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Amerika, Karthago und die Kolonialreiche | APuZ 19/1956 | bpb.de

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APuZ 19/1956 Amerika, Karthago und die Kolonialreiche Verhandlungen mit den Sowjets. Einige Lehren aus der Kriegszeit Der Präsident und die Sicherheit des Landes

Amerika, Karthago und die Kolonialreiche

ANDRE Garteiser

Der folgende Artikel von Andre Garteiser wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages den „SCHWEIZER MONATSHEFTEN" (Heft 11, Februar 1956) entnommen.

Als Amerika mit bewundernswerter Ent-schlossenheit und Willenskraft in den Krieg eintrat, verkörperte sich sein tiefstes Wollen in Franklin Roosevelt. Amerika kämpfte, um die Kräfte des Despotismus zu vernichten, die dem freien Aufblühen des Friedens entgegenstanden. In den Augen Roosevelts wurden diese Kräfte durch Japan, selbstverständlich durch das nationalsozialistische Deutschland, aber auch durch die ausländischen Herrschaftsbereiche der Kolonialmächte gebildet. Von diesen drei Kriegs-zielen — man schlage im Buch von Roosevelts Sohn Elliot nach — war wohl das ihm teuerste das Verschwinden der Kolonialreiche. Das sollte die Krönung des Werkes sein, das tausendjährige Friedensreich, wie Hitler es in anderem Sinne verstanden hatte.

Man kann sich fragen, wie weit in diesen Wünschen tiefer lebendiger Idealismus, neidvolle Bewunderung, historische Reminiszenzen, eine Mischung von Harmlosigkeit und Durchtriebenheit, von industriellem Machtbewußtsein, von reinem Heldentum lebte. Es interessiert uns hier nicht weiter, Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Rooseveltschen Entscheidungen zu erörtern. Es genügt festzustellen, das die vorgesteckten Kriegsziele in unserem Zeitalter tatsächlich alle erreicht wurden. Ist nun der Weltfrieden nach dem Verschwinden der bösartigen Mächte gesicherter als vor dem Kriege? Hat die Ruhe in der Welt zugenommen? Ist die Gerechtigkeit größer? Wir wissen alle, daß wir Nein sagen müssen. Die Kriegsziele Roosevelts waren negative, es waren Ziele der Zerstörung. Was im Garten der Zukunft auf den Ruinen der verschwunde-nen Reiche blühen sollte, sah Roosevelt in unklaren und sentimentalen Idealbildern. Sie bleiben auch für uns nebelhaft, beklemmend und unbestimmt. Das durch Amputation lebendiger und mächtiger Organismen gestörte Gleichgewicht der Völker nötigt die Welt, die leben will, ein neues Gleichgewicht zu suchen. Die ganze Menschheit ist in Bewegung, und das Leben kann nicht stille stehen. Die entstandene und in weiten Länderstrecken noch zunehmende Leere muß ausgefüllt werden. Neue Staatengebilde entstehen, vielleicht als Vorausnahme einer nahen Zukunft. Man fragt sich, ob sich die Narben auf gesundem oder krankem Gewebe schließen.

Wie sich in wenigen Jahren klar herausstellen wird, ist heute das wichtigste Geschehen, das bereits die gegenwärtige Epoche mit Blut befleckt, nicht die endlose ideologische Diskussion zwischen Europa, Sowjetrußland und Amerika, die ja im Grunde nur ein interner Zank unter Leuten der gleichen Rasse ist. Dominierende Tatsache ist die Auflösung der Kolonialreiche, deren direkte Folge einerseits die bewaffnete Feindschaft der gelben Rasse ist, und andererseits das Erscheinen politischer Gebilde in noch fast embryonalem und vielleicht nicht lebensfähigem Zustand, die sich wie neugeborene Patrioten an die überlieferten Zufallsgrenzen ihrer ehemaligen Besetzungsmächte klammern.

