Vortrag in der Vorlesungsreihe „Die beiden Deutschland — eine Bestandsaufnahme“, Deutsche Hochschule für Politik, Berlin am 2. November 1955.
Wenn wir Deutschen in diesem Winter über Wiedervereinigung sprechen, dann schwingen andere Untertöne mit als bisher. Anstelle einer unverbindlichen Begeisterung — Wiedervereinigung ist unsere erste Aufgabe, sie wird kommen, denn sie muß kommen — hört man Worte brennender Sorge. Wie kann die Wiedervereinigung in dieser weltpolitischen Lage durchgesetzt werden? Es wäre ganz verkehrt, diese veränderte Stimmung etwa als Unsicherheit und Zweifel anzusehen. Sie ist das Ergebnis eines heilsamen Schocks. Seit der Reise Adenauers nach Moskau ist das Problem aus der Sphäre der Begeisterung erweckenden Programmpunkte hinuntergerückt zu einem Punkt der nüchternen Tagesordnung. Als ich das erste Mal nach Moskau die Enttäuschung der Menschen aus der Ostzone erlebte, fiel mir ein Bild vom Bergsteigen ein. Wenn man auf einer langen Wanderung auf den Gipfel zugeht, den man ersteigen will, dann freut man sich an seiner Höhe, an seiner Form, an dem Gedanken, wie herrlich die Aussicht von oben sein müßte. Wenn man aber endlich am Schluß des Tales angelangt ist, dann sieht man nichts mehr vom Gipfel, man steht vor einer steilen Wand, die man durchklettern muß. Man sucht den Einstieg und ist noch nicht einmal sicher, wie man das erste Stück des Aufstiegs schaffen soll, ob man nach dessen Überwindung den Gipfel sieht und welch neue Schwierigkeiten dann auftauchen könnten. Jeder Bergsteiger weiß, daß ihn eine gewisse Ermüdung und Enttäuschung überfällt, selbst wenn er den Weg kennt; erst recht, wenn der Weg zum ersten Mal erschlossen werden soll. So sieht es mit der Wiedervereinigung im Winter 19 55/56 aus. Wir sind endlich in unmittelbarer Berührung mit dem Gegner. Jedes Wort, das wir heute sprechen, jede Verhandlung ist verantwortlich und verbindlich; Deklarationen und Treuekundgebungen sind sinnlos, ja gefährlich (sie waren auch schon bei der Wiederholung der Feiern des 17. Juni einigermaßen peinlich). Der Bergsteiger in unserem Bild prüft, ehe er in die Wand einsteigt, noch einmal seine Karten, er prüft aber auch seine Vorräte, seine Kleidung, seine Kräfte. So haben wir uns jetzt nicht nur mit dem Gegner zu beschäftigen, sondern genau so mit uns selber. Wie sieht es bei uns in Westdeutschland und in Westberlin aus? Wie sind wir für den Kampf um die Wiedervereinigung gerüstet? Was bringen wir ein, wenn es soweit ist?
Zwei verschiedene politische Gemeinwesen Darum haben wir unsere Vorlesungsreihe überschrieben: Die beiden Deutschland. Man hat uns diese Formulierung zum Vorwurf gemacht, als ob darin die Anerkennung der östlichen These läge, es gäbe zwei deutsche Staaten. Ich möchte diese Kritik gleich zum Anlaß nehmen, einmal die Kategorien der politischen Wissenschaft an unserem Thema zu erproben. Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik sind zwei verschiedene politische Gemeinwesen. Es sind in sich abgeschlossene Ordnungen auf abgeschlossenen Gebieten. Aber es sind politische Ordnungen gänzlich verschiedener Art. Im Westen haben wir einen Staat, eine selbständige Regierung ist für dieses Gebiet verantwortlich, sie hält sich an der Macht mit ihren eigenen Kräften. Es ist ein demokratischer Staat, legitimiert durch die Zustimmung des Volkes in freien'Wahlen zu den gesetzlich vorgesehenen Zeitpunkten, legitimiert durch die Zustimmung des Volkes, auch durch den Gehorsam, der geleistet wird, ohne daß ein anderer Zwang dahinter stände als die zu jedem legitimen Staat gehörende Möglichkeit, auch einmal Gewalt zu gebrauchen. Es ist ein demokratischer Staat auch dem Inhalt seiner Ordnung nach; die freiheitlichen Grundrechte stehen nicht nur auf dem Papier, sie werden eingehalten, und ihre Einhaltung kann vor unabhängigen Gerichten eingeklagt werden.
