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Antwort an Herrn Eugen Varga | APuZ 24/1956 | bpb.de

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APuZ 24/1956 Geschichte und Politik Antwort an Herrn Ernest Salter Antwort an Herrn Eugen Varga Der 17. Juni im Zentralkomitee der SED. Vorgeschichte, Ablauf und Folgen

Antwort an Herrn Eugen Varga

Ernest J. Salter

Völker und Klassen lassen sich auf die Dauer durch keine Propaganda hinters Licht führen.

Die werktätigen Bauern aller Länder wissen: in Rußland und China wurde der gutsherrliche Bodenbesitz konfisziert und den Bauern unentgeltlich übereignet. Diese eine Tatsache wiegt bei ihnen schwerer als die ganze Propaganda des Westens.

Die Arbeiter aller Länder wissen: in Rußland wurde die Macht der Kapitalisten gebrochen, wurden die Bergwerke, Fabriken, Banken Volks-eigentum. Sie wissen, daß in der Sowjetunion die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten längst aufgehört hat. Sie wissen schließlich, daß in der Sowjetunion nicht Kapitalisten, sondern Arbeiter und Söhne von Arbeitern die Wirtschaft und den Staat leiten.

Die Völker Asiens sehen, daß in Südkorea, auf Taiwan, in Südvietnam, überall, wohin der kapitalistische Westen seine „Freiheit“ gebracht hat, Elend, Inflation, Willkür und Korruption herrschen.

Hierfür sollten sie kämpfen?

Die Völker Afrikas wissen von dem Blutvergießen in Kenia und in Nordafrika. Warum sollten sie also der Sowjetunion oder der Volksrepublik China den kapitalistischen Westen vorziehen?

Die renommistische Propaganda des Westens findet bei den werktätigen Massen keine Unterstützung, weil sie ihren lebenswichtigsten Interessen zuwiderläuft. Die Politik des Westens erleidet eine Niederlage nach der andern und ist zum Untergang verurteilt, nicht weil die Kommunisten ihre „teuflischen Manöver“ treiben, sondern weil diese Politik sich der objektiven historischen Entwicklung in den Weg stellt.

Was die Politik der Sowjetunion betrifft, so stützt sie sich auf die objektiven Gesetze der historischen Entwicklung der Gesellschaft; daher auch ihre Erfolge. Die Führer des Sowjetstaats sind und waren stets aufrichtig um die Erhaltung des Friedens bemüht; sie wissen, daß die Geschichte auf ihrer Seite steht. Gedanken an einen Präventivkrieg, wie ihn Admiral Radford oder Admiral Carney fordern, sind ihnen fremd. Sie verwerfen die Politik des Seiltanzes „am Rande des Krieges". Die Marxisten waren stets gegen jeden „Export der Revolution“. Eine Revolution kann nur dann Erfolg haben, wenn alle Vorbedingungen innerhalb des betreffenden Landes herangereift sind, wenn das Volk den Entschluß faßt, die alte Ordnung abzuschaffen. Die Idee des friedlichen Nebeneinanderbestehens läuft nicht nur der kommunistischen Ideologie nicht zuwider, sondern ergibt sich unmittelbar aus ihr.

Von der Theorie zur Praxis hinüberwechselnd, behauptet Herr Salter, die Sowjetregierung halte sich in der Deutschlandfrage nicht an den Grundsatz des friedlichen Nebeneinanderbestehens. Diese Behauptung entspricht der Wirklichkeit ebensowenig wie die Konzeptionen Herrn Salters den wissenschaftlichen Tatsachen.

