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Was sagen wir den jungen Kommunisten am TageX? | APuZ 16/1956 | bpb.de

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APuZ 16/1956 Thomas Mann und das Dritte Reich Was sagen wir den jungen Kommunisten am TageX? Präsident der ersten deutschen Nationalversammlung Heinrich von Gagern

Was sagen wir den jungen Kommunisten am TageX?

HELMUT THIELICKE

Der nachstehende Beitrag wurde als Vortrag anläßlich der Feier des zehnjährigen Bestehens der Evangelischen Akademie am 1, Oktober 1955 in Bad Boll gehalten.

Ich bin nicht der Meinung, daß der Tag X wirklich ein bestimmtes Datum in unserem Kalender wäre. Vielmehr hege ich die Überzeugung, daß es hier um langfristige Prozesse und gleitende, fast unmerkliche Übergänge gehen wird. Wenn ich trotzdem das Wort vom Tage X gelten lassen möchte, dann deshalb, weil dieses Wort imstande ist, an unserer Phantasie so etwas wie die Funktion eines Zeitraffers auszuüben. Es verdichtet sozusagen jene gleitenden und unübersichtlichen Prozesse zu einem harten Faktum und zu einem plötzlichen Übergang. Dadurch stellt es uns, wie auf einen Schlag sozusagen, vor die ganze Fülle der Probleme, die die Frage der Wiedervereinigung in sich enthält. Dadurch aber wird der Tag X zugleich auch ein sehr gefährliches Thema, das uns in unserer ganzen Hilflosigkeit enthüllt. Ich spreche hier darüber als jemand, der nicht sicher ist, was er am Tage X zu sagen hat, und der von Herzen wünscht, daß es andere besser wissen möchten. Trotz dieser Hilflosigkeit müssen wir aber, und nun wirklich in Gottes Namen, an dieses Problem heran.

Lassen Sie mich bitte in einigen Strichen die Fruchtbarkeit dieses Problems und der mit ihm zusammenhängenden Erwägungen zeichnen. Einmal, die Frage „Was sagen wir den jungen Kommunisten am Tage X?“ Laßt uns darüber nachdenken und vielleicht auch durch Briefe, Gespräche und Literatur, Nachforschungen darüber anstellen, was in unsern Brüdern drüben vorgeht, und zwar nicht nur an unseren Gesinnungsgenossen, an unseren Freunden, mit denen wir Verbindung haben, etwa mit treuen Kirchengliedern oder mit der jungen Gemeinde, sondern was auch in den jungen Kommunisten vorgeht. Wer etwa die Pfingsttreffen der kommunistischen Jugend erlebt hat, wer sich von ihnen erzählen ließ, wer die Kampflieder der jungen Pioniere hört, der weiß, welches Potential an politischer Leidenschaft, welche Dynamik und welchen Fanatismus die Machthaber immerhin entbunden haben. Sie predigen ja eine Weltanschauung, deren sehr einfache Ausgangsthesen — daß nämlich der Mensch samt seinen geistlichen Werten ausschließlich von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Gesellschaft abhänge — auch dem schlichtesten und unterbelichtetsten Gemüte erlaubt, sie als sehr handfesten Kompaß in nahezu allen Lebensfragen zu benutzen. Alle religiösen, kulturellen und historischen Fragen lassen sich mit Hilfe einer unerhörten Vereinfachung der Linien auf diese Ausgangsthesen hin zuspitzen. Die Reformation als eine solche historische Erscheinung wird sofort aller theologischen Probleme entblößt und wird zu einem einfachen soziologischen Vorgang, der etwa mit der Umschichtung der Gesellschaft, mit den Bauernrevolutionen, zusammenhängt.

Das Geheimnis der Kriege bedarf zu seiner Klärung nicht mehr des Rekurses auf den-Sündenfall oder auf sehr komplizierte Zusammenhänge zwischen politischen und sonstigen Machtinteressen, sondern es geht hier um wirtschaftliche Kämpfe, um Ölquellen, um Selbstbehauptung wirtschaftlich stärkerer Gesellschaftskreise und ähnliches. Aber nicht nur solchen einfachen Gemütern geben jene Formeln von äußerster Schlichtheit die Möglichkeit einer Orientierung, sondern auch einem hochgezüchteten Intellekt geben diese Formeln Gelegenheit zu einer wahrhaft artistischen Gedankenakrobatik. Wenn man ein bißchen die Dialektik des Materialismus kennt, weiß man, was ich damit meine.

Und diese Weltanschauung ist ja nicht nur Unsinn. Vielmehr hat sie wie jede, selbst die abstruseste Ideologie, auch Wahrheitsmomente. Wir im Westen haben über allen möglichen idealistischen Wahnvorstellungen, vor allem während der ersten Jahrzehnte der Industrialisierung, eben vergessen, daß der Mensch nicht nur Geist, Seele und Innerlichkeit ist, sondern daß seine gesellschaftlichen Verhältnisse und seine materiellen Lebensbedingungen sowohl die Kultur wie auch das Individuum entscheidend mitprägen. Und was wir im Westen verhängnisvoll übersehen haben, eben diese gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen, das hat der Marxismus und haben seine bolschewistischen Scholastiker nah der Art von Sektierern verabsolutiert und zum Range einer Weltformel erhoben. Sekten pflegen immer, wo sie auftauchen, auf gewisse Mangelerscheinungen, auf einen gewissen Vitaminmangel eben jener Kirche zu deuten, von der sie abgefallen sind. Die Sekten sind sozusagen immer eine Art Skorbut am Leibe der Kirche. Und genau so deutet auch die ideologische Sekte des Marxismus-Leninismus auf solche Ausfallsymptome der westlichen Welt, daß sie nämlich den Menschen einseitig als Geist-wesen verstand und daß leider auch das westliche Christentum Vorbild und Mahnung seines Herrn vergessen hatte, der die kranken und hungrigen Leiber heilte und stillte, ehe er die Sünden vergab. Denken Sie bitte nicht, ich würde nun mit diesen Sätzen zum soundsovielten Male in unserer Vergangenheit herumwühlen, und schon fast kalt gewordene Vorwürfe noch einmal aufwärmen. Ich meine mehr, daß gerade dieser Rückblick in unsere jüngste Geschichte einen Hinweis auf zukünftige Fragen enthielte, auf Fragen, die nun angesichts des Tages X mit Macht auf uns zukommen. Wenn es nämlich so ist, daß die bolschewistische Doktrin trotz ihrer sektiererischen Entstellungen auch jene Wahrheitsmomente enthält, darf es dann wirklich der Weisheit letzter Schluß sein, daß wir am Tage X die von ihm durchdrungenen Gebiete und Menschen uns einfach anschließen, daß wir sie sozusagen zu einer bedingungslosen Kapitulation nötigen und sie ohne jede Selbstkritik an den Segnungen des Westens teilhaftig werden lassen. Jede Kirche, die um eine Sekte wirbt, hat vorher Buße zu tun, d. h. sie hat jene Ausfallserscheinungen, die zur Gründung der Sekte führten, zunächst einmal bei sich selber zu bereinigen.