Im Osten haben wir eine Herrschaftskolonie, die Gewalt liegt eindeutig bei der Kolonialmacht, der Sowjetunion. Die Legitimierung liegt allein bei den Panzern und Bombern der Besatzungsmacht. Nur im Hinblick darauf, daß diese Gewaltmittel gegen die überwältigende Mehrheit des Volkes eingesetzt werden können und am 17. Juni 19 5 3 auch eingesetzt worden sind, gehorcht es zähneknirschend. Nicht eine Stunde würde die sogenannte Regierung sich halten, wenn dieser Schutz weg-fiele. Es ist ein besonders krasser Typ der Kolonialherrschaft, nämlich eine Kolonialherrschaft über ein Volk, das sich selbst regieren könnte und das in seiner Geschichte gezeigt hat, daß es sich selbst regieren kann. In Asien. Afrika und Australien gibt es nur noch die anderen Typen: Siedlungskolonien im menschenleeren Lande oder Ausbeutungskolonien über Stimmen, die es nie zu einem eigenen Staat gebracht haben. Herschaftskolonien im strengen Sinn gibt es außerhalb Europas höchstens noch in der verschleierten Form der Protektorate. Diese krasseste Form des Kolonialismus ist also heute der Herrschaft von Europäern über Europäer vorbehalten. Für solche Marionettenregierungen gibt es mehrere Beispiele aus der Geschichte der letzten 15 Jahre. Es sei an die Regierung Quisling in Norwegen erinnert, an das letzte Jahr der Herrschaft Mussolinis, die sogenannte Republik von Salo, außerhalb Europas an die Regierung von Boa Dai in Vietnam und von Ben Arafa in Marokko. Genau von diesem Typus ist die Regierung in Pankow. Ver-Handlungen mit solchen Regierungen sind sinnlos, nicht aus Prestige-gründen — da könnte ein an sich sicherer Staat durchaus großzügig sein — doch sind sie sinnlos, weil solche Regierungen keine eigene Meinung zu vertreten haben und weil sie niemanden verpflichten können. Wir müssen dieses Ergebnis einer nüchternen wissenschaftlichen Überlegung festhalten, auch für den Fall, daß die praktische Politik andere Wege gehen sollte, weil eine echte Verhandlung mit dem wirklichen Machthaber vielleicht einmal solche Form annehmen könnte.
Also nicht zwei Staaten, aber zwei Ordnungen von völlig verschiedenem Typus: verschieden ist die Staatsgewalt, verschieden ist die Herrschaftsform, verschieden ist die Gesellschaftsordnung. Verchieden sind aber auch die Erfahrungen, die von Menschen derselben Art und derselben Gesinnung in den letzten 10 Jahren gemacht worden sind. Und daraus ergibt sich auf beiden Seiten eine verschiedene geistige Haltung. Wir können es uns nicht so leicht machen zu sagen: es ist einfach der freie und der unfreie Teil des deutschen Volkes. Auch bei der Wiedervereinigung werden die Menschen aus dem Osten die Erlebnisse nicht los, die sie 10 Jahre lang gemacht haben. Sie werden nicht von „Errungenschaften“ reden. Es mag einigen Doktrinären im Westen vorbehalten bleiben, bestimmte Formen des Sozialismus, die ihnen aus anderen Gründen vernüftig erscheinen, auch dann als Errungenschaften zu bezeichnen, wenn sie unter Mißachtung der persönlichen Wünsche und der sachlichen Notendigkeiten einem Volk aufgezwungen worden sind. Das hindert uns nicht, die eine oder andere Seite der östlichen Ordnung als zweckmäßig anzusehen. Die Bewertung geistiger Arbeit etwa, das Heranziehen der Jugend für öffentliche Ämter geschieht zwar aus sehr fragwürdigem Anlaß, aber es sind darin auch Ansätze für eine Entwicklung, die wir im freiheitlichen und einheitlichen Deutschland weitergeführt sehen möchten.
