Festvortrag, gehalten anläßlich der Einweihung des neu erbauten Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums in Bonn.
Wenn wir heute zur Einweihung dieses neuen Schulgebäudes für unser altes Gymnasium hier vereint sind, und dabei voll Hoffnung an die Zukunft denken, so will es mir scheinen, als sei der Weg von den Trümmern des alten Hauses in der Doetschstraße bis in diesen schönen, der jugendlichen Arbeit harrenden Bau symbolisch für den Weg, den unser Volk aus dem Zusammenbruch vor acht Jahren in eine hoffentlich bessere Zukunft zu finden sich müht. Und wie der Neubau unseres Staates, unserer Wirtschaft, unserer’ Kultur nicht eine Restauration, gleich welcher Epoche unserer Geschichte sein darf, so tritt auch unsere alte Schule uns mit neuem Namen und in neuer Form entgegen, anknüpfend, wie wir sicher sind, an das Gute und Bewährte der früheren Zeit, und doch offenbar bestrebt, den Erfodernissen der neuen Zeit gerecht zu werden. Und das ist gut so, denn wer Einiges von der Welt gesehen hat, der weiß, daß ein Volk so ist wie seine Schulen, und wir haben wahrlich Grund, aus der Vergangenheit zu lernen!
Wenn mir heute die Ehre zugefallen ist, von dieser Stelle als alter Schüler dieser Anstalt zu Ihnen zu sprechen und die Glückwünsche der Vereinigung ehemaliger Schüler zu diesem festlichen Tage auszusprechen, so schweifen meine Gedanken 29 Jahre zurück zu der Stunde, in der ich als Vertreter meiner Klasse die Abitur-Abschiedsrede halten durfte und diese Gelegenheit benutzte, um mich aus der Perspektive des Primaners mit der Frage auseinanderzusetzen, wie ein Ausgleich möglich sei zwischen der notwendig rezeptiven Tätigkeit in der Schule und der zur Entwicklung einer selbständigen Persönlichkeit erforderlichen Eigenaktivität der älteren Schüler. Wir hatten uns damals mit wohlwollender Unterstützung besonders der jüngeren Lehrer, von denen zu meiner Freude noch einige hier unter uns weilen, unsere Schülervereine geschaffen, denen viele meiner Kameraden wie ich selbst Wesentliches für ihre Entwicklung verdanken, und ich möchte hoffen, daß die heutige Jugend die Zeit und Initiative aufbringt, sich ähnliche Betätigungsmöglichkeiten für die sich regenden selbständigen Kräfte des Körpers wie des Geistes zu schaffen. Seit jener Zeit der führenden Betätigung im größten Schülerverein dieser Anstalt ist mein Interesse wach geblieben an der grundsätzlichen Frage der Erziehung, dem Ausgleich zwischen der Steigerung des Wissensstandes und der Ausbildung einer selbständigen freien Persönlichkeit. Dieses Interesse wurde wachgehalten durch die Erfahrungen, die ich als Hochschullehrer mit Generationen von Abiturienten der verschiedensten Schulen und Schularten machte, und während meiner erst kürzlich beendeten fünfjährigen Amerikatätigkeit, durch meine Erfahrungen mit amerikanischen Studenten, Schülern und Schulen. Es ist vielleicht noch nicht weit genug bekannt, wie hervorragend die Kinder der nach dem letzten Kriege gleich mir nach Amerika gegangenen deutschen Wissenschaftler und Ingenieure trotz aller Schwierigkeiten mit der fremden Sprache, dem fremden Lehrplan und dem fremden Stoff sich in kürzester Zeit in die amerikanischen Schulen hineingefunden und mit wenigen Ausnahmen fachlich die Spitze ihrer Klassen erreicht haben, und das, obwohl sie aus den deutschen Kriegs-und direkten Nachkriegsschulen mit all ihren Mängeln infolge eingezogener Lehrkräfte, Bomben und Hunger kamen. Dieses auch drüben viel beachtete hervorragende Abschneiden der deutschen Jungen und Mädels in den amerikanischen Schulen ist ein Ruhmesblatt für das deutsche Schulsystem und die deutschen Lehrer. Auf der anderenSeitehates wohljeden von uns drüben beeindruckt, wie überlegen die an fachlichem Wissen weit unterlegenen jungen Amerikaner den gleichaltrigen Deutschen an praktischer Lebenstüchtigkeit, an gelassener Selbstsicherheit, besonders Erwachsenen gegenüber, an gegenseitigem Anpassungsvermögen und besonders an Duldsamkeit gegenüber abweichenden Meinungen sind. Und