Der eigene Standort

Das ist eine Feststellung von atemberaubender Schlichtheit und Einfalt. Aber diese Fragestellung drängt nun, auf den Westen angewandt, zu einer Frage, die einem allerdings an die Nierren gehen kann. Nämlich, sollte der Westen ohne Buße und ohne tiefgreifende Operationen am eigenen Fleisch bevollmächtigt sein, sich die Menschen der östlichen Sekte einfach wieder einzugliedern? Worin bestehen denn die vielgerühmten Segnungen des Westens? Nun, ich weiß natürlich wie wir alle, welcher Segen es ist, daß wir ohne Angst abgeholt zu werden, uns am Abend niederlegen können. Aber es wäre Schönfärberei, wenn ich verschweigen wollte, daß die Segnungen des Westens im allgemeinen Bewußtsein als etwas ganz anderes leben, nämlich als Autos und Motorroller, als Eischränke und — verzeihen Sie, aber ich sage es doch — als Freiheit. So hart es mich natürlich selbst ankommt, so mußte ich Freiheit und Eisschrank in einem Atem nennen, einfach deshalb, weil von unzähligen Menschen die Freiheit nur als eine Freiheit mit einem bestimmten Lebensstandard verstanden wird. Und weil darüber ihr Verständnis von Freiheit jedes metaphysische Gewicht und jede personale Würde im Sinne einer ursprünglichen Tradition des christlichen Abendlandes radikal verloren hat. Wenn auf studentischen und Alt-Herren-Kommersen mit bierseliger Vitalität und verlogenem Pathos die Freiheit angesungen wird, als ob wir noch 1848 schrieben, möchte ich mir die Ohren zuhalten, da ich mir unwillkürlich das verdatterte Gesicht der jungen Leute vorstellen muß, wenn sie etwa gefragt werden, wozu und auf was hin sie denn eigentlich frei zu sein wünschen. Da ist mir Sartre lieber, wenn er von der Angst vor der Freiheit spricht und wenn er andeutet, daß wir heutzutage ja viel lieber Funktionäre sein möchten. Funktionäre, die in eine Rolle entlassen sind, die sie zu spielen haben, und die so keine Verantwortung tragen, sondern sie dem Dichter oder Intendanten überlassen.

Sartre ist ja vielleicht ein giftiges Insekt, aber sein Stachel sondert immerhin eine Säure ab, die zwar den alten Mann des Westens nicht heilt, die ihm aber gewisse Schlagworte und ein gewisses Pathos ungenießbar macht. Sartre verfügt, ähnlich wie Nietzsche es auf seine Weise tat, über therapeutische Gifte.

Ist also das, was als Segnungen des Westens in unzähligen Köpfen lebt, nicht eine Art von banalem Materialismus? Wenn das so wäre, dann hätte das zur Folge, daß die jungen Kommunisten am Tage X zu wählen hätten zwischen zwei verschiedenen Materialismen, nämlich dem dialektischen und dem westlichen. Soll ich etwa, um diese Frage zu bekräftigen, noch weitere Züge am Antlitz des Westens nachzeichnen? Etwa die Biologisierung des Menschen, wie sie aus den verschiedenen Kinsey-Reports und aus vielen anderen modisch gewordenen Testverfahren spricht, oder die Technisierung des Menschen, wie sie Robert Jungk mit dem von ihm zitierten amerikanischen Wort andeutet, daß der Mensch eine Fehlkonstruktion sei, weil er gewissen technischen Möglichkeiten, etwa dem der Weltraumfahrt, biologisch nicht mehr gewachsen sei? Wenn aber ein junger Kommunist möglicherweise nun zwischen diesen beiden Materialismen zu wählen hätte, glaubt man dann im Ernste, daß diese Fragen nun absolut sicher zugunsten des westlichen ausgehen würde? Ich fürchte, wir könnten in die Lage kommen, uns sagen lassen zu müssen, daß der östliche Materialismus ganz andere ethische Potenzen zu entbinden vermag und zu einem ganz anderen ideellen Enthusiasmus vordringen kann — nun nicht als das westliche Menschentum, soweit möchte ich wahrhaftig nicht gehen — aber als diese Form des unter uns grassierenden Eisschrank-und Fernsehmaterialismus. Wieso? Ich muß das kurz begründen. Im Osten haben wir zwar auch ein materialistisches Traumbild, nämlich das des klassenlosen Wohlfahrtsstaates und seiner entpersönlichten Bewohner. Aber — und darauf scheint man wenig zu achten im Westen — da dieses Traumbild in eine sehr ferne Zukunft hineinprojiziert wird, entstehen sozusagen langfristige Zwischenstadien, in denen um dieses Idealbild gekämpft und in denen darum an Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit appelliert wird. Da der Materialismus so gleichsam an einer sehr fernen Zukunftsvision aufgehängt ist, kann man ihn jetzt nur mit moralischen Teleobjektiven sehen. Darum wirkt dieses tausendjährige Reich der idealen Gesellschaft nicht unmittelbar auf die materiellen Instinkte; denn die jetzige Generation wird jener Fleischtöpfe der Zukunft noch gar nicht teilhaftig, sondern es wirkt dieses Zukunftsbild als altrustischer Appell, als Aufforderung zu einer Selbstlosigkeit, die den späteren Geschlechtern einmal zugute kommen soll. Darum gibt es hier die höchst merkwürdige, ja geradezu paradoxe Synthese zwischen Materialismus und ethischem Enthusiasmus, zwischen dem Traum vom Wohlfahrtsstaat und der asketischen Bereitschaft, selbst keine Wohlfahrt in Anspruch zu nehmen. Dort, wo die Wohlfahrt Gegenwart geworden ist, so wie aus dem Eschaton schon eine gewisse Realität geworden ist, wie bei den unmittelbaren Nutznießern des deutschen Bundes, da hört jene enthusiastische Entsagung zugunsten der inneren oder äußeren Völlerei des Augenblicks abrupt auf.

Kapitulation -oder Begegnung und Beteiligung?

Es gibt also hier eine Fülle von Fragen zu bedenken, die teils politischer und wirtschaftlicher, teils aber auch innerer Art sind, und die sich auf die Auseinandersetzung einer westlichen, christlich geprägten Kultur mit einer achristlich-pragmatischen Zivilisation des Ostens beziehen. Auch wenn es nicht meine Aufgabe ist, die in diesem Bereich auftauchenden Probleme hier anzusprechen und zu behandeln, so ist doch der kurze Hinweis gestattet, daß es sich hier um eine formal jedenfalls ähnliche Fragestellung handelt, um das Problem nämlich, ob es auch in den Bereichen des Politischen, Wirtschaftlichen und Sozialen eine bloße Kapitulation des östlichen Systems und also einen bloß einfachen Anschluß an den Westen geben soll, oder ob es durch die Begegnung beider und unter Beteiligung beider um die Schaffung eines dritten in der Synthese gewonnenen Kraftfeldes geht, das ist die Frage. Um nicht zu abstrakt zu sein, nenne'ich zwei Beispiele, von denen ich das erste nur zitiere und als ein für mich jedenfalls noch offenes Problem stehen lasse. Ich meine die Frage, was wirklich zum Beispiel mit den sogenannten volkseigenen Betrieben zu geschehen habe. Daß im Sinne des abendländisch-westlichen Person-und Eigentumsverständnisses dabei an eine Reprivatisierung der enteigneten Kleinbetriebe gedacht werden muß, ist nun ebenso klar, wie es andererseits nicht so klar und vielleicht sogar problematisch ist, was mit den Betrieben höherer Größenordnungen, etwa mit den inzwischen aufgeteilten Großgütern, zu geschehen habe. Wenn man hier gegenüber der Forderung einer Reprivatisierung gewisse Hemmungen hat und in manchen Formen des Volkseigentums, in manchen Formen, eine gerechtere Sozialordnung sieht, auch wenn sie durch das bolschewistische Vorzeichen ethisch aufs schwerste diskredidiert ist, bedeutet dann diese Hemmung unbedingt, daß sie einer parteipolitischen Bindung des Westens, etwa einer sozialistisch bestimmten, entstammen müsse? Könnte es nicht vielmehr sein, daß auch Menschen ganz anderer parteipolitischen Provenienz von der Sorge bewegt sein könnten, wie man es anstelle, um den jungen Kommunisten des Ostens gegenüber die Glaubwürdigkeit unserer sozialpolitischen Thesen klar zu machen und sie zu überzeugen, daß das westliche Programm-wort von der Würde der Person jedenfalls nicht unbedingt bedeuten müsse, daß daraus Feudal-rechte einzelner Personen folgen müßten, oder daß der Privatbesitz in allen Größenordnungen unbedingt garantiert werden müsse.