Vor allem müssen wir uns aber davon hüten, den Westen einfach als Normal-Deutschland anzusehen. Auch die Bundesrepublik ist ein verstümmeltes Deutschland, und sie weist genau so wie der körperlich verstümmelte Einzelmensch eine ganze Reihe von Verdrängungserscheinungen auf, die nur dadurch zu erklären sind. Das Selbstbewußtsein und das Wertbewußtsein sind nicht im Gleichgewicht. Man arbeitet krampfhafter, man stellt seine eigenen Erfolge nicht immer mit dem nötigen Geschmack heraus, wenn man weiß, daß man eine wesentliche andere Aufgabe nicht geleistet hat und zur Zeit nicht leisten kann.
Darum ist es notwendig, eine Bestandsaufnahme für die beiden Seiten zu geben. Sie muß zunächst getrennt vorgenommen werden, der Westen und der Osten Deutschlands muß für sich behandelt werden. Aber dann muß auf jedem Lebensgebiet ein Vergleich gezogen werden, und es muß untersucht werden, wie weit die Besonderheiten bereits das Ergebnis der Trennung sind und welche Bedeutung sie positiv und negativ für die Wiedervereinigung haben.
Die soziale Struktur Wir müssen zunächst die soziale Gesamtstruktur untersuchen. Wie sieht es damit im Westen aus? Wir haben die uns. bekannte Gliederung nach Ständen und Klassen mit der uns allen bekannten Abschwächung der hergebrachten Standesunterschiede und auch der Abschwächung des Klassenkampfes, wie sie beide typisch für das reife Stadium der europäischen Industriegesellschaft sind. Ich darf etwa auf das Buch von Theodor Geiger mit dem klassischen Titel „Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ verweisen, oder auf den etwas zugespitzten Ausspruch, den Stemberger in Stockholm getan hat, von der „klassenlosen bürgerlichen Gesellschaft des Westens". Wichtiger sind einige neu auftretende Unterschiede: Noch immer ist die Spannung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen nicht völlig überwunden, obwohl die Eingliederung in einem von niemand erwarteten Maße gelungen ist und die Vertreibung nicht zu der gefürchteten Sprengung aller sozialen Ordnung geführt hat. Auch die Ostzonenflüchtlinge sind zum Teil eingeordnet, nur daß sie besonders stark die Vorläufigkeit der ganzen Ordnung und ihre Stellung darin empfinden. Ebenso wichtig ist aber vielleicht, daß sich eine Unterscheidung vom Politischen her herausbildet zwischen den Verantwortlichen und denen, die anderen die Verantwortung überlassen, zwischen den Aktivbürgern, wie es Otto Suhr genannt hat, die über Parteien versuchen, im öffentlichen Leben mitzuwirken, und denen, die Politik über sich ergehen lassen — resigniert oder gleichgültig oder auch durchaus vertrauensvoll, denn das soll man nicht vergessen, daß es diesen Typus auch gibt. Die Alliierten — also die Besatzungstruppen und einige zivile Vertreter — sind noch da, aber die veränderte Beurteilung spricht sich schon