverschwendung, wenn in Kommentaren über die heutige Situation in Rußland darüber spekuliert wird, wer in der Kreml-Hierarchie aufgestiegen und wer abgesunken ist, oder wer ein Anhänger Chruschtschows oder Malenkows ist. In einem Einparteienstaat ist diese Partei zwangsläufig sowohl Regierung wie auch Opposition. Mit anderen Worten: Jede Politik kann nur durch diese Partei zum Ausdruck gebracht werden. Bis heute ist der Text der Chruschtschow-Rede, auf der Geheimsitzung einen Tag vor der Schlußsitzung des Parteitages noch nicht veröffentlicht worden. Es ist aber’genug von dieser Rede durchgesickert, um deutlich zu machen, daß sein Angriff auf Stalin viel umfassender und destruktiver war, als alles Vorangegangene. Hörige Nadibeter des Moskauer Kurses wie Ulbricht in Ostdeutschland und Togliatti in Italien haben einige Details geliefert. Es schält sich das Bild eines Landes heraus, das in seiner Gesamtheit eingeschüchtert gewesen ist von einem einzigen, eingebildeten Paranoiden, einem „Folterer und Massenmörder“ der in der Lage war, die politische und militärische Elite Rußlands zu dezimieren. Dies Bild gleicht demjenigen, das einige der schärferen Kritiker des Sowjetregimes in Ländern gezeichnet haben, in denen eine solche Kritik keiner Strafverfolgung ausgesetzt war. Die Männer, die unter Stalin zur Macht kamen und jetzt das Piedestal ihres Meisters zerstören, das sie selber mit aufgerichtet haben, erscheinen durch die jüngsten Ereignisse in einem merkwürdigen Licht. Es bleibt abzuwarten, wie stark auch das Fundament abbröckeln wird. Den meisten westlichen Betrachtern schien es zunächst so,'als ob man den Namen Stalins ganz allmählich aussterben und erst einmal die Geschichtsbücher und Parteilehrbücher neu verfassen lassen würde. Offensichtlich jedoch wurde Chruschtschow durch irgendwelche internen Konflikte, über die wir noch mehr erfahren müssen, zum schnellen Handeln gezwungen.

Viele der mehr bizarren und hemmenden Züge, die die Struktur der kommunistischen Politik durch Stalin erhielt, waren bereits eliminiert worden. Andere jedoch, die der Zielsetzung Moskaus dienen, wird man beibehalten, Malenkow nannte Beria einen Agenten des Imperialismus. Wir mögen darüber lachen, aber diese Formulierungen haben für russische Ohren eine ganz andere Bedeutung. Die Russen verstehen etwa darunter, daß sich die KPdSU über den zermürbenden Terror, der in dem Wirken der GPU zum Ausdruck kam, nunmehr vollkommen im klaren ist. Chruschtschow gab zu, daß durch diesen Terror eine tiefwurzelnde Unzufriedenheit und Furcht erzeugt worden ist. Wenn man es in der Sprache der Kommunisten ausdrückt, so würde man sagen, daß die Macht der GPU „objektiv“ die Hoffnungen auf Risse in dem Gebäude des Regimes genährt hat. Jede westliche Einstellung oder Propaganda, die auf solchen Hoffnungen basiert, würde jedoch vollkommen fehl gehen.

Die Einzelheiten der neuen Politik, wie sie auf dem Parteitag der KPdSU erläutert und analysiert würden, sind schon im Laufe der vergangenen zwei Jahre ausprobiert worden und haben sich als äußerst gewinnbringend erwiesen.