Ich spreche hier als jemand, der parteipolitisch in gar keiner Weise festgelegt ist, was übrigens gar keine Tugend bedeutet. Darum kann ich es mir leisten, folgende Frage zu stellen: Müßten wir nicht selbst für den Fall, daß wir für unsere Person oder für unsere Partei die konsequente und uneingeschränkte Wahrung des Privateigentums vertreten sollten, hier in dem Falle zu gewissen Abstrichen bereit sein, wo wir mit Menschen einer Welt zusammengeschlossen werden, deren sozialer Wille sich in einer anderen Gesellschaftsordnung ausgeformt hat, und zwar in einer Ordnung, die auch ihre positiven Elemente hat und die jedenfalls nicht wegen ihres zweifellos vorhandenen ideologischen Mißbrauchs a limine zu verwerfen wäre. Ich frage nur, aber ich stelle immerhin diese Frage, weil ich selbst einfach nicht mit ihr fertig bin und weil es mich bedrängt, wie wenig dies alles uns im allgemeinen belastet und wie sehr wir dem Tage X mit einem etwas allzu pausbäckigen Westpathos und mit einer pharisäischen Sicherheit, die nur vom Anschluß zu reden pflegt, entgegensehen. Wir können in den Augen der jungen Kommunisten durch dieses zu keiner Selbstkritik bereite Sicherheitsgefühl gefährlich leicht unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Es könnte uns allzu leicht widerfahren, daß wir als die reich gewordenen, motorisierten, Eisschrank-bestückten, aber zugleich als die banalen und seicht gewordenen Verwandten erscheinen, deren nichtig gewordener Komfort unsere östlichen Brüder geradezu dazu verhärtet, sich in ihrem ideologischen Boot nur noch fester zu verkrallen. Ein weiteres Beispiel für die sozialpolitischen Fragen am Tage X, ist die Förderung des akademischen Nachwuchses. Ich möchte auch das nur als ein Modell, als einen repräsentanten Fall, erwähnt haben, und zwar deshalb, weil ich hier durch mein Amt und durch die früheren akademischen Manager-Ämter, die ich zu versehen hatte, ein bißchen Fachmann bin. Der Staat sorgt bei uns im Westen über die Studienstiftung des deutschen Volkes für 1 °/o hochbegabter Studenten, in Oxford, sind es 8 5%. Dabei ist Oxford eine der Universitäten, die sicher in ihrem sozialen Niveau besonders gehoben ist. Bei den andern Universitäten wird man die Zahl noch höher greifen müssen, also 1: 85. Bei uns im Westen ist es so, daß die Studenten weithin Ferienarbeit leisten müssen, daß sie in der kurzen Zwischenzeit der Semester mit Gewalt auf der Linie, auf der Geraden als der kürzesten Verbindung zwischen dem Beginn des Studiums und dem Endspurt des Examens voranrasen müssen, daß sie keine innere Distanz gewinnen, daß sie ungebildet bleiben und daß sie jedenfalls auf diese Weise zu einem Material gemacht werden, aus dem man Funktionäre macht; denn Funktionäre sind ja distanzlose Wesen, sind ja bloße Arbeitstiere. Und auch hier stellt sich wieder die Frage, ob wir den jungen Kommunisten gegenüber in unserer Kulturpolitik glaubwürdig sein können, wenn wir nach dem Tage X die Großzügigkeit der kommunistischen Nachwuchsförderung, an die sie gewohnt sind, im scheinbaren Namen eines individualistischen Selbsthilfeprinzips abbauen. Ebenso freilich ist auch hier wieder das andere zu sagen, die immense Kulturleistung wie sie in einer großzügigen Fürsorge für den geistigen Nachwuchs steckt, ist im Osten sittlich verdorben dadurch, daß zugleich diese Nachwuchsförderung ein terroristisches Mittel für die politisch-ideologische Auslese ist, daß man sie nämlich weithin zu weltanschaulichen Dressurakten benutzt, oder zur Abwürgung jeder kulturellen Tradition und der sie tragenden Geschichte, kurz zur Verplanung der Unfreiheit mißbraucht. Wehe aber, meine ich, wenn uns nun die Selbstgerechtigkeit des Westens dazu verführen würde, das Kind mit dem Bade auszuschütten, d. h. die kultursoziale Pro-grammatik des Ostens, nur weil sie von den Nebengeräuschen des Unmenschlichen überlagert ist, ganz einfach mit unserem System zu vertauschen. Diese westliche Gesellschaftsordnung mag zwar dem Menschen des Ostens sauber und einigermaßen vorurteilslos, sie mag ihm jedenfalls ohne die hinterhältigen Gedanken weltanschaulicher Taktiken erscheinen, vielleicht aber erscheint sie ihm deshalb noch längst nicht begehrenswert, weil die Korrektheit unserer westlichen Gesellschaftsordnung zugleich den Zug zu einer gewissen ideenlosen Kleinkariertheit verrät und weil sie ohne den langen Atem einer vorausschauenden Konzeption ist. Ob der junge Kommunist, wenn ich mich in seine Optik versetze, sich also nicht vor die Alternative: dämonischer Schwung und sterile Bravheit gestellt sähe und ob sein Herz unter diesen Zeichen wirklich vom Westen überwunden würde? Ich frage nur. Aber ich stelle diese Frage immerhin. Ein bedrängtes Gewissen nötigt dazu.