in dem Worte aus. Es sind nicht mehr nur die unter sich alliierten Westmächte, sondern auch die Alliierten des eigenen Staates. Ein Zentrum hat diese Gesellschaft nicht, kein politisches — Bonn ist Regierungssitz, aber nicht Hauptstadt, und von den Länder-hauptstädten haben höchstens München, Hamburg und Bremen wirklich zentrale Bedeutung für ihre Gebiete, denn nur in Bayern, Hamburg und Bremen gibt es eine Überlieferung eigener Staatlichkeit. Es gibt aber auch kein geistiges Zentrum, es gibt auch keine anerkannte Führungsschicht. Und so ergibt sich eine Restauration alter gesellschaftlicher Formen gerade aus dem Bewußtsein der Vorläufigkeit heraus. Ein eigentliches Gleichgewicht der Kräfte will sich nicht herstellen, weil man fühlt, daß etwas fehlt, was man nicht recht ausdrücken kann. Und darum greift man zurück auf frühere Formen. Das gilt für die LImgangsformen. das gilt für Verwaltung und Schule, das gilt vielfach auch für den Geschmack in künstlerischen und literarischen Dingen. Man macht sich die Vorläufigkeit nicht recht bewußt und sieht daher -auch nicht deutlich, wie vorläufig diese Rückgriffe sind.
Ganz anders ist die soziale Struktur im Osten. Hier gibt es eindeutig drei Klassen: die unterdrückte Masse der Bevölkerung, die schmale Schicht der Unterdrücker und darüber die Besatzungsmacht. Alle andere Schichtung ist demgegenüber unwichtig. Gesellschaftliche Geltung hat, wer als Person anerkannt wird. Das Bewußtsein, ’ in einer gemeinsamen Kampffront zu stehen, ist stärker als das Bewußtsein von alten oder neuen Schichtungen. Daher hängt die kleine politische Funktionärschicht auch so völlig in der Luft. Die Menschen dieser Schicht gehen immer nur miteinander um und bestätigen sich einander. Aber das gibt es auch im Westen. Diese Gefahr liegt ja besonders in Bonn in der ungesunden sozialen Isolierung der politischen Führungsschicht in einer Kleinstadt vor.
Aber im Osten ist entscheidend, daß diese Isolierschicht niemals durchbrochen werden kann, und daß die Menschen sie auch gar nicht mehr durchbrechen wollen, denn sie haben in ihrer Doktrin ja bereits alle Kenntnisse vorweggenommen. Sie interessieren sich nicht einmal mehr für das Ausland. Soviel ich auch bereits wußte, ich war doch erschüttert über das, was mir neulich ein junger westberliner Akademiker erzählte von einem Besuch bei einem kommunistischen Freund. Er war jahrelang im Ausland gewesen, er kannte alle wichtigen Gebiete Westeuropas, aber der kommunistische Freund fragte überhaupt nicht danach. Er wußte ja, daß diese ganze Gesellschaft korrupt und zum Untergang verurteilt ist. Er selbst aber war, trotzdem er ein absulut zuverlässiger, ja prominenter Parteianhänger ist, nicht einmal nach Polen oder der Tschechoslowakei gekommen und sah diesen Unterschied der Bewegungsfreiheit nicht mehr.