Mit ihrer Bekanntgabe auf dem Parteitag selber sollte der bereits erzielte Erfolg öffentlich konstatiert werden. Die russischen Beziehungen zu Indien und Jugoslawien lassen sich in diesem Zusammenhang als Beispiele anführen. In der sowjetischen Enzyklopedie (Bolshaya sovetskaya entsiklopedia) wird Gandhi beschrieben als der Schöpfer einer reaktionären politischen Doktrin und als ein Förderer des britischen Imperialismus, der darüber hinaus an der „Verschwörung von 1947“ teilhatte; Nehru wird hier weniger als eine halbe Spalte eingeräumt, die auch noch kühl und ziemlich verächtlich in ihrem Tenor ist. Bis vor kurzem wurde di indische Unabhängigkeit in der gesamten sowjetischen Literatur als eine Farce bezeichnet. Diese Haltung reflektierte eine doktrinäre Vergröberung, politische Kurz-sichtigkeit und die eigenen Kräfte hemmende Starrheit der stalinistischen Phase des Totalitarismus. Dadurch, daß diese Aspekte über Bord geworfen wurden, hat Moskau ungeheuere Vorteile erzielt. Nahezu jeder Redner in der Diskussion über Chruschtschows Bericht — wie im übrigen auch Chruschtschow selber — sprach nunmehr von Indiens Unabhängigkeit, beglückwünschte seine Staatsmänner und akklamierte diese als Verbündete der sowjetischen Außenpolitik. Die Tatsache der indischen Unabhängigkeit muß natürlich jedermann auch in Ruß-land schon seit einem Jahrzehnt deutlich gewesen sein; aber erst in den vergangenen ein bis zwei Jahren haben die sowjetischen Führer die ihnen in bezug auf Indien offenstehenden Möglichkeiten zu erkennen und zu nützen begonnen. Zweifellos spielen hier teilweise die Lehren eine Rolle, die Moskau in Peking gelernt hat. Alle Redner des Parteitages reihten Indien, Burma, Indonesien, Afghanistan, Ägypten und Syrien großzügig in das „sowjetische Friedens-lager“ ein.

Die Lösung des Konfliktes mit Jugoslawien, mit dem die breitere Öffentlichkeit 1948 vertraut wurde, ist ebenfalls durch eine größere Elastizität und eine geringfügige Revision der Doktrin ermöglicht worden. An und für sich ist diese Revision von geringer theoretischer Bedeutung. Das bis dahin verbindliche Dogma, wonach alle Wege zum Sozialismus nach und über Moskau führen, und Abweichungen von diesem Wege, oder auch andere Wege, nicht toleriert werden können, war lediglich ein Aspekt der stalinistischen Orthodoxie, die Gehorsam erheischte, weil und so lange wie die UdSSR in der Lage war, die Richtlinien der kommunistischen Weltpolitik alleine festzulegen. Das ausdrückliche Eingeständnis des russischen Irrtums, und die dadurch hervorgerufenen Auswirkungen auf andere Länder haben jedoch unverhältnismäßig große Belohnungen mit sich gebracht. Mikojan sprach davon, „wie richtig diese mutigen Schritte gewesen sind und als wie fruchtbar sie sich erwiesen haben“. Die russische Kollektivführung hofft, daß durch das Eingeständnis der Möglichkeit von den „verschiedenen Wegen zum Sozialismus“ eines der großen Hindernisse auf dem Wege der Annäherung an die sozialistischen Parteien beseitigt wird.

Die Volksfront-Taktik

Jane Degras: INHALT DIESER Theodor Litt: Georg Stadtmüller: BEILAGE: Wo steht Rußland heute? Der freie Mensch in der versachlichten Welt (S. 381) Unser Geschichtsbild und Israel (S. 384)

