Der Verfasser dieses Artikels war bis 1933 Extraordinarius für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Seitdem lebt er im Ausland. In diesen Jahren hat er sich wie kaum ein anderer mit den literarischen Erzeugnissen derjenigen Deutschen befaßt, die seit 1933 zu emigrieren gezwungen waren.
Professor Edmond Vermeil, Sorbonne, Paris, behandelt in seinem Buch Doctrinaires de la Revolution Allemande (Paris 1938), Thomas Mann als einen geistigen Vorläufer der nationalsozialistischen Revolution. Dies ist, meine ich, recht irreführend. Zwar gibt es merkwürdige Äußerungen in Thomas Manns Werken, besonders in Betradt-tungen eines Unpolitisd-ten (1918), die er schrieb, als sein Bruder Heinrich ihn wegen seiner Haltung im ersten Weltkrieg angriff, z. B. Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stintmredtt, von Kunst und Literatur, und Deutsditum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst, und nidtt Zivilisation, Gesellsdtaft, Stimmrecht, Literatur. Unpolitisch sein ist also für ihn ein Zeichen deutschen Adels! Er schreibt auch: Ich bekenne midi tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nidtt lieben kann, und daß der viel versdtrieene „Obrigkeitsstaat“ die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt. Die ganze demokratisch-nationale Bewegung, die ihren Höhepunkt 1848 in der Nationalversammlung in der Paulskirche, Frankfurt a/M., erreichte, existiert nicht für ihn! Solche Stellen zeigen, daß Mann 1918 wirklich unpolitisch war, und mit ihm allzu viele bürgerliche Intellektuelle in Deutschland. Schopenhauer war ihr Lieblings-philosoph. Tragisch genug waren sie stolz auf ihre innere Freiheit, ohne einzusehen, daß sie in der Politik verteidigt werden muß und nicht bestehen kann ohne die politische Freiheit. Insoweit zog der Nationalsozialismus Vorteil aus der unpolitischen Haltung der bürgerlichen Intellektuellen; aber diese geistige Strömung (wie viele andere) wurde von den nationalsozialistischen Führern nur ausgenutzt, um zur Macht zu kommen und sich in ihr zu halten. Die Triebkräfte der deutschen Umwälzung von 193 3 sind ni ch t hauptsächlich auf geistigem Gebiete zu suchen, sondern im Kampf um politische Macht und die mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Interessen. Es ist sehr zweifelhaft, ob man im Zusammenhang mit Hitler überhaupt von einer Revolution sprechen darf: er hielt immer zusammen mit den Mächtigen, und die Volksmassen, die er als Demagoge mit sich riß und die ihm den Weg zur Macht bahnten, verachtete und betrog er, am offensichtlichsten bei der Aktion gegen die SA-Führer am 30. Juni 1934.
Thomas Manns Haltung änderte sich stark während der 20er Jahre. Er war bis dahin Neuromantiker mit Wagner, Schopenhauer und Nietzsche als Dreigestirn an seinem geistigen Firmament. Nun näherte er sich Goethe und vertiefte sich jahrzehntelang in das Studium seiner Persönlichkeit und seiner Werke. Man bekommt einen Eindruck von dem Umfang und der Eindringlichkeit dieser Studien, wenn man seine Goetheessays liest:
Goethe und Tolstoi (1922), Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters (1932),
Goethes Laufbahn als Sdtriftsteller (1932), Über Goethes Faust (1938).
Diese vier sind jetzt vereinigt in Adel des Geistes, Stockholm (1945).
Goethes Werther, jetzt in Altes und Neues, Frankfurt (1953);
Phantasie über Goethe, jetzt in Neue Studien, Stockholm (1949);
Goethe und die Demokratie, Zürich (1949);
Frankfurter Ansprache im Goethejahr, jetzt in Altes und Neues, Frankfurt (1953).
Dazu kommt der Roman Lotte in Weimar (1939), der ein unvergängliches Bild des alternden Goethe von 1816 gibt.