Diese Darstellung der sozialen Gesamtstruktur hat schon ein Licht auf die politische Struktur geworfen. Im Westen ist der Staatsbürger Träger der politischen Verantwortung als Wähler wie als Kritiker. Er ist sich dessen bewußt in den entscheidenden Augenblicken der Wahl, sonst im allgemeinen nicht. Die Parteien sind da, sind maßgebend, aber im Bewußtsein umstritten. Daß man politische Verantwortung hat wagt keiner zu leugnen. Parteipolitik gilt in schlechter deutscher Überlieferung noch immer weithin als minderwertig, anstatt, daß man verstände, daß sie der eigentliche Ausdruck der Bürgerverantwortung ist. Die Demokratie wird als selbstverständlich hingenommen, aber noch keineswegs in ausreichendem Maße als eigene Sache ernst genommen. Soweit die Politik der Selbsterhaltung der Gesellschaft dient, ist man zufrieden mit dem, was Adenauer mit Hilfe der Alliierten, mit Hilfe der Parteien und der Behörden erreicht hat. Daß es noch ein anderes Ziel der Politik gibt als diese Selbsterhaltung, wagt man nicht recht ins Auge zu fassen. Für eine Volksbewegung „Unteilbares Deutschland“ sind zwar eine Reihe von Stimmungselementen vorhanden, aber daß sie von jedem eine persönliche Mitwirkung für die innere und äußere Vorbereitung dieses westdeutschen Gebietes erfordert, wird noch nicht deutlich gesehen, da ja nur wenige die Erfahrung gemacht haben, daß es ihnen unter den Nägeln brennen muß
Völlig anders die politische Struktur im Osten: in jeder Stunde erlebt jeder Arbeiter oder Werksleiter, Lehrer oder Behördenangestellter, Bauer, Geistliche oder Professor die Tatsache der Fremdherrschaft. Fremdherrschaft ist die Partei, Fremdherrschaft blickt ihn an von den Transparenten, Fremdherrschaft erlebt er an der Willkür der Behörden oder der Volkspolizei. Es ist nicht nur schwierig, gegen diese Willkür anzugehen; auch im Westen resigniert mancher viel zu früh, wenn die Behörden aus Bequemlichkeit und Unwissenheit falsch entscheiden — aber hier im Osten ist es lebensgefährlich. Aber gerade dieser Zustand der Fremdherrschaft politisiert ein Volk. Drüben nimmt man die Mittel des politischen Lebens oft nicht ernst genug, weil man sich das Ziel nicht klar genug vor Augen hält. Hier ist das Zeil eindeutig: Freiheit und Wiedervereinigung. Und man sieht keine Mittel. Im Westen ein Volk, das der politischen Erziehung bedarf, um die Chancen der politischen Aktivität zu benutzen. Im Osten ein durch und durch politisch denkendes Volk, dem die Aktivität versagt ist.
Die wirtschaftliche Struktur Ähnlich wirkt sich auch die wirtschaftliche Struktur auf die Gesamt-haltung aus. Im Westen herrscht die Marktwirtschaft; sie ist dezentralisiert ihrem Grundsatz nach, jeder ist aufgerufen, die Interessen seines Betriebes durchzusetzen. Er kann sich darauf konzentrieren, er hat Freiheit, soweit er Geld bekommt. Er sieht die Auswirkungen seines Handelns auf das Ganze der Volkswirtschaft im allgemeinen überhaupt nicht. Darum ist es dann schwierig, ihn an seine Verantwortung zu mahnen, wie das jetzt Erhards Wirtschaftspolitik versucht. Dann muß man nämlich dem einzelnen dabei Dinge zeigen, die er nie gesehen hat, daß es so etwas wie eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung gibt, welchen Anteil seine Branche und sein Betrieb daran hat. Das hat er ja nie gewußt, und die bloße Mahnung, vernünftige Preise zu nehmen und vorsichtig zu investieren, verlangt etwas viel, wenn man ihn nicht gleichzeitig so weit in die Zusammenhänge einführt, daß er seinen Platz darin kennt. Andere westliche Länder, die sich mehr um die Aufstellung eines volkswirtschaftlichen Nationalbudgets bemüht haben, sind uns darin voraus. Es ist zwar dem einzelnen durchaus möglich, im Sinne dieser volkswirtschaftlichen Verantwortung zu handeln, nur er hat sie zu wenig kennengelernt.