es hat uns sehr zu denken gegeben, daß der bei uns leider gar nicht seltene „Radfahrertyp“, der nach oben buckelt und nach unten tritt, drüben praktisch nicht vorkommt. Ich glaube, daß dies, ebenso wie unser so eklatantes politisches Versagen in der Vergangenheit, unser anscheinend nicht auszurottender Parteihader und unsere allgemeine gegenseitige Unduldsamkeit im Politischen, Religiösen wie im Menschlichen uns auch bei einer Besinnung über unsere Schulziele sehr nachdenklich machen sollte. Diese Bemerkungen sollen keine Unterschätzung der Bedeutung des hohen Wissensstandes bedeuten, dem wir Deutschen einen großen Teil unserer Leistungsfähigkeit und den im Ausland nach wie vor hohen Ruf unserer Wissenschaft und Technik verdanken, und sollen gewiß nicht als eine Befürwortung des das fachliche Wissen oft unterschätzenden und für unsere Verhältnisse überhaupt ungeeigneten amerikanischen Schulsystems ausgelegt werden. Sie mögen uns aber vielleicht zu immer neuer Überlegung darüber veranlassen, was die Schule etwa doch mehr als früher zur Ausbildung von zwar hart arbeitenden, aber nicht verbissen paukenden, innerlich freien jungen Menschen beitragen kann, die ihren Mitmenschen, gleich welcher Art, Partei, Religion oder welchen Volkes, mit Achtung und Duldsamkeit gegenübertreten, womit dem sozialen Frieden der Menschheit weit mehr gedient würde als durch manche oft überschätzten rein wirtschaftlichen Maßnahmen.
Die Aufgabe der zeitgemäßen Schulform Diese Erörterung der Aufgaben der Schule bei der Erziehung junger Menschen, die wirklich in die heutige Welt passen, wirft natürlich gleich die heißumstrittene Frage nach der Schulform auf. Daß die überwiegende Mehrzahl der Hochschullehrer, und zwar auch der naturwissenschaftlichen Fächer, so stark die Bewährung des humanistischen Gymnasiums als Vorbereitung für Universität und Hochschule betont, beruht wohl in erster Linie auf der Tatsache, daß diese Schulform eine so harmonisch abgewogene Bildung ergab, die wirklich dem Weltbild der Zeit entsprach, die zwischen den beiden Weltkriegen sich ihrem Ende zuneigte.
Unsere heutige Welt aber i s t eine naturwissenschaftlich-technische! Es ist zwecklos, vor dieser Tatsache, die man bejahen oder bedauern mag, die Augen zu verschließen. Eine Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation ist ebenso unvermeidlich wie Folgerungen aus ihr bezüglich der der neuen Zeit gemäßen Schulform. Unsere alte Schule hat diese Folgerungen gezogen und tritt uns im neuen Heim als naturwissenschaftliches Gymnasium entgegen. Ich glaube nicht, daß das die Aufgabe des alten Zieles einer harmonischen Allgemeinbildung bedeutet, und wir Naturwissenschaftler würden es vielleicht am meisten bedauern, wenn man in unserer alten Schule den Jungens nun alle die Einzelheiten mathematisch-physikalischer Art einzutrichtern versuchen würde, für die der junge Mensch unserer Überzeugung nach erst auf der Hochschule die nötige Reife entwickelt, die daher auf der Schule vielleicht äußerlich gelernt, aber nicht wirklich in ihrer tieferen Bedeutung verstanden und verarbeitet werden können. Worum es vielmehr geht, ist doch wohl, die für heute zu einseitige humanistische Bildung zu ergänzen durch ein Verständnis für die Methodik des naturwissenschaftlichen Denkens sowie eine Gesamtschau des naturwissenschaftlichen Weltbildes, und damit die Grundlage zu einer geistigen Auseinandersetzung auch mit der Technik zu legen. Denn schon ein flüchtiger Blick in die Welt zeigt doch klar, daß die Menschheit in ihrer geistig-sittlich-politischen Entwicklung mit der naturwissenschaftlich-technischen nicht Schritt gehalten hat und daher weder die durch physikalische Entwicklungen ins Fürchterliche gesteigerte Kriegstechnik politisch zu beherrschen, noch die gewaltigen friedlichen Möglichkeiten der Technik auszunutzen versteht, man denke nur an den Anachronismus der Währungs-, Zoll-und Visa-Schranken angesichts des Flugverkehrs, der bereits andere Kontinente in Stunden zu erreichen gestattet.