Gemäß Schillers berühmter Abhandlung Über naive und senti-mentalisdte Dichtung gehört Goethe zum „naiven“, Thomas Mann zum „sentimentalischen" Typus. Es war daher bewußte Selbsterziehung, daß er als reifer Mann (im Alter von ungefähr 45 Jahren) Goethe zum Vorbild wählte; er spricht sogar von imitatio, Nachfolge. Obwohl er Goethe mehrmals unpolitisdi oder antipolitisdt nennt, was er ganz gewiß nicht war, näherte sich Mann nach der Niederlage Deutschlands 1918 rasch auch der Politik. 1923 veröffentlichte er seine Rede Von deutscher Republik. Er wurde Mitglied des internationalen PEN-Klubs, der nach seinen Satzungen die Völkerverständigung fördern soll, und nahm eifrig an den Kongressen teil. Auf seinem 50. Geburtstag (1925) kam es zur Versöhnung mit dem Bruder Heinrich in München. 1926 fuhr Thomas Mann nach Paris; er wurde von Henri Lichtenberger als „außerordentlicher Gesandter des deutschen Geistes“ begrüßt und schrieb danach seine Pariser Rechenschaft (1926). Als der Dichter 1929 den Nobelpreis in Stockholm entgegennahm, war er nicht mehr ein konservativer deutscher Bürger, sondern ein Europäer und Weltmann und gab seiner Rede beim Nobelfest eine politische Wendung, indem er im Namen des (besiegten) deutschen Volkes für die Auszeichnung dankte.
Trotzdem blieb Mann auch in den 20er Jahren im Grunde ein unpolitisch denkender Mensch und überschätzte den Einfluß, den Schriftsteller auf das weltgeschichtliche Geschehen haben. Beim Fest-mal des PEN-Klubs in Warschau 1924 sagte er u. a.: Gibt es eine Gemeinsdiaft der geistigen Menschen in Europa, welche erklärt, wir wollen keinen Krieg, aus keinem Grunde, unter keinem Vorwande, wir verweigern, wenn ihr es zu einem kommen laßt, dem heute geistig unmöglichen Unternehmen jede moralische Unterstützung, wir verneinen es und ziehen uns unter Protest zurück, — meine Herrschaften, es ist keine Utopie, sondern eine praktisch-reale Tatsache heutiger Machtverhältnisse: dann wird der Krieg nicht sein. (Altes und Neues, S. 283.)
Am 14. September 1930 zog die nationalsozialistische Partei in den Deutschen Reichstag ein mit 106 gewählten uniformierten Mitgliedern. In Berlin richtete Thomas Mann am 17. Oktober seinen Appell an die Vernunft an das Bürgertum und empfahl ihm, sich an die Seite der kulturfreundlichen Sozialdemokratie zu stellen gegen den Ansturm der nationalsozialistischen undeutschen Barbarei. Am 10. Februar 193 3 sprach der Dichter in München über Richard Wagners Glück und Leiden und benützte den Anlaß, um gegen die Anmaßung der Nationalsozialisten zu protestieren, daß sie Wagners Namen für sich in Anspruch nahmen, und gegen ihren schon beginnenden Kulturterror. Der Wieder-hall in der Presse war bösartig. Freunde gaben dem Redner, der gleich nach seiner Rede eine geplante Vortragsreise über Wagner ins Ausland angetreten hatte, den guten Rat, nicht wieder in sein Münchener Heim zurüdezukehren. Er wurde-----Emigrant.
Bis zum Schluß des Jahres 193 5 trat Thomas Mann im Ausland nicht öffentlich gegen das Dritte Reich auf; er lieferte z. B. keine Beiträge zu Klaus Manns Zeitschrift Die Sammlung, Amsterdam 193 3— 3 5. Er glaubte, er könnte vielleicht die Entwicklung in der Heimat noch beeinflussen, wenn er die Verbindung mit seinen Lesern aufrechterhielt, er könnte sie stärken in ihrem inneren Widerstand durch die Bücher, die in der Tat noch bei S. Fischer in Berlin 193 3 und 1935 herauskamen, die ersten beiden Bände seines Romans Joseph und seine Brüder. Aber am 3. Februar 1936 stand in der Neuen Zürdter Zeitung Manns Erwiderung auf einen Artikel Eduard Korrodis, der ihn aufforderte, Abstand zu nehmen von den jüdischen emigrierten Schriftstellern; es war die erste scharf verurteilende öffentliche Äußerung gegen die Schreckensherrschaft des Dritten Reiches. Seine Machthaber raubten ihm am 2. Dezember 1936 die deutschen Staatsbürgerrechte, und am 19.des gleichen Monats teilte ihm die Philosophische Fakultät in Bonn mit, daß sie ihm den früher verliehenen Ehrendoktor entzogen habe. Thomas Manns Antwort vom Jahreswechsel 1936/37 erschien unter dem Titel Ein Briefwechsel, ein klares und schlichtes Bekenntnis, erfüllt von seinem tiefernsten, reinen und ergreifenden Pathos, das er sonst in seiner Dichtung