Vor einigen Monaten überflog ich die arabische Wüste. Eingeschläfert durch die Inhaltslosigkeit und Endlosigkeit dieser zahllosen Meilen, die nichts voneinander unterscheidet, kam mir die unbestimmte Vorstellung von der Leere, die durch das Verschwinden der Kolonien entstehen würde, zu denen ich reiste. Ich erwachte aus meinen Träumereien, als sich das Flugzeug senkte, um uns den Blick auf Dhahran zu gewähren, mit seinen gewaltigen Raffinerien und den Hafenanlagen am Persischen Golf. Wie interessant und neu war doch dieses Dhahran, diese Stadt in Saudi-Arabien, wo alles amerikanisch ist, diese Schöpfung der Arabian American Company, der Aramco, diese gewaltige Anlage importierten Reichtums in der Wüste. Die Macht Amerikas trat deutlich in den riesigen, auf den Riffen und Sandbänken aufgebauten Hafendämmen hervor, an denen sich die zahlreichen großen Petroltanker anreihten. Wie sehr hatten die Amerikaner recht, daß sie sich nicht um Gebirgsgrenzen kümmerten und sich nicht mit solchen Fragen plagten, wie sie im Saargebiet in Gefahr stehen, den sinnlosen Anachronismus eines zweiten Elsaß-Lothringens heraufzubeschwören. Sollten denn nicht die zähen ehemaligen Besitzes-fragen in ähnlicher Weise gelöst werden können, nämlich in einem Verhältnis ebenso solider, aber viel geschmeidigerer gegenseitiger politischer Abhängigkeit?

Plötzlich sah ich alles klar. Während ich unter dem Himmel Numidiens dahinflog, schien es mir, als sähe ich vor mir den aus unserer Gymnasial-zeit wohlbekannten Masinissa, den großen Beduinenhäuptling mit Amberketten und Säbel, den Mann mit den fünfzig Söhnen, seinem stets erneuerten Harem, der es verstand, die Nomadenstämme zusammenzuhalten, die einem sonst wie Sand durch die Hände gleiten, und neben ihm Ibn Saud, den Richter nach alter Art, der den Dieben die rechte Hand abhauen läßt, wie es im Koran vorgeschrieben ist, den alten islamischen Puritaner, dem Roosevelt im Hafen von Port Said als Geschenk Parfums für seine Frauen brachte. Wie konnte ich auch nicht schon vorher an ihn denken?

Diese amerikanische Macht, der Gott in unseren Tagen das Schicksal der Welt anvertraut hat, -schafft sich vor unseren Augen ein Weltreich, ein Kolonialreich. Dieses scheinbar ganz neue Kolonialreich ist dasjenige Karthagos, und das Gold Karthagos ergießt sie noch heute über die Numidier.

Nun klärte sich auch das Rätsel Karthagos vor mir auf. Wenn die Geschichtsschreiber von Karthagos Besitzungen und Kolonien sprechen, werden ihre Ausdrücke unbestimmt. Das Handels-geheimnis scheint von den alten Seefahrern so gut gewahrt worden zu sein, daß die heutige Unwissenheit darüber entschuldbar ist. Die „Niederlassungen" Karthagos sind immer wieder auf der Suche nach einem bleibenden Platz. Sowohl ihre Namen wie auch ihre Entstehung bleiben unbestimmt. Waren sie phönizisch oder phönico-libysch, oder libyco-punisch, oder einfach pu-nisch? Sie waren wohl dies alles und weiteres da-zu. Und diese Basis von Port Royal auf Jamaica, ist sie amerikanisch oder britisch oder jamaikisch, oder americo-britisch, oder jamaica-amerikanisch? Würde man nicht vergeblich im spanischen Marokko nach den Mauern dieser oder jener ehemaligen punischen Stadt suchen, ihren Namen, ihre Stellung als Kolonie, oder gar die Rasse ihrer Bewohner bestimmen wollen? Noch schwerer wäre es, und zwar schon heute und nicht erst in zweitausend Jahren, die Rechtslage, die Grenzen, die Bevölkerung und Nationalität des amerikanischen Flugplatzes Ber Rechid in Französisch-Marokko bestimmen zu wollen.

