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Präsident der ersten deutschen Nationalversammlung Heinrich von Gagern | APuZ 16/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1956 Thomas Mann und das Dritte Reich Was sagen wir den jungen Kommunisten am TageX? Präsident der ersten deutschen Nationalversammlung Heinrich von Gagern

Präsident der ersten deutschen Nationalversammlung Heinrich von Gagern

PAUL WENTZCKE

Die vorliegende Skizze des Parlamentariers Heinrich von Gagern beruht auf seinem politischen Nachlaß und auf zahlreichen weiteren, bisher kaum verwerteten Quellen aus Privatbesitz sowie auf den Beständen des Bundesarchivs, dessen Zweigstelle Frankfurt die Zeit des Deutschen Bundes (1815— 1866) in den Mittelpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit stellt. Für die Frühzeit bereitet Wolfgang Klötzer in Gemeinschaft mit dem Verfasser unter dem Stichwort „Deutscher Liberalismus im Vormärz" eine Auswahl vor, eine zeitlich gleichlaufende biographische Veröffentlichung wird in einer neuen Publikationsreihe „Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung" (Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg) erscheinen.

Anfänge und Auftrieb

„Bewundert viel, und viel gescholten," so hat die Überlieferung des 19. und 20. Jahrhunderts in mehrfacher Wandlung Heinrich Freiherrn von Gagern, den Präsidenten des ersten gesamtdeutschen Parlaments, gezeichnet: Für die Zeitgenossen des „Vormärz" war er der führende „Liberale“ der engeren Heimat, des Großherzogtums Hessen-Darmstadt; in der Chronik der 1848/1849 unvollendet gebliebenen Revolution gab er mit seinen Leitsätzen vom „engeren und weiteren Bund", die Österreich an die europäische Mitte binden sollten, der Frankfurter Pauls-kirche ein neues Programm; den Nachfahren endlich, die sich für eine preußisch-deutsche Lösung der Einheitsfrage einsetzten, schien er dem Grundproblem eines solchen Strebens abtrünnig zu werden. Erst jetzt, da seit wenigen Jahren ein reicher Nachlaß der Forschung erschlossen ist, läßt sich in voller Deutlichkeit verfolgen, wie allen zeitbedingten Widersprüchen zum Trotz e i n Gedanke mehr als fünfzig Jahre hindurch das Wirken einer der volkstümlichsten Persönlichkeiten dieser Zeit durchzieht: Die Forderung einer Volksvertretung als Bürgschaft für das Gelingen des Werkes, der Nation einen gemeinsamen Staat zu geben. Da die Auswahl wichtiger Zeugnisse langsam fortschreitet, ein ausführliches Lebensbild nach sachkundigem Urteil der nötigen Teilnahme nicht sicher ist, sei an dieser Stelle eines Mannes gedacht, der in seinem Eintreten für Freiheit in Einheit die Anfänge des deutschen Parlamentarismus wesentlich bestimmt hat.

Herkunft und erste Einflüsse Für das Leben des Vaters, des Reichsfreiherrn Hans Christoph von Gagern, der „Lebenskräfte abendländischer Geistesgeschichte" in das neue Jahrhundert der Revolutionen rettete, dürfen wir aus der Feder des Darmstädter Historikers Helmuth Rößler eine ausführliche Würdigung erwarten. Des Vaters Einfluß vor allem hat die drei „politischen“ Söhne, den Offizier Fritz, Heinrich und Max begleitet. In einer Voraussetzung, in der Achtung und Anerkennung des alten Reichsgedankens, fühlten sich alle vier Träger des Namens verbunden. In seinem Bann waren die Vorfahren von der (schwedischen) Insel Rügen, wie Hans Christophs „Nationalgeschichte der Deutschen“ stolz berichtet, Kriegsdienst und Ehre suchend an den Rhein gekommen; als Offiziere und Hofleute der Wittelsbacher wurden sie in den Zeiten der Aufklärung am linken Ufer des Stromes seßhaft. Daß noch der Großvater der vielgenannten Brüder im französischen Heer sein Glück suchte, tat der Treue zu Kaiser und Reich keinen Abbruch. Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als Persönlichkeit und Ruf Friedrichs des Großen ein neues Nationalgefühl weckten, erschien eine solche Freizügigkeit nicht mehr vertretbar. Lediglich seine erste Ausbildung erhielt der Sohn, eben Hans Christoph, im elsässischen Colmar in der internationalen Militärschule des Fabeldichters Pfeffel; den letzten Schliff gab der Reichshofrat in Wien. Dann aber führten reiche Kenntnisse, gute Beziehungen und gewandte Umgangsformen den knapp Dreißigjährigen in dem auf beiden Rheinufern verankerten Fürstentum Nassau-Weilburg zu hohen Ehren. Als wenig später in Frankreich die große Wende ein-trat, die Revolutionsheere die linksrheinischen Landschaften überrannten, forderte der Minister als „deutscher Edelmann“ seine Landsleute, die Fürsten der Macht und des Geistes, auf, zwischen den kämpfenden Großstaaten einen Nationalverein, einen „Tugendbund“ zu begründen. Da auch das Lahntal und damit die Ruhe der in Weilburg heimischen Familie bedroht blieb, flüchtet Hans Christoph die am Niederrhein ausgewachsene Lebensgefährtin, die aus katholischem Geschlecht ein neues Element in das rein protestantische Haus gebracht hatte, mit den ältesten Kindern nach Bayreuth. Hier, wo seit kurzem preussische Verwaltung das Erbe der fränkischen Markgrafen übernommen hatte, wurde am 20. August 1799 als dritter Sohn Heinrich in der Eremitage geboren, die am Ende des letzten Weltkrieges der Zerstörung anheim-fallen sollte. Symbolhaft stehen die Anfänge des neuen Sprößlings zwischen Krieg und Frieden, zwischen dem Reich und dessen stärkstem Gegenspieler, dem Königtum der Hohenzollern. Unter den gleichen Zeichen führten ihn die nächsten Jahre zur ersten Bewährung.

Während sich der Vater um eine Verbindung der deutschen Ost-mächte gegen die Vorherrschaft Napoleons bemühte und damit freundschaftliche Beziehungen zu Erzherzog Johann, dem Reichsverweser der deutschen Revolution, knüpfte, teilte er die drei heranwachsenden Söhne der von ihm erhofften Zukunft zu. Der 1794 auf dem Schloß in Weil-burg geborene Fritz trat nach kurzen Studien in Göttingen in das Heer des nunmehr auf Österreich beschränkten Kaisers; die beiden nächsten Brüder sahen sich der Münchener Militärschule zugewiesen. Beim ersten Friedensschluß mit Frankreich (1814) blieb der im politischen Leben unbedeutende Karl in Bayern; Heinrich dagegen sollte sich in der nassauischen Heimat auf den Verwaltungsdienst oder die diplomatische Laufbahn vorbereiten. Hans Christophs eigene Pläne gingen bei der Neuordnung Mitteleuropas weiter. Die ernste Absicht, den oranischen Zweig seines Fürstenhauses neben den nördlichen und südlichen Niederlanden (dem späteren Belgien) durch Zuteilung weiterer Reichsgebiete enger an einen künftigen gesamtdeutschen Staatenverband zu fesseln, sollte diesem Würde und Ansehen der abendländischen Vormacht zurückgeben; der Übertritt des ältesten Sohnes in den Dienst des neuen Königreichs erschien ihm für diese Aufgabe ein persönliches Opfer und eine sachliche Bürgschaft. Als daher die Rückkehr des Korsen aus Elba (1815) Europa aufs neue zu den Waffen rief, fanden sich die Brüder Heinrich und Fritz bei Waterloo und Belle-Alliance auf dem gleichen Schlachtfeld: der eine im niederländischen Heer, der jüngere als Unter-leutnant unter den vom Herzog von Nassau ins Feld gesandten Freiwilligen. Ein ausführlicher Bericht über diese Vorgänge ist zum ersten persönlichen Zeugnis des künftigen Parteiführers geworden. Die Jahre der Kindheit waren vorüber. Anregungen, die der Student der Rechte in den Jahren 1815 bis 1819 in Heidelberg, Göttingen und Jena empfing, haben in einer zweiten Epoche seinen Lebensgang aufs tiefste bestimmt. Für ihn wie für zahlreiche Altersgenossen, die sich in Verwaltung, Wirt-schen Parteien gelten, ist die Burschenschaft zur wahren Schule politischen Denkens geworden.

Schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Studentenschaft, die sich ihrer geistig und in Gliederung aus dem Zwang landsmannschaftlicher Zersplitterung löste, hatten diese erste deutsche Jugendbewegung vorbereitet. Nach dem von Jena aus angeregten (18. Wartburgfest Oktober 1817) legten Professoren und Studenten der thüringischen Hochschule in „Grundsätzen und Beschlüssen" ein eindruckvolles Programm für die innenpolitische Entwicklung künftiger Jahrzehnte fest. Die Einheit Deutschlands steht voran: konstitutionelle Monarchie, Ministerverantwortlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, öffentliches Gerichtsverfahren und Geschworenengerichte, ein deutsches Gesetzbuch, Sicherheit der Person und des Eigentums, Abschaffung der Geburtsvorrechte und der Leibeigenschaft sowie nicht zuletzt Rede-und Pressefreiheit sollten die staatsbürgerliche Freiheit wahren. Zum ersten Male in der deutschen Geschichte wurden Grundrechte formuliert, die langsam und stetig aus dem bislang abgeschlossenen Stand der Akademiker an Boden gewinnen, dreißig Jahre später Mitteleuropa zur Umbildung des absolutistischen Staates aufrufen sollten. Daß bald danach wiederum in Jena Vertreter nahezu aller deutschen Hochschulen (mit Ausnahme der österreichischen Kronländer) in dem von ihnen begründeten Allgemeinen Verband ein „Bild ihres in Freiheit und Einheit erblühenden Volkes“ verzeichneten und die „Ausbildung einer jeden geistigen und leiblichen Kraft für das gemeinsame Vaterland“ forderten, gab solchem Bekenntnis eine erstaunliche Wirkung. Als Sprecher der eigenen Jenaer Burschenschaft trat Heinrich von Gagern zum ersten Male vor eine größere Gemeinschaft. Männer wie der radikale Karl Follen, dessen Vorbild und Lehre inden Werken eines Georg Bühner einen dramatischen Ausklang erhielten, Heinrich Leo, der Vorkämpfer einer künftigen konservativen Richtung, der Kunsthistoriker Einst Förster und Jens Uwe Lornsen, der seine schleswigschen Landsleute zu engstem Anschluß an das übrige Deutschland aufrüttelte, werden als die nächsten Freunde des hohgewachsenen, redebegabten Jünglings genannt. Aus dem Gegeneinander von Republik und Monarhie entwickelte sih für ihn in den leidenschaftlichen Gesprächen eines „engeren Vereins" das Idealbild der repräsentativen Monarhie. Auf seine Empfehlung hin sind, soviel wir wissen, wesentlihe Bestimmungen in die neue „Verfassungsurkunde“ der grösseren studentischen Vereinigung eingefügt worden.