Dieses Problem der Beherrschung und sinnvollen Nutzung der aus der Naturwissenschaft erwachsenden Technik ist ein politisches und damit letztlich ein geistiges, und ich glaube, wir kommen um die Erkenntnis nicht herum, daß die Bedeutung der humanistischen Bildung wohl doch die erforderliche geistige Durchdringung von Naturwissenschaft und Technik verhindert hat. Es wäre natürlich vermessen, glauben zu wollen, daß dieses tiefgreifende Problem der Beherrschung der Technik mit etwas mehr naturwissenschaftlicher Bildung lösbar wäre, und es braucht kaum betont zu werden, wie weit wir davon entfernt sind, auch nur gangbare Lösungs möglichkeiten aufzuzeigen. Eines aber kann mit Sicherheit gesagt werden, und das ist, daß die Lösung unmöglich ist und unmöglich bleiben muß ohne die Schaffung einer die Probleme der Naturwissenschaft und Technik wirklich ernst nehmenden geistigen Atmosphäre. Und dieser Notwendigkeit, Naturwissenschaft und Technik als ein drängendes geistiges Problem zu erkennen, kommt die Tatsache entgegen, daß die physikalische Forschung der letzten Jahrzehnte die gesamte geistige Schau unserer Zeit so grundlegend umgestaltet hat, daß man heute den Unterschied von Geistes-und Naturwissenschaften eigentlich nicht mehr zu machen berechtigt ist. Es wird eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben des naturwissenschaftlichen Gymnasiums sein, den Schülern, und zwar gerade denen, die später nicht naturwissenschaftlich-technische Berufe ergreifen, einen wirklich haftenden Eindruck und ein Verständnis der geistigen Wandlung zu vermitteln, die sich hier anbahnt und die sich in den kommenden Jahrzehnten unzweifelhaft noch stärker durchsetzen wird. Das wird aber m. E. nur gelingen, wenn die naturwissenschaftlichen Lehrer auch nach Beendigung ihres Studiums mit der lebendig fortschreitenden Wissenschaft in wirklich lebendigem Kontakt bleiben können, und es wird eine der schwierigsten Aufgaben von Schulverwaltung und Hochschulen sein, die Möglichkeiten dafür zu schaffen oder sie, soweit in Ansätzen vorhanden, ganz erheblich zu erweitern.
Das humanistische Gymnasium führte den Schüler, stets das Ziel einer harmonisch abgerundeten Bildung im Auge haltend, vom logisch klaren Aufbau der alten Sprachen bis hin zu den höchsten Höhen der klassischen Kultur mit ihrer Poesie, bildenden Künsten und Philosophie, einer Kultur, die unzweifelhaft die Grundlage gebildet hat für fast die gesamte künstlerische wie geistige Entwicklung seit jener Zeit. Wie klein, unverbunden und unbedeutend erschienen demgegenüber bis zum Anfang unseres Jahrhunderts die Probleme wie die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, und die Tatsache, daß diese Ergebnisse schon damals zu so greifbaren Ergebnissen geführt hatten wie der Elektrotechnik, der chemischen Industrie, den Röntgenstrahlen und Vielem mehr, machte die Naturwissenschaft als etwas anscheinend rein Materialistisch-Ungeistiges eher verdächtig als schätzenswert. Vor allem aber wurde der Naturwissenschaft immer wieder ihre offensichtliche Zersplitterung in immer kleinere Spezialgebiete entgegengehalten, die jeden Gedanken an ein harmonisch abgeschlossenes Weltbild absurd erscheinen ließ.