Im Osten hört der wirtschaftende Mensch vom Betriebsführer bis zum Arbeiter Tag und Nacht von nichts anderem als seiner volkswirtschaftlichen Verantwortung. Er kennt sein Soll und er weiß auch, welche Vorteile er von einer Erfüllung eines Übersolls zu erwarten hätte. Gerade die Arbeiterschaft wird beglückt und bedrückt mit Hennecke-Methoden und Brigade-Systemen, und doch wissen sie ganz genau, daß das, was ihnen hier vorgehalten wird, nur selten erfüllt werden kann. Denn eben die Gesellschaft, auf die sie verpflichtet werden sollen, enthält ihnen die Möglichkeiten vor. Gerade im großen funktioniert der Plan ja nicht, und das Handwerkszeug, die Rohstoffe, die Hilfmaterialicn sind so und so oft einfach nicht zur Hand. Wissen und Können klaffen genau nach der umgekehrten Seite auseinander als im Westen. Dazu ist diese ganze Wirtschaft fremder Zwang. Es ist gar kein Raum für die eigene Verantwortung, es ist auch nicht einmal Raum, die eigene Position zu ändern oder zu verbessern. Daß es keine Selbstbestimmung der Arbeiter gibt, daß die Betriebsräte aufgehoben sind, daß die Betriebsgewerkschaftsleitungen nichts anderes sind als Funktionäre der Sklavenhalter, daran hat man sich allmählich gewöhnt. Die Arbeit muß gemacht werden, weil man davon lebt. Der Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit wird durch eine Ideologie verstellt, die keiner ernst nimmt, und trotzdem, die Sache wird ernst genommen. Daß Arbeit Dienst ist, daß jedes wirtschaftliche Handeln im großen volkswirtschaftlichen Zusammenhang steht, diese Erkenntnisse sind den Menschen selbstverständlich geworden. Es ist nicht völlig unwirksam, daß sie ständig von der Propaganda darauf hingewiesen werden. Wir werden nachher noch sehen, wie wichtig es ist, daß bestimmte Bahnen des Denkens ein-geschliffen werden auch für diejenigen, die mit dem Inhalt des Denkens, das von ihnen verlangt wird, gar nicht einverstanden sind. Aber viel wichtiger ist, daß die Menschen erleben: die Wirtschaft funktioniert nicht, weil sie an einer anderen Stelle nicht funktioniert. Was im Westen als rätselhaftes Schicksal der Konjunktur erscheint, das wird hier eindeutig erfahren als menschliches Versagen. Man könnte es besser machen, wenn man mehr wüßte und geschickter operierte. Die Menschen. die eine schlechte Planwirtschaft solange erlebt haben, werden sich auf das Risiko einer völligen Planlosigkeit nicht wieder einlassen können.
Das kann eines Tages recht bedeutsam werden für das Verhältnis der leitenden und der ausführenden Arbeit in den Betrieben. Im Westen spricht man von dem Sozialpartner, und das tatsächliche Verhältnis vor allem in den Großbetrieben ist gar nicht so unbefriedigend, aber das Bewußtsein davon fehlt, und es fehlt vor allem in den zentralen Organisationen. Man beschäftigt sich viel weniger mit dem. was bereits funktioniert, als mit Plänen umfassender struktureller Veränderungen, die gar nicht im Erfahrungsbereich der eigentlich Beteiligten liegen. Man beschäftigt sich mit der Macht der Gewerkschaften und der Verbände mehr als mit der Ausgestaltung der verantwortlichen Mitbestimmung in den Betrieben. Im Osten dagegen erfährt man die Möglichkeit und die Notwendigkeit verantwortlicher Mitbestimmung in einer ganz anderen Weise: im gemeinsamen Kampf darum, sich die Voraussetzungen für die Sollerfüllung überhaupt zu verschaffen, im gemeinsamen Kampf — so oft auch gegen die Planung und Steuerbehörden. Wie oft können Betriebe überhaupt nur durchgehalten werden, wenn Leitung und Belegschaft zusammen den Behörden „blauen Dunst“ vormachen. Und doch ist nicht zu befürchten, daß im Fall der Wiedervereinigung darunter die Achtung vor der Staatsautorität leiden müßte. Das Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung für „unsere Betriebe“ würde sich dann leichter auf „unseren Staat“ übertragen können als unter den bequemeren Verhältnissen des Westens.