Den Rückschlag, der diese fruhtbare Entwicklungsreihe als eine revolutionäre, „jakobinische" Bedrohung der souveränen deutschen Einzel-regierungen und des von den Großmächten Europas geshützten Deutshen Bundes jäh unterbrah, hat Heinrih erst in Genf erlebt, wo er auf Drängen des Vaters seine juristishe und gesellschaftliche Ausbildung abshloß. Das Ergebnis ist deutlich: Weit stärker als die alte, vom Vater übermittelte Tradition der Reihsrittershaft, der auh der Freiherr vom Stein und dessen Gegenspieler, der österreihishe Staatskanzler Metternih, verpflichtet waren, haben neben dem ständigen Zuspruh des ältesten Bruders die in Jena empfangenen Anregungen den politischen Werdegang Heinrihs beeinflußt. Mit einem reihen Schatz von Erinnerungen, auf die sih der „Waterloo-Mann“ und der Burshenshafter immer wieder berufen hat, trat er in ein tätiges Leben.

Politishe Anfänge Kurz zuvor hatte sih der Vater nah eifriger Mitarbeit am Bundestag, der höchsten Behörde des neuen Staatenvereins, aus dem Dienst des Hauses Nassau zurückgezogen, in Hornau (Kelkheim), unweit der Freien Stadt Frankfurt, einen Ruhesitz gefunden. Den Sohn im nahen Wiesbaden unterzubringen, verboten Unstimmigkeiten mit dem neuen Ministerium, verstärkt durh die „Karlsbader Beschlüsse" (1819), die die Burshenshaft verfehmten, ihre Führer vom Staatsdienst ausshlossen. Niht hier, sondern im Großherzogtum Hessen, das sih 1816 mit den im Wiener Kongreß übereigneten linksrheinishen Gebieten die alten Güter der Familie Gagern einverleibt hatte und Hans Christoph als Standesherm dem neugeshaffenen Landtag zuwies, hat Heinrih eine ihm durh Geburt und Wissen zustehende Laufbahn begonnen. In ihr gehört er seitdem der Landesgeshihte Hessen-Darmstadts an. Im Werden und Wahsen einer ganz Deutschland umfassenden Staats-auffassung dagegen setzte der ständige Umgang mit alten und neuen Freunden die an der Universität vorbereitete Aussprahe fort. Radikale Gedankengänge, wie sie in dem sozial und politish ungefestigten Mittel-staatvon dem wilden Shößling der Burshenshaft, den Gießener „Schwarzen", vertreten wurden, lehnte der Edelmann, wie er selbst gesteht, in einer bewußt „aristokratischen" Haltung ab. Wie in den anderen südwestdeutschen Ständeversammlungen, in Nassau und Kur-hessen, in der benahbarten Rheinpfalz, in Baden und Württemberg rückte die Ausbildung einer konstitutionellen Monarhie in den Vordergrund. Niht allein in Bayern, wo sih der fränkishe und shwäbishe Hohadel ein Sonderreht wahrte, auh am Main und Rhein übernahmen — niht anders wie in den unvergessenen Anfängen der großen französishen Revolution — Mitglieder der bisher „privilegierten“ Gesellschaftsshiht die Führung; von den gefeierten „Freiheitshelden", dem Freiburger Karl von Rotteck und Adam von Itzstein, dessen hundertsten Todestag der Rheingau jüngst festlih beging, geht die Reihe bis zu dem konservativen Freundeskreis, den Hans Christoph von Gagern gegen den allzu „reaktionären“ Bundestag zusammengeshlossen hatte. Mitbestimmung der nah ihrer Ansiht politish reifen Kreise von Besitz und Bildung war vorerst im kleineren Raum die wortreih ausgesprohene Forderung dieser älteren Generation. Dem jüngeren, im Befreiungskampf von 1813/1815 bewährten, in der Burshenshaft zusammengefaßten Nahwuhs stand die Einheit zum mindesten auf gleiher Stufe, um bald ihrerseits den Vorrang in Anspruh zu nehmen.

Der älteste Bruder, der nun von außen her, aus dem niederländishen Dienst, mit brennendem Herzen solhe Vorgänge beobahtete, für kurze Frist Gelegenheit hatte, persönlih Einblick in die Tätigkeit des Frankfurter Bundestages zu nehmen, entwickelte Heinrih von Gagern weitere Aussihten: Als 1823 Preußen in den Augen der früheren Rheinbundstaaten mit der Einrihtung von Provinzialständen ebenfalls einen zaghaften Shritt auf der neuen Bahn wagte, bot seine Denkshrift „von der Notwendigkeit und den Mitteln, die politische Einheit Deutschlands herzustellen", die Grundlage. In der Einkleidung eines literarishen Zwiegesprähs, die bald danah der Shwabe Paul Pfizer in seinem viel-beachteten „Briefwehsei zweier Deutschen" aufnahm, stellte Fritz die Anshauungen der „Servilen", der Anhänger eines „Systems“ der Beharrung, und der bereits zu einer „Partei“ zusammenwahsenden liberalen Bewegung zum Vergleih. Der feierlihe Schluß, mit dem er eine „Umschau über den gegenwärtigen Zustand Deutshlands und Europas“ abrundete, galt dem Bruder Heinrih persönlih: „Endlih sehe ich ein jüngeres Geschieht, unähnlih dem alten, mit anderen Ideen erfüllt, voll warmer Vaterlandsliebe, im Kampfe gestählt und bewährt, ein Geshleht, das seinen Nacken dem Joh nicht beugt und ungeduldig auf seine Zeit und seine Stelle wartet." Hatte bereits in Jena der vom Vater überkommene Reichsgedanke einen wesentlih gewandelten Inhalt erhalten — der neue Anruf festigte den Entschluß zur Tat.

Für uns, die wir diese Wendung Shritt für Shritt verfolgen, zeigen seitdem Heinrichs amtliche Gutahten einen starken Gegensatz zu der herrshenden Bürokratie sowie zu den Leitsätzen eines Staates, der sih höhst ungern aus dem Bann des aufgeklärten Absolutismus löste. Eine eigene Shrift über das Reht der Stände auf regelmäßige Behandlung aller Finanzfragen gab ihm 1827 in aller Offenheit Ausdruck. Der feierlihe Satz: „Es liegt in der Natur der Kräfte, daß sie geübt werden, in der Natur der Gewalt, daß sie sih ausdehnt“, verteidigte das „Verwillungsrecht" der Volksvertretung gegen alle Versuhe, es durh den Einbau längerer „Finanzperioden" zu shmälern. Mit großen Bedenken sah der Vater, daß „bei Freund Heinrih das übervolle Häfhen überläuft“. Das stolze Bekenntnis des Sohnes, daß er in einem „lumpigen Avancement“ keine Befriedigung finde, shien ihm reht zu geben. Von innen heraus, shrieb dieser, dränge es ihn „in der Periode der fortshreitenden Entwicklung Deutshlands" zu einer ehrenvollen und hervorragenden Rolle: „Vom Dienst, von der Administration weiß ich genug, um unseren Staat ohne große Nahhilfe regieren zu können". Ein selbstbewußter Wille klingt auf, wie wir ihn in dieser Rihtung bei keinem der übrigen Führer der Opposition finden. Im Gegensatz zu dem preußishen Junker Otto von Bismarck, der ein halbes Menshenalter später im gleihen Lebensalter der landläufigen „Ohsentour" entsagte, strebte Heinrih von Gagern „eine ständische Karriere“ an. Da in den „konstitutionellen" Mittelstaaten für das passive Wahlreht ein größerer Grundbesitz oder eine entsprehende Steuerquote Voraussetzung war, bat er, ihm das rheinhessishe Familiengut Monsheim zu überschreiben: Es würde dann nur von Umständen, Klugheit und Berehnung abhängen, „entweder mit dem Ministerium einen ehren-vollen Frieden zu schließen oder diesem gradezu den Krieg zu erklären und mit starken Waffen zu führen ... In Europa, in Deutschland mögen sich die Dinge gestalten, wie sie wollen, so bleibt für Deutschland eine höhere politische Bildung immer Grundbedürfnis.“

Volksvertretung das leitende Motiv Scharf war das Ziel umschrieben, über das Paria m. e n t wenigstens vorläufig die Leitung eines kleineren Bundesstaats zu erreichen. Mit Milde freilich und mit ruhigem Verstand, wie sie Hans Christophs eigene Reden in der Darmstädter Kammer ausgezeichnet hatten, ließ sich nach Heinrichs Überzeugung „die deutsche Philisterei, dieser Hemmschuh unseres politischen Fortschritts, nicht aus ihrer Dämmerung wekken, sondern nur durch geistiges Rütteln und energische Stöße“. Man müsse versuchen, „ob das ständische Prinzip den Einfluß in Deutschland ausüben kann, dem ihm gebührt“. Während man in Darmstadt bemüht ist, diese Wirksamkeit einzudämmen, werde es sich darum handeln, „ständische Grundsätze und ständische Würde bei jeder Frage zu verteidigen“. „Auf diesem Wege mich geltend zu machen“, stimmt der groß-herzogliche „Staatsdiener“ dem vormaligen Reichsritter zu, „ist meine aristokratische Aufgabe“. Zugleich aber bedeutete dem Sprecher einer jüngeren Generation die Reform der einzelstaatlichen Verfassung lediglich eine Etappe auf dem wichtigeren Weg, neben der Freiheit die Einheit ganz Deutschlands zu erreichen. — Vorerst gelang es dem Vater, den Sohn von voreiligen Schritten abzubringen. Seine Beförderung zum Regierungsrat stillte den amtlichen Ehrgeiz, seine Vermählung fesselte ihn persönlich an die Residenz und an den Hof des Kleinstaates. Für längere Frist ließ sich der bohrende Drang nach politischer Betätigung nicht bannen; der frühe Tod der Gattin löste das kaum geknüpfte Band. In Darmstadt vertiefte ein Regierungswechsel die Gegensätze; die Weltlage mehrte die Spannung.