so gern verhüllt unter einer Schicht von glitzernder Ironie, ein großes document humain. Darin lesen wir u. a.: Idt hätte nicht leben, nicht arbeiten können, ich wäre erstickt . . . ohne von Zeit zu Zeit meinem unergründlichen Abscheu vor dem, was zu Hause in elenden Worten und elenderen Taten geschah, unverhohlen Ausdruck zu geben. . . . Ein deutscher Schriftsteller, an Verantwortung gewöhnt durch die Spradte, . . . sollte schweigen, ganz schweigen zu all dem unsühnbar Schlechten, was in meinem Lande an Körpern, Seelen und Geistern, an Wahrheit und Recht, an Menschen und an dem Menschen täglich begangen wurde und wird? Zu der furchbaren Gefahr, die dies menschenverderberische . . . Regime für den Erdteil bedeutet? Es war nicht mög-lich. — Der einfadte Gedanke daran, wer die Menschen sind, denen die erbärmlich-äußerliche Zufallsmacht gegeben ist, mir mein Deutsdttum abzusprechen, reidit hin, diesen Akt in seiner ganzen Lädierlichkeit ersdieinen zu lassen. Das Reidt, Deutschland soll idt beschimpft haben, indem idt midi gegen sie bekannte! Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sidt mit Deutsdtland zu verwedtseln! Wo dodt vielleidtt der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden. — Gott helfe unserem verdüsterten und mißbrauchten Lande und lehre es, seinen Frieden zu machen mit der Welt und sidt selbst.
Beweise des Abscheus Seine deutschen Gegner versuchten nach 1945 seine Haltung zum Dritten Reiche zu verdächtigen auf Grund seines langen Schweigens zwischen 193 3 und 193 5. Man spürte ein Gesuch an die nationalsozialistische Regierung auf um Auslieferung seines in München beschlagnahmten Eigentums. Ein Berufspolitiker hätte zwar diesen Brief nicht geschrieben. Aber daß der Dichter Thomas Mann, vielleicht auf Anraten eines Rechtsanwaltes, u. a.seine Bibliothek wiederzuerlangen suchte, ist kein Unrecht, da er keinerlei Gegendienste zusagte. Selbstverständlich geschah es völlig vergeblich! Aber außerdem gibt es eine Anznb wesentlicher Zeugnisse seiner Einstellung zum Dritten Reich aus eeser Periode;
Briefe an Walter Perl 1932— 33; vgl. Walter Perl, Thomas Mann 1933— 45, New York 1945, S. 55 und 57.
ThomasMann, Leiden an Deutsdtland, Tagebuchblätter aus den Jahren 1933— 34, Los Angeles 1946.
Briefe an einen Schweizer 1930— 45, Altes und Neues, S. 731 ff.
Briefe an Karl Kerenyi 1934— 41 in Karl Kerenyi, Roman-diditung und Mythologie, Zürich 1945, jetzt Altes und Neues, S. 751 ff.
Ein Brief an Harry Slochower vom 1. November 1935 in Harry Slochower, Three Ways of Modern Man, New York 1937, S. 229 f.
Alle diese Dokumente zeigen das gleiche: Manns Abscheu vor der ganzen nationalsozialistischen Bewegung, sein Mitleid mit dem irre-geleiteten deutschen Volke. Eine besonders aufschlußreiche Lektüre ist Manns eigenes Tagebuch von 1933— 34. Wie unbehauene Steinblöcke liegen in ihm verstreut viele der Gedanken, die später in seinen Manifesten vorkommen. Seine Verachtung der nationalsozialistischen Führer tritt ganz unverhüllt hervor. Er stellt melancholische Betrachtungen an über den menschlichen Geist, der sich gegen die Herrschaft der Vernunft wendet, um dem Leben selbst zu seinem Recht zu verhelfen, und entsetzt ist, wenn man dies in blutige politische Wirklichkeit umsetzt. Aber der Schreiber des Tagebuches ist nicht nur Moralist, sondern folgt den politischen Ereignissen mit wacher Aufmerksamkeit und sieht hinter ihnen den großen Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Macht-und Interessenkampf. Hitler ist in seinen Augen die Verkörperung des faschistischen Geistes, der mit Gewalt die kapitalistische Gesellschaftsform bewahren soll. Mann steht nun so positiv zur Politik, daß er sie durch einen Vergleich mit der Kunst ehrt. Aber die Nationalsozialisten verstehen nichts von der Idee der politischen Freiheit. Und mitten in diesen traurigen Gedankengängen stehen Stoßseufzer über sein Volk: Was wird aus dem unglücklichen, jetzt berausditen und sdteinglüddidien deutschen Volk? Weldte Enttäusdtungen wird es nodt hinunterwürgen, weldte physisdien und seelischen Katastrophen sind ihm aufgespart? — Unglücklidies, vereinsamtes, irres Volk, von wüsten und dummen Abenteurern geleitet, die es für mythische Helden hält.