Was die Politik der Sowjetunionen bezug auf die Deutsche Bundesrepublik anbelangt, so ist sie prinzipiell die gleiche wie allen anderen kapitalistischen Staaten gegenüber; sie basiert auf der Idee des friedlichen Nebeneinanderbestehens. Die Sowjetunion wünscht mit der Deutschen Bundesrepublik in Frieden zu leben, mit ihr einen beiderseitig vorteilhaften Handel zu treiben und die kulturellen Beziehungen zu entwickeln. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zeugt von der Absicht der Sowjetunion, friedliche und möglichst freundschaftliche Beziehungen zur Deutschen Bundesrepublik zu unterhalten und zu entwickeln. Die Sowjetmenschen müssen über den in Westdeutschland rasch voranschreitenden Militarisierungsprozeß beunruhigt sein. Die drohende Wiedergeburt des deutschen Militarismus, der in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege entfesselt hat, ist natürlich ein Hindernis für die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik, die sich vom Militarismus und seiner ökonomischen Stütze — der Monopol-und Junkerherrschaft — befreit hat, will ihre Errungenschaften der Nachkriegszeit nicht aufgeben. Wer das Recht jedes Volks auf freie Wahl der politischen Ordnung in seinem Lande anerkennt (was auch Herr Salter in seinem Artikel tut), muß den Willen der Volksmassen der Deutschen Demokratischen Republik und vieler Deutschen im Landeswesten berücksichtigen, die ein Wiederaufkommen der militaristischen Gefahr nicht wünschen. Ohne dies ist eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands, die Herrn Salter so viel Sorge macht, unmöglich.

Die These des friedlichen Nebeneinanderbestehens ist ein unumstößlicher Grundsatz der sowjetischen Politik gegenüber den Staaten mit anderen sozialen Systemen. Dieser Grundsatz wurzelt in der wissenschaftlichen Geschichtsauffassung und wird von der Sowjetdiplomatie in die Tat umgesetzt. Darin besteht seine Kraft. Und daran möchte ich auch Herrn Salter erinnern.

Das Haupt-Argument der Antwort von Eugen Varga „Geschichte und Politik“, ist zunächst geschichtsphilosophischer Art. Nach seiner Meinung laufen meine Behauptungen auf folgendes hinaus: „Der Kapitalismus sei die beste aller möglichen Welten. Sie würde ewig bestehen, wenn die „bösen“ Kommunisten durch ihre verruchte Politik und ihre hinterhältige Propaganda die kapitalistische Gesellschaftsordnung untergraben, wenn sie nicht, im Widerspruch zu ihrer Propaganda des friedlichen Zusammenlebens, stets den Krieg zum gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Ordnung planen und vorbereiten würden.“ Hierzu ist folgendes zu sagen.

I. Angesichts der nach Jahrtausenden zählenden Geschichte der Menschheit könnte nur ein naiver Apologet behaupten, daß eine bestimmte Gesellschaftsordnung die „beste aller möglichen“ sei. Eine solche Behauptung ist nur im Bereiche einer abstrakten Idealphilosophie möglich, nicht aber für den Soziologen, der Ort, Zeit, Umstände, Produktions-und soziale Formen bestimmen und definieren muß, um Vergleichsmaßstäbe zu erhalten. Der Kapitalismus nimmt eine bestimmte Zeit in der Geschichte der modernen Menschheit ein und hat während dieser Zeit eine bis dahin nicht vorstellbare Leistung geschaffen: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere-Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welches frühere Jahrhundert ahnte, das solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlicher Arbeit schlummerten.“ (Karl Marx — Friedrich Engels, Kommunistisches Manifest, Berlin, o. J., S. 20)

Gleichzeitig unterlag und unterliegt der Kapitalismus einer ständigen Transformation. In seinem Charakter sind neue Züge sichtbar geworden, von denen das vorige Jahrhundert noch keine Vorstellungen besaß. Die heutige kapitalistische Industriegesellschaft, etwa der USA, Großbritanniens, der Bundesrepublik oder der skandinavischen Länder hat mit dem Kapitalismus, wie ihn etwa Karl Marx im 24. Kapitel des I. Bandes seines „Kapital“ geschildert hat, kaum etwas zu tun. Der außerordentliche Gestaltwandel der Gesellschaft vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ist so eklatant, daß der Begriff „Kapitalismus , sehe-matisch auf die verschiedenen Stadien des geschichtlichen Entwicklungsprozesses angewandt, zu einer leeren Phrase wird.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung behandelt Herr Varga in Übereinstimmung mit der kommunistischen Schule letzten Endes den Kapitalismus als eine Art Fetisch. Er mythologisiert ihn, löst ihn aus der geschichtlichen Transformation, der er unbedingt unterworfen ist, und läßt als einzige Alternative seinen Untergang übrig, obwohl die Tatsachen der verschiedenen Länder den hohen Grad von Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus, seine Anpassung an neue soziale Erfordernisse und enorme neue technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Resultate bewiesen haben.