Seitdem Hochsommer 18 30 schlug die französische Julirevolution ihre Wellen tief nach Deutschland hinein. Mit der Loslösung Belgiens aus den Niederlanden zerbrach Hans Christophs eigenes Lieblingswerk. Der Bundestag versagte dem angegriffenen Bundesglied jede Hilfe. Neben dem Lieblingsbruder Fritz stand der jüngere Max (geb. 1810) im offenen Kampf gegen den Bruch des fünfzehn Jahre zuvor in Wien verbrieften Rechts. Während sich die Unruhe bei den norddeutschen Mittelstaaten gewaltsam Bahn brach, bewährte sich die Aussprache in den südwest-deutschen Ständeversammlungen als wichtiges Ventil. Hier, heißt es in einem Schreiben, das Heinrich ins Brabanter Feldlager sandte, „lerne man nunmehr die Rollen: die Partei, die etwas Vernünftiges will, wird täglich stärker. Das große Prinzip der Einheit wird ernstlich zur Sprache kommen, ernstlicher als je, und es wird Raum gewinnen.“ Ein weiterer Satz, daß ein tüchtiger Schnitter reiche Saat finde, spricht Preußen an. Aber — „Preußen wird über Deutschland nicht herrschen, wenn es nicht Pfand und Bürgschaft gibt.“ Klar und deutlich ist das Problem Preußen-Deutschland angeschlagen, das Friedrich Meinecke vor bald fünfzig Jahren in seiner geschichtlichen Schwere umriß. Hatte Fritz von Gagern in der Erwartung, daß Preußens „Reichsstände“ wie ein Magnet die bereits konstitutionell verpflichteten Bundesglieder anziehen würden, eine engere Verbindung der liberalen Parteigruppen gefordert, so nahm Heinrich diese Anregung mit anderen Vorzeichen auf: „Deutschland wird erst aus einer nationalen Repräsentation in seiner Größe hervorgehen, dadurch erst wird es zur einigen Nation.“ Vorläufig jedoch, fügte er hinzu, ist an die Erfüllung nicht zu denken. Preußen hat seine Stunde nicht erkannt. Umso stärker muß die öffentliche Meinung bearbeitet werden, daß wir „durch Abänderung der Bundesverfassung neue Garantien für den Schutz und die Stärke Deutschlands erhalten, durch einen Verzicht der kleineren Staaten auf das Recht des Krieges und Friedens und der Bündnisse sowie in einer Übertragung dieser Rechte alternierend an Preußen und Österreich".

Weit über die kommende Revolution hinaus werden damit die Möglichkeiten umrissen, die dem künftigen Parteiführer und Staatsmann maßgebend blieben. Falls und solange Preußen willens war, die konstitutionellen Forderungen nach einer Mitbestimmung der bürgerlichen Kreise zu erfüllen, sollte i h m allein die Führung zufallen: Versagte diese Voraussetzung, konnte ein Dualismus die Sicherheit des Bundesgebietes und eine straffere Zusammenfassung seiner Kräfte verbürgen. Bei jedem Wechsel aber, den die außen-und innenpolitische Konstellation im Herzstück Europas erzwang, hatte das Parlament den Ausschlag zu geben, eine Volksvertretung, in der Heinrich ganz persönlich seiner „Partei" und damit sich selbst die leitende Rolle zu-wies. Dann erst fand die „ständische Laufbahn", die er dem Vater in der engeren Heimat als Nahziel vorgezeichnet hatte, Fortsetzung und Erfüllung auf einer Kampfbahn, deren Grenzen noch gar nicht abgesteckt waren. Die parlamentarische Führung für ganz Deutschland ward ihm Lebenszweck und Inhalt.

Vorerst kam nur im engsten Kreis der damit angedeutete Konflikt zum Ausbruch. Vergeblich warb, wie Hans Christoph nicht ohne Stolz berichtete, das Ministerium um den unbotmäßigen Regierungsrat. Neue Zwischenfälle bezeugten die Unvereinbarkeit politischer Überzeugung und amtlicher Pflichten. Heinrichs Wahl in die zweite Kammer mußte als eine offene Kriegserklärung gelten. Ruf und Ansehen des Vaters steigerten den Eindruck, den die Darmstädter Vorgänge bis in den Frankfurter Bundestag auslösten. Mit einem Schlage ward der Neuling eine „puissance formidable“. Als er im wichtigsten Gremium des Land-tages, dem Finanzausschuß, die konstitutionelle Gewaltenteilung in den Vordergrund rückte, rührte seine Kritik an die konservative Ausdeutung des auch von ihm anerkannten „monarchischen Prinzips“. Unter Verzicht auf ein Wartegeld entsagte Heinrich dem Staatsdienst. Neue Angriffe der Opposition, denen er persölich Ausdruck gab, führten zweimal zur Auflösung der Versammlung. Weit später noch sind seine wichtigsten Reden aus diesen Sitzungsperioden als Musterstücke parlamentarischer Beredsamkeit einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt worden. Mit dem offenen Eintritt für die Opfer der neu einsetzenden „Demagogenverfolgung“ wurde Heinrich zum Sprecher einer größeren, aus der Burschenschaft hervorgegangenen Gemeinschaft. Als er bald darauf endgültig auf den rheinhessischen Familienbesitz übersiedelte, diente der Rückzug aus einer unfruchtbar gewordenen Tätigkeit der Ruhe und Reife. Ehe Teilnahme am öffentlichen Leben ward nicht gemindert, dafür sorgte ein Briefwechsel, in den sich nach und nach andere Persönlichkeiten aus Süd-und Norddeutschland einschalteten. Daß Jens Uwe Lornsen jetzt den Jugendfreund zu werktätiger Teilnahme an dem Geschick Schleswig-Holsteins aufrief, ihm ganz persönlich die Ausgabe seiner bedeutendsten Denkschrift als wichtiges „Vermächtnis“ anvertraute, zeigt anschaulich, wie man hier und dort in das politische Leben hinausgetreten war und Beachtung für die nach den Befreiungskriegen ausgestellten Ideale forderte. Die künftige Laufbahn, in der die „ständische Karriere" nur vertagt war, gründete Heinrich von Gagern, ähnlich dem Vorgehen des jungen Bismarck, auf die Mitarbeit in landwirtschaftlichen Verbänden, die in Rheinhessen auch für die Innenpolitik des Großherzogtums eine bedeutsame Stellung einnahmen. Eine neue Zäsur der europäischen Geschichte, von außen durch eine gefährliche Orientkrisis ausgezeichnet, im Inneren gegründet auf dem Thronwechsel in Preußen, wo man von dem neuen König Friedrich Wilhelm IV. Verständnis für eine gemeinsame Volksvertretung erhoffte, fand bei dem Gutsherrn von Monsheim (bei Worms) lebhafte Teilnahme, ohne ihn zunächst zur Rückkehr in die politische Arena zu verlocken. Weder die nationale Begeisterung dieser Jahre, die das „Lied der Deutschen“ des Westfalen Hoffmann von Fallersleben festhält, noch ihre weltbürgerliche Ablehnung konnten den durch die „Reaktion“ erzwungenen Verzicht auf eigene Mitarbeit aufheben. Um so deutlicher zeichnete sich, als der junge Friedrich Engels in der „Rheinischen Zeitung“ neben dem „Konstitutionalismus“ des Südwestens den norddeutschen Liberalismus als einen neuen Schrittmacher begrüßte, auch für ihn der Weg in eine gesamtdeutsche Zukunft ab.

Umrisse künftigen Handelns Am Silversterabend des Jahres 1842 stellte Heinrich fest, daß sich der Geist der Nation in doppelter Richtung entwickele: „nach Einheit, deren Begriff dem Nebel immer mehr entrückt, und nach Freiheit im Repräsentativstaat“. Daß sich bei einer solchen Neuordnung Preußens und das sog. „dritte Deutschland“ des Südwestens finden würden, darüber ließ der Briefwechsel mit Fritz von Gagern keine Zweifel. „Schafft ein Programm für alle Ständekammern gemeinsam, schafft einen Mittelpunkt zur Hauptstadt“, hieß es bei dem älteren Bruder. Der jüngere erwartete zugleich ein freiwilliges Ausscheiden der habsburgisch-lothringischen Monarchie, „um dann umso fester das übrige Deutschland zu staatlicher Einheit zusammenzufügen“. In jedem Falle könne nur ein Parlament die unausbleiblichen Gegensätze schlichten; in diesem aber war er persönlich bereit, die ihm zustehende Rolle anzunehmen. Während der junge Bismarck, wie es Erich Marcks ausgedrückt hat, den Staat „von außen und oben her, als Tatsache und Grenze“ sah, betrachteten ihn die südwestdeutschen Liberalen „als Gegenstand ihrer eigenen reformfreudigen Arbeit“. Dem Junker ging es um die Festigung der Gesellschaftsschicht, die Preußen bisher getragen hatte, dem bereits außerhalb der engeren Heimat anerkannten Parteiführer um das größere Problem eines neuen Deutschland.

Dann aber zeigte sich seit der Mitte der vierziger Jahre in der Auslegung innerpolitischer Grundsätze eine Scheidung in dem bislang gemeinsam geführten Kampf. Während Sich jenseits der Bundesgrenzen, in London, Paris und Brüssel sozialistische und kommunistische Gruppen in einer ersten Internationale fanden, sonderte sich im deutschen Staaten-verein auf der einen Seite eine „demokratische“ Richtung ab, auf der anderen machte sich in Preußen und in Baden, in Sachsen und in Hessen der „Liberalismus“ zur Übernahme der politischen Verantwortung bereit. Just dreißig Jahre, seitdem er in Jena die „Grundsätze und Beschlüsse des Wartburgfestes“ kennengelernt, den ersten Verband begründet hatte, der die akademische Jugend ganz Deutschlands umschließen sollte, trat Heinrich von Gagern in die entscheidende Epoche seines Lebens. Die Hauptdaten sind bekannt, sie bedeuten zugleich die Ansatz-und Halte-punkte für den Durchgang der Nation zu ihrer ersten parlamentarischen Bewährung.

Auf der Höhe

Bereits das Vorspiel zeigte deutlich, welches Ansehen der rheinhessische Gutsherr genoß, als er sich im Frühjahr 1847 erneut zur Wahl in den Darmstädter Landtag stellte. Daß man den politischen Gegner am Hofe als den „Mirabeau" eines neuen Umbruchs empfing, weckte Erinnerung und Besorgnis. Die parteipolitische Lage begann sich zu klären. Im badischen Offenburg, das sich für die aus Frankreich vordringenden Gedankengänge besonders aufnahmebereit zeigte, trafen sich im September 1847 die Heißsporne einer republikanischen Volksbewegung. Wenige Wochen später suchten in Gagerns eigenstem alten Wahlkreis Heppenheim Vertreter der konstitutionellen Moii a r c h i e nach Auswegen aus dem Irrgarten des Deutschen Bundes. Während die Einen unter Führung des niederrheinischen Kaufmanns David Hansemann die Ausweitung des preußisch-deutschen Zollvereins zu einer politischen Macht befürworteten und damit für die deutsche Innen politik zum Verzicht auf Österreich bereit waren, ohne damit die bisherige Staatenvereinigung zu sprengen, bemühte sich Heinrich um eine Lösung, die alle Glieder des Bundes in einem Parlament zusammenschließen könne. Außenpoltische Ereignisse überrundeten den Ausbau. Von Paris aus überzog eine revolutionäre Welle die abendländische Welt bis in die entlegensten Winkel Mitteleuropas.