Wichtiger als rasch verjährte Vertragstexte und Überreste alter Bauten zu studieren, ist die Wahrnehmung des Kräftespiels, welches das politische Gefüge dieser merkwürdigen Orte mit seinen wechselnden Farben beleuchtet. Ich sah ein, daß es ebenso vergeblich wäre, nachzuforschen, wie weit sich ehemals das Reich von Karthago erstreckt hat, als sich heute zu fragen, wie weit sich das amerikanische Weltreich eigentlich ausdehnt. Es hat ja gar keine Grenzen, es ist tatsächlich unbegrenzt und der Vergleich mit dem Reich von Karthago wird bei näherem Zusehen immer einleuchtender. Das Reich der Kar-thager entstand, weil es galt, die Sicherheit und Bewachung der Handelsstraße für Gold und Zinn zu gewährleisten. So auch nimmt das amerikanische Weltreich Gestalt an, weil es gilt, über das Petroleum frei verfügen zu können, dessen Handelsweg zu bewachen und dessen Transporte über die ganze Welt zu sichern Das karthagische Reich war eine Seemacht, die den Besitz der Handelsstraße über das Meer sichern mußte. Das amerikanische Reich ist eine See-und Luftmacht zur Beherrschung der Meeres-und Luftwege. Wie heute das amerikanische Reich, bstand auch das karthagische aus Macht-zonen, Handelsniederlassungen, Einflußsphären, Militärbasen und politischen Verbindungspunkten bei befreundeten und mit Geld unterstützten Völkern. Wie jedes Kolonialreich, entstanden beide Reiche, ohne daß irgend jemand dies besonders beabsichtigt hätte. Diese beiden Reiche gleichen sich schon deshalb, weil die beiden Gründernationen eine gemeinsame Eigenschaft besitzen, über welche die alten Texte über Karthago reichlich Auskunft geben, wie es die jüngsten europäischen Staatsbudgets für Amerika bezeugen.

Eine reiche, aber nicht militärfreudige Macht

INHALT DIESER BEILAGE

Geich wie heute die USA, war auch das ehemalige Karthago eine reiche, aber keineswegs militärfreudige Macht. Wir haben es schon in der Schule gelernt, daß Karthago reich und auf seinen Reichtum stolz war. Die dort herrschende Schicht nannte sich „die Reichen". Sie war also keine kriegerische Aristokratie. Ihren Reichtum verdankte sie ihrem Handel und ihrer Industrie. Damit konnte sie die Waffen herstellen, mit denen sie ihre Nachbarn und Freunde belieferte und ihre Verbündeten ausrüstete.

Von einem solchen gemeinsamen Ausgangspunkt aus mußten sich und müssen sich noch heute ganz gleichartige Folgen ergeben. Oder sollte es nur durch Zufall einen auffallenden Parallelismus zwischen dem Senat von Karthago und dem amerikanischen Kongreß geben? Karthago als Handels-und Industriestaat bestimmte seine Außenpolitik tatsächlich im Senat. Wie heute in Washington wurde die Stärkung oder Schwächung der ausländischen Beziehungen beeinflußt durch Veränderungen in der wirtschaftlichen Lage und dem Spiel der inneren Politik und Wahlkämpfen, wie man heute sagen könnte. Der Senator von Karthago, Besitzer von Werkstätten für Helme und Schilder, oder jener, dessen große Ländereien Getreide und Öl exportierten, waren sie nicht von den ungefähr gleichen Interessen bewegt wie heute der Vertreter der industriellen Wähler in Detroit oder der Farmervertreter in Wyoming? Und das Gewicht des Einflusses wechselte stets zwischen den traditionellen Vertretern der zwei Tendenzen, dem Isolationisten, dem Suffeten Hannon, und dem Interventionisten, dem Suffeten Hasdrubal, dem Vater Hannibals. Säubern wir diese alten Namen von ihrem historischen Rost, beseitigen wir all den verfälschenden Plunder, den assyrischen Bart, die Mitra, die lieblichen Wohlgerüche und Faltengcwänder der wohlgenährten Männer, dann sehen wir sofort ihre heutigen Nachfolger vor uns, diese einflußreichen Kongreßmitglieder, Demokraten und Republikaner, den fremden Sprachen abhold wie die Karthager, aber Spezialisten in irgendeiner politischen Frage, zu deren Lösung sie dank den raschen transkontinentalen Verbindungen eine sofortige und unwidersprochene Urteilsfähigkeit erlangt haben.