Der Leninismus ging aber während der ganzen Dauer seiner theoretischen und praktischen Existenz von dem Axiom aus, der Untergang des Kapitalismus sei unausweichlich. Der 19. und auch der 20. Parteitag der KPdSLI vertraten diese Meinung — wenngleich der letztere bereits gezwungen war, Revisionen vorzunehmen, die besagen, innerhalb der von den Kommunisten behaupteten Untergangsphase seien partielle Aufschwünge möglich.

Herr Varga selbst gehört zu den Theoretikern des Kommunismus, die gerade ihre Spezialität darin erblicken, immer wieder von den Möglichkeiten und Tatsachen einer „relativen Stabilisierung des Kapitalismus“ zu schreiben. Gerade er hat seine Genossen wiederholt gewarnt, sich keinen Illusionen über einen schnellen Zusammenbruch des Kapitalismus hinzugeben. Seine theoretische Intelligenz hat ihn häufig davor bewahrt, die Tatsachen der ökonomischen Ergebnisse der Industrie im Westen zu übersehen. Dieser Vorgang läßt sich an vielen Beispielen dokumentarisch nachweisen. Dafür einige Hinweise.

II. Eugen Varga hat in seinem 1946 veröffentlichten Buch „Veränderungen in der kapitalistischen Wirtschaft im Gefolge des 2. Weltkrieges“ die entscheidende Rolle des Staates in der Wirtschaft betont. Er hat damals die Tatsache unterstrichen, während des Krieges sei in den meisten Ländern der Staat zu planwirtschaftlichen Methoden übergegangen, seine Rolle werde in Zukunft bedeutender sein als vor dem Kriege. Varga behauptete damals auch, die Volksdemokratien Osteuropas hätten mit Sozialismus wenig zu tun, vielmehr sei ihre Wirtschaftsform „staatskapitalistisch“. Ihr spezifisches Gewicht in der kapitalistischen Weltwirtschaft sei verhältnismäßig gering. Sie würden die allgemeinen Entwicklungsperspektiven des Kapitalismus nicht ändern. Ihr Außenhandel mit Lebensmitteln werde zurückgehen, da ihre landwirtschaftliche Produktion durch die Bodenreform gesunken sei.

Dieses Buch wurde im Mai 1947 in mehreren Sitzungen der Sektion für politische Ökonomie am Moskauer Wirtschaftsinstitut und der ökonomische Fakultät der Moskauer Universität in seinen Hauptthesen scharf kritisiert; seine ökonomische Betrachtung über die Möglichkeit einer Veränderung der kapitalistischen Strukturen war mit der welt-revolutionären Konzeption der Shdanow-Gruppe des Politbüros der KPdSU nicht zu vereinbaren. Herr Varga fiel damals in Ungnade, er zog sich in die wissenschaftliche Etappe zurück.

Seine Kritiker behaupteten, die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft müsse ebenso unvermeidlich wie bald hereinbrechen. Die Volksdemokratien würden eine große Rolle spielen, die revolutionären Kräfte in allen Ländern würden mit der Logik und Gewalt eines Naturgesetzes wachsen. Entsprechend dieser theoretischen Konzeption ist die sowjetische Politik während der Periode des Kalten Krieges verlaufen. Ursprung und Formen des Kalten Krieges stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Streit der Theoretiker.

Nun offenbarte sich in dem Streit der Moskauer Fakultäten, der innerhalb der Parteiführung den politischen Streit um die Taktik theoretisch widerspiegelte, der nie gelöste Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Willen und Tatsachen, dem Subjekt der Aktion und dem Objekt der Materie. Dieser Widerspruch hat eine lange Geschichte und zeigt in voller Klarheit den utopischen Bestandteil, der im Marxismus des 19. ebenso wie im Leninismus des 20. Jahrhundert enthalten ist.