Vom Vorparlament zur Paulskirche Den Auftakt brachten die in Heppenheim besprochenen Anträge „zur Erzielung gemeinsamer Gesetzgebung und einheitlicher Nationaleinrichtungen", um auf den Zusammentritt von Vertretern der deutschen Ständekammern a m Bundestag hinzuwirken. Neben, ja unter diesem Gesandtenkongreß wäre damit ein parlamentarischer Rat zugelassen worden. Bereits Friedrich Bassermann aber warnte bei der Begründung dieser „Motion" in der badischen Kammer vor dem kommenden Sturm. Als Heinrich von Gagern am 28. Februar 1848 in Darmstadt die Anregung wiederholte, forderte er offen ein deutsches Parlament. Mit dem Sturz des französischen Bürgerkönigs war der Weg zu völligem Umbruch frei geworden. Unheimlich schnell sah man sich vor der Entscheidung. Am 5. März forderten in Heidelberg Vertrauensmänner aus dem Südwesten „zur Beseitigung innerer und äußerer Gefahren sowie zur Entwicklung der Kraft und Blüte deutschen National-lebens“ eine nach der Volkszahl gewählte National-vertretung. Die Umstellung von der bisher allgemein anerkannten „ständischen“ Gliederung zu einem Wahlgesetz, das weiteren Gesellschaftsschichten die volle Gleichberechtigung zusprach, eröffnete einen bedeutsamen Ausblick.

Aus der Versammlung heraus wurde Heinrich von Gagern nach Darmstadt berufen. Wie es sich der Jüngling fast genau zwanzig Jahre vorher vorgenommen hatte, mündete die „ständische Laufbahn" zunächst in einem kleineren, verantwortungsvollen Pflichtenkreis. Nur wenige Wochen aber waren dem Ministerpräsidenten des Großherzogtums Hessen zur Beseitigung der ärgsten Schäden des bisherigen Absolutismus gegönnt. Dringender heischte die deutsche Frage eine Lösung. Sie vorzubereiten, erschien bis in die Kreise der noch immer souveränen Regierungen die Unterordnung unter ein solches Gebot „nicht unpraktisch", da auch ein „ständisches Parlament am Bundestag“ diese bisher höchste Behörde über den Haufen werfen könne, wenn sie nicht den Rückhalt in einer fester gefügten Einheit fände. Andernfalls drohte, solange die deutschen „Vormächte“ das hart umkämpfte „monarchische Prinzip“ in der bisherigen Auslegung wahrten, „ein stetiger Unruhe-herd im Herzen Europas"; wiederum richteten sich aller Augen auf den Südwesten des Deutschen Bundes.

Hatte vordem Hans Christophs ältester Sohn Fritz Preußen angerufen, — jetzt übernahm es der jüngste der drei „politischen“ Brüder, der nassauische Ministerialrat Max, nach eingehender Aussprache mit dem Vater und Heinrich persönlich in Berlin die Kluft zwischen dem Staat Friedrichs des Großen und dem Süden, wo sich die liberalen Parteien den bestimmenden Einfluß erkämpft hatten, zu schließen. „Ohne Österreich aufzugeben", sollten dem preußischen König Macht und Leitung, nach Umständen die Kaiserkrone zufallen, aber gerade dieser Plan schien überholt, bevor der Abgesandte sein Ziel erreichte. Nach dem Sturz des allmächtigen Metternich zeigte sich Wien für Max von Gagern, der nach den Erfahrungen des Kölner Kirchenstreits (1837) und nach dem eigenen Übertritt zum Katholizismus dem protestantischen Norden kühler gegenüberstand, ebenfalls zur Annahme des „Repräsentativsystems“ reif. In Berlin wieder erklärte Friedrich Wilhelm IV. nach den bewegten Märztagen, daß „Preußen fortan in Deutschland aufgehe“, und übernahm damit nach dem Sprachgebrauch des Vormärz den früher im Kreis der Brüder Gagern erörterten Wunsch, daß die Provinzen des größten „rein deutschen“ Staates in eigener Verwaltung und eigener Vertretung neben die übrigen Bundesglieder treten sollten.

In Wahrheit zog sich der König persönlich sehr schnell von dieser Auslegung zurück, ohne den Verzicht auch nur seinem Ministerium gegenüber auszusprechen. Diplomatische Verhandlungen erschienen, da sich die schwer angeschlagenen Regierungen kein eindeutiges Ziel zu setzen wußten, nutzlos. Nur in einer gemeinsamen Volksvertretung sah Heinrich von Gagern die Möglichkeit, die kaum gewonnene Freiheit durch Einheit zu sichern. Am Mittel-und Oberrhein, wo die Erinnerung an die unheilvollen Jahrzehnte der ersten französischen Revolution lebendig weiterwirkte, forderte die wiederum von Westen drohende Gefahr auch aus außenpolitischen Gründen einen festeren Schutz. Ihn zu schaffen, blieb dem neuen Ministerpräsidenten die unverzüglich in einer Verfassung verbürgte Verbindung Preußens mit dem Dritten Deutschland die nächste und wichtigste Aufgabe, ohne auch jetzt auf Österreich zu verzichten. Im Gegenteil: Um der gesamtdeutschen Überlieferung zu genügen, sollten beide Groß-mächte durch das künftige Parlament von ihrer wechselseitigen Eifersucht befreit werden, — so erläuterte Heinrich von Gagern sein künftiges „Programm“ vor der Darmstädter Kammer.

In der deutschen Tagespolitik dagegen suchte man auf zwei völlig verschiedenen Ebenen weiterzukommen: In Frankfurt traten aus eigenem Entschluß Träger der „öffentlichen Meinung“ zusammen; beim alten Bundestag sahen sich „Vertrauensmänner“ der Einzelregierungen zur Ausarbeitung einer Verfassung berufen. Als Vorsitzender dieses „Siebzehnerausschusses" verbürgte Max von Gagern den Einfluß des älteren Bruders. Dieser selbst wußte im „Vorparlament" Angriffe abzuwehren, die den Kampf um die künftige Staatsform von vornherein auf die Republik lenkten. Um trotzdem „demokratischen" Forderungen zu genügen, lehnte man die nun von den Regierungen unter Vortritt Preußens angeregte Wahl einer Nationalvertretung auf „ständischer" Grundlage ab, weil eine auch nur teilweise aus den bisherigen Kammern hervorgegangene Versammlung Revolution und Anarchie hervorgerufen werde. Da für ein neues Wahlgesetz aber alle Unterlagen fehlten, begnügte sich der „Fünfziger Ausschuß“, der neben und über dem von allen reaktionären Persönlichkeiten „gereinigten“ Bundestag die Leitung übernommen hatte, mit dem Ausweg, daß jeder „volljährige, selbständige Staatsbürger wahlberechtigt und wählbar“ sei und hielt lediglich „im Prinzip“ die direkte Wahl für die zweckmäßigste. Zur Ausführung beließen es die Einzelstaaten fast durchweg bei der Einrichtung von Wahl-männern und legten damit den Durchbruch einer echten Volksvertretung für alle Landschaften des Deutschen Bundes lahm. Darüber hinaus lehnten im preußischen Großherzogtum Posen, in Böhmen und in anderen, kleineren Bezirken des österreichischen Kaiserstaats nationale Kräfte jede Zusammenarbeit ab. Um so lebhafter vollzog sich in Westen, Süden und Norden der Eintritt breiterer Volksmassen in eine neue politische Welt. Zum mindesten im Rhein-Main Gebiet verbürgten Ansehen und Persönlichkeit Heinrichs von Gagern der „öffentlichen Meinung“ Ruhe und Ordnung im Aus-und Aufbau einer neuen Zukunft.

Die erste deutsche Nationalversammlung als Vorbild So lehrreich die „Säkulargesinnung" unserer Tage vor einem Jahrzehnt immer neue Seiten der deutschen Revolution von 1848 in helleres Licht rückte, — daß bereits die Wahlen zu der in die Frankfurter Pauls-kirche berufenen Volksvertretung die bisherigen „Ständeversammlungen" zu einem Parlament erhoben und damit erst „Einheit und Freiheit“ einer gemeinsamen Lebensstufe entgegenführten, wird allzu leicht übersehen. Was die westlichen Nadibarn Mitteleuropas in hartem Ringen nach und nach erkämpft, zunächst mit der Zusammenfassung ihrer staatlichen Kräfte die Voraussetzung geschaffen hatten, um in diesem Rahmen weiteren „Grundrechten“ eine Freistatt zu geben, sollte die friedliche Zusammenarbeit von Abgeordneten, die sich zumeist weder aus ihrem Berufsleben noch in einer bürgerlichen Gemeinschaft kannten, mit einem Schlage erreichen. Als daher am 18. Mai nach dem feierlichen Einzug in das reformierte, notdürftig umgebaute Gotteshaus ein Alterspräsident mit leiser Stimme das Wort ergriff, mußte man schon aus diesem Grunde, abgesehen von dem Druck einer im Vorparlament zurückgewiesenen radikalen Gruppe, um einen ruhigen Ablauf besorgt sein. Umso bedeutungsvoller zeigte sich am zweiten Tage die Wirkung einer starken; weithin anerkannten Persönlichkeit: Während auf Robert Blum, den volkstümlichsten Redner der Linken, verhältnismäßig wenige Stimmen’ fielen, übertrug eine überwältigende Mehrheit Heinrich von Gagern die Leitung. Sein Nachfolger im Amt, Eduard Simson, der 1871 noch den ersten Reichstag des Deutschen Reiches eröffnen sollte, hat es nachdrücklich betont, wie die diesem eigene Gabe der Rede und des Ausgleichs die Aussprache Präsidenten in ein ruhiges Bett leitete, ein Zusammenleben der nach den verschiedensten Wahlverfahren erkorenen Volksvertreter ermöglichte: „Es war, als wenn ein des Fahrens Kundiger die am Böden schleifenden Zügel ergriff."

Die Scheidung der Geister dagegen ging anfangs recht langsam vor sich; oft genug zeigte sich zwischen Radikalen und Gemäßigten lediglich ein „Unterschied des Temperaments". Da sich die Mehrheit zunächst in der ungewohnten Umgebung zurechtfinden mußte, in den ersten Wochen die Vorlagen fehlten, vereinigte man sich zwanglos vom „Donnersberg“ bis zum „Kaffee Milani“ in den Gaststätten Frankfurts, und wiederum gab, wie in den Anfängen der Bewegung, ein europäisches Ereignis den entscheidenden Anstoß für eine neue Ordnung.