Was wir uns selber zuvor noch sagen müßten

Statt zu fragen, was wir den jungen Kommunisten am Tage X zu sagen hätten, sollten wir darum erst die Vorfrage lösen, was wir uns selber zuvor noch sagen müßten, eingedenk jener Kirche, der es um die Wiedergewinnung einer Sekte geht. Der Gedanke an die Stunde, da wir den jungen Kommunisten Rede und Antwort stehen müssen, mag dabei eine starke entbindende und zur schöpferischen Selbstkritik aufrufende Kraft haben. Erst nachdem wir so ein exerzitio der Ernüchterung, wenn man so will, der Entpathetisierung, durchlaufen haben, und wenn wir von dieser Selbstbesinnung her einige blaue Flecke davontragen, sind wir redlich genug vor uns selbst, um zu der Frage berechtigt zu sein, was im Bezirk des Innersten die westliche Welt an echten und befreienden Botschaften den jungen Kommunisten zu verkündigen habe. Ich möchte ganz ausdrücklich zu Beginn dieses Abschnittes sagen, und zwar deutlich sagen, daß ich diese Erwägungen selbstverständlich als Christ anstelle. Ich gehe also nicht einfach von dem so-genannten freien oder demokratischen Westen aus. Es will mir nämlich so scheinen, als sei bei diesen Begriffen die Grenze zum Schlagwort nicht unbedingt durch einen eisernen Vorhang gesichert. Sondern ich gehe von der Tatsache aus, daß der sogenannte Westen, und in ihm speziell das Abendland, in der Begegnung mit der Gestalt Jesu Christi eine geistige und moralische Substanz empfangen haben, und daß darum das säkularisierte Abendland einer Maschinerie gleicht, deren Motor abgestellt ist, und die noch im Leerlauf eine Zeitlang weiterschwingt. Es mag sein, daß das entchristlichte Abendland nach anderen motorischen Kräften Ausschau hält, um in das Kraftfeld neuer Impulse zu kommen. Wie weit es dabei mit den Ersatzreligionen des Existenzialismus oder der'social-gospel-Idee des Wohlfahrtsstaates kommen wird, glaube ich zu wissen, aber es gehört nicht hierher. Gegenwärtig jedenfalls leben wir, wenn nicht alles trügt, in einem sehr merkwürdigen Interim. Das, was wir für Bewegung oder gar Schwung halten, scheint nur jene nachrollende Bewegung zu sein, während der Osten sich nach neuen Antriebs-kräften ideologischer Art umgesehen hat. Was diese angedeutete metaphysische Aushöhlung des Abendlandes anbelangt, so haben wir zu dem, was ich vorhin schon andeutete, noch einiges zur Kenntnis zu nehmen, was Sartre an Richtigem gesehen hat und was uns hier unmittelbar weiterführt. Sartre empört sich nämlich gegen den Trug der säkularisierten Welt, die, nachdem sie Gott verneint hat, dennoch — in einer gewissen naiven Schläue könnte man sagen — die ewigen Werte beibehalten möchte, deren Schöpfer oder doch Bürge Gott gewesen war. Der Existenzialismus will mutiger sein als dieses säkularisierte Abendland. Er denkt, ich zitiere Sartre wörtlich, „es ist sehr bedrängend, daß Gott nicht existiert, denn mit ihm entschwindet jede Möglichkeit, Werte in einem intelligiblen Himmel zu finden.

Es kann kein gutes a priori mehr geben, da es nämlich kein unendliches und kein vollkommenes Gewissen gibt, es zu denken". Es steht nirgends geschrieben, sagt Sartre, daß es das Gute gibt, daß man ehrlich sein muß und nicht lügen soll. Denn wir stehen auf einer Ebene, wo es nur Menschen gibt, wo die Menschen, um eine andere Formulierung von Sartre zu nehmen, unter sich sind. Und darum zitiert Sartre gerne das Wort Dostojewskis, „wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt". Das heißt, dann gibt es eben nicht mehr jene Hierarchie der Werte, durch die wir in bestimmte Bahnen gelenkt sind, und durch die wir dann füreinander berechenbar sind, indem wir nämlich das Koordinatensystem kennen, in das wir eingefügt wären. „Wenn es Gott nicht gäbe, wäre alles erlaubt", und weil alles erlaubt ist, muß man alles fürchten. Hier ist im Grunde ein sehr diskreter Hinweis auf das, was man heute gerne als Lebensangst bezeichnet. Auf dieser Ebene, die im übrigen als ehrliches Resümee des Säkularismus respektiert werden soll, auf dieser Ebene meine ich, würde die westliche Welt jenen Menschen, die unter der Angst einer ideologischen Tyrannis gelebt haben, kaum ein befreiendes Wort sagen können.

Die Botschaft vom Vertrauen

Das führt mich nun zu einigen Gesichtspunkten, unter denen der seines christlichen Ursprungs bewußte, oder besser, der sich auf diesen Ursprung besinnende Westen den jungen Kommunisten am Tage X eine weiterführende Botschaft zu vermitteln hätte. Den ersten dieser Gesichtspunkte würde ich nennen: Die Botschaft vom Vertrauen. Es erscheint mir nämlich entscheidend wichtig zu sein, Klarheit darüber zu gewinnen, warum die Menschen einer ideologischen Diktatur in Furcht, Vertrauenslosigkeit und Angst leben, und woher es andererseits kommt, daß wir im Westen nicht die Nacht zu fürchten brauchen, in der es an die Haustüre klopft. Die damit angerührte Frage können wir uns in aller Kürze an der Geschichte vom babylonischen Turm klarmachen. Ich erinnere an die entscheidenden Züge: Die Menschen haben Gott abgesetzt, sie haben-ein atheistisches Regime gebildet. Und da ihnen nun die obere Grenze genommen wurde, schnellt ihr Haupt titanenhaft in die Räume empor, die Gott zugehörten. Sie werden selber zu Übermenschen. Nun haben sie aber gerade deshalb Angst voreinander, denn da Gott weg ist, passiert das, was Sartre im Anschluß an Dostojewski als Befürchtung aussprach, daß alles erlaubt ist. Jeder muß es dem andern gegenüber für möglich halten, daß er nicht mehr unter der Autorität göttlicher Gebote steht. Und wenn er nicht unter dieser Autorität steht, steht er eben unter andern Impulsen, etwa unter der Diktatur seines Blutes oder der Diktatur des Willens zur Macht. Jeder muß vom andern annehmen, daß er ihn beiseite räumen wird, daß er über seine Leiche gehen wird, wenn es seiner Karriere entspricht.