Die zweite taktische Revision der Doktrin, die den sowjetischen Zielen dienen soll, betrifft die „Volksfront" mit den „sozialistischen und anderen Arbeiterparteien“. Die Volksfront-Taktik kann auf eine lange und komplizierte Geschichte zurückblicken und steht in direktem Zusammenhang mit der Formel von der „friedlichen Koexistenz“. Beide Schlagworte wurden erfunden, um der Politik „zwischen den verschiedenen Phasen der Revolution" zu dienen, und zwar das eine Schlagwort in Anwendung auf die Politik der kommunistischen Partei im Verhältnis zu den sozialistischen Parteien, und das andere in Anwendung auf die Politik der sowjetischen Regierung im Verhältnis zu anderen Regierungen. Durch beide Schlagworte wird zugegeben, daß die „objektive Lage" zur Zeit eine Ausdehnung der Revolution übr die Grenzen Rußlands hinaus nicht begünstigt. „Hätte die Rote Armee im Jahre 1920 Warschau eingenommen“, so erklärte Zinoniev nach seiner Formulierung dieser Thesen über die Volksfront, „so wäre die Taktik der kommunistischen Internationale heute anders als sie es tatsächlich ist.“ Beide „revolutionären Phasen" sind nach Kriegen eingetreten. Da sich jedoch die Natur des Krieges verändert hat (durch einen Krieg können heute bestenfalls nur Verluste, aber keine Gewinne eintreten) müssen die kommunistischen Ziele, wenn überhaupt, dann durch andere als direkt revolutionäre Mittel gefördert werden. Das eben kann nur im Rahmen einer „friedlichen Koexistenz" geschehen. Über den Zweck der Volksfront konnte niemals ein Zweifel bestehen. Es handelt sich um eine Zersetzung von unter her, indem man die breite Masse der Mitglieder in den sozialistischen Parteien und Gewerkschaften von ihren „verräterischen Führern“ entfremdet. Auf dem Kongreß der 4. Kommunistischen Internationale im Jahre 1922, auf dem diese Thesen erstmalig bekräftig wurden, erklärte Radek, daß man sich diese Thesen zu eigen gemacht habe, „nicht weil wir uns mit den Sozialdemokraten zusammenschließen wollen, sondern aus der Gewißheit heraus, daß wir sie in unserer Umarmung er-sticken werden." Unter den heutigen Umständen soll die Taktik der Volksfront in erster Linie auf Frankreich und Italien angewendet werden, wo man die zahlenmäßige Stärke der kommunistischen Parteien dazu benutzen kann, um die kleineren sozialistischen Parteien in ein Bündnis zu locken, das nur mit der Vernichtung dieser Partei enden kann. So ist es ja auch in anderen Teilen der Welt gewesen.

Heute soll die Volksfront gleichzeitig von „oben“ und von „unten“ operieren. Den kommunistischen Parteien wird dringend nahegelegt, in den Parlamenten mit den Sozialisten zusammen zu arbeiten. Hierin kommt eine bedeutsame, wenn nicht sogar unheimliche Änderung der Taktik zum Ausdruck. Bis jetzt haben sich die Sozialisten in ihrerAblehnung der von kommunistischer Seite angebotenen Zusammenarbeit immer darauf berufen können, daß die Kommunisten den parlamentarischen Weg zum Sozialismus ablehnen und auf einem gegen die jeweilige Verfassung gerichteten Weg der gewaltsamen Machtübernahme bestehen. Es mag amüsant sein, die von den Rednern des 20. Parteitages gegenüber den „Bourgoisie-Parlamenten" eingenommene Haltung mit den Komintern-Thesen zum selben Thema zu vergleichen. Es ist jedoch nur für Sektierer interessant, sich dem viel zu leichten Spiel hinzugeben, Abweichungen von der jetzt wieder zu Ehren gelangten Lenistischen Orthodoxie herausfinden.

Die Hoffnung auf eine stabile parlamentarische Mehrheit muß für die sozialistischen Parteien in Frankreich und Italien äußerst attraktiv sein. Im wesentlichen wird man diese Parteien mit dem Schlagwort von den „Kampf für den Frieden" für eine Zusammenarbeit zu gewinnen suchen. Dieser „Friedenskampf“ bleibt nach wie vor das wichtigste Propadanda-Thema der Kommunisten im „Außenverhältnis“, d. h. in den Beziehungen zur übrigen Welt. Die Führer in Moskau haben ihre Theorie, von der Unvermeidlichkeit eines Krieges revidiert, um gerade dadurch ihre Pläne auf diesem Gebiet besser in die Tat umsetzen zu können.