Als im Juni 1848 in der zweiten französischen Republik ein sozialistischer Vorstoß blutig niedergeschlagen wurde, erschien auch in Deutschland die Zeit reif, der „Revolution“ ein Ende zu setzen, den Umbau zu beginnen. Nach langwierigen Verhandlungen, die nicht nur in den Klubs und im Plenum, sondern in gleicher Stärke zwischen den Beauftragten der Einzelregierungen und dem Präsidium der Paulskirche den Meinungsaustausch förderten, löste eine provisorische Zentralgewalt den Bundestag ab. Während man anfangs in allen Gruppen lediglich an ein Direktorium zu denken wagte, das in seiner Zusammensetzung weiterhin die geschichtlich gewordenen Dreiglied e r u n g Deutschlands zum Ausdruck bringen sollte, gab Heinrich von Gagern die entscheidende Wendung. Zunächst vorsichtig andeutend, zeichnete er der Mehrheit den Weg vor, der neun Monate später mit der Wahl eines Kaisers der Deutschen jäh abbrechen sollte.

Sachlich wußte der „kühne Griff“, mit dem er die auseinanderstrebenden Meinungen auf Erzherzog Johann, den alten Kampfgenossen seines Vaters lenkte, „nicht weil, sondern obgleich er ein Fürst sei“, die Tradition des alten Reiches mit der Hoffnung einer jüngeren Generation zu vereinen. Nicht nüchternes Abwägen des Für und Wider jedoch führte zum Erfolg, weit stärker gewann die Überzeugungskraft, die auf dem Höhepunkt des parlamentarischen Kampfes der Rede des Präsidenten entströmte, zahlreiche Zweifler für seinen Plan. Als er die Erhebung des neuen Reichsverwesers in wenigen, tiefgefühlten Worten verkündete, war es, wie ein kluger Beobachter schrieb, „als ob für einen Augenblick ein Sonnenstrahl unter den finsteren Wolken hervorbräche, das erstarrte Leben des Vaterlandes zu erwärmen“. Dann aber hielt sich Heinrich klug zurück. Seinem Einfluß in den Vorbesprechungen der Fraktionen, die sich langsam aus den verschiedenen Klubs bildeten, tat eine solche Taktik keinen Abbruch. Eine „konstitutionell-monarchische Bundesstaatspartei“, die trotz der Gliederung in ein rechtes und linkes Zentrum dank ihrer zahlenmäßigen Stärke Vorlagen und Beschlüsse bestimmte, sah in ihm den anerkannten Führer. Ihr neigten mit Ausnahme des einzigen Fachministers, des preußischen Generals von Peucker, die Mitglieder des ersten Reichsministeriums der deutschen Geschichte zu. Enge Beziehungen zur Nationalversammlung zu pflegen, wurden ihnen parlamentarische Unterstaatssekretäre, zumeist nähere Freunde Heinrichs von Gagern, beigegeben. Seiner Leitung gelang es, den seit Jahrzehnten aufgestauten Redestrom einzudämmen. Jedes Urteil auch der Gegner hebt die achtunggebietende Gestalt und Haltung des Edelmannes hervor.

Vornehmlich in den stürmischen Septembertagen, in denen die Entscheidung über einen von Preußen einseitig mit Dänemarck abgeschlossenen Waffenstillstand zur höchst gefährlichen Kraftprobe wurde, bewährte sich seine Ruhe. Während eine aufgeregte Menge buchstäblich an den Pforten der Paulskirche rüttelte, zahlreiche Abgeordnete für ihr Leben fürchteten, hielt er die Aussprache über die zunächst in Angriff genommenen „Grundrechte“ in der gewohnten Bahn. Noch einmal hatte man die Gefahr eines Bürgerkriegs abgewandt. Als Ergebnis aber waren die Aussichten für die Erhaltung des „Obrigkeitsstaates“ in den Einzelländern gestiegen, die des nationalen Liberalismus auf den Über-gang zu einem gesamtdeutschen Parlamentarismus gesunken. In diesem Sinne hat der erste, an sich gescheiterte Versuch einer sozialistischen Bewegung die weitere Entwicklung, vor allem die Führung der Pauls-kirche zum mindesten mitbestimmt, ohne den Ausschlag zu geben.

Auch von dem bislang „unparteiischen“ Präsidenten forderte ein erneuter Umbruch der Parteien ein politisches Ein zweiter Bekenntnis.

„kühner Griff“ konnte, wie nähere und entferntere Freunde oft wiederholten, keine Entscheidung bringen. Der Erfolg des Sommers war ein einmaliges, durch Wille und Wort einer einzelnen starken Persönlichkeit erzwungenes Erlebnis gewesen. Während bislang lediglich die Linke sowie die äußerste Rechte des Parlaments die ihnen nahestehenden Abgeordneten an Vorbesprechungen, Anträge und Abstimmungen gebunden hatten, mußte sich nunmehr, da der Verfassungsausschuß nach und nach die wesentlichen Bestimmungen über die Zukunft des gemeinsamen Staates vorlegte, die Mitte entscheiden. Sie zu einer echten Koalition zusammenzufassen, kam, wie Bevollmächtigte der Regierungen sowie vertrauliche Briefe einmütig feststellten, nur Heinrich von Gagern in Betracht, der zeitweise bereit schien, sein hohes Amt mit der Führung der parlamentarischen Mehrheit zu vertauschen. Ihm selbst jedoch und zahlreichen Anhängern fehlte vorerst eine klare Auffassung über das zu erreichende Ziel. LInter den Einzelregierungen stand der österreichische Kaiserstaat mit seinen ungarischen, kroatischen und südslavischen, seinen tschechischen, italienischen, ruthenischen und polnischen Neben-landen vor einer schweren innerpolitischen Erschütterung; das „spezifische Preußentum" hatte die Schwäche der Märztage überwunden und in einer eigenen „Nationalversammlung“ bereits die Forderung der provisorischen Zentralgewalt, das eigene Heer einer deutschen Führung zu unterstellen, scharf abgelehnt. Während sich Hannover und Bayern ebenfalls jeder Unterordnung widersetzten, suchten lediglich kleinere Staaten in Frankfurt Schutz vor einem völligen Umsturz oder vor einer „Mediatisierung“ durch die größeren Nachbarn, vor einer Wiederkehr also einer „Revolution von Oben“, deren Erinnerung aus den Anfängen des Jahrhunderts durchaus lebendig war. Da die Abgeordneten der Frankfurter „Reichsversammlung" in einem lebhaften Gedankenaustausch mit ihren Wählern blieben, bestimmten alle diese Hoffnungen und Bedenken die Aussprache in den Klubs, in den Ausschüssen und im Plenum.

Seit Ende September forderten die staatsrechtlichen Beziehungen der drei den Deutschen Bund bildenden Partner, Österreichs, Preußens und des dritten, konstitutionellen Deutschland, zu einer künftigen Gemeinschaft immer stärker eine Klärung. Bis sie erreicht schien, blieb Heinrich von Gagern seiner ersten Aufgabe treu, die Versammlung zu leiten. Erst im Oktober, als sich in Wien die Gegensätze zu einer neuen Krisis zuspitzten, ward knapp und klar „die Frage an Österreich“ gerichtet, ob es bereit sei, sich der Entscheidung des Parlaments zu unterwerfen. Aufs neue bewährte sich des Präsidenten wunderbare, von deutschen Verehrern und auswärtigen Diplomaten gefeierte Gabe, eine bindende Formel zu finden. Vom Zauber einer „gebietenden Persönlichkeit und dem Voll-gewicht sittlicher und geistiger Größe“ sprachen die Einen, von dem „geborenen Herrscher, dem das Gefühl für die mittlere Temperatur zwischen rechts und links eigen war", die Anderen. Trotzdem versagten ihm, als er mit einem eigenen Antrag bei aller Anerkennung von Preußens „deutschem Beruf“ den bisherigen Bund mit Österreich aufrechterhalten wollte, zahlreiche Abgeordnete der Mittelstaaten sowie nahe Freunde die Gefolgschaft. Neue Schwierigkeiten mit Wien, wo man mit der Erschießung des Abgeordneten Robert Blum der deutschen Nationalversammlung ganz bewußt ihr parlamentarisches Eigenrecht absprach, führten zu einem weiteren Umbruch. Siegte in Österreich der alte, absolutistische Geist, so bot ein engerer Anschluß an Preußen den einzigen Ausweg. Dort die Lage zu sondieren, dem König das lockende Bild einer künftigen Führung vorzuzeichnen, eilte der Präsident der Paulskirche persönlich in die ihm völlig fremde Hauptstadt. Weder in ihrer Eigenart noch in ihrer spröden Zurückhaltung kannte und wertete der Herold deutschen Einheitsstrebens die von ihm umworbene Braut.

Weite Kreise der Berliner Bevölkerung fanden sich mit der konservativen „Kamarilla“, die sich um Friedrich Wilhelm IV. scharte, im Stolz auf die große Vergangenheit Preußens und in der Abneigung gegen den von Frankfurt geforderten Verzicht zusammen. Auf beiden Seiten beobachtete man sich mißtrauisch im Geben und Nehmen.

Der Präsident des Parlaments übernimmt die Führung Zu einem Abschluß war der von Ehrgeiz und Furcht hin-und hergerissene preußische König auf keinen Fall bereit. So verführerisch Gagern dem „Romantiker auf dem Thron der Caesaren" die Absicht der von ihm zugesicherten Mehrheit schilderte, — ein Angebot der aus eigenem, nicht aus göttlichem Recht amtierenden Volksvertreter widersprach dem Selbstgefühl des Monarchen. Trotzdem erschienen dem Präsidenten der Paulskirche, den man persönlich sehr freundlich ausgenommen hatte, die nächsten Beschlüsse der Berliner Regierung nicht hoffnungslos. Da diese in einer neuen, lediglich für den eigenen Staat verkündeten Verfassung wesentliche Forderungen nach bürgerlicher Freiheit erfüllte, lehnte er eine einseitige Verurteilung des „spezifischen Preußentums" ab: Gerade in Frankfurt müsse man sich Berlin unentbehrlich machen, um die Hilfe dieses Staates für die eigene Zukunft zu erkaufen. Als daher fast gleichzeitig die österreichische Regierung dem nach dem mährischen Kremsier verlegten Reichstag ebenfalls eine Neuordnung ihres Staates ankündigte und sich damit auf dessen europäische Unabhängigkeit zurückzog, hielt Heinrich von Gagern — schärfer als die unentwegten Anhänger eines Entweder-Oder — an der Notwendigkeit fest, zunächst die beiden übrigen Werkstücke aus der Dreiteilung des Bundesgebiets zusammenzufügen, einer gemeinsamen Volksvertretung Raum zur Mitarbeit zu geben.