Die geistige Struktur Ich könnte nicht von der politischen und wirtschaftlichen Struktur reden, ohne ständig auf die geistige Struktur hinzuweisen, die sich darin ausdrückt. Wir haben es natürlich nicht mit dem heute immer berufenen Unterschied von West und Ost zu tun. Die Menschen in der sowjetisch besetzten Zone denken, wie die Westdeutschen auch denken, und sie glauben, wie man im Westen auch glaubt. Sie wissen, was die totalitären Staaten, ob braun oder rot, verleugnen, sie wissen, was ein Mensch ist, und sie wissen, daß ein Weltbild Unsinn ist, wenn es den Menschen zur bloßen Funktion der Gesellschaft erniedrigt. Ob sie ihr Weltbild aus dem christlichen Glauben gewinnen oder aus irgendeiner humanitären Überlieferung, jedenfalls steht die menschliche Person mit ihrer Freiheit und Verantwortung im Mittelpunkt. All unser westliches Denken ist-kritisch, auch die Übernahme religiöser Dogmen ist uns heute nur möglich, wenn sie sich vor unserem kritischen Gewissen verantworten läßt. Aber die Reaktion auf die Umwelt sieht im Osten und im Westen verschieden aus, weil die Erfahrungen so verschieden sind. Die Menschen im Osten Deutschlands quälen sich in ihrem täglichen Leben. Ihr kritisches Denken richtet sich zunächst gegen den Zwang, gegen den geistigen Zwang des marxistischen Dogmas, mindestens so gegen den staatlichen Zwang, der den freien Verkehr zwischen den Deutschen behindert und den wirtschaftlichen Zwang, der sie nicht zur Entfaltung ihrer Kräfte kommen läßt. Aber sie müssen sich ständig beschäftigen mit der verabscheuten Ideologie, und diese Ideologie ist nicht klein und dumm, wie es die nationalsozialistische war, sondern sie beruft sich immerhin auf eine der größten Geister des 19. Jahrhunderts, und sie ist umfassend, läßt nichts aus in Natur und Geschichte. Bischof Lilje hat in einer bemerkenswerten Rede vor einer Unterschätzung des Marxismus gewarnt und, gesagt: dieses Denken ist elementarer, denn es geht aus unmittelbar von jedem gemachten Erlebnis, es ist präzis, jede Erscheinung hat ihren Platz im System, und das läßt sich genau angeben, genau wiedergeben und genau lernen, und es ist verpflichtend, Theorie und Praxis sind Einheit. Daher kommt es, daß Menschen, die dieses Denken ablehnen, doch nicht umhin können, in seinen Begriffen zu denken. Daher kommt es, daß marxistisch geschulte Antikommunisten nach den wirtschaftlichen Interessen im Hintergrund politischer Entscheidungen mit einer sehr unbequemen Nüchternheit zu fragen wissen, daß sie aber auch mißtrauisch an der verkehrten Stelle sind, daß sie oft vom Westen ein totalitäres Verhalten verlangen, wo er gerade nicht als geschlossene Machtgruppe reagieren darf — etwa in Fragen der geistigen Freiheit. Wir werden uns ausführlich darüber unterhalten müssen, welche Sorgen uns die marxistische Erziehung der Jugend macht, nicht so sehr, weil sie Kommunisten erzieht, sondern weil das Denken in fremden Begriffen und das ständige Lügen-müssen zu einer tiefinnerlichen Verlogenheit, zu einem gefährlichen Nihilismus führen kann.