Die Theorie von der Unvermeidlichkeit eines Krieges hatte zwei Aspekte gehabt: die kapitalistischen Mächte rivalisieren untereinander — und die kapitalistische Welt als Ganzes revalisiert mit der sowjetischen Welt. Auf Grund dieser „Widersprüche“ — (und zwar sowohl des einen oder anderen, aber auch beider zusammen) — mußte es zwangsläufig nach dieser Lehre zu einem Krieg kommen. Es ist in unserem Zusammenhang nicht wichtig, auf die primitiven Argumente hinzuweisen, deren man sich nunmehr bedient, um die Abweichung von einem der bis dahin am konsequentesten vertretenen Glaubenssätze der leninsitischen Orthodoxie zu rechtfertigen, das heißt eine Erklärung dafür abzugeben, warum Kriege jetzt auf einmal nicht mehr unvermeidlich sein sollen. Viel wichtiger ist die Tatsache, daß diese Revison, die bisher der kommunistischen Propaganda innewohnte, die Unvereinbarkeit zwischen dem „Kampf für den Frieden" und der „Unvermeidlichkeit eines Krieges“ aufhebt. In dem Ausmaß in dem dies geschieht, wird ganz folgerichtig die kommunistische Position verbessert.

„Die Erkenntnisse der Tatsache, daß in unserer Epoche Kriege nicht vollkommen unvermeidlich und unvermeidbar sind“, so erklärte Suslov, „wird zweifellos das weitere Anwachsen der Reihen im Lager der Friedenskämpfer unterstützen“.

"Feinde des Friedens“

Die semantischen Fallen sind natürlich durch alle diese Revisionen eher multipliziert worden. Es mag hier nicht abwegig erscheinen, einige dieser mehr offenkundigen Fallen anzudeuten. Die Worte „Friedensanstrengung" und „Friedenskämpfe" sind von den Kommunisten nun schon seit Jahren als Synonyme für die sowjetische Politik überhaupt verwendet worden, genau so wie die Charakterisierungen: „Kriegstreiberisch" oder „reaktionäre Kräfte“ Syncyme für die Varianten der westlichen Politik sind. Heute allerdings sollen diese Charakterisierungen in erster Linie auf Amerika bezogen werden, da man ja versucht, Großbritannien und Frankreich von den Vereinigten Staaten zu entfremden. Aus allem folgt daher logischer-weise, daß-jeder Kritiker oder Gegner der so-wjetischen Politik in die Kategorie der „Feinde des Friedens" eingestuft werden kann. Das Wort „sozialistisch“ soll in seiner Anwendung sowohl auf die Sowjetunion selber wie auf die sozialistischen Parteien die Gedanken und Argumente verwirren. Früher war es Sitte, daß die Komintern den Gebrauch des Wortes " kommunistisch“ vermied, indem sie von den „besten Elementen in der arbeitenden Klasse" sprach.

Heute sprechen sie von sich als den „Vorkämpfern" dieser Klasse, und bezeichnen diejenigen, die mit dem Kommunismus sympathisieren, als sogenannte „fortschrittliche Kräfte“.

Der Volksfront-Taktik entspricht die Revision der Theorie, wonach der Bürgerkrieg zur Ergreifung der Macht als unbedingt notwendig sehe Dogmen, an denen mit größerer Hartnäckigkeit festgehalten wurde; Trotzki demolierte schon vor 35 Jahren die Parallele zu dem heutigen Argument, daß es nur zu einem Bürgerkrieg kommen wird, wenn diejenigen Widerstand leisten, die das Angriffsziel der Kommunisten sind. Damals gab er zu, daß es ohne Revolution keine Gegenrevolution geben könne. Die praktische Bedeutung dieses Argumentes wird durch Hinweise auf Länder wie Polen und die Tschechoslowakai deutlich, — womit dann der friedliche Aspekt des Weges zur Macht veranschaulicht werden soll.