Mehr als zwei Monate hatte er mit der Wiederholung eines solchen „Programms" gezögert. Dann erst zwang eine parlamentarische Niederlage des bisherigen Reichsministeriums dessen Leiter, den Österreicher Anton von Schmerling, zum Rücktritt und machte den Weg zur Endlösung frei. Am 18. Dezember stellte eine neue, in sich geschlossene Mitte in dem bisherigen Präsidenten ihren besten Mann heraus. Zur Leitung der Verhandlungen wurde nicht mehr ein Vertreter des südwestlichen Deutschland, das die Anfänge der Revolution bestimmt hatte. sondern der streng monarchisch gesinnte Ostpreuße Eduard Simson berufen. Als Gegengewicht gab die Mehrheit den parlamentarischen Gepflogenheiten Westeuropas nach. Während im Sommer 1848 persönliche und innerpolitische Rücksichten weitgehend die Auswahl des verantwortlichen Reichskabinetts bestimmt hatten, übernahm zum ersten Male der Führer der stärksten Koalition die Regierungsgeschäfte. Als seine neuen Leitsätze für eine Unionsakte mit Österreich eintraten, dabei nachdrücklich die Aufrechterhaltung aller verwandtschaftlichen, geistigen, politischen und materiellen Beziehungen zu dem älteren Kaiser-staat vorbehielten, stellte sich Heinrich von Gagern nach dem Urteil des britischen Gesandten „den größten Staatsmännern zur Seite." In der „Reichsversammlung“ dagegen versagten sich, während dieser scharfsichtige und kritische Beobachter „die freie und gewaltige Auffassung der Verhältnisse Europas, Österreichs und Deutschlands“ bewunderte, nicht nur parteipolitische Gegner, sondern auch zahlreiche Verehrer und Anhänger solch umstürzenden Gedanken.

Umso drängender wurde die Werbung in-und außenhalb der Pauls-kirche. Hatte sich vordem bereits die Linke in demokratischen März-vereinen die erste gesamtdeutsche Parteiorganisation aufgebaut, — jetzt folgte die Mitte, die eigentliche „Partei Gagern", diesem Vorgang. Früher schon unterrichtete eine lithographierte Korrespondenz die Tageszeitungen in ihrem Sinne. Als weiteres wichtiges Sprachrohr erhielt die 1847 gegründete „Deutsche Zeitung“ eine neue Aufgabe. Mit auserwählten Mitarbeitern, unter denen sich die parlamentarischen Unter-staatssekretäre Karl Mathy und Friedrich Bassermann besonders betätigten, versuchte Heinrich von Gagern als Präsident des Reichskabinetts, als Außen-und Innenminister neben seiner schweren, amtlichen Belastung auf all diesen Gebieten die nach links und rechts auseinander-strebenden Zentren bis weit in die Flügelgruppen auf ein gemeinsames Ziel hinzuführen. Standen in den Sitzungen des Gesamtministerium wichtige Tagesfragen zur Erörterung, wurden ganz planmäßig die Vertreter der befreundeten Klubs beigezogen. Diese wieder unterrichteten die eigenen Mitglieder und nahmen einen regelmäßigen Gedankenaustausch mit den Nachbarfraktionen auf. Wenn man bedenkt, daß ein solches Zusammenspiel zwischen Regierung und Partei erst volle siebzig Jahre später, auch dann in sehr beschränktem Ausmaß, seine Fortsetzung finden sollte, wird uns deutlich, wie schnell sich die Paulskirche nicht allein den großen Vorbildern des englischen und des französisch-belgischen Parlamentarismus anpaßte, sondern dessen Grundsätzen und Regeln einen neuen Ausdruck zu geben vermochte. Aus Briefen und Aufzeichnungen, Korrespondenzen, Zeitungen und Rechenschaftsberichten, wie sie zahlreiche Abgeordnete ihren Wählern und deren Lokalblättern übermittelten, leiht ein überreicherStoff den an sich nüchternen Sitzungsberichten der Nationalversammlung farbiges Leben. Ihrer Sammlung hat sich jetzt die Abteilung Frankfurt des Bundesarchivs angenommen, ihre Auswertung sollte schon längst eine Ehrenpflicht des deutschen Parlaments bedeuten.

Zwischen Erfolg und Versagen Dem verantwortlichen Ministerpräsidenten ging dabei die Beratung der ReichsVerfassung, die Regierungen und Volk der Paulskirche als einzige Aufgabe gestellt hatten, viel zu langsam vor sich. Nüchterner als Heinrich von Gagern, der auch als „unparteiischer“ Präsident die Meinungsbildung in den ihm nahestehenden Klubs zu beeinflussen wußte, lehnte sein Nachfolger solch Ansinnen ab. Im Spätherbst 1848 stürzten sich die Abgeordneten, als die ersten Abschnitte der neuen Verfassung aufgerufen wurden, in den Streit über Umfang und Grenzen des Reiches und der Reichsgewalt. Immer dringender mahnte die Gefahr, daß fremde Mächte die Zukunft des von ihnen ein Menschenalter zuvor aus der Taufe gehobenen Deutschen Bundes bestimmten. In dramatischem Wechsel kreuzten sich außen-und innerpolitische Sorgen.

Hinter dem österreichischen Kaiserstaat, der zu Hause mit der Nach-wahl von regierungsfreundlichen Abgeordneten, in Frankfurt durch die von Anton von Schmerling geknüpften Beziehungen einzuwirken wußte, erhob sich düster und drohend der rußische Koloß. Während die zweite französische Republik die Bildung einer Zentralgewalt zunächst fast wohlwollend beobachtet hatte, zeichnete sich jetzt unter dem neuen, in einer Volksbefragung erhobenen Staatspräsidenten Louis Napoleon eine tiefe Abneigung gegen jedes deutsche Einheitsstreben ab. Als Nachfolger seines großen Oheims wußte der in Deutschland ausgewachsene Prinz den Segen deutscher Ohnmacht für seinen vorerst zurückgehaltenen Ehrgeiz zu schätzen. England endlich, das bis zum Herbst die Arbeit des Reichsministeriums weitgehend unterstützte, war äußerst empfindlich geworden, als sich mit der Eingliederung Schleswig-Holsteins eine neue Großmacht vor die Pforten der Nord-und Ostsee zu setzen drohte. Im Inneren des Bundesgebiets endlich konnten sich die Einzelstaaten in ihrer Abwehr des Reichsgedankens immer stärker auf die öffentliche Meinung des eigenen Landes berufen. Je mehr sich hier ebenfalls bestimmte Grundregeln des konstitutionellen Staates durchsetzten, umso empfindlicher fürchteten die jetzt in der engeren Heimat zur Führung gelangten Parteigruppen Eingriffe oder auch nur den Wettbewerb eines gemeinsamen Parlaments. Wie in Österreich und Preußen schlossen sich in Bayern und Hannover, um die wichtigsten Mittelstaaten zu nennen, Linke und Rechte gegen die aus der Frankfurter Reichsverfassung drohenden Ansprüche zusammen. Da Heinrich von Gagern als Außen-und als Innenminister diese Gegensätze besonders deutlich spürte, wünschte er umso dringender, in kürzester Frist das selbstgesteckte Ziel zu erreichen. Die Volksvertretung dagegen nahm sich Zeit.

Von unpraktischen, weltfremden „Professoren“, die der neuen Aufgabe nicht gewachsen waren, wird eine tiefer schürfende Parlaments-geschichte für diese Monate nicht mehr sprechen dürfen. Mit Anträgen und Amendements, Zusätzen und Änderungswünschen, namentlichen Abstimmungen und all den anderen Kampfmitteln, die die sorglich gehütete Geschäftsordnung den Parteien freigab, suchten nicht allein die für die Republik eintretenden Gruppen als zunächst einzige Opposition, suchten vor allem Abgeordnete der bisherigen Mitte, die sich unter einem „großdeutschen" Banner in einer Zweckverbindung fanden, die Auseinandersetzungen zu verschleppen. Bis ins Einzelne zeigten sich Führer und Sprecher der jetzt feiner profilierten Fraktionen der neuen Taktik gewachsen. Vergebens stellte sich der Ministerpräsident ab und an persönlich den Gegnern. Auf Freund und Feind wirkte es erschütternd, als sich der Meister der parlamentarischen Pflicht in innerlicher Entrüstung zu einer beleidigenden Bemerkung hinreißen ließ und den damit fälligen Ordnungsruf des Präsidenten willig hinnahm. Oft genug, so erzählte man sich, litt es ihn nach endlosen Abstimmungen und einem nach seiner Ansicht hohlen Geschwätz nicht auf der Regierungsbank: ins Leere starrend, lehnte er dann im Hintergrund an einer Säule. Auf den Seufzer eines Freundes: „O, es ist zum Sterben", antwortete er mit tiefer, tonloser Stimme: „Ich bin schon gestorben“. So furchtbar empfand er den Niedergang eines Lebens, das ihm einst als Höhepunkt politischen Wirkens gegolten hatte.

Im Endkampf der Paulskirche Erst allmählich, begünstigt durch ein sichtbares Entgegenkommen der preußischen Regierung, wuchsen den Leitsätzen vom engeren und weiteren Bund neue Anhänger zu. Als sich gleichzeitig die Beratung der Reichsverfassung dem Ende näherte, war dem vom zuständigen Ausschuß vorgelegten Entwurf trotzdem kein voller Sieg beschieden. Für die konstitutionelle Bundesstaatspartei begleiteten Verzicht auf Verzicht den schwer errungenen Ausgleich. Bereits Anfang März zeigte sich der Staatsmann, dem Kaiser und Reich nicht anders wie Einheit und Freiheit seit seinen Jugendtagen eng verbundene, unlösbar verkettete Begriffe waren, bereit, auf den Kaisertitel zu verzichten, um die Bedenken Friedrich Wilhelms IV. sowie die Abneigung Österreichs und der Mittel-staaten zu vermindern. Erst als man in Wien eine in den Augen des Liberalismus rückständige Verfassung für den eigenen Gesamtstaat verkündete und im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland, die Lombardei und Galizien sowie Ungarn und seine Nebenländer in die Waagschale warf, schlug ihm dieser neue Staatsstreich die Vermittlung aus der Hand. In höchster Bestürzung suchten bisherige Gegner dem vorliegenden Entwurf der Reichsverfassung zur schnellen Annahme zu verhelfen. Auch dieser parlamentarische Gegenzug jedoch zerbrach an der Geschäftsordnung, die mit gutem Bedacht eine längere Anlauf-und Bedenkzeit forderte, er zerbrach vor allem an der Eifersucht und der Linientreue, wie wir sagen würden, der Fraktionen. Vergebens bot Heinrich von Gagern noch einmal seine große Beredsamkeit auf, die im Vorjahr so glänzende Erfolge erzielt hatte. „Wie er dastand", umschreibt ein bayerischer Abgeordneter, der sonst sehr sachlich das Für und Wider in der Presse und in vertraulichen Briefen besprach, sein Auftreten, „wie ein Löwe, den die Hunde ankläffen. Es war herrlich.“ Um daher weiterem Feilschen ein Ende zu bereiten, kam es zu einem Kompromiß.