Wie Hannon aus Sizilien oder Hasdrubal aus Baetica, bringen sie von ihren Weltreisen neue Argumente, mit denen sie ihren schon anläßlich ihrer Wahl vertretenen und seither nie verleugneten Standpunkt bestärken.

Es ist auch kein Zufall, wenn sich die rein defensive Strategie von Karthago und den USA wie Schwestern gleichen. Es liegt eben auch das gleiche Problem vor. Eine Industriemacht muß vor allem ihren heiligen und leicht verwundbaren Herd vor einem direkten Angriff schützen.

Denn da werden ihre Waffen in einem Rhythmus geschmiedet, wie ihn kein Gegner zu erreichen hoffen darf.

Um sich zu schützen, hat Karthago Sizilien, Sardinien, die Balearen und Baetica besetzt.

Heute hält Amerika Honolulu, Okinawa, Porto Rico und errichtet ferner noch Flottenstützpunkte und Luftbasen in Afrika und Spanien — der amerikanische Kommandobereich der Nato. Es ist also die gleiche Strategie der Inseln und Halbinseln mit der Absicht, den Gegner von sich fern zu halten. Der erste Zusammenstoß soll in der Ferne geschehen. Es muß ein Expeditionskorps bereit gehalten werden, um dort den ersten Schlag zu parieren. Karthago, das in Friedenszeiten nichts von einer Armee wissen wollte, mußte seine Kraft in Söldnertruppen legen, Söldner, die schon romanisiert waren und seine Schutzwälle bildeten. Was hätten die USA in Korea gemacht, ohne ihre Seeleute und ihre Kavallerie-und Infanteriedivisionen, die sich nach und nah zu Einheiten von Berufssoldaten gewandelt haben?

Es ist diese gleiche Notwendigkeit der möglichsten Fernhaltung eines militärischen Zusammenstoßes, die aus den USA die größte Kolonial-

mäht unserer Zeit gemäht hat, gleihwie sie ehemals Karthago dazu zwang, sih zu bewaffnen und sih auszubreiten. Aber gleih wie im ehemaligen Karthago herrscht leider auh heute die gleihe Langsamkeit zum Entshluß, wenn cs gilt, die gesamte Wehrmacht des Landes zu mobilisieren. Man ist niht vorbereitet, man überläßt die Last der ersten Monate den Verbündeten, kann shließlih die Rettung bringen.

Dank seinen freigebigen Subsidien und der Respektierung ihrer inneren Autonomie konnte Karthago die Völker seines Reihes, seine Verbündeten und deren Armeeen im Zaum halten.

Tatsählih wurden die Völker, die von Karthagos Reihtum lebten, in ihrem Eigenleben kaum gestört. Wenn wir uns die Beziehungen vorstellen wollen, die Karthago in der Anfangszeit seiner Expansion mit den Nahbarvölkern unterhielt, müssen wir nur auf die den USA benachbarten amerikanischen Völker blicken. Man weiß wohl, daß die Souveränität dieser Nationen voll und ganz, ja peinlih gewahrt ist. Aber wie steht es denn tatsählih, und niht bloß in Worten, mit der wirklichen Unabhängigkeit von Cuba, Nicaragua, Mexiko, Guatemala? Wir lassen die Wunde Porto Rico unerwähnt. Wie könnten diese Völker heute einen Entsheid treffen, ohne das Gewih einer zwar demokratischen, aber immerhin shweren Hand auf sih zu spüren?

Oder wie könnten sie wirklih eine solhe Entfremdung niht nur mit den Lippen, sondern von Herzen wünschen wollen?

Die Schwäche Karthagos

Wenn Karthago achthundert Jahre lang ein gefahrvolles Leben hat führen können, dann deshalb, weil zwischen ihm und seinen Klienten die Beziehungen so innig verflochten waren, die gegenseitigen Interessen ein solch engmaschiges Gewebe bildeten, daß jedem eine andere Lebens-art undenkbar vorkam. Alle diese Völker spürten, daß sie ohne Karthago hilflos und verwaist wären. In seiner Geschichte von Nordafrika drückt dies Gsell in ausgezeichneter und heute geradezu auffallend klingender Weise aus: „Um seine Verbündeten und unterworfenen Völker an sich zu ketten, rechnete Karthago mit den Bindungen, welche die Verwandtschaft des Blutes, der Sprache, der Sitten und des Glaubens bot. Ja, es rechnete auch mit deren Schwäche, weil diese Völker ohne Hilfe niht lange gegen ihre Feinde zu See und zu Land hätten Widerstand leisten können" *). Für diese kleineren Staaten bildete das Bündnis mit Karthago niht nur einen Schutz gegen die Vernihtung, sondern auh eine wohltätige Hilfe im täglihen Leben.