Andere ideologische Formeln, die in sich selbst eine Revision nicht weniger nötig hätten, bleiben unverändert bestehen, da sie nach wie vor einem Zweck dienen. Auch jetzt noch werden Kriege durch eine kleine Gruppe „raubsüchtiger Imperialisten“ inszeniert, um den „eigennützigen Interessen eine Handvoll von Multimillionären zu dienen". Die „Krise des kapitalistischen Systems“ muß sich zwangsläufig verschlimmern und schließlich zu einem endgültigen Zusammenbruch dieses Systems führen. Im Westen nimmt die Ausbeutung der Arbeiterklasse zu, während ihr Lebensstandard sinkt. Jeder wirtschaftliche Fortschritt des Kapitalismus führt zwangsläufig zu einer Verarmung der Arbeiter. Fs ist an sich nicht gut möglich, daß Chruschtschow so schlecht unterrichtet ist; dennoch wiederholt er die alte Analyse von dem abnehmenden Massenverbrauch und der steigenden Kurve der Ausbeutung im Westen. Überhaupt war die ständige Betonung der Theorie vom Verfall des Kapitalismus in allen Reden äußerst auffallend. Diese Reden enthielten auch nicht die leiseste Andeutung, daß etwa eine niedrigere wirtschaftliche Wachstumsrate in industriell entwickelten Gebieten das Korrelat eines höheren Lebenstandards ist, d. h. also, daß der Konsument einen größeren Anteil am Sozialprodukt erhält.

Bis heute hat eine große Produktionskapazität noch immer eine größere Konsumenten Kaufkraft bedeutet. Rußland jedoch nimmt für sich in Anspruch, nicht nach seinem Lebensstandard und nach dem materiellen Wohlergehen seiner Bürger, sondern nach der quantitativen Ausdehnung seines Wirtschaftsvolumens beurteilt zu werden. In solchen Argumenten finden wir eine Analogie zu den Thesen der „Industriellen Revolution“ Englands, wonach „die Männer mit den harten Zügen die Gesichter der Armen in den Boden treten“.

Unverändert bleibt auch die Anschuldigung, daß Großbritannien und Frankreich im Jahre 1939 Deutschland zu einem Kriege ermutigten, in den Worten des Parteitages: „So kam es, daß am Vorabend des zweiten Weltkrieges die Sowjetunion als einziges Land eine aktive Friedenspolitik verfolgte, während die anderen Großmächte ganz offensichtlich die Angreifer noch ermutigten."

Der ideologische Krieg wird nicht abflauen

Die Erkenntnis, daß die Sowjetregierung heute mit einer größeren Intelligenz und Geschicklichkeit operiert, sollte uns nicht zu der Annahme bewegen, als ob der sowjetische Kampf gegen den Westen modifiziert wird. Im Gegenteil, das Tempo dieses Kampfes wird noch beschleunigt werden. Die Protokolle des Parteitages lassen erkennen, daß dieser Kampf noch gewagtere und größere Proportionen annehmen wird, und zwar in dem Maße, in dem die Kraft und das Selbstvertrauen der Sowjetunion wachsen und ihre Hoffnungen auf die Uneinigkeit, Kurzsichtigkeit, Unfähigkeit und die Widersprüche der westlichen Politik genährt werden. Vor allem gilt das für ihre Hoffnungen auf den wirtschaftlichen Niedergang des Westens, — immer vorausgesetzt, daß die Russen selber glauben, was sie hier sagen. Der ideologische Krieg wird nicht abflauen; er wird vielmehr in einer schärferen, allerdings auch elastischeren Form weitergeführt und basiert jetzt auf einer zum Teil weit realistischerer Schau der Außenwelt, als dies bisher der Fall war. Verzerrungen und falsche Auslegungen gibt es weiterhin. Wenn auch Dickens nicht mehr zitiert wird, um das gegenwärtige Wahlsystem in Großbritannien zu charakterisieren, so werden doch Cecil Rhodes und Joynson-Hicks ausgegraben, um als Verkörperung des gegenwärtigen Imperialismus zu dienen. Karikierung und falsche Interpretation waren am stärksten vertreten in den Darlegungen über Amerika. Mangelndes Verständnis für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten ist zum Teil entschuldbar, aber die wiederholten Behauptungen in bezug auf eine nachlassende Kaufkraft, zunehmende Absatzschwierigkeiten auf dem Inlandsmarkt und auf eine daraus resultierende, wirtschaftliche Stagnation in den USA verraten entweder beklagenswerte Ungewissheit — oder aber eine boshafte Absicht.