In einem Brief an Karl Kerenyi schrieb Mann schon am 4. August 1934 von einer notwendigen Unterbrechung der literarischen Arbeit am Josepitroman, um ein größeres Werk gegen den Nationalsozialismus zu schreiben, ähnlich den Betrachtungen eines Unpolitischen, aber nun ein politisches Werk. Dieses Buch kam nicht zustande, aber die Manifeste folgten von Anfang 1937 an rasch aufeinander, und 1938 kam Achtung Europa heraus, eine Sammlung aller seit 1930.
Mit diesem Buche fügte sich der große Dichter endlich auch in die humanistische Front ein, welche die deutschen emigrierten Schriftsteller rings um das Dritte Reich gebildet hatten, der seine Kinder Erika und Klaus Mann und der Bruder Heinrich Mann schon seit 1933 angehörten. Das Wort Europa ist in den Titel nicht zufällig hineingeraten, es kommt recht häufig vor auf deutschen Emigrantenbüchern zwischen 1933 und 1939, z. B.:
Georg Bienstock, Europa und die Weltpolitik, die Zonen der Kriegsgefahr, Karlsbad 1936;
Anna Siemsen, Diktatur oder europäisdie Demokratie, Paris 1936;
Fritz von Unruh, Europa erwache, Basel 1936;
Konrad Heiden, Ein Mann gegen Europa, Adolf Hitler, eine Biographie, 2. Band, Zürich 1937;
Erich Kahler, Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas, Zürich 1937; Friedrich Wilhelm Förster, Europa und die deutsdte Frage, Luzern 1938;
Max Seydewitz, Hakenkreuz über Europa, Paris 1939.
Alle politisch wachen, intellektuellen Emigranten waren während dieser Zeit einig darüber, daß Hitlers Eroberung der Macht in Deutschland keine innerpolitische Angelegenheit war, sondern die systematische Vorbereitung des zweiten Weltkrieges bedeutete. Aber es gab nur wenige Politiker in verantwortlicher Stellung, die auf ihre Warnungen hören wollten.
Daß Thomas Mann sich auch in dieser gefährlichen Lage nicht immer vorbehaltlos der politischen Front einfügte, beweist sein Beitrag zu Leopold Schwarzschilds Zeitschrift Das neue Tagebuch 1938 Bruder Hitler (vgl. Altes und Neues S. 622 ff.). Der Dichter überwindet seinen Abscheu und widmet dem Phänomen Hitler einen interessanten Essay. Er hält es für eine entartete Form von Künstlertum (so wie er früher schon einen Prinzen in Königliche Hoheit, einen Hochstapler in Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, einen Hypnotiseur in Mario und der Zauberer als Parallelerscheinungen des Künstlers betrachtet hatte) und darum als einen Bruder, ja sogar als ein Genie. Das ist gewiß ein ironisches, intellektuelles Spiel auf einem Hintergrund von Menschen-kunde,von verwickelter Psychologie, fesselnd zu lesen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs und Hitlers Tod, aber als Publikation 1938 war es, politisch gesehen, unmöglich!
Von 1933 bis 1938 lebte der Dichter in Küßnacht am Vierwaldstätter See. Als ihm vom Dritten Reich die Bürgerrechte genommen wurden, machte Präsident Thomas Masaryk ihn zum tschechoslowakischen Staatsbürger. Nach Hitlers Einzug in Wien verließ Mann die Schweiz and wanderte weiter nach den Vereinigten Staaten von Amerika, die in dieser Periode 15 seiner literarischen Arbeiten übersetzt hatten und ihn nun selbst ehrenvoll aufnahmen. Er hielt Vorlesungen in der Princeton-Universität über Goethes Faust und ließ sich dann in Pacific Palisades nahe Los Angeles in Kalifornien nieder. Er setzte in Amerika den Kampf gegen das Dritte Reich fort. Begleitet von seiner Tochter Erika reiste er in dem großen Lande herum und hielt viele Male auf Englisch seinen Vortrag Vorn künftigen Sieg der Demokratie (Zürich 1938). Im Herbst sollte der PEN-Kongreß in Stockholm tagen, wurde aber infolge des Kriegsausbruchs abgesagt. Thomas Mann hatte einen Vortrag Das Problem der Freiheit zugesagt (gedruckt Stockholm 1939). Hier ist nicht mehr von der inneren Freiheit allein die Rede, sondern hauptsächlich von der politischen Freiheit.