Auf dem Wege zum naturwissenschaftlichen Weltbild Aber wie der Bergsteiger sich in mühsamer Arbeit durch die Wälder und Hügel des Vorlandes hindurcharbeiten muß, ohne auch nur einen Blick auf die Gipfel frei zu bekommen, und wie es schon der Besteigung eines der mittleren Gipfel bedarf, um endlich das ganze Gebirge in der großen Gliederung seiner Bergzüge, Massive und Täler vor sich zu sehen, so bedurfte und bedarf es auch der mühsamen spezialwissenschaftlichen Kleinarbeit in all den zahlreichen Sparten der Naturwissenschaften, um langsam den Blick frei zu bekommen für die sich vorsichtig, aber doch in Umrissen schon sichtbar anbahnende Synthese, für das naturwissenschaftliche Weltbild. Wir sind noch nicht nahe genug an dem Gipfel der Einzelwissenschaften, um das Ganze schon wirklich überschauen zu können, wir ahnen mehr als daß wir wissen, wie alles zusammenhängt. Aber was wir ahnen und langsam zu sehen beginnen, ist wahrhaft atemberaubend und Ehrfurcht heischend, wie z. B. die gleichen Naturgesetze, die im kleinsten Atomkern wirksam, auch für die Sternen-welten verbindlich sind und im Innern der Sonne dafür sorgen, daß sie ihr Licht scheinen läßt auf unsere Erde seit einigen Milliarden von Jahren und, soweit wir heute sagen können, noch weitere Milliarden Jahre.
Sie werden dem Atomphysiker die Bemerkung erlauben, daß es die Lehre vom Bau der Atome und ihrer Bestandteile, dieses Ergebnis der Physik unseres Jahrhunderts war, die uns den Schlüssel geliefert hat zur Synthese der Naturwissenschaften. Erst als man in den zwanziger Jahren die Gesetze des Aufbaues, der Eigenschaften und Wirkungen der jetzt 98 verschiedenen Atomarten verstehen lernte, aus denen unsere gesamte materielle Welt sich aufbaut, da wurde die Physik, schon lange vorher die exakteste der Naturwissenschaften, wirklich deren einigende Grundlage. Da wurde plötzlich klar, daß das von den Chemikern empirisch gefundene Periodische System der Elemente in wahrhaft wunderbarer Weise den Aufbau der Elektronenhüllen der verschiedenen Atome widerspiegelt, und wie sich daraus deren verschiedene Affinität zueinander verstehen läßt, womit das älteste Rätsel der Chemiewissenschaft seine Lösung fand. Da gelang es weiter, die Bindung der Atome in den Molekülen wenigstens in ihren Grundzügen zu verstehen und damit, grundsätzlich gesehen, die Chemie auf die Physik zurüdezuführen. Von den oft aus wenigen, in Extremfällen aber aus Tausenden von Atomen bestehenden Molekülen der Chemiker aber ist es theoretisch nur ein Schritt bis zu jenen makroskopischen regelmäßigen Anordnungen von Milliarden und Abermilliarden von Atomen, die wir als die Kristalle und allgemeiner als die Festkörper kennen, und in denen die Bindungen zwischen den Atomen, so verschieden sie von Fall zu Fall auch sein mögen, doch wieder auf den gleichen Kräften beruhen und den gleichen Gesetzen gehorchen wie in den Molekülen. Diese Bindungen der Atome und ihrer Elektronen aneinander, die die Atomphysik verstehen gelernt hat, bewirken aber nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch alle makroskopischen Eigenschaften der Festkörper, und so beginnen sich mit der Physik und Chemie der Festkörper auch Mineralogie, Geologie und die technisch so wichtige Werkstoffwissenschaft dem einheitlichen Bilde der atomistischen Naturwissenschaft einzufügen.