Herr Varga, der mir den Vorwurf macht, ich sei in den Vorurteilen meiner Klasse befangen, sieht sich vor die-Frage gestellt, in welchen Vorurteilen er selbst etwa befangen war, als er im Jahre 1922 die apodiktische Behauptung aufstellte, „daß Deutschland dem wirtschaftlichen und finanziellen Zusammenbruch entgegengeht". In seinem damals erschienenen Buch (Dr. Eugen Pawlowski — d. i. Eugen Varga — Der Bankrott Deutschlands, Hamburg 1921) behauptete der Verfasser: „Auf alle Fälle geht Deutschland in der Geschichte noch nie erlebten schweren Zeiten entgegen. Es ist Aufgabe der kommunistischen Partei durch eine siegreiche deutsche proletarische Revolution Deutschland aus dieser Situation zu erlösen... Die proletarische Revolution ist für Deutschland der einzige Ausweg.“

Was die taktische Position von Varga angeht, (also keineswegs eine propagandistische) so hat dieser in seinem Aufsatz „Die Niederlage des bürgerlichen Deutschlands im Ruhrkampf“ (Die Kommunistische Internationale, Petrograd 1923, Nr. 26, Seite 96/106) erklärt: „Es gab prinzipiell zwei verschiedene Kampflinien: eine proletarisch-revolutionäre und eine bürgerliche. Auf die revolutionäre wurde von der KPD hingearbeitet.“

Diese damalige Auffassung von Varga wurde noch schärfer von Bucharin formuliert, dem später von Stalin ermordeten Theoretiker der Komintern, der auf dem Vierten Kongreß der Komintern erklärte: „Es gibt hier keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Anleihe und einem militärischen Bündnis, und ich behaupte, daß wir, (das heißt: der Sowjetstaat) ein militärisches Bündnis mit einer anderen Bourgeoisie schließen können, um mittels dieses bürgerlichen Staates ein anderes Bürgertum niederzuschmettern. .. Bei dieser Form der Landesverteidigung, des militärischen Bündnisses mit bürgerlichen Staaten ist es die Pflicht der Genossen eines solchen Landes, diesem Block zum Siege zu verhelfen.“ (Protokoll des Vierten Kongresses der Komintern, Hamburg 1923, Seite 24).

Herr Varga stand und steht bis zum heutigen Tage im Schatten eines Dogmas, das, entgegen den Tatsachen des ökonomischen Prozesses der letzten Jahrzehnte, dem Kapitalismus nur die Alternative des Unterganges läßt. Nun ist diese Alternative nicht neu, vielmehr bildet sie gerade die utopische Seite des Marxismus. Es sei in diesem Zusammenhang gestattet, Marx zu zitieren.

III. Im März 18 50, als die Revolutionen in Europa zusammengebrochen waren, erklärte Marx: „Die Revolution steht im Gegenteil nahe bevor, sei es, daß sie hervorgerufen wird durch eine selbständige Erhebung des französischen Proletariats oder durch die Invasion der heiligen Allianz gegen das revolutionäre Babel.“ 1874 schrieb Marx in der „New York Tribune“, daß die Revolution „jetzt durch die Krisis und die Hungersnot wieder auf den Kampfplatz gerufen wird“. Der drohende europäische Krieg werde das Signal geben, und die Revolution werde „wie Minerva aus dem Haupte des Olympiers“ in „glänzender Rüstung, das Schwert in der Hand“ hervortreten. „Von Manchester bis Rom, von Paris bis Warschau und Budapest ist sie allgegenwärtig, erhebt ihr Haupt und erwacht vom Schlummer!“ In Wirklichkeit geschah nichts, obwohl Marx bereits vorher, 1852, „die Zeit vom November 1852 bis Februar 1953“ als die Wahrscheinlichste für den Ausbruch der Krise bezeichnet hatte, und diese Krise „nach allen Regeln in diesem Jahre kommen muß.“

Im Sommer 1853 zweifelte er: „ . . . die Krisis scheint allerdings kommen zu wollen“, „diese entscheidenden schlechten Nachrichten aus überfüllten Märkten müssen doch bald kommen“ — aber die nach Marx drohenden Gewitter waren vorübergezogen.