Wortführer des „kämpfenden Humanismus"
Zwischen der deutschen politischen Emigration und der Widerstandsbewegung in der Heimat entwickelte sich ein lebhafter Verkehr über alle Grenzen des Dritten Reichs durch illegale Kuriere. Einer von ihnen sagte über die Emigrantenliteratur: Ich muß mir bei jeder deutschen Schrift, die im Ausland erscheint, überlegen, ob es sich lohnt, den Kopf für sie zu wagen, d. h. sie über die Grenze einzuschmuggeln. Es gab eine recht große und reichhaltige Literatur in Miniaturform, gedruckt auf hauchdünnem Papier mit sehr kleinen Buchstaben, getarnt durch falsche Umschlagstitel. Thomas Manns Ein Briefwechsel (mit Bonn) wurde in Zehntausenden von Exemplaren im Dritten Reich verbreitet. Aber während des zweiten Weltkrieges bekam Mann selbst Gelegenheit in das Dritte Reich einzudringen und zu den Deutschen zu sprechen----durch den Rundfunk. Ich erinnere mich noch gut des Abends, als seine Stimme zum erstenmal über den Atlantik zu uns drang, zu einer kleinen Schar deutscher Emigranten in Kopenhagen: es war nicht die des Vorlesers aus eigenen literarischen Werken, die wir von daheim kannten, die sich auf den gekräuselten Wellen seiner ironisch glitzernden Prosa wiegte, es war ein ernster, zorniger Prediger, der zum Gewissen seines deutschen Volkes sprach. Seine 55 Rundfunkansprachen, ungefähr eine monatlich, liegen gedruckt vor. Deutsche Hörer! Stockholm 1945. Ihre politische Wirkung mitten im Kriege soll hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls wissen wir, daß sie im Dritten Reich gehört wurden und daß sie das andere Deutschland trösteten und stärkten, in der Heimat und im Exil. Ihre Bedeutung liegt zweifellos mehr auf dem pädagogisch-moralischen Gebiet als auf dem politischen, obwohl z. B. die Huldigung bei Roosevelts Tode von größtem Format ist. Aber der unbeugsame Glaube des Dichters an den Sieg der Demokratie über das Dritte Reich, als Hitler auf der Höhe seiner Macht stand und fast den ganzen europäischen Kontinent beherrschte, macht dieses Buch zu einem unvergänglichen Denkmal seiner geistigen Widerstandskraft. Ich füge hier nur ein Stückchen aus seiner Ansprache vom Mai 1941 ein, als Hitlers Heere das kleine tapfere Griechenland niederzwangen, mit dem Italien nicht fertig werden konnte. Der Redner erinnerte an Leonidas und seine 300 Spartaner, die an den Thermopylen für die Freiheit starben und sagte: Eure Gewaltherren haben euch eingebleut, die Freiheit sei ein veralteter Plunder. Glaubt mir, die Freiheit ist immer noch — sie wird, unberührt von allem Geschwätz der Philosophaster und allen Launen der Geistesgeschichte, ewig dasselbe sein, was sie vor 2000 und etlichen Jahren war: das Licht und die Seele des Abendlandes-, und die Liebe, der Ruhm der Geschichte wird denen gehören, die für sie starben, nicht denen, die sie mit Tanks in den Grund wälzten.