Der Kampf wird jedoch nicht wie bisher in erster Linie auf der Ebene der Ideologie, des Klassenkampfes und der Aufforderung zur Unterwanderung geführt, obwohl der Kampf auch in dieser Richtung weitergehen wird. Er wird sich jedoch vor allem auf das Gebiet des wirtschaftlichen Wettbewerbes verlagern. Ein mit großen Elan geführter Feldzug soll den Westen bei anderen Ländern von den Bereichen der Wirtschaftshilfe und des Handels verdrängen.

„Diese Länder (gesprodren wird von Indien und Ägypten) gehören zwar nicht zu dem sozialistischen Weltsystem, können aber dennodt bei ihrem Aufbau einer unabhängigen, nationalen Wirtschaft und bei der Erhöhung des Lebensstandards ihrer Völker auf die Erungenschaften des Sozialismus zuriickgreifen. Heute brauchen sie nicht mehr unmoderne Maschinen bei ihren früheren Unterdrückern betteln gehen.

Sie können diese Güter in den sozialistischen Ländern ohne irgendwelche politischen oder militärischen Verpflichtungen erhalten. Schon die Tatsache in sich, daß die Sowjetunion und die anderen Länder des sozialistischen Lagers existieren und bereit sind, den unterentwickel ten Gebieten bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auf einer Basis der Gleichberechtigung und des beiderseitigen Vorteils zu helfen, stellt eines der wesentlichen Hindernisse für die Kolonialpolitik dar".

Daß sich diese ganze Offensive auf dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion abspielt, wurde in den Direktiven für den Fünfjahresplan 1956— 60 erläutert. Ein Leitartikel in der „Prawda“ machte den Zusammenhang am Vorabend des Partei-tages deutlich:

„Lenin erklärte, daß wir den Trend der Ereignisse in der Welt durdi unsere eigene Wirtschaftspolitik beeinflussen können, . . . wenn wir auf diesem Gebiet gewinnen, dann haben wir ein für allemal auf der internationalen Ebene den Sieg davon getragen. Deshalb sind alle Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung für uns von der größten Bedeutung“.

Die in dem neuen Fünfjahresplan vorgesehene wirtschaftliche Entwicklung ist in der Tat sehr beträchtlich. „Die Direktiven wurden mit dem Ziel entworfen,“ (so heißt es in der „Prawda“) „die Industrieproduktion des Jahres 1960 gegenüber der des Jahres 1955 ungefähr um 65 % zu steigern, ... d. h. also gegenüber dem Vorkriegsjahren 1940 mehrmals zu verfünffachen.“ Der Fünfjahresplan sieht eine durchschnittliche jährliche Steigerung von 40 Millionen Tonnen Kohle, 30000 Millionen kw elektrische Energie, 13 Millionen Tonnen Öl und 4, 5 Millionen Tonnen Stahl vor. Das Ziel der weiteren Expansion wird an dem Plansoll einer 70°/oigen Steigerung der gesamten Konsumgüterproduktion deutlich. Selbst gegen Ende dieses Fünfjahresplanes, d. h. also im Jahre 1960, wird die UdSSR immer noch nicht die amerikanische Produktion an Stahl, Energie, und maschinellen Gütern erreicht haben. In ihrem Operieren auf dem Weltmarkt jedoch kann die UdSSR ihre wirtschaftliche Kapazität viel wirksamer zum Einsatz bringen, da sie über unbegrenzte Kontrollen aller wirtschaftlichen Maßnahmen und Faktoren verfügt.