Im Jahre 1856: „Diesmal wird der Krach so unerhört wie noch nie; alle Elemente sind da; Intensität, universelle Ausbreitung und Hineinverwicklung aller Besitzenden und herrschenden sozialen Elemente“. Er wollte bereits „sein Bündel schnüren“. Die ganze Sadie in Deutschland werde abhängen „von der Möglichkeit, der proletarischen Revolution durch eine Art zweite Auflage des Bauernkrieges Deckung zu geben". Wieder gab es weder eine proletarische Revolution noch einen zweiten Bauernkrieg.

Im Jahre 1857 schreibt Engels: „Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohl tun wie ein Seebad. 1848 klagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem gewissen Sinne, diesmal aber kommt sie vollständig, jetzt geht es um den Kopf.“ Sie kam weder vollständig, noch ging es um den Kopf. 18 58 schrieb Marx schon von der „optimistischen Wendung des Welthandels in diesem Moment!“ Aber er beruhigte sich, denn es sei „wenigstens tröstlich, daß in Rußland die Revolution angefangen hat". Er konnte aber nicht den Zweifel unterdrücken, daß, wenn auch auf dem Kontinent die Revolution immanent sei und sofort einen „sozialistisehen Charakter“ annehmen würde, die Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft doch auf viel größerem Terrain noch im Vorrücken sei.

Im Februar 1882 schrieb Engels an Eduard Bernstein: „Wir haben in Deutschland eine Situation, die mit steigender Geschwindigkeit der Revolution zutreibt. Was uns fehlt, ist einzig ein rechtzeitiger Anstoß von außen. Diesen bietet die Lage Rußlands, wo der Beginn der Revolution nur noch eine Frage von Monaten ist. Kurz, es ist eine so prachtvolle revolutionäre Situation, wie noch nie.“ Alle Zitate aus: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx 1844— 1883, Stuttgart 1919; und: Briefe von Friedrich Engels an Eduard Bernstein, Berlin 1925. Diese Beispiele könnten beliebig vermehrt werden.

In diesem Widerspruch zwischen dem revolutionären Wollen zweier großer Männer des vorigen Jahrhunderts und den objektiven Tatsachen, an denen ihre Pläne scheiterten, liegt zweifellos ein Beitrag zu dem Thema „Geschichte und Politik“ vor. Der revolutionäre Wille sollte durch die Tatsache bestätigt und begründet werden, aber die Tatsachen standen laufend in Widerspruch zum revolutionären Willen.

In der Stalinschen Epoche haben die Theoretiker Moskaus die wirtschaftlichen Tatsachen der westlichen Welt wie Ignoranten behandelt. Sie waren Diener der Macht, sie wagten nicht, Stalin zu widersprechen, weil sie um ihren Kopf fürchten mußten, wenn sie eine andere ökonomische Auffassung vertraten als ihr Tyrann. Es wäre interessant, etwa von Herrn Varga zu erfahren, welche soziologische, bzw. marxistische Begründung er für die Schrecken der Stalinschen Epoche und die Deformierung der ökonomischen Theorie in der UdSSR geben kann.

IV. Über den Gegensatz zwischen Politik und Propaganda ist prinzipiell zu sagen: Der Hauptvorwurf der kommunistischen Theorie gegen jedes idealistische System besteht darin, daß dieser den Widerspruch zwischen Idealität und Realität nicht aufzuheben vermag. Die Kommunisten dagegen nehmen für sich in Anspruch, von ihnen sei dieser uralte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis aufgehoben-und ihre Wissenschaft, d. h. die Theorie, drücke nur die in Gedanken gefaßte tatsächliche gesellschaftliche Bewegung aus. Die theoretischen Sätze der Kommunisten sind ihrer Auffassung nach nur die abstrakten Formulierungen realer gesellschaftlicher Vorgänge. Da die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber nach Marx darauf ankomme, sie zu verändern, könnte die kommunistische Theorie von dem unvermeidlichen Ende der kapitalistischen Gesellschaft nicht existieren, wenn sie nicht die Grundlage des Handelns der Kommunisten selbst wäre. Auch dieses Handeln selbst ist Teil der Theorie.