Wenn wir uns von da aus zum Westen wenden, dann finden wir, daß sich nur wenige quälen, dann finden wir, daß nur wenige elementar denken, noch weniger Menschen präzis und sehr wenige verbindlich. Wir finden auf der einen Seite die geistige Bequemlichkeit, sich mit hergebrachten christlichen und idealistischen Formeln zu begnügen ohne die Präzision: wohin gehört nun eigentlich in meinen Weltbild mein Betrieb, meine Schule, meine Ehe, wo hat dort die Atomkraft, die chinesische Bodenreform, die abstrakte Kunst ihren Platz? Neben dieser Bequemlichkeit des konventionellen Denkens steht ein unverbindlich kritisches, das sich seiner Freiheit rühmt, das jede positive Haltung als Ideologie aufzulösen so gerne bereit ist, und auf die Frage: wonach soll denn der Mensch sich noch entscheiden, im günstigsten Fall die Antwort hat, daß das Vernünftige oder Gute in der Welt doch siegen würde. Wir finden also nebeneinander eine konventionelle Restauration und einen durch nichts mehr gestützten verantwortunglosen Fortschrittsglauben. Die religiöse Frage nach einem umfassenden und verpflichtenden Weltbild ist nicht mehr zu umgehen. Für die Deutschen der sowjetisch besetzten Zone liegen die Dinge einfach. Das, was ihnen als Marxismus vorgesetzt wird, ist nicht nur eine Lehre, sondern eine dem ganzen Menschen bestimmte Haltung, die mit Dogma und Liturgie das ganze Leben der Gläubigen intrigiert. Diese säkulare Religion spannt auch die Kritischen und LIngläubigen mit psychischem und physischem Zwang so stark ein, daß sie sich nur wehren können, wenn sie einen anderen Glauben haben. Daher die Stärke und die Bekenntnisfreudigkeit der Kirchen in der Ostzone, daher auch die innere Sicherheit der nichtchristlichen Humanisten — alles Dinge, die wir im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in ähnlicher Weise erlebt haben, wo allerdings die äußere Stärke der Bedrohung und auch die innere Kraft des fremden Glaubens unendlich weit hinter den Gefahren der Gegenwart zurück blieb.
Der eigentliche Grund für die Restauration Im Westen aber erleben wir einen bedenklichen und immer bedenklicheren Rückfall hinter die Erfahrungen, die wir in der Nazizeit bereits gemacht haben; ein Anwachsen des Konfessionalismus nicht nur innerhalb der beiden großen Kirchen, sondern auch innerhalb der einzelnen evangelischen Landeskirchen und theologischen Schulmeinungen, die in der Widerstandszeit der Bekennenden Kirche längst überwunden schienen. Die Kirchen, die 1945 dem Volke so glaubhaft geworden waren, fallen wieder zurück hinter die Aufgabe, ein verpflichtendes Bild von der Welt — wie sie heute ist — zu entwerfen, in eine Restauration römischer Scholastik und protestantischer Biblizistik. Nur wo der Blick in die Ökumene offen bleibt in die Weite der Weltkirche, die nicht nur die Träger der westlichen Kultur umfaßt, sondern auch die ehrwürdige Überlieferung des alten Orients und die Sorgen und Erfahrungen der neu aufsteigenden Rasse, hier, wo die politischen und sozialen Fragen von den religiösen nicht mehr zu lösen sind, machen wir ähnliche Erfahrungen wie die Menschen des Ostens sie jeden Tag machen. Der Westen Deutschlands hat außerordentlich viel gewonnen durch die Entwicklung seit 1948. Der Lebensstandard ist in einer niemals zu erwartenden Weise gestiegen, der Staat ist konsolidiert, die inneren politischen Verhältnisse sind relativ beruhigt, aber die Menschen beginnen Schaden zu nehmen an ihrer Seele. Die Unsicherheit der ersten Nachkriegsjahre ist nicht überwunden, sondern verdrängt worden. Es ging zu schnell nach der Währungsreform. Das Volk hatte keine