Das gleiche gilt in wunderbarster Weise von der Astronomie. Bei den hohen Temperaturen auf und in den Fixsternen wie Gasnebeln existiert alle Materie nur in Form einzelner, unverbundener Atome, und wieder hat die Atomphysik über das Verhalten und insbesondere das Leuchten der Atome bei diesen hohen Temperaturen so detaillierte und durch Experimentaluntersuchungen bestätigte Angaben machen können, daß die spektroskopische Analyse der Strahlung der Sonne, der Fixsterne und der ausgedehnten Gasmassen des interstellaren Raumes uns heute genauesten Aufschluß geben über Drude, Temperatur und sonstige Daten dieser Objekte des Himmels, die oft Tausende oder gar Millionen von Lichtjahren von uns entfernt sind. Molekülphysikalische Methoden, Erfahrungen also aus dem Grenzgebiet von Atomphysik und Chemie, geben dem Astronomen Kenntnis von der Zusammensetzung der Atmosphären der anderen Planeten und damit von den möglichen Lebensbedingungen auf diesen, und auch Beobachtungen, die zunächst als unmöglich abgelehnt wurden, wie die von der Existenz von Sternen mit einer Dichte, die die der irdischen Stoffe um das Zehntausendfache übersteigt, haben aus der Atomphysik ihre einleuchtende Erklärung gefunden. Den größten Triumph aber hat die Atomphysik in der Astronomie mit der Beantwortung der alten Frage errungen, woher die von der Sonne und den anderen Fixsternen Jahr um Jahr in unvermindertem Maße ausgestrahlte Energie eigentlich stammt, — und hier waren es Erfahrungen mit dem Kleinsten in der Mikrophysik, nämlich den Atomkernen, die Antwort gaben auf das Geschehen in den größten Materiezusammenballungen, die wir kennen. Sie wissen wahrscheinlich, daß eben jener Kernprozeß, der in der Wasserstoffbombe seine fürchterliche Auswirkung findet, nämlich der Zusammenschluß von Wasserstoff-zu Heliumkernen, auch für die Energieproduktion in der Sonne und den Fixsternen verantwortlich ist und uns Menschen auf der Erde unser Dasein damit überhaupt erst ermöglicht.
Eine gewaltige Synthese Es ist wahrlich eine gewaltige Synthese der Naturwissenschaften, in erster Linie von Physik, Chemie, Mineralogie und Astronomie, die sich hier vor unserem geistigen Auge entrollt, ein Weltbild, wohl wert, daß der Geist junger Menschen sich an ihm bilde, auch im reiferen Alter die Ehrfurcht sich bewahre vor dem Schöpfer dieses Kosmos und die Bescheidenheit gegenüber den menschlichen Leistungen, insbesondere in der Technik, und auch nie vergesse, daß dieser Blick in die Wunder des Universums vom Kleinsten bis zum Allergrößten nur in mühsamer, zäher und bescheidener Kleinarbeit Tausender und Abertausender von Wissenschaftlern aller Völker erarbeitet werden konnte.
Eindrucksvoll bahnt die Synthese der Naturwissenschaften sich an. Größte Probleme aber harren noch ihrer Lösung. In der anorganischen Naturwissenschaft ist es namentlich die Frage nach dem Wesen der Elementarteilchen, der letzten, nicht mehr zusammengesetzten Bausteine der Materie, die durch die Untersuchung der kosmischen Höhenstrahlung in den letzten Jahren in ein Stadium turbulenter Entwicklung getreten ist, und in dem wir an der Schwelle ganz grundlegender Erkenntnisse zu stehen glauben. Vor allem aber ist da noch das riesige Gebiet der organischen Naturwissenschaft, die Biologie, in der die Fortschritte der Atomphysik zwar zu einer Menge neuer Erkenntnisse geführt haben, in der aber die Dualität von Materialismus und Vitalismus, von physikalischer Kraft und Entelechie nach wie vor ihrer wirklichen Auflösung harrt. Ich möchte glauben, daß die entscheidendsten Fortschritte der Naturwissenschaft in den kommenden Jahrzehnten gerade auf diesem Gebiet liegen sollten.