Aus einer solchen Theorie folgt logisch und unvermeidlich, daß die Kommunisten ihre eigene Aktion unmittelbar aus dieser Theorie ableiten und jede Politik, Propaganda und Agitation von dieser theoretischen Auffassung her bestimmt wird. Die Propaganda des friedlichen Zusammenlebens, von der Herr Varga spricht, kann also unmöglich von der prinzipiellen Auffassung der Kommunisten über die Unvermeidlichkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs getrennt werden, wenn man nicht aufhören will, Kommunist zu sein.

Dies ist der wirkliche Zusammenhang zwischen Politik, Propaganda und dem, was Herr Varga die objektiven Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft nennt. Die Verleugnung dieses prinzipiellen Gesichtspunktes oder auch nur der Versuch dazu, den Herr Varga offensichtlich macht, zeigt ihn als einen Opportunisten, der sich aus taktischen Gründen weigert, das weltrevolutionäre Prinzip und vor allem dessen praktische Gestaltung in der konkreten Tagespolitik anzuerkennen. Dieser Versuch kann nicht gelingen, insbesondere nicht in der Deutschlandpolitik der Sowjetunion.

V. Herr Varga schreibt: „Wer das Recht jedes Volkes auf freie Wahl der politischen Ordnung in seinem Lande anerkennt (was auch Herr Salter in seinem Artikel tut) muß den Willen der Volksmassen der Deutschen Demokratischen Republik und vieler Deutscher im Landes-westen berücksichtigen, die ein Wiederaufleben der militärischen Gefahr nicht wünschen.“ Dies ist in der Tat ein entscheidender Punkt.

Der wesentlichste Vorwurf, den die gesamte deutsche Demokratie sowohl der Sowjet-Union im allgemeinen, als der „Regierung" von Pankow im besonderen macht, besteht darin, daß sie eben keine freie Selbstbestimmung des Volkes zuläßt. Wie immer man die Demokratie definieren will, wie immer man auch die Wege formuliert, die zu ihr führen, — die Entscheidung über die politische Verfassung muß in die Hand des einzelnen Bürgers gelegt werden. Seine Entscheidung muß frei, geheim und direkt in einem staatlichen und gesellschaftlichen Rahmen fallen, derihm die Möglichkeit der Wahl zumindestens zwischen zwei Prinzipien, zwei Parteien, zwei Formen der politischen Struktur garantiert. In der DDR existiert keine freie Tribüne, auf der zwei Parteien eine prinzipielle Auseinandersetzung über Form und Inhalt des Staates führen können. Diese Tatsache wird auch von Herrn Varga nicht bestritten. Die Herrschaft einer Monopolpartei, der SED, schließt die Demokratie, wie immer sie definiert werden mag, aus. Die Ausübung der politischen, geistigen und kulturellen, d. h. auch im besonderen der ideologischen Zensur, verhindert sowohl jede Selbstbestimmung des Volkes, als auch die Entwicklung des politischen Gedankens, die sich nur in freier Diskussion und Aktion gestalten kann.

Der Marxismus hat — wie Herr Varga sehr gut weiß — einen jahrzehntelangen Kampf für das freie Wahlrecht und die Abschaffung jeder Zensur geführt. Dies war ein Kampf für die Demokratie. Die Sowjetregierung verleugnet diese Tatsache heute sowohl theoretisch wie auch in ihrer gesamten inneren und äußeren Politik. Die Führung der Sowjetunion gibt vor, zum Leninismus zurückzukehren. Aber der Leninismus hat in bezug auf diese Frage einen Standpunkt entwickelt, der von der heutigen Theorie und Praxis der Sowjetregierung durch einen Abgrund getrennt ist.

In dem Dekret über den Frieden, daß der II. Sowjetkongreß am 8. November 1917 beschloß, schlug die Sowjetmacht „allen Völkern und den Regierungen der kriegführenden Nationen vor, sofort mit dem Abschluß eines demokratischen Friedens ohne Kontribution und Annexionen zu beginnen, d. h. eines Friedens ohne Raub fremder Territorien (vgl. Ostpreußen 1945!) und ohne gewaltsame Herausholung materieller oder finanzieller Entschädigung aus den besiegten Staaten“. (Geschichte der Diplomatie, Moskau 1947, Verlag für fremdsprachliche Literatur, S. 362.) Wieweit sind doch diese Grundsätze entfernt von der Praxis der Sowjetregierung in dem Deutschland nach 1945!