Wilhelm Herrmann, der große theologische Ethiker, hat einmal darauf aufmerksam gemacht, daß Vertrauen unter Menschen nur dann möglich sei, wenn ich die Marschroute des andern kenne, wenn ich mit ihm zusammen unter letzter Autorität stehe, dann weiß ich, wie er zu handeln hat. Dann wird er für mich berechenbar, sonst wird er unberechenbar. Das wird sehr deutlich an der Josephs-Geschichte, in der Joseph zuerst von seinen Brüdern verkauft, später zum Chef des Siebenjahresplanes in Ägypten wurde und seine Brüder dann empfing, unerkannt empfing, weil sie bei ihm Einkäufe tätigen mußten, die ihrer eigenen Hungersnot abhelfen sollte. Joseph war sicher ein Mensch wie alle andern auch, d. h. es war sicher nicht ohne einen gewissen fatalen Reiz für ihn, sich einer Situation gegenüber zu sehen, in der er kalt Rache nehmen konnte. Und die Brüder, die die Situation sofort durchschauten, nachdem sie Klarheit über den anonymus ihnen gegenüber bekamen, diese Brüder kriegten auch das große Schlottern in die Knochen, und Joseph hat sie dann beruhigt mit folgendem charakteristischem Hinweis: Fürchtet euch nicht, man könnte auch sagen, habt Vertrauen, denn ich bin unter Gott. Damit will er sagen, ich bin nicht unter der Diktatur meines Blutes, das vielleicht auch jetzt einmal gejuckt wird, nach so vielen Jahren es euch heimzuzahlen, was ihr mir angetan habt. Nein, ich bin nicht unter der Diktatur meiner Racheinstinkte, sondern ich bin unter Gott. Und da ihr unter dem gleichen Gott seid, wißt ihr, wie ich jetzt zu handeln habe, daß ich euch nämlich zu vergeben habe. Das heißt, es ergibt sich in dem Augenblick Vertrauen, wo die beiden Kontrahenten miteinander unter der letzten Autorität stehen und diese Autorität dann die Funktion gewinnt, eine Art Fahrplan zu sein. Ich weiß, nach welchem Fahrplan der andere fährt, infolgedessen kann ich Vertrauen zu ihm haben. Und da Vertrauen die Grundlage jeder echten Gesellschaftsordnung ist, können wir hieran ermessen, was es bedeutet, wenn über einem Lande so etwas da ist, wie das Wissen um eine letzte Autorität. Wenn sie nicht mehr da ist, ist alles erlaubt und, wie gesagt, es muß dann alles gefürchtet werden. In dem Sinne hat Jakob Burkhardt einmal von Napoleon gesagt, er sei die Garantielosigkeit in Person gewesen. Und wenn es hierher gehören würde, ließe es sich historisch, glaube ich, exakt zeigen, daß der letzte Ursprung des letzten Krieges und damit unserer Katastrophe, nicht irgend ein Einzelfaktum, die Tschechen-oder die Polenkrise oder so etwas gewesen ist, sondern jene Vertrauenskrise, die Tatsache nämlich, daß die Alliierten feststell-ten, Hitler ist keine seriöse Firma. Er ist nicht möglicher Kontrahent von Verhandlungen und selbst wenn wir mit ihm Abreden treffen, wird er sie nach kurzer Zeit wieder torpedieren. Infolgedessen ist wirklich der letzte Ursprung unserer nationalen Katastrophe diese Vertrauenskrise gewesen. Nur ein theologisches Faktum läßt uns diese Hintergründe dieser unserer neuesten Geschichte interpretieren.

Wenn das Vertrauen weg ist, d. h. wenn der babylonische Turm steht und wenn ein atheistisches Regime errichtet ist — regiert muß ja werden, die Menschen müssen ja weiterleben. Aber wie denn, wenn jenes Band des Vertrauens fehlt, wie denn? Nun, dann gibt es verschiedene Ersatz-bänder. Eines davon ist die Propaganda. Und nun, wenn ich diese Ersatzbänder nenne, komme ich unwillkürlich dazu, eine Art Biographie des totalen Staates zu beschreiben. Es ist ja sehr merkwürdig: alle totalen Staaten haben es mit der Propaganda, Sie wissen von den Spruchbändern. Warum? Propaganda appelliert nicht an Vertrauen, nicht an Herz, nicht an Überzeugung, nicht an Gewissen, appelliert nicht an Person-kern, sondern an die Nerven. Die Propaganda operiert mit Blickfang, also mit optischen Reiz-mitteln, und operiert mit akustischen Reizmitteln, nämlich durch ein Schlagwort. Das Schlagwort hat als Wort seine Qualität verloren, denn das Wort überzeugt von Haus aus und schlägt nicht. Aber das Schlagwort ist ein Zeichen, daß nur die Nervenenden angetippt werden sollen, etwa durch monotone Wiederholung. Die Propaganda ist eines der Surrogatmittel, das notwendig werden muß, um eine Welt, die ihr Vertrauen und ihr autoritatives Zentrum verloren hat, regieren zu können. Ein weiteres Ersatzmit-tel ist der Terror, der wiederum die Menschen nicht aus Überzeugung zusammenbringt, sondern mit Gewalt von außen her. Und eine dritte Möglichkeit ist die Ideologie. Die Ideologie ist wiederum keine gemeinsam alle tragende Überzeugung, sondern ist ja ein geistiger Zweckniederschlag. Rosenberg hat selbst an seinen Mythos natürlich nicht geglaubt, sondern er hat ihn erfunden, weil er eine geistige Bindungsmacht bauen wollte, nachdem ihm das Christentum dafür nicht mehr in der Lage zu sein schien.

Ich meine, daß man den jungen Kommunisten von diesem Bilde aus ihre Situation deuten könnte. Allerdings wird es dann kaum genügen, vor ihnen und ihrer bangen vertrauenslosen Welt nun das westliche Ideal der Humanität zu beschwören. Es wird kaum anzunehmen sein, daß dieses durch lange Traditionen gefilterte, auf dem Herd vieler Philosophien immer neu ausgekochte, etwas vitaminlos gewordene Ideal imstande sein sollte, die robusten Grundsätze und Praktiken des Kommunismus abzulösen. Wir sollten vielmehr eines unheimlich warnenden Wortes gedenken, das Grillparzer einmal aussprach, wenn er von jenem geschichtlichen Gefälle redete, das von der Divinität über die Humanität zu Bestialität führt. Damit wollte er nichts anderes sagen, als daß man auch das Ideal der Humanität nicht festhalten könne, wenn ihr die letzten Fundamente genommen werden. Hatte Sartre nicht etwas ganz ähnliches gemeint? Es ist sehr merkwürdig, wie jedes Wort, das wir an die jungen Kommunisten richten möchten, zuerst ein Bußruf an uns selber werden muß, ja wir können geradezu sagen, jedes unserer Worte ist nur dann legitim, wenn es vorher an unsere eigene Adresse gerichtet wurde.

Die Botschaft von der Freiheit

Den zweiten Gesichtspunkt, der unsere Begegnung mit den jungen Kommunisten am Tage X bestimmen müßte, möchte ich nennen: Die Botschaft von der Freiheit. Der sogenannte freie Westen erkennt seine demokratischen Ideale immer noch am besten wieder in der klassischen Formulierung, die ihm die französische Revolution durch das Dreigestirn der Worte „Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit" gab. Der Respekt vor dem geschichtlichen Rang dieser Ideen darf uns aber nicht daran hindern, festzustellen, daß sie nicht mehr auf jener Fahne als Parolen bestehen können, die am Tage X über der Begegnung von Ost und West zu entrollen wären. Ist der Leitbegriff der Freiheit, der jene ideale Dreifaltigkeit regiert, wirklich imstande, die Rolle des obersten Wertes zu spielen, als welcher er ja immer in unserer Phantasie oder in den Zeitungen und im Radio betont wird? Der amerikanische Soziologe, Eduard Heimann, sagt in einer kürzlich erschienenen, sehr tiefdringenden Analyse der neueren Geistesgeschichte einmal folgendes: Ein System, in dem die Freiheit als oberster Wert erscheint, wird leicht in eine Herrschaft der Freiheit für die starken Individuen, Klassen und Rassen, und zwar auf Kosten der schwachen Individuen, Klassen und Rassen ausarten. Mit anderen Worten: Führt Freiheit, die nicht im Namen und im Rahmen letzter Bindungen, sondern die als Selbstzweck ausgelegt wird, nicht zur Freiheit des Stärkeren und darum zur Diktatur über den Schwächeren? Das heißt aber dann natürlich zu seiner Unfreiheit? Eben das hatte ja der Marxismus in seiner Gesellschaftslehre gerade behauptet, wenn er die These vertrat, daß freie Verfügung über Produktionsmittel eine kleine Besitzerklasse in die Lage versetzte, der breiten Masse der Besitzlosen ihren Willen aufzuzwingen und auf der Basis ihrer Versklavung dann die eigene Freiheit exzessiv auszuleben. Dann wäre also Freiheit gerade kein allgemeines Idealbild mehr, sondern dann wäre Freiheit plötzlich das sozial aufputschende Monopol einer Minderheit geworden. Auch wenn man kein Marxist ist, wird man einräumen, daß diese Theorie unter einer Bedingung recht hat, unter einer Bedingung freilich, die Marx selbst nicht gesehen hat, daß nämlich die Freiheit als oberster Wert verstanden wird und daß keine autoritative Größe, daß Gott nicht mehr da ist, in dessen Namen dann Freiheit geübt wird. Dann wird die Freiheit zum Freibrief des individuellen und des kollektiven Egoismus, dann hebt sie also mit Notwendigkeit die Gleichheit und damit wohl auch die Brüderlichkeit auf. Die absolut gesetzte Freiheit, d. h. eine Freiheit, die nicht mehr dient und nicht mehr gebunden ist und also keine Freiheit „wozu", keine Ermächtigung „wozu" mehr ist, bildet eine Macht der Zerstörung.