Bis weit in ihren republikanischen Flügel hinein stimmte die Linke der vorliegenden Verfassung und damit dem Einsatz des Kaisertums zu; als Ausgleich nahmen die Zentren die Gegenforderung an, die für die Wahlen zum Volkshaus, der Abgeordnetenkammer des Reichstags, jedem unbescholtenen Deutschen mit dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr das allgemeine, gleiche und unmittelbare Wahlrecht zusprach. Die persönliche Unterschrift Heinrichs von Gagern, der sich bisher lediglich zur Zulassung der nach der Auffassung des vormärzlichen Liberalismus durch Besitz und Bildung reifen Bevölkerungskreise bekannt hatte, gab einer solchen Abmachung das bedeutsamste Gewicht, setzte zugleich freilich den Parteiführer schweren Angriffen seitens alter Anhänger und Freunde aus. Wenn wirklich, wie es die letzten Jahrzehnte deutscher Parteigeschichte des öfteren bestätigt haben, ein wechselseitiger Verzicht Sinn und Zweck des Parlamentarismus bedeutet, so lieferte die vielbefeindete Paulskirche in ihrer angeblich wirklichkeitsfremden Einstellung das erste, klassische Beispiel.

Daß der Vertrag von beiden Partnern als ein kurzfristiges Zugeständnis angesehen wurde, beide von der künftigen Entwicklung einen grundlegenden Umbau erwarteten, die Linke von der Erblichkeit der monarchischen Spitze zur Wahl eines Staatspräsidenten übergehen wollte, ihre Gegner das Wahlrecht schon im nächsten Reichstag abzuschaffen hofften, zeigte hier wie dort die Schwere einer solchen Entscheidung. Jetzt erst war der letzte Schritt wohl vorbereitet. Am 28. März 1849 schloß eine verschwindend geringe Mehrheit mit der Wahl König Friedrich Wilhelms IV. zum Kaiser der Deutschen die Verhandlungen ab.

Nicht den Fraktionen der Paulskirche allein war der Erfolg zuzuschreiben. Im stärksten Maße hatten Persönlichkeit und Ansehen Heinrichs von Gagern auch in dieser Phase den Gegensatz der Parteien gemindert, den Widerstreit der Meinungen, die in ständigem Fluß waren, überwunden. In dieser Auslegung aber ist das unter seinem Namen in die Geschichte eingegangene „Programm“ durchaus zeitbedingt gewesen. Im gleichen Augenblick fast, da er das Ziel seines Strebens in greifbarer Nähe sah, hatte dieses für eine große Zahl der eigenen Gefolgsleute einen neuen Inhalt erhalten. Ein im besten Sinn europäisch gedachter Plan sollte für sie zur Hegemonie des preußischen Staates in einem enger begrenzten Deutschland und damit zu einer Absage an Österreich führen. Wohl blieben, als der von dem Präsidenten der Paulskirche persönlich Umworbene preußische Herrscher die von einer Volksvertretung angebotene, nach seiner Ansicht „aus Dreck und Letten gebackene" Krone ablehnte, die Ideen des Parteiführers und des Staatsmanns eine Zeitlang noch im Kampf gegen den Eigennutz der Einzelstaaten wirksam. Das erste deutsche Parlament aber verlor, als er am 10. Mai > 1849 die Leitung des Reichsministeriums niederlegte, seine historische Größe.

Vergebens hatte sich der leitende Staatsmann in der „Alternative: Resignation oder Revolution“ für die zweite Möglichkeit ausgesprochen. Die für ihn allein gültige Voraussetzung, nach der freiwilligen Auflösung der Nationalversammlung „mit gesetzlichen Mitteln" die Reichsverfassung durchzuführen, war nicht gegeben. Da ein Aufruf an das Volk, wie ihn Heinrich von Gagern in den letzten Sitzungen seines Ministeriums gefordert hatte, lediglich einen neuen, nunmehr blutigen Bürgerkrieg entfesselt hätte, zog er den Vorschlag zurück und legte sein Mandat auch als Abgeordneter nieder.

Wiederum hat der britische Gesandte in Frankfurt in größerer Schau aufs lebhafteste bedauert, daß „die deutschen Fürsten einen solchen Mann nicht besser verstanden.“ Als Staatsmann, fügte er hinzu, „hat er noch viel zu lernen und muß damit beginnen, seine eigenen Landsleute besser zu verstehen. Er tritt ins Privatleben zurück, begleitet von der Achtung aller, die sich ein angemessenes Urteil über seinen Charakter bilden konnten, auch wenn sie seine politischen Ansichten ablehnten.“ — Über die Versammlung in Gotha, die Bruder Max vorbereitet hatte, und über das in Erfurt zusammentretende Nachparlament, das Heinrichs Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl der Paulskirche, Eduard Simon, zur Leitung berief, ging der Weg in die einsame Welt des geschlagenen Kämpfers.

Wandlungen der Spätzeit

Bevor der einstige „Waterloo-Mann" persönlich auf eine Mitwirkung an der Sicherung des Erreichten verzichtete, bewies ein kurzes Zwischenspiel den ungeheuren Ernst der vaterländischen Gesinnung, die den Knaben freiwillig in die Befreiungskriege, den Jüngling zur Begründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft, den Mann auf die Höhe der Volksgunst und an die Spitze der ersten Reichsversammlung geführt hatte. In anderer Weise, als es Freund Lornsen im Vormärz erhoffte, aber in dessen Sinn war er bereit, nunmehr das ihm anvertraute „Vermächtnis“, den Kampf um die Nordmark, durchzuführen. Als im Sommer 1850 das Erfurter Parlament erfolglos endete, das Schwergewicht innerpolitischer Verhandlungen von der Vertretung des Volkes in die Amtsstuben der Regierungen verlegt wurde, erschien in Schleswig-Holstein auch der äußere Bestand des Deutschen Bundes bedroht. Schlimme Nachrichten von den in Jütland stehenden Truppen, denen Preußen nur halbe, ungern gewährte Hilfe leistete, mahnten den vormaligen nassauischen Unterleutnant zur Tat. „Nicht in der romantischen Idee eines ritterlichen Hilfszugs, noch in dem Glauben, als ob sein Arm entscheidend wirken könne,“ verließ er nach seinem eigenen Bekenntnis Familie, Haus und Herd: „der Nation und insbesondere seiner Partei wolle er den Weg zur Pflicht weisen.“ Der Widerstand der großen Mächte, deren Druck sich der größte „rein deutsche“ Staat unterwarf, vereitelte den letzten Versuch, mit der engeren Bindung der „ewig ungedeelten" Herzogtümer an eine deutsche Staatengemeinschaft diesen ersten, für die Zeitgenossen wesentlichen Erfolg der Revolution von 1848 zu behaupten. Verraten und verloren wich man der Gewalt. Zur Rückkehr an den Rhein mußte der einstige „Herold der Paulskirche“

auf weiten Umwegen das polizeiliche Aufgebot umgehen. Kein Wunder, daß sich der Parteiführer und der Staatsmann vorerst jedenfalls „völlige Enthaltsamkeit von jeder Aktion und jedem öffentlichen Wirken“ vornahm. Nur in der Stille verfolgte er aufmerksam das deutsche und europäische Geschehen. Daß die geistige Revolution, die er an führender Stelle in parlamentarische Bahnen geleitet und damit ihrer Gefahr für Bestand und Ordnung entkleidet hatte, ‘nicht unwirksam gemacht werden konnte, war auch ihm bewußt. Jede Bewegung dieser Art „wirkt in den Tiefen fort, auch wenn sie von einer neuen Welle abgelöst wird“.

Alte und neue Lösungen der deutschen Frage Wie früher, scharten sich nunmehr in Heidelberg zahlreiche ältere und jüngere Freunde um den einstigen Führer. Ihre Gespräche kreisten um die Vergangenheit, gingen zögernd in die Zukunft und mieden die unerfreuliche Gegenwart. 18 54 bot der Krimkrieg Preußen wie Öter-reich, nicht aber dem Deutschen Bund, einen neuen Halt, maßgeblich in die Weltpolitik einzugreifen. In enger Zusammenarbeit mit dem ebenfalls aus dem Staatsdienst ausgeschiedenen Max von Gagern traten für Heinrich Persönlichkeit und Gedankengänge des Bruders Fritz in das Licht erinnerungsschwerer Vergangenheit. 18 56 wurde das drei-bändige „Leben des Generals Friedrich von Gagern“ veröffentlicht, zugleich gab sich der Verfasser darin ganz persönlich Rechenschaft über das eigene Denken und Wollen. Als historische Quelle fordert das Werk eine sorgliche Scheidung zweier Lebensläufe, von Tatsachen und Urteil. Wie in den Aufzeichnungen anderer „Achtundvierziger" beherrscht das Gefühl enttäuschter Hoffnungen, die tiefe Trauer um verlorene, vergeblich umkämpfte Ideale Inhalt und Fassung. Den Glauben, daß „Deutschland nur gedeihen könne, wenn seine Einheit der Reaktion zum Trotz Tatsache werde," ließ sich Heinrich von Gagern auch jetzt nicht rauben. Preußen, das ihm in seiner Regierung und in seinem Herrscher so wenig Dank entgegengebracht hatte, traf in harten Worten der Vorwurf der Unbeständigkeit und der Untreue, ohne daß die einstige Liebe zu unversöhnlichem Haß herabsank. Die deutsche Politik Österreichs dagegen, das dem Lieblingsbruder Max eine neue Heimat bot, fand in weitem Maße Verständnis. Hatte bereits der Präsident der Paulskirche die kulturelle und wirtschaftliche Mission des deutschen Südostens mit Nach-

druck verteidigt, so trat ihm nunmehr, weit schärfer als den alten Freun-den im Norden und Südwesten, die Bedeutung gerade dieser Aufgabe für die gemeinsame Zukunft vor Augen.