In seiner Rede über den Frieden am 26. Oktober 1917 definiert Lenin sehr präzise den Begriff der Annexion: „Unter Annexion oder Aneignung fremden Territoriums versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewußtsein der Demokratie im allgemeinen (!) und der werktätigen Klassen im besonderen, jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne daß diese Völkerschaften ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht haben, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen überseeischen Ländern lebt.“ Hiermit vergleiche man die Praxis der Sowjetregierung in bezg auf die ostdeutschen, jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete, die Annexion Ostpreußens und die Politik in den Volksdemokratien, um zu begreifen, wieweit die heutige Sowjetregierung eine Revision ihrer Außenpolitik durchführen müßte, um zum Leninismus zurückzukehren.

Lenin geht noch weiter; man findet in der gleichen Rede eine Begründung für ein Phänomen wie den Volksaufstand des 17. Juni: „Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche — gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörung e n und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde — (das war der 17. Juni!) — das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation, in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz, ohne den mindesten Zwang, selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.“

Diese Sätze sind klar und unmißverständlich. Da Lenin von einem „Rechtsbewußtsein der Demokratie im allgemeinen“ spricht, das heißt zweifellos auch die von den Kommunisten angeklagte kapitalistische Demokratie meint und weiter allgemeine, für jeden Politiker, ob

kommunistisch oder kapitalistisch, verbindliche Formen der Demokratie anerkennt müßte Herr Varga, wenn er behauptet, Leninist zu sein, aus diesen von Lenin entwickelten Prinzipien zu derselben Schlußfolgerung kommen, die wir, vom Standpunkt des „Rechtsbewußtseins der Demokratie im allgemeinen", für uns in Anspruch nehmen.

Sowohl die Leninschen Prinzipien als auch der Standpunkt der Demokratie im allgemeinen zielen im Hinblick auf das deutsche Problem auf eine einzige zentrale Lösung, mit der sich alle anderen Fragen dann unendlich leichter beantworten lassen: eben die Selbstbestimmung der Deutschen in der Sowjetzone über ihre eigene politische und gesellschaftliche Verfassung.

In diesem Punkt liegt die Möglichkeit eines schöpferischen Kompromisses zwischen den Forderungen der deutschen Bundesregierung, der deutschen Opposition, aller Deutschen überhaupt und den Leninschen Prinzipien, falls sie von der Sowjet-Regierung ernst genommen werden. In einem solchen Kompromiß wäre die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanderbestehens zwischen Staaten mit verschiedenen sozialen Systemen enthalten. Steht man aber auf dem „wissenschaftlichen Standpunkt“, daß die Gesellschaft des Westens zum LIntergang verurteilt ist, dann muß jeder Kommunist, auch Varga, alles tun, um diesen Untergang durch seine praktische Politik möglichst schnell herbeizuführen. In diesem Fall ist die Selbstverteidigung der westlichen Welt durch eine Zusammenfassung ihrer wirtschaftlichen und militärischen Kräfte unvermeidlich. Sie ist die Re-Aktion des Westens auf die Aktion des Kommunismus. Keine Gesellschaftsordnung, kein Staat läßt sich von einer politischen Gruppe, wie sie das Zentralkomitee der KPdSU in Moskau darstellt, theoretisch zum Tode verurteilen und wartet dann ab, bis dieses Todesurteil vollstreckt wird. Herr Varga darf uns nicht für so naiv halten! Die historischen Erfahrungen mit den totalitären Systemen der letzten Jahrzehnte haben die öffentliche Meinung in Europa und den USA wachsam gemacht.

Nachdem die Verbrechen der Stalinschen Epoche von der offiziellen Tribüne in Moskau proklamiert worden sind und ein neuer Verbalismus verwendet wird, wäre es für die Sowjet-Regierung an der Zeit, zu konkreten Veränderungen überzugehen. Das Kriterium einer „wissenschaftlichen" Politik, wie sie Herr Varga vertritt, liegt allein in der Praxis. Ändert sich die sowjetische Praxis in Deutschland, so tritt die europäische Politik in eine neue und friedliche Phase.

Fussnoten

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