Wir sind ja merkwürdig romantisch. Darum hat nun der Marxismus-Leninismus innerhalb jenes idealen Dreigestirns eine kleine Umstellung vorgenommen. In seinem Sinne müßte man nämlich die Reihenfolge so wählen: Gleichheit — Freiheit — Brüderlichkeit. Die Gleichheit bedeutet hier die grundsätzliche Gleichordnung aller Glieder des Kollektivs. Der Bolschewismus zerschlägt ja, wie wir wissen, den natürlichen Fels und die natürlichen Gesteinsschichten der gewachsenen Stände und Gemeinschaften. Er atomisiert sie gleichsam und pappt dann die zerriebenen Moleküle wieder zum Kunststein des Kollektivs zusammen. Gleichheit ist also hier, wenn man sie definieren sollte, nichts anderes als die Gleichordnung der Moleküle im Kollektiv. Aber geht der Prozeß nun nicht auf eine erstaunlich ähnliche Art, dämonisch ähnliche Art, weiter wie im Westen? Daß diese Ideen nun gleichsam ein eigenes Leben bekommen und sich zu andern Zielen auf und davon machen als die ideologischen Träumer dies je gewähnt und gewünscht haben? Das Ideal der Gleichheit nämlich, das nun das Dreigestirn anführt, ist eine abstrakte und unnatürliche Konstruktion, die nur als gewaltsame diktatorische Gleichmacherei durchzusetzen ist. Als eine so gewaltsam zu machende hebt sie aber die Freiheit von vornherein auf und genauer, sie verlagert die Freiheit aus der Sphäre des Individuums in die des Kollektivs. Freiheit, und das ist jetzt dieser heimliche Wandel, der eingetreten ist, Freiheit ist dann nur noch die angebliche Freiheit der Klasse, etwa die der Diktatur des Proletariats. Auch bei Hitler hatte man ja einen ähnlichen Vorgang. Erinnern Sie sich an das Wort: Du bist nichts, dein Volk ist alles.

Das heißt auch: Du bist nichts hinsichtlich deines Anspruchs, Freiheit zu haben, sondern das Volk hat den Anspruch, Freiheit zu haben; und gerade in dem Maße, wie das Volk diesen Anspruch realisiert, mußt du dich in deinem individuellen Aktionsradius begrenzen. Was ist diese Diktatur schließlich anders als die gruppenegoistische Freiheit des Proletariates oder des Volkes, zu deren höherer Ehre das Individuum dann die Verfügung über sich selbst aufzuopfern hat? Was ist das also anders als eine entartete Freiheit? Oder sollte es etwa keine Entartung sein, wenn das Kollektiv im Namen seiner Freiheit, seiner Privilegien das Individuum nun tyrannisiert, es entpersönlicht und es entweder zum Opfer oder zum willenlosen Funktionär macht? Das ist doch die schauerliche Alternative, die dann übrig bleibt.

Was im Zuge dieses Gefälles dann aus der dritten Idee, aus der Brüderlichkeit wird, bedarf wohl kaum eines weiteren Wortes. In Klammem darf ich aber noch hinzufügen: Wenn wir Zeit hätten, wäre es nicht ohne einen gewissen schauerlichen Reiz, zu beobachten, wie auch die Gleichheit sich als künstliche gesellschaftliche Konstruktion nicht aufrecht erhalten läßt. Wie also nicht nur die nachgeordneten Werte in jenem Dreigestirn, sondern wie auch der Primat-wert am Anfang, sozusagen von innen angefressen wird. Denn wir wissen ja, daß es nirgendwo solche Klassenunterschiede wie in der Sowjetzone gibt. Das ist eine Art ironische Rache;

Hegel würde sagen: das ist die List der Idee.

Stehen also nun Ost und West hier letzten Endes nicht vor der gleichen Krise, indem sie je auf ihre Weise den falschen Göttern opfern? Sei es, daß sie der vergötzten Freiheit opfern oder sei es, daß sie den ideologischen Altären einer künstlichen Gleichheit opfern.

Das Primat der Bruderliebe

Wir werden darum aufhorchen, wenn wir erfahren, daß auch Luther, der Christ Luther, jene drei Begriffe schon kennt. Ich habe das nicht selber gefunden, sondern in dem großartigen Werk des Münchner Juristen Johannes Heckel zitiert gefunden. Luther kennt auch schon jene drei Begriffe, mur mit dem bemerkenswerten und sehr aufregenden Unterschied, daß sie hier wieder in einer anderen Reihenfolge auftauchen, nämlich so: Brüderlichkeit — Freiheit — Gleichheit. Wie kommt Luther dazu, die Bruderliebe voranzusetzen? Ich habe unter der Hand den ersten der drei Begriffe ein wenig geändert. Ich habe nämlich nicht mehr Brüderlichkeit, sondern Bruderliebe gesagt. Und so steht es auch bei Luther. Das Wort Brüderlichkeit klingt ja wie alle Worte auf -keit, ob Persönlichkeit oder Gläubigkeit. Das Wort Brüderlichkeit drückt ja ein Prinzip aus, und das ist im unmittelbar persönlichen Bereich immer eine etwas gewaltsame Konstruktion, die sich vom wirklichen Leben entfernt, gerade so als wenn man statt Liebe Lieblichkeit sagen würde. Nein, es steht hier wirklich das Wort Bruderliebe da. Es könnte auch Nächstenliebe heißen. Wenn dieses Stichwort aber fällt, ist für jeden Kundigen sofort der theologische Zusammenhang da, auf den Luther anspielen will. Nächstenliebe ist ja gegründet auf die Tatsache, daß ich selber von Gott geliebt bin und daß ich die mir widerfahrene Liebe weiterreiche, sozusagen auf den Nächsten hin reflektiere. Nächstenliebe ist nicht so etwas wie ein moralischer Aufschwung, der auf irgend einen ethischen Imperativ hin möglich wäre, sondern Nächstenliebe ist ja nur die Austeilung von etwas, was ich empfangen habe. Sie brauchen nur an das Gleichnis vom Schalksknecht zu denken, um sich das klar zu machen. Und nicht nur die Möglichkeit der Nächstenliebe verändert sich so dadurch, daß ich mich geliebt weiß, sondern auch der Nächste verändert sich dadurch. Denn der Nächste ist dann nicht mehr für mich wichtig dadurch, daß er einen immanenten Wert besitzt, daß er meinetwegen Charme besitzt oder daß er funktionstüchtig im beruflichen Sinne wäre oder sonstige Reize für mich besäße, sondern er ist für mich entscheidend wichtig dadurch, daß er teuer erkauft ist, daß Jesus Christus für ihn starb, daß er eine fremde Würde hat. Ich drücke es gerne so aus, er ist nicht wichtig für mich dadurch, daß er verwertbar ist, sondern dadurch, daß er einen unendlichen Wert hat im Sinne jener fremden Würde. Nächstenliebe entsteht also nicht aus einem moralischen Anspruch, sondern sie entsteht aus dem Glauben, d. h. sie entsteht so, daß ich in Jesus Christus Kontakt mit dem Vater wiedergefunden habe. Dann aber wird nun auch sofort deutlich, wie sich zu der so verstandenen Gotteskindschaft jetzt Freiheit und Gleichheit verhalten. Freiheit bedeutet nämlich dann gar nichts anderes als so etwas wie Reichsunmittelbarkeit zu Gott, d. h. wenn mein Gewissen an Gott gebunden ist, darf niemand und nichts über mich herrschen, es sei denn, daß dieses andere seinen Auftrag von Gott empfangen hat und daß es sich als beauftragte Instanz zu legitimieren vermag. Als Beispiel dafür lassen Sie mich hinweisen auf den Staat, der nach dieser Sicht der Freiheit auch nicht ohne weiteres Verfügungsgewalt über mich hat. Im dritten Reich wurde diese Frage für uns genau so akut wie sie heutzutage für die Menschen in der ideologischen Tyrannis, für die Christen in der ideologischen Tyrannis akut ist.