In Friedenszeiten bedeutete es für ihre Fürsten eine große Beruhigung, zu wissen, daß sih ihre Kassen füllten und ihre Shulden bezahlt wurden, ihre arbeitslosen Menshenreserven Platz und Unterhalt in den Armeen der Hauptstadt oder ihrer Verbündeten Fanden. Karthago gab ihrem hungernden Proletariat Brot und Spiele und siherte ihm den sozialen Frieden, der den Be-sitzenden wertvoll und den Staaten unentbehrlich war.

Bei dieser Betrachtung der gegenseitigen Beziehungen der Völker handelt es sich hier natürlich nicht darum, zu untersuchen, wie weit es sich um wohlwollende Absichten handelte oder um die Notwendigkeit, zu produzieren oder zu leben, um den Willen zur Verteidigung und zum Sieg, um Ehrlichkeit oder Heuchelei in der Politik. Aber die Geschichte lehrt uns, daß Karthago während sehr langer Zeit von seinen Numidiern, Iberiern und Galliern heldenhaft verteidigt wurde. Es hatte dies also wohl verdient. Heute hat Karthago einen schlechten Ruf, weil es schließlich besiegt wurde, und weil man damals wie heute die am Kriege Schuldigen nur bei den Führern findet, die das Unglück hatten, den Krieg zu verlieren.

Karthago ist also doch verschwunden, trotz seiner Stärke, seinem Reichtum und seiner Weisheit, und zwar besiegt von einem ärmeren und weniger zivilisierten Staat, der aber eine ganz andere politische Struktur aufwies. Gegenüber der römischen Macht, mit ihrer soliden landwirtschaftlichen Grundlage, ihrem einmütigen, nur auf das Staatswohl bedachten Streben, die nie vor der Anordnung des Militärdienstes, noch vor einer Zwangsorganisation seiner Untergebenen zurückschreckte, gegenüber diesem armen römischen Reiche, worin bestand denn im Augenblick des entbrannten Kampfes die Schwäche Karthagos? Gsell sagt uns dies in wenigen Worten: „Karthago wünschte stets, sich die Mühen einer komplizierten Verwaltungsarbeit zu ersparen. Die Karthager besaßen weder die Kunst noch den Wunsch, Vertrauen und Liebe zu erwecken.“ Und er faßt alles in dem oft wiederkehrenden Gedanken zusammen: „Karthago hat zwar ein Reich besessen, aber es hat es nicht organisiert.

Es blieb diesen Völkern, die ganz anders geartet waren, stets fremd, sie liebten es nie und es hat nie versucht, ihre Liebe zu erwerben.“

Als auf den Fronten von Sizilien und Spanien der Kampf um den Einfluß begann, der entweder zum Krieg oder zum Frieden führen konnte, gleich wie er heute auf den Fronten Europas und Asiens begonnen hat, handelte es sich für Karthago darum, dem Schwergewicht der Land-und Seemacht Roms das geschmeidigere Spiel seiner Verbündeten, seiner Kolonien und Kunden entgegenzustellen. Karthago hätte nicht in diesem Moment die Lasten seiner Verbündeten vermehren sollen, wie dies tatsächlich geschah, noch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vergrößern — gerade wie es auch heute für Amerika nicht der Zeitpunkt ist, seine doktrinäre Stellung zu versteifen. Wenn es um Leben oder Tod geht, muß den noch ein wenig soliden Bündnissen, den schlecht zusammengefügten Völkergruppen eine gemeinsame Seele gegeben werden, und zu diesem Zweck müssen die Interessen aller zusammengebündelt werden, ohne der abfallenden Spreu zu achten.