Die Freiheit ist das Licht und die Seele des Abendlandes! Mit solchen Wortprägungen wurde Thomas Mann (ohne Abstimmung) Wortführer und Sprachrohr der humanistischen Front rings um das Dritte Reich. Er schuf ihr im Anschluß an die alte Formel ecclesia militans die Losung vom kämpfenden Humanismus. Es ist erstaunlich, in welchem Umfang er lebendige Verbindung aufrechterhielt mit dem literarischen Leben der deutschen Emigranten in allen fünf Erdteilen, mit den Emigrantenzentren in Europa, den Vereinigten Staaten, Mexiko, Argentinien, Chile, Palästina usw. Überall in der deutschen Emigrantenpresse findet man seine Aufsätze, Manifeste, Jubiläumsbeiträge, Nekrologe, überall erscheinen seine Briefe an Schriftsteller und andere Intellektuelle, und nicht wenige können ein Buch mit seinem Vorwort oder seiner anerkennenden Äußerung veröffentlichen. Thomas Mann nimmt alle Verpflichtungen seiner führenden Stellung auf sich und stärkt dadurch die humanistische Front (vgl. Berendsohn, Die humanistisdte Front, Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur I, 193 3 — Kriegsausbruch 1939, Zürich 1947; II, Kriegsausbruch 1939— 1947, Manuskript, deponiert zusammen mit umfangreichen Sammlungen in der Deutschen Bibliothek, Frankfurt/M.).
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nennt man (nicht nur in Deutschland) „Das Zeitalter der Humanität“, Deutschland selbst „Das Land der Dichter und Denker". Damals umfaßte die Idee der Humanität wie eine Ellipse zwei Brennpunkte: in dem einen steht die menschliche Persönlichkeit, in dem anderen die menschliche Gemeinschaft, beide als erstrebte Ideale, fest miteinander verbunden. Übersetzt man Humanität mit Menschlichkeit, so galt es also nicht nur, sie im Einzelmenschen und zwischen Einzelmenschen zu verwirklichen, sondern auch in der Gesellschaft, im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben. In den Werken und der Weltanschauung Kants und Goethes z. B., wo die großen Überlieferungen aus Griechenland und Palästina sich begegneten und vereinigten, herrschte ein glückliches Gleichgewicht zwischen der subjektiven inneren und der objektiven äußeren Welt. Erst die romantische Schule verschob den Akzent zu Gunsten des inneren Lebens, sowohl in der Philosophie wie in der Dichtung. Solange Thomas Mann fast völlig in der starken geistigen Strömung der Neuromantik stand, kreisten seine Gedanken hauptsächlich um den einen Brennpunkt der Humanität, die Persönlichkeit. Noch in der Essaysammlung Adel des Geistes, sechzehn Versuche zum Problem der Humanität, Stockholm 1945, beschäftigt er sich meist mit der Humanität hervorragender Künstler und Philosophen, also wirklich mit dem Adel des Geistes; die Probleme der menschlichen Gesellschaft berührt er nur im Vorübergehen z. B. die Pädagogik, aber nicht das soziale, wirtschaftliche und politische Leben. Er näherte sich überhaupt widerstrebend der Politik, nur weil er einsah, daß die Kultur verteidigt werden muß, wenn alle grundlegenden Menschenrechte bedroht sind (vgl. Zwang zur Politik, Das neue Tagebuch, Paris, den 22. Juli 1939, und Kultur und Politik, Altes und Neues, S. 647 ff). Deshalb war der Weg lang von dem unpolitischen Buch 1918 bis zu den Rundfunkmahnungen an das deutsche Volk während des zweiten Weltkrieges. Es gibt Leute, die bedauern, daß Thomas. Mann, der große Dichter, überhaupt in die politische Arena hinabgestiegen ist. Ferdinand Lion z. B. betrachtet es als eine Erniedrigung in seinem Buch Thomas Mann, Leben und Werk, Zürich 1946. Lion publizierte auch ein Buch Romantik als deutsches Sd-iidrsal, Hamburg und Stuttgart 1947, in dem er zwar den Gegensatz zwischen dem romantischen Geist in Deutschland und der Politik, vor allem der preußischen Prägung, treffend charakterisiert, aber ihn als unveränderliches Schicksal hinnimmt und ihn bejaht. Ich meine dagegen, daß es zu Thomas Manns Größe beiträgt, daß er den tragischen romantischen Irrweg überwunden hat, der einen allzu großen Teil der deutschen Intelligenz unpolitisch mähte, und daß er ein Kämpfer wurde für die Humanität im vollen, vielumfassenden Sinn der Goethezeit. Es wäre sehr wünschenswert, daß viele der deutschen Intellektuellen seinem Beispiel folgten; aber noch hat die Neuromantik nicht ihre Macht über sie verloren.