Da steht zwar im Neuen Testament das Wort, Römer 13, „seid untertan der Obrigkeit", aber es wird zugleich hinzugefügt, sie hat — und darin besteht ihre obrigkeitliche Funktion — die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen.

Der Staat stellt also selbst keine letzte Norm dar, sondern er ist seinerseits normiert, und zwar durch die Gebote Gottes normiert, die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen. Wenn ich also reichsunmittelbar zu Gott bin, dann kann es in diesem Zusammenhang nur bedeuten, daß ich die Freiheit habe, jede mich beanspruchende Autorität nach ihrer Legitimation zu fragen.

Denn ich habe die Freiheit, nur Gott gehorsam zu sein und eine Autorität nur dann über mir anzuerkennen, wenn sie ihrerseits in dem gleichen Gehorsam steht, wenn sie also keine norma normans sondern eine norma normata ist. In diesem Sinne hat sowohl Luther wie Paulus keine absolute Autorität für sich in Anspruch genommen, sondern sie haben sich selbst als Beauftragte gewußt, die auf ihren Auftrag — bei Luther ist es die Heilige Schrift — hin befragt werden wollen. Und wenn manche Formen des Luthertums Luther zu einer Art Kirchenvater machen wollen, ist das gerade ein Mißverständnis dessen, was Luther selber sein wollte. Dieses Geheimnis der Autorität bildete übrigens den letzten Grund des Kirchenkampfes. Die beken-)

nende Kirche glaubte vor einer Perversion des Staates zu stehen in dem Sinne, daß der Staat die Guten bestraft und die Schlechten, die Bonzen, belohnt. Darum erkannte sie das dritte Reich als Staat nicht an.

Die entscheidende Nachricht

Die Freiheit der Kinder Gottes ist für jede ideologische Tyrannis das große Ärgernis. Denn durch diese Freiheit wird ihr Totalitätsanspruch begrenzt. Hier wird der Staat nach seiner Legitimation gefragt, damit werden die Fundamente seines Anspruchs untergraben und die Spielregeln seiner Machtausübung gestört. Die Kinder Gottes sind kein Holz, aus dem man Funktionäre schnitzt. Ich meine, daß diese Botschaft von der Freiheit der Gotteskinder die entscheidende Nachricht sei, die in alle jene Bereiche getragen werden müsse, wo die Omnipotenz des Staates herrscht. Sie ist das Spezial-Evangelium für die Welt der Funktionäre, weil sie an ihm wieder genesen und aus dinglich-personlosen Instrumenten wieder zu freien Menschen werden können. Alles westliche Kampfgeschrei von der Menschenunwürdigkeit der ideologischen Diktatur wird die jungen Kommunisten aber so lange nicht überzeugen, wie nicht die eigene personale Würde in ihnen emporwächst und sie dann ganz von selbst gegen die Diktatur immunisiert. Aber wie soll denn diese eigene personale Würde anders entstehen als durch diese Botschaft von der Freiheit? -Aber wie kann diese Botschaft ernstlich die Freiheit verheißen, wenn sie nicht zugleich die fröhliche Nachricht von der Kindschaft ist, d. h. die fröhliche Nachricht von dem ist, was mich zur Freiheit ermächtigt? Freiheit ist doch eine Ermächtigung, das. ist doch keine gute Eigenschaft des Menschen. Das Gegenteil zur Knechtschaft ist ja darum auch nicht die Ungebundehheit, die führt sehr bald, wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt, in neue Fesselungen und Verstrickungen. Sondern das Gegenteil der Knechtschaft ist nach Paulus die Kindschaft. Freiheit ist nicht das Gegenteil von Bindung sondern ist eine besondere Form der Bindung. Die Bindung an Mächte, Institutionen, Menschen knechtet. Die Bindung an Gott macht frei. Denn Freiheit heißt nicht, wie Paul de la Garde einmal sehr schön sagt, daß man tun darf was man will, sondern Freiheit heißt, daß man werden darf, was man soll. Wir sind aber berufen, das Bild zu werden, zu dem uns Gott entworfen hat. Diese Bestimmung zu erfüllen und sich alles andere zufallen zu lassen, das ist das einzige, was den Namen Freiheit verdient. In diesem Sinne könnten wir das, was wir dem jungen Kommunisten und was wir vor allem uns selber zu sagen hätten, noch beliebig erweitern.