Karthago ist gefallen, weil es sich in unbedachter Weise, wenn auch zu deren Wohl, immer wieder in die inneren Streitigkeiten der mauretanischen Könige und der iberischen Häuptlinge eingemischt hat. Dadurch zerstörte es ihren Glauben an eine Weiterexistenz ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Es hat ihnen die Freude am Leben genommen. Karthago ging unter, weil diese Völker plötzlich begriffen hatten, daß der Sieg, um dessentwillen auch sie selber vielleicht sterben sollten, nicht jener gemeinsame Sieg war, der aus der begeisterten Kraftentfaltung aller erblühen muß, sondern der Sieg Karthagos und seiner eigenen Ideale. Deshalb haben sie nicht weiter gekämpft.

Nicht nur ein Spiel mit Worten

Diese vielfachen Vergleiche sind nicht nur ein Spiel mit Worten. Wir spüren es deutlich. Diese Analogien zwischen den beiden Reichen sind für uns nicht ein bloßer Zeitvertreib wie interessante archäologische Spekulationen oder das Suchen nach einer Lösung eines historischen Rätsels. Ihre tragische Aktualität trifft uns vielmehr in unserem Innersten. Sollte uns Europäer, die wir die Brückenköpfe der gleichen Kultur verteidigen wie Amerika und mit unserem ganzen Wesen an seiner Seite stehen, nicht dieses antike Beispiel packen, das uns die Widersprüche unserer Epoche in so lebendiger Weise zeigt und uns erlaubt, das Drama besser zu verstehen, das wir gemeinsam mit Amerika erleben?

Die asiatische Politik der USA erhellt sich im Lichte dieses Vergleiches. Tatsächlich ist dort drüben Amerika genötigt, zwischen einem heute längst überlebten Antikolonialismus und dem Gewinn des Krieges zu wählen. Bis heute hat es in Asien gegen die westlichen Nationen, seine Verbündeten, das widerspruchsvolle Spiel des Antikolonialismus gespielt. Das Ergebnis ist sichtbar und kein glückliches. Amerika hat den Japanern Formosa, Korea und die Brückenköpfe in China weggenommen. Es trägt nun das Erbe der gesamten Lasten, die vorher Japan trug und ihm nun überlassen hat, während es abseits stehen muß. Amerika weiß also, was dies gekostet hat und noch kosten wird. Man reißt die vorhandenen Überreste ehemaliger Reiche nieder, man zersetzt noch völlig die Reste französischen und britischen Einflusses in Asien, man zwingt diese Mächte, die Gebiete zu räumen, in denen sie bisher als Schutzwall gegen den gemeinsamen Feind gedient hatten, man überläßt die Sorge für die eigene Verteidigung den neugeborenen Völkern, die noch stammelnd ihre Politik besprechen und ihre ersten militärischen Befehle erteilen, man glaubt an die Macht der Worte — und wir sehen jetzt, wohin das alles die Amerikaner und uns selber führt! Das Verschwinden des holländischen Kolonialreiches, von den Amerikanern mit Freudenrufen begrüßt, hat die lange Front gebrochen, welche die Philippinen mit Australien verbunden hatte. Indonesien, machtlos und verwirrt, eine enttäuschte Hoffnung, zeigt, was man von diesen jungen kolonialen Demokratien zu erwarten hat. Das Glück dieser Demokratien und die Dankbarkeit, die sie ihrem Befreier Amerika entgegenbringen sollten, blieben sentimentale Träume Roosevelts. Der Untergang des französischen Kolonialreiches in Indochina war von Amerika gewollt und führte zu den allbekannten Katastrophen. Er hinterläßt in aller Herzen ein Mißbehagen, und dieses Mißbehagen wächst, wenn ein Amerikaner uns etwas darüber sagt. Gewiß, der Amerikaner hat den Antikolonialismus schon auf der Schulbank ein-gesogen und konnte dies straflos tun, weil seine Väter ihm ein Gebiet vererbt hatten, das durch völlige Eroberung von allen politischen Einmischungen befreit war. Trotzdem sollte er endlich einsehen, daß gerade er das größte Kolonial-reich der Welt dirigiert und es nicht ratsam ist, den Ast abzusägen, auf dem er neben uns sitzt.