Man kann gegen meine Auffassung einwenden, daß Mann ja von Zeit zu Zeit durch Worte und Handlungen zeigt, daß er im Grunde ein unpolitisch denkender Mensch bleibt, ein Moralist, der sich in die Politik verirrt hat, und daß es besser sei, sich diesem Felde fernzuhalten. Ein Beispiel: da die Demokratie in unserem Sinne in Deutschland zur Zeit Goethes nicht existierte, würde kein Politiker auf den Gedanken kommen, einen Vortrag über Goethe und die Demokratie zu halten, wie Thomas Mann es anläßlich des 200. Geburtstages 1949 in einer Anzahl Städte Europas tat. Er löste diese selbstgestellte Aufgabe, indem er selbst alle existierenden Einwände vorbrachte, und dann bekannte, daß er unter Demokratie etwas Moralishes verstehe, nämlih die Gesinnung und Ethik der Humanität. Aber es ist wahrhaftig in jedem Zeitalter von fundamentaler Bedeutung, daß es unabhängige intellektuelle Menshen gibt, die Überblick haben über die großen Probleme der Menschheit und furhtlos immer wieder die elementaren moralishen Forderungen aussprehen gegenüber dem politishen Kampf um Mäht und alle Reihtumsquellen der Erde. Ih bewundere Thomas Mann gerade noh mehr, weil er so oft seine künstlerishe Werkstatt verläßt, um seine Pfliht zu erfüllen als Mensh und Weltbürger.
Ausstrahlungen der Politik in die Dichtung
Die Grenzen zwishen seiner kulturpolitishen und seiner künstlerishen literarishen Wirksamkeit sind niht abgesperrt: allmählich beeinflußt die Politik auh seine Dihtung. Die Buddenbrooks (1902) war noh ein Roman von dem deutshen Bürgertum im Lübeck des 19. Jahrhunderts, und die Politik berührte er nur ganz nebenbei und flühtig. Der Zauberberg (1924) spielte shon im Ausland, in einem Sanatorium der Shweiz, wo ein internationales Publikum sih im Reihe der Krankheit und des Todes vereinigte und beitrug zur Erziehung eines jungen Mannes aus Hamburg zur Werktagswirklihkeit unten in der Ebene; die Gesprähe zwishen Settembrini und Naphta spiegelten gewisse Strömungen in der europäishen Politik, wenn auh ein wenig schattenspiel-artig. In dem großen biblishen Roman Joseph und seine Brüder (193 3 bis 1943) wollte Thomas Mann sih zwar von vornherein durhaus niht mit Politik beshäftigen. Aber in der Zeit des Dritten Reihs, als der Antisemitismus ein mähtiges politishes Kampfmittel wurde und zur Hetze anwuhs, bedeutete es doh viel, daß ein Dihter seines Ranges sih gerade in die religiöse Welt der Juden vertiefte, in der der Monotheismus entstand, eine der Grundlagen der gesamten europäishen Kultur. In den späteren Bänden brauht man niht lange zu suhen, um Nahklänge der politishen Ereignisse aus der eigenen Zeit des Dihters zu finden. Die Priester des Totenkults in Ägypten mit ihrer Hetze gegen den Juden Joseph und sein Volk sind eine Parallele zu den Antisemiten im Dritten Reih. Der Romanzyklus erreiht seinen geistigen Höhepunkt in dem großen Gottesgespräh zwishen dem Pharao Ehnaton (der den erhaltenen Hymnus an die Sonne gedihtet hat) und Joseph. Ehnaton spricht von seinem Vater a m Himmel, Joseph vom Vater i m Himmel. Ehnaton sagt: Er ist das Licht und die süße Sonnen-scheibe, deren Strahlen die Länder umarmen und die sie mit Liebe fesseln, — schwach läßt er die Hände werden vor Liebe, und nur die Bösen, deren Glaube nach unten geht, haben starke Hände. Aber Joseph antwortet: Was willst du machen mit Räuberkönigen, die brennen und brandschatzen? Den Frieden Gottes kannst du ihnen nidtt beibringen, sie sind zu dumm und böse dazu. Du kannst ihnen nur beibringen, indem du sie schlägst, daß sie spüren: der Friede Gottes hat starke Hände. Bist du doch auch Gott Verantwortung schuldig dafür, daß es auf Erden halbwegs nach seinem Willen geht und nidtt ganz und gar nach den Köpfen der Mordbrenner. Dies ist während des zweiten Weltkrieges niedergeshrieben. 