Es ist nicht schwer aufzuzeigen, daß der Lebensstandard in der UdSSR im Vergleich zu westlichen Maßstäben immer noch äußerst niedrig ist. Wenn es um die Konsumgüterproduktion geht, erwähnen die Russen nicht einmal, daß sie die sich im „Stadium des fortgeschrittenen Kapitalismus befindlichen Länder einholen bzw. überholen“. Die Produktionsziffern für das Jahr 195 5 lagen bei etwas über 1 m Wollkleidung und einem paar Schuhe pro Kopf der Bevölkerung; der Wohnraum pro Kopf der Stadtbevölkerung lag im Jahre 19 5 3 bei ungefähr 4 qm im Verhältnis zu 12 qm in Griechenland und 16 qm in Italien — beides Länder mit dem niedrigsten Stand in Europa. Nadi der eigenen marxistischen Lehre ist die „Kurve der Ausbeutung der Arbeiterklasse" im Ansteigen. Der große Aufschwung der wirtschaftlichen Entwicklung hat nichts Magisches an sich. Es handelt sich hier um eine Funktion des großen Spielraumes zwischen Produkten und Verbrauch. Der Prozeß der Akkumulierung von Kapital, dem Marx die lesbarsten und eindruckvollsten Teile seines „Kapital“ widmete, ist wie nie zuvor durch die Geschichte der Sowjetunion in den letzten 25 Jahren veranschaulicht worden.

Es gibt jedoch in diesem ganzen Zusammenhang einige Erwägungen, die dieses Bild, soweit der Westen betroffen ist, als mehr oder weniger irrelevant erscheinen lassen. Der sowjet-russische Lebensstandard ist zwar niedrig, aber dennoch im Ansteigen begriffen. Für einen großen Teil der Bevölkerung der Erde würde ein Vergleich mit dem Lebensstandard in den Vereinigten Staaten, oder selbst in Großbritannien, ebenfalls nicht nur irrelevant, sondern undenkbar sein. Hinzu kommt, daß die Machtposition und die Anziehungskraft eines Landes in der internationalen Politik heute offensichtlich weniger von diesem Aspekt seiner Wirtschaft, als von seiner Fähigkeit abhängt, mit den Problemen der technischen Rückständigkeit, der Überbevölkerung und der Armut fertig zu werden. Wichtiger ist die Wachstumsrate der Produktionskapazität, und nicht so sehr diese Kapazität an sich. Wenn man die Dinge gerade unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, so fällt die Entwicklung der letzten Zeit in den UdSSR mehr ins Gewicht als etwa die frühen industriellen Revolutionen im Westen. Shepilov führte auf dem Parteitag unter den Faktoren, die die Anziehungskraft der sowjetisch beherrschten Welt be-dingen, unter anderem an: die größere Wachstumsrate der Wirtschaft, die Eliminierung jeder sozialen und politischen Unterdrückung sowie die konsequent betriebene Friedenspolitik. „Der Sowjetstaat,“ so sagte er, „ja das ganze Friedenslager aller sozialistischen Länder, machen das Angebot, die Vorteile des einen sozialen Systems im Vergleich zu dem anderen in der Arena der Weltwirtschaft, und nicht auf dem Schladttfeld erproben zu lassen.“

Die vorgesehene wirtschaftliche Expansion wird die Sowjetunion in die Lage versetzen, einen großen Teil ihrer wirtschaftlichen Macht für den Wettbewerbsfeldzug einzusetzen, der bereits in Indien und in anderen Ländern begonnen wurde, ohne daß es dadurch zu Störungen im Bereich der Sowjetunion selber gekommen wäre. Die Sowjetunion wird natürlich nicht in der Lage sein, auch nur annähernd den ganzen Bedarf an Kapital und Maschinen . in den der Sowjetunion gegenüber freundlich eingestellten, unterentwickelten Gebieten zu decken. Es ist daher möglich, daß China nicht alle Hilfe erhält, auf die es ursprünglich hoffen durfte: hierin liegt wahrscheinlich auch der Grund dafür, daß sich die Sowjetunion für die Erweiterung des China-Handels einsetzt. Diese Haltung ist allerdings vom russischen Gesichtspunkt aus betrachtet in jeder Weise verständlich.