Auf jeden Fall, so lautete die Überlegung, machte der Abschluß der im Krimkrieg ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Rußland für beide deutsche „Vormächte" den Weg frei: „Welche von ihnen in Übereinstimmung mit der Gesinnung der Nation sich befinde, dem würden diese Sympathien um so lebendiger und wärmer entgegenkommen, je mehr die andere zurückbleibt!“ Jetzt, da sich Name und Begriff der „Realpolitik“ in der öffentlichen Meinung durchsetzten, forderte die außenpolitische Ohnmacht, die das sog. dritte Deutschland aus dem europäischen Konzert ausschloß, die Einheit unter einer starken Führung — sie erst verbürge die aufs neue gefährdete Freiheit. Wie bei jeder früheren Erschütterung des deutschen Weltbildes hatten sich die Klein-und Mittelstaaten mit ihrer hochgepriesenen „Repräsentativverfassung“ unfähig erwiesen, auch nur die eigene Sicherheit zu verteidigen. Nach dem Fehlschlag der deutschen Revolution erfuhr der vordem nur gelegentlich erhobene Gedanke an einen Dualismus neuen Auftrieb; völlig gleichberechtigt sollten Österreich und Preußen die Leitung übernehmen. Ihre Zwistigkeiten auszugleichen, ward einem Nationalparlament überragende Bedeutung zuerkannt, — ohne daß die zahlreich vorliegenden Denkschriften Heinrichs von Gagern auf dessen Zusammensetzung einzugehen brauchten. Der Vorwurf eines „Abfalls", den nahe Freunde im Hinblick auf frühere Pläne ihres Parteiführers erhoben, ist in keiner Weise begründet, wohl aber hatte sich die Welt um ihn gewandelt. Auch bei leidenschaftlichen Anhängern, die in ihm ein unvergeßbares Vorbild gesehen hatten und nun wiederum Weisung und Auftrag erwarteten, rückten andere Fragen stärker in den Vordergrund. Nicht allein in Norddeutschland hatte man die Enttäuschung über das Versagen der Berliner Regierung überraschend schnell überwunden, auch im Südwesten kehrten zahlreiche Parteigänger des Liberalismus zu einer Überzeugung zurück, die dem preußischen Staat den Vorzug gab, die Forderung einer Volksvertretung an die zweite Stelle verwies, vor allem jede Bindung an Österreich ablehnte. In diese wesentliche Umerziehung der Geister, die die „kleindeutsche" Geschichtsbetrachtung bis in den ersten Weltkrieg beherrschen sollte, traf 18 59 von innen wie von außen ein bedeutsamer Anreiz. Aufs neue erzwang die deutsche Frage eine weitgehende Umgruppierung der Parteien.

Während auf den Landtagen der Einzelstaaten Konservative, Liberale und Demokraten sowie Mitglieder neuer, katholischer Fraktionen um die Mitarbeit an der Gesetzgebung rangen, verbanden und trennten im weiteren Bereich die Begriffe kleindeutsch und großdeutsch die Träger der öffentlichen Meinung. Als man 18 59 in Berlin jede Hilfe für den österreichischen Nachbarn in dessen schwerem Kampf mit den westlichen Kontinentalmächten an Bedingungen knüpfte, übernahm die Regierung des Prinzregenten, des späteren Königs und ersten Kaisers, für die Einen die Nachfolge Friedrichs des Großen; den Anderen bedeutete dies Handeln einen Verrat an der einst vom „Reich“ getragenen Schicksalsgemeinschaft. Innerpolitisch kam hinzu, daß die anfangs hoffnungsfreudig begrüßte „neue Ära“, wie einst die Anfänge Friedrich Wilhelms IV., jäh abbrach und in eine Wiederkehr des alten, konservativen Regiments einzumünden drohte; Österreich dage'gen schien gleichzeitig (1861) unter Leitung Antons von Schmerling, des 1848 bewährten Reichsministers, den Weg zu einer fortschrittlichen, in der deutschen Revolution vorgezeichneten Ordnung einzuschlagen. Beide Motive klangen auf, als sich zahlreiche Abgeordnete der Paulskirche, aller früheren Bindung zum Trotz, in grundsätzlich verschiedenen Lagern um die Verwirklichung von Einheit und Freiheit bemühten. Als Träger einer preußischen Lösung begrüßte man im „Nationalverein“ den Hannoveraner Rudolf von Bennigsen als einen „zweiten Gagern". Nicht nur in der großen Wende der Bismarckschen Politik, die sich seiner Hilfe zur Gewinnung Deutschlands bediente, — bis in den ersten Weltkrieg gab der Erfolg den „kleindeutschen Geschichtsbaumeistern“ recht. Heute, da wir mit anderen Augen das letzte Jahrhundert übersehen, heischt auch das sieglose Streben, dem sich der erste Präsident der Paulskirche in einem großdeutschen „Reformverein“ verpflichtete, Aufmerksamkeit und Achtung. Die älteren Gedankengänge, daß sich in dieser letzten Gruppen-bildung „im Gefolge Österreichs“ lediglich unversöhnliche Partikularisten, „Ultramontane“, allenfalls gutgläubige Träumer von einer Wiederkehr mittelalterlicher Herrlichkeit zusammenfanden, hat bereits der Wiener Historiker Heinrich von Srbik widerlegt. Ganz verschwunden sind sie auch heute nicht und fordern eine weitere Auseinandersetzung heraus. Selbst Bismarck hat, wie zuletzt noch der jüngst verstorbene Kieler Historiker Otto Becker nachzuweisen wußte, in den Jahren der Reichs-gründung mehrfach an einen „Dualismus" in der Führung Deutschlands gedacht. Vor dem 1866 ausbrechenden Kampf bot er eine solche Zwischenlösung an, um dann erst, als sich Österreich versagte, mit dem gleichen Wahlgesetz, das 1849 einem parlamentarischen Kompromiß und damit einem weitgehenden Verzicht der „Partei Gagern" sein Dasein verdankte, den letzten Trumpf auszuspielen. Während diese Möglichkeit dem letzten Kabinettspolitiker ganz großen Stils lediglich eine Hilfsaktion bedeutete, behielt sie für Heinrich von Gagern in vertraulicher Niederschrift und in einem regen Briefwechsel ausschlaggebende Bedeutung. Nur mit einem gemeins amen P arlamen t erschien ihm eine Zweiteilung im mitteleuropäischen Raum sinnvoll, ohne daß der geschlagene Parteiführer einzugreifen vermochte. Der letzte amtliche Auftrag, mit dem der einstige Ministerpräsident 1865 in den Dienst der engeren Heimat zurückgekehrt war, als Gesandter des Großherzogs von Hessen dessen großdeutsche Politik in Wien zu vertreten, sowie seine erneute Wahl in den Darmstädter Landtag gaben keine Möglichkeit zu eigener politischer Tätigkeit. Als Abgeordneter ist er nicht hervorgetreten, als Diplomat mußte er von hoher Warte zusehen, wie sich die Klein-und Mittelstaaten im Bunde mit Österreich vergebens widersetzten, als der Antrag Bismarcks auf Berufung eines deutschen Parlaments das unvergessene Grundproblem der deutschen Revolution in die Tat umsetzte.

In kluger Berechnung weckte jetzt der führende Staatsmann Preußens die Erinnerung an die erste Nationalversammlung und an das von ihr beschlossene Werk. Wie die Mehrzahl der früheren Freunde war Heinrich von Gagern ihrem Zauber verfallen. Den Glauben an die Ehrlichkeit dieser Werbung und an ihren Erfolg brachte er zunächst nicht auf. Bis zum letzten Augenblick hielten ihn Neigung und Pflicht auf der österreichischen Seite. Erst der Sieg auf dem Schlachtfeld gab dem Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland einen unerwarteten Abschluß. Wie viele der alten Kampfgenossen empörte sich das Rechtsgefühl des überzeugten Volksvertreters über „den herabgekommenen Zustand Europas, das die Gewalttätigkeit seiner kleinsten Großmacht widerstandslos ertrug." Nur sehr langsam wurde ihm, der auch den Gegner anzuerkennen wußte, der Kanzler des neuen Norddeutschen Bundes in vertraulichen Briefen und Aufzeichnungen mehr und mehr zum Vollstrecker eigener Ideale. Oft genug hatte auch die liberale Opposition bereits im Vor-märz und in den verschiedenen Phasen der Revolution „Blut und Eisen“ zur Lösung der deutschen Frage gefordert. Zugleich jedoch nahm Heinrich von Gagern, um den Zusammenschluß von Süd und Nord erfolgreich zu gestalten, wie es Bruder Fritz vierzig Jahre früher vorgezeichnet hatte, als unabweisliche Voraussetzung den Gedanken auf, daß ein gesamtpreußisches Parlament hinter den Provinziallandtagen zurücktreten müsse. Nur eine starke deutsche Volksvertretung konnte nach seiner Meinung der innerpolitischen Gefahr eines vom „spezifischen Preußentum" beherrschten Reiches sowie der außenpolitischen Eifersucht Österreichs entgegentreten.

Erst später, als im Sommer 1870 der befürchtete und erwartete Kriegsfall eintrat, war der vormalige Präsident der Paulskirche zu weitgehendem Verzicht bereit, falls sich jeder deutsche Staat in freier Mitarbeit seiner Pflicht im Dienste der Nation bewußt werde. Auch diese Voraussetzung ließ er nach der feierlichen Verkündung von Reich und Kaiser fallen. Die amtliche Eröffnung des neuen „Reichsgesandten" in Wien, daß man in Berlin „wohl eingedenk sei, welches Verdienst dem einstigen Herold der Paulskirche um die neue Gestaltung Deutschlands eigne,“ lockte den Siebzigjährigen zu nachdenklicher Rückschau. Ein stiller Vorbehalt erhoffte von der weiteren Entwicklung eine größere Wirksamkeit der neuen Volksvertretung, für deren ersten Reichstag er ungern -auf einen Sitz verzichten mußte.

Abgesang Als 1872 die Mittelstaaten zu Gunsten des Reiches ihre diplomatischen Vertretungen im Ausland verloren, trat Heinrich von Gagern endgültig aus dem Dienst der engeren Heimat zurück. Vorbereitung und Grundsätze des bald darauf mit neuen Kräften erstrebten „engeren und weiteren Bundes“ im mitteleuropäischen Raum verfolgte er eifrig. Als Bruder Max ihm im Herbst 1879 aus Wien den Vollzug der neuen Allianz verkündete, begrüßte er auch diese Lösung. Der Reichskanzler, mit dem er einst als Wortführer der Erbkaiserlichen im Erfurter Volks-haus die Klingen kreuzte, legte die neue Vereinbarung als eine „Verwirklichung Gagernscher Träumereien, als eine organische, von den Launen des Regenten unabhängige Verfassung“ aus. Erreicht hat das Wort Heinrich nicht mehr, auch wenn es für ihn bestimmt war. Am 22. Mai 1880 erlöste ein sanfter Tod-den unermüdlichen Kämpfer. Ein Staatsmann zu werden, dazu hat ihm das kleine Land, dem er diente, keine Möglichkeit gegeben. Um so bedeutsamer eröffnet sein Name nicht allein die Reihe der Männer, die in ihrer Persönlichkeit die verschiedenen Perioden des deutschen Parlamentarismus verkörpern, — weit darüber hinaus zeigt sein Schicksal, wie schwer die Anfänge waren, wie in der Revolution des Jahres 1848 eine Volksvertretung das große Werk zu meistern suchte, Einheit und Freiheit aus eigener Kraft zu erringen.

Fussnoten

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