1943 ershien in Amerika, als Einleitung zu einem Sammelwerk Hitler and the Ten Commandments, eine Einleitung von Thomas Mann, die in Stockholm im gleihen Jahre unter dem Titel Das Gesetz herauskam. Es ist eine Erzählung vom Auszug der Juden aus Ägypten unter der Leitung des Moses, die m. E. hauptsählih um des Shlusses willen geschrieben ist, wo Moses den großen Fluh ausspriht gegen den Shänder des Gesetzes, um die Zehn Gebote zu shützen. Der Name Hitler kommt in der deutshen Ausgabe niht vor, es ist auh niht nötig, niemand zweifelt, auf wen der Fluh zielt! 1944 kehrte der Dihter zurück aus dem Morgenlande und der Zeit der Mythen und, ohne sein Heim am Stillen Ozean zu verlassen, auf Flügeln des Geistes zurück in die Heimat und nahm den Plan aus dem Jahre 1901 wieder auf, einen neuen Faustroman zu shreiben mit dem Hauptmotiv: wenn Faust den deutshen Menshen verkörpern soll, so muß er ein Musiker sein. In den Vertrag mit dem Teufel geht die venerishe Krankheit mit ein, die Adrian Leverkühn furhtbare Zeiten körperlihen Leidens und seelisher Lähmung bringt, aber auh Zeiten großer Inspiration zu neuer genialer Musik. Das ist ein dämonishes Motiv, das gedämpft werden muß, damit es aus der Tiefe des Werkes hervorleuhte. Deshalb erzählt niht Thomas Mann selbst das Schicksal des Musikers, sondern läßt dessen Shulkamerad den Beriht niedershreiben. Dieser Kunstgriff, der Abstand und ironishe Beleuhtung bringt, gibt zugleih die Möglihkeit, vieles auszusprehen, was der Dihter selbst auf dem Herzen hat. Der Erzähler Zeitblom shreibt einen etwas vershrobenen, ängstlihen Philologenstil und bekennt, daß er sih 1914 von dem nationalen Raush des deutshen Volkes mitreißen ließ, aber durhaus niht 193 3. Er shildert mit Verlegenheit und Bitterkeit die Diskussionen der Intellektuellen in München 1934 über die neue Gewaltlehre, weihe die Herrschaft der Vernunft untergräbt, die Humanität, Dann und wann geht er über von der Zeit, über die er shreibt, zu der Zeit in der er shreibt, Frühling 1943 bis 1945. Er wünsht, wenn auh unter Gewissensbissen, die Niederlage des Dritten Reihs, nennt das Deutshland der Nationalsozialisten ein Gefängnis, ja, ein Irrenhaus, beklagt zwar die Wirkungen der Luftangriffe, aber gibt zu, daß sie ein schuldbeladenes Volk treffen, und betrahtet die sih nähernde Katastrophe als Strafe für die verbrecherische Herrshaft des Gesindels. Er hat tiefes Mitleid mit der irregeführten Masse; ohne die Mitverantwortung der Intellektuellen zu vershweigen, verfluht er zuletzt leidenshaftlih die Verderber. Man muß alle diese Bekenntnisse selbst lesen, um zu verstehen, wie ernst sie gemeint sind.
Thomas Mann betrahtet den Pakt des Musikers mit dem Teufel als eine Parallele zur Verbindung des deutshen Volkes mit Hitler und dem Nationalsozialismus und vergleiht seine Geisteszerrüttung mit dem Zusammenbruch des Dritten Reihes. Es ist auh die Meinung des Dihters, daß die rückhaltlose Hingabe an die Musik, die zur Romantik gehört, die notwendige Herrshaft der Vernunft über das menshlihe Leben ershüttem kann und deshalb eine Gefahr für die Humanität bedeutet. Vielleicht ist dieser symbolishe Vergleih zwishen einem tragishen Menschenschicksal mit dem politishen Irrweg eines Volkes allzu vereinfaht und darum ungereht. Die ganze Widerstandsbewegung, die Konzentrationslager zwishen 193 3 und 1939, angefüllt mit deutshen Gegnern Hitlers aus allen sozialen Shihten, das Andere Deutshland und seine Leiden, sie fehlen in dieser Symbolik des Dihters. Aber dieser Vergleih ist ja durhaus niht der Kem de. -Dihtung, sondern in ihm birgt sih das Problem Thomas Manns aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, das Verhältnis zwishen Kunst und Leben, Geist und Leben, Kunst und Krankheit, das nun wieder ausgenommen und gestaltet ist in einem großangelegten tragishen Werke, der einzigen Faustdihtung, die ebenbürtig neben Goethes Faust steht.
In einem Aufsatz über Thomas Mann und das Dritte Reih darf zum Abshluß niht ein Hinweis fehlen auf seine gewissenhaften Bekenntnisse in diesem Roman.