Eine allumfassende Strategie

Es ist im Rahmen dieser Abhandlung aus räumlichen Gründen unmöglich, näher auf die Veränderungen in der inneren Organisation des Sowjetstaates, auf den größeren Respekt für die Rechtsformen, auf die neu gebotenen Anreize zur Produktionssteigerung, oder auf das Zurückdrängen der Manager-Schicht einzugehen. Alle diese Faktoren verraten ein größeres Maß an Elastizität und Fähigkeit schlechthin. Durch das Nachlassen des Druckes vom Zentrum her, durch den Versuch, die örtlichen Partei-und Verwaltungsgremien mit echten Impulsen zu beleben, sowie durch die Einschränkungen der Polizeigewalt wird bei den Bürgern der Sowjetunion das Gefühl gefördert, daß sie das Schicksal ihres Landes mitbestimmen. Eine Gesellschaft, die sich so rasch entwickelt hat wie die sowjet-russische, und deren Intelligenz so im Anwachsen begriffen ist, konnte nicht länger eine form-und teilnahmslose Masse bleiben, wie das unter Stalin der Fall war, wo der Terror und die primitivsten materiellen Bedürfnisse im Vordergrund standen. Zwangsläufig mußte diese Gesellschaft nach differenzierteren und ausdrucksvolleren Formen suchen, sowie nach Betätigungsmöglichkeiten außerhalb des wirtschaftlichen Produktions-Prozesses.

Es muß hier besonders die Tatsache unterstrichen werden, daß man auf dem Parteitag überhaupt nicht den Versuch unternahm, die wirtschaftlichen Schwächen des Landes zu verbergen. Chruschtschow gab zu, daß im Jahre 19 5 3 nicht mehr Weizenanbaufläche vorhanden war, als im Jahre 1913 — daher auch die Neuland-Pläne. Ernte-Erträge liegen wahrscheinlich noch so niedrig, daß sie nicht veröffentlicht werden können. Kaganovich beschäftigte sich im einzelnen mit den weniger rosigen Aspekten der Sowjet-Wirtschaft wie: Verschwendung an Arbeitskräften, niedrige landwirtschaftliche Erträge, inflatorische Gemeinkosten etc.. Aber sowohl er wie Marschall Schukow stellten die Behauptung auf, daß „die Sowjetunion in mancher Hinsicht die Vereinigten Staaten in der Produktion der modernsten Verteidigungs-Güter überholt“ habe. In Molotows Rede wurde schließlich die Entschlossenheit besonders deutlich, die Stärke der Sowjetunion zu nutzen. „Es ist eine internationale Lage geschaffen worden", so erklärte er, „die wir uns vor 15 oder 20 Jahren nicht erträumen konnten . . .“ die Möglichkeiten und der Operationsbereich unserer Politik „sind in einem noch niemals zuvor da-gewesenen Ausmaß" erweitert worden. „Häufig bleiben wir noch die Gefangenen von Methoden und Formeln, die wir in unserer Vergangenheit anwendeten . .. die aber heute den Einsatz neuer, weitgespannterer und aktiverer Formen des Kampfes gegen den Krieg behindern ... häufig leiden wir noch an einer Unterschätzung der neuen Möglichkeiten, die sich uns eröffnet haben.“

Die verschiedenen Themen des 20. Partei-tages fügen sich ineinander und stellen somit eine einzige, allumfassende Strategie dar.der man nicht durch mehr oder weniger planlosen und koordinierte Maßnahmen auf Einzelgebieten entgegentreten kann. Auch der Westen muß seine Strategie straffen und koordinieren.

Fussnoten

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