Wenn die Amerikaner zu den Briten, Japanern, Holländern oder Franzosen sprechen, oder zu anderen Völkern, die sie mit ihrem Geld beschenken, dann können sie unmöglich in deren offenen Augen die erwartete vertrauensvolle und völlige Zustimmung lesen. Amerika hat verlangt, daß die alten Kolonialmächte ihre Kolonien und'Protektorate räumen; aber es ist die bedeutendste Kolonialmacht der Gegenwart geworden. Denn wie anders kann man Formosa oder Südkorea ansprechen denn als Protektorate, da sie ja nur dank dem Schutze der USA leben können? Wie soll man Porto-Rico nennen, wenn nicht eine Kolonie? Welchen Namen kann man diesen militärischen Stützpunkten geben, welche sich über die europäischen Kolonien verteilen? Worin soll der Unterschied bestehen zwischen dem Verhalten der Aramco in Saudi-Arabien oder in den Emiraten des Persischen Golfes, und der Aktion der englischen Handelsgesellschaft in Indien, welche während eines Jahrhunderts Indien durch seine Rajahs für Großbritannien beherrschte? Heißt denn das nicht Kolonialpolitik, ja sogar Kolonialismus treiben, wenn man tatsächlich den Vertreter Frankreichs in Süd-Vietnam durch einen amerikanischen General ersetzt, sich in die inneren Angelegenheiten dieses Landes einmischt, ihm als Minister einen eingeborenen Politiker aufdrängt, auch wenn dieser Politiker für seine beispielhafte Rechtschaffenheit bekannt ist, sowie für seine guten Beziehungen zu den USA, seinen Franzosenhaß und seine Ungeschicklichkeit? Amerika möge also den Franzosen keinen Vorwurf dafür machen, daß sie nicht mehr in Indochina zu kämpfen wünschen; es soll begreifen, daß die Abenddämmerung der weißen Rasse im Fernen Osten für sie wie für die Holländer einen bitteren Nachgeschmack hinterläßt. Amerika vergißt zu sehr, daß der amerikanische Soldat ohne Zweifel den verschwundenen abendländischen Polizisten wird ersetzen müssen und die Leiber seiner Soldaten bald in gemeinsamen Gräbern neben der Asche verbündeter Kolonialsoldaten liegen werden.

Auch Amerika muß heute wählen

Wir wollen uns daran erinnern, daß Karthago untergegangen ist, weil es unrichtig gewählt hat. Wenn Hannibal Rom hat schlagen und beinahe erobern können, so hatte er dies nicht den Äthiopiern mit ihren Federbüschen, noch den Numidiern mit ihren Ohrgehängen von Gold und Türkisen zu danken, sondern er hatte seine alten Phalangen, gebildet aus Griechen, Iberern, Galliern und Italiern, um sie zum Siege zu führen. Auch Amerika muß heute wählen. Es wird ihm nichts nützen, sich Völker zuzugesellen, die Gott sei Dank noch unfähig sind zu kriegerischem Handwerk, phantastische Armeen zu er-finden und an militärische Träume des Pentagons zu glauben. Die militärische Tüchtigkeit der aufgestellten Divisionen ist viel wichtiger als ihre zahlenmäßige Stärke. Man kann die moralischen Qualitäten des Soldaten nicht materiell abschätzen.

Trotz allem sind die Kolonialprobleme heute für Amerika und Europa die gleichen. Die europäische Auffassung von der Würde des Menschen und folglich auch die heutigen Ansichten über das Kolonialproblem sind im Wesen und Ergebnis der amerikanischen Konzeption sehr nahe. Wenn man sich nur etwas bemüht, sich von dem alten Mißtrauen und der alten Eitelkeit zu befreien, wächst das gegenseitige Verständnis rasch. Man muß falsche Probleme und tote Legenden ausmerzen. Ob Amerikaner oder Europäer, wir müssen schwere und wichtige Probleme gemeinsam lösen. Nur wenn wir uns beide zusammen nach der Lösung dieser eigentlichen lebendigen Probleme auf den Weg machen, werden wir uns im gegenseitigen Vertrauen an vollbrachten Taten erfreuen. Die Zukunft ist immer schöner als man sie sich vorstellt.

Fussnoten

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