Noch gar nicht erwähnt haben wir in dieser Skizze des naturwissenschaftlichen Weltbildes unserer Zeit die grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, in die uns die Entwicklung der Quantentheorie seit etwa 2 5 Jahren gestürzt hat, und die bei den zu ihrer Lösung Berufenen, nämlich den Philosophen, wegen der Naturwissenschaftsfernheit so vieler von ihnen mehr Kopfschütteln erregt hat als die Überzeugung, daß sich hier wirklich aus naturwissenschaftlichen Ergebnissen eine tiefgreifend^ Wandlung unserer Ansicht von der Möglichkeit der Erkenntnis und damit der Philosophie überhaupt, anbahnt, mit der sich der Philosoph auseinandersetzen muß. Es handelt sich um die hier nur änzudeutende Tatsache, daß die Aussagen und Gesetze der Atomphysik nicht mehr jene mechanistisch-starre Bestimmtheit besitzen, die dazu führte, daß so viele Denker das mechanistische Weltbild des vorigen Jahrhunderts als unerträglich empfinden, sondern daß an Stelle der absoluten Bestimmtheit jedes Vorgangs durch die Vergangenheit und physikalische Gesetze nun eine nur statistische Voraussagemöglichkeit getreten ist, als Folge der berühmten von Heisenberg entdeckten Unbestimmtheitsbeziehung. Für genügend große Zahlen von beteiligten Elementarteilchen, d. h. in der gesamten Makrophysik, behalten die physikalischen Gesetze trotzdem ihre strenge Gültigkeit, wie ja auch die den Lebensversicherungen zugrunde liegenden Gesetze von der mittleren Dauer eines Menschenlebens trotz der unbestimmten Dauer des Einzel-lebens äußerst exakt gelten. Für die allem Geschehen zugrunde liegenden Einzelvorgänge im Atom oder Molekül, die nach den Ergebnissen der Quantenbiologiedirekt das Schicksal ganzer Lebewesen entscheiden können, ist aber statt der bestimmten Aussagen der Makrophysik lediglich eine Aussage über die Wahrscheinlichkeit dieses oder jenes Ereignis möglich. Diese Tatsache hängt auf das Engste damit zusammen, daß es bei atomaren Vorgängen von der Beobachtungsmethode abhängt, ob etwa ein Elektron oder Lichtteilchen uns als räumlich ausgedehnte Welle oder scharf konzentriertes Teilchen entgegentritt, welche von zwei scheinbar sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften es also besitzt.
Naturwissenschaft — Teil harmonischer Erziehung Gleichgültig, wie wir diesen physikalischen Sachverhalt beschreiben: ob wir sagen, daß den Objekten der Mikrophysik nicht die gleiche Objektivierbarkeit zukomme wie den Gegenständen unserer Umgebung, weil die Eigenschaften der ersteren von der Beobachtungsart abhängen, — oder ob wir sagen, daß die uns gewohnten Begriffe und Denkformen zur Erfassung des wahren Wesens von Atomen, Elektronen und Licht-quanten nicht ausreichen: — sicher ist, daß wir hier, als Folge rein physikalischer Beobachtungen und Theorien, vor einer ganz neuen Situation stehen, in der entscheidende Grundlagen der bisherigen Erkenntnistheorie wie das nach Kant a priori gültige Kausalgesetz, in ihrer Bedeutung zweifelhaft geworden sind und die Erkenntnistheorie einer Neu-fassung bedarf. Über diese gehen die Meinungen naturgemäß noch weit auseinander; aber es besteht wohl kein Zweifel daran, daß sie mit einer gewaltigen von der Naturwissenschaft erzwungenen Ausweitung unserer Denkmöglichkeiten und damit unseres geistigen Weltbildes verbunden sein wird. Natur-und Geisteswissenschaft treffen sich hier also in einer bisher einmaligen Weise!
So scheint mir die moderne Naturwissenschaft, deren Ergebnisse das Gesicht unserer Zeit materiell wie geistig so grundlegend umgestaltet haben, heute auch besonders geeignet, in unserem naturwissenschaftlichen Gymnasium ihr Teil zur Erziehung junger Menschen zu harmonisch gebildeten und gleichzeitig lebensnahen Männern beizutragen. Wenn diese dann aus ihrer Beschäftigung mit der Naturwissenschaft noch etwas von dem dieser eigenen Geist der unvoreingenommenen sachlichen Prüfung und ruhigen Diskussion sine ira et Studio aus diesem Hause in ihr Leben mit hinausnehmen und dadurch auch das politische Leben entgiften helfen, dann wird dieses naturwissenschaftliche Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium wirklich etwas erreicht haben, das des Schweißes der Edesten wert ist.
Glückauf dazu!