Aus dem Geborgensein heraus

Ein Fragenkreis sei zum Schluß wenigstens noch angedeutet, damit wir die unendliche Fülle der Gedanken und Impulse ahnen, die uns auf diesem Wege erschlossen werden. Dieser letzte Fragenkreis würde die Freiheit der Wissenschaft umschließen. Auch die Wissenschaft ist nämlich auf das Geheimnis der Erlösung bezogen. Christus erlöst zur Sachlichkeit. Oder wie Bonhoeffer das ausdrücken würde: Christus erlöst zu einer echten Weltlichkeit. Es ist ja immerhin eine merkwürdige und zum Nachdenken ermunternde Beobachtung, wenn wir sehen, daß Naturwissenschaften und Technik ausgerechnet im christlichen Abendlande entstanden sind. Warum eigentlich? In Indien könnte man sich das schon deshalb nicht denken, weil es in Indien schon gar keine Anatomie der Kuh geben dürfte, weil die Kuh als heiliges Tier mana-heilig ist. Und so wird die Kuh hier zu einer Repräsentation der Weltdinge überhaupt innerhalb der Welt der Religionen, wo nämlich die Weltdinge manahaltig sind, wo die Welt dämonische Kräfte in sich enthält, die man fürchten muß. Darum wird man in China auch nicht gerne Astronomie treiben sondern, darauf hat Freytag einmal sehr schön hingewiesen in einem seiner Bücher, darum wird man eben den Mond mit Lärm vertreiben, man wird Zauberhandlungen vornehmen, man wird aber nicht objektiv sein können. Denn objektiv sein, ist ja nicht eine beliebige intellektuelle Haltung sondern Objektivität setzt ja einen ganz bestimmten Zustand unserer Existenz voraus, nämlich den der Gelassenheit. Man könnte hier als Theologe aus der Schule plaudern und könnte sagen, wie viel etwa, als die historisch kritische Schriftforschung aufkam, die Theologen die Objektivität nicht wahrten, weil sie meinten: wenn ich hier einfach historisch-kritisch vorgehe, dann säge ich den Ast ab, auf dem ich sitze, und ich habe am Schluß nur noch die beiden Bibeldecken in der Hand, so daß man dann also — das war die positive Theologie -eine Art Zweckwissenschaft versuchte, daß man dauernd mit sehr künstlichen und unglaubwürdigen Mitteln historisch zurechtflickte, weil man noch nicht gefunden hatte, wozu uns dann Martin Kaehler geführt hat, was es bedeutet, mitten im kritischen Verhältnis zum Historischen an Jesus Christus zu glauben. Also ich erwähne das nur als Beispiel, weil an ihm besonders schön deutlich wird, daß Objektivität und Sachlichkeit auf einer ganz bestimmten Existenz-haltung beruhen, sagen wir einmal auf der Existenzhaltung der Gelassenheit oder besser der Geborgenheit. Auf dem Wissen darum, daß die Welt nicht von bösen Dämonen erfüllt ist, sondern daß es einen Herrn gibt, der die Dämonen überwunden hat, und daß ich nirgendwo anders hin fallen kann als in die Hände dieses Herrn. Dieses Wissen um die mögliche Gelassenheit, um die mögliche Geborgenheit steht am Anfänge des Weges, der wissenschaftliche Objektivität ermöglicht.

Das durch die Erlösung erworbene Gut der Sachlichkeit bleibt zwar auch dann noch eine Zeitlang erhalten, wenn der Mensch des Säkularismus sich vom Ursprünge dieser Freiheit, dieser Ermächtigung zur Gelassenheit, längst gelöst hat. Aber in der letzten Konsequenz dieses Säkularismus hebt er auch die Freiheit der Forschung wieder auf, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde, weil nämlich der unerlöste Mensch Angst vor der Wahrheit hat. Die Angst seiner grenzenlosen Verlassenheit, wie sie Jean Paul im Siebenkäs beschrieben hat, zwingt ihn, sich nur mit seinen Kreaturen zu umgeben, so wie ein ängstlicher Diktator sich mit seinen Kreaturen umgibt, nicht nur mit Menschen, die ihm als Funktionäre hörig sind und ihre Freiheit aufgegeben haben, sondern auch mit Wahrheiten umgibt er sich, die seine Kreaturen sind, mit Wahrheiten und Grundsätzen nämlich, die nicht mehr in Frage stellen dürfen, sondern die ihn bestätigen müssen. Der Nationalsozialismus hat uns das in der Art vorexerziert wie er die religiöse Wahrheit behandelte, daß sie nicht nur artgemäß, daß sie menschengemäß sein müsse, daß sie dem Menschen anprobiert wie von einem Maßschneider sein müsse und auf diese Weise keine Druckstellen ergibt. Der Bolschewismus exerziert es uns vor in der Art wie er die wissenschaftliche Wahrheit zu einer Kreatur erniedrigt, nicht nur die geisteswissenschaftliche — man muß ja nur einmal die östlichen Geschichtsbücher ansehen, um zu sehen, wie er damit umspringt, wie er wirklich die Wahrheit zu seiner Kreatur macht, die ihm nicht mehr gefährlich werden will, weil durch alle Linien der Geschichte die geometrischen Örter auf ihn zeigen — sondern auch die naturwissenschaftliche. Wenn Sie etwa an die botanische These von der Vererbung erworbener Eigenschaften denken, die an Pflanzen, Tieren immer wieder nachgewiesen wird, warum eigentlich? Nun, weil diese biologische These von der Vererbung erworbener Eigenschaften, wenn sie besteht, natürlich eine unheimliche Bestätigung der marxistischen Milieutheorie wäre. Denn der Marxismus geht davon aus, daß der Mensch machbar ist. Indem man die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert, wird der Mensch selber anders, in der Substanz anders, und wenn er in der Substanz anders wird, dann müßte ja dies Substanzhafte sich auch biologisch manifestieren indem es vererbbar wird. Eine ungeheure weltanschauliche These wird hier mit Hilfe botanischer Experimente, man braucht nicht zu sagen, wie sie gestellt sein müssen, nachgewiesen. Hier zeigt sich also, was eine unerlöste, eine nicht zur Sachlichkeit erlöste Wissenschaft ist. Hier zeigt sich, was die Dogmatisierung, die ideologische Dogmatisierung des Lebens schlechthin bedeuten kann.

Segen oder Fluch?

Ich will hier abbrechen. Das Entscheidende, um das es mir in diesem vielgliederigen Gedankengang ging, war im Grunde dasselbe und etwas sehr schlichtes: Ob der Tag X ein Tag des Segens oder -des Fluches wird, ist ein durchaus offene Frage. Eine naive Vorfreude, die diesen Tag nur für die Schicht des Gemütes oder der vaterländischen Begeisterung aktuell sein läßt, geht in gefährlichster Weise am Ernst der wirklichen Situation vorüber. Der Tag X würde ein Tag des Unsegens und der Gnadenlosigkeit sein, er würde zu verheerenden geschichtlichen Konsequenzen führen, wenn wir die Menschen jenseits des eisernen Vorhangs mit platter westlicher Selbstsicherheit nur zum Anschluß nötigen würden und sie gewisser Segnungen teilhaftig werden ließen, die in unseren Händen längst zu leeren Schalen geworden sind. Er würde ein Tag des Segens werden, wenn wir im Angesichte der überzeugten Kommunisten uns selbst auf die Glaubwürdigkeit unserer eigenen Grundlagen befragen ließen, wenn wir harte Revisionen vornehmen und wenn wir selber zur Umkehr bereit wären. Es ist immer etwas anderes, ob man im Monolog mit sich selbst seinen Ideen frönt oder ob man im Angesichte einer fremden Überzeugung Revisionen vornehmen muß. Der Tag X wird eine Fülle politischer, wirtschaftlicher und damit auch organisatorischer Aufgaben stellen. Diese alle aber würden das Pferd vom Schwanz her aufzäumen, wenn sie das erste und das letzte sein sollten. Es ist der heimliche Segen und der heimliche Auftrag dieses Tages, daß er uns zu dem exerzitium nötigt, die letzten Fragen unseres eigenen Lebens zu bedenken. Denn so ist es ja wirklich:

es geht am Ende nicht einmal um das christliche Abendland, das ist nur ein geographischer und kulturgeschichtlicher Begriff, sondern es geht um mich selbst. Und wenn ich mit dieser Schicksalsfrage zu tun habe, darf ich nur noch in der ersten Person reden. Denn ich bin bei meinem Namen gerufen.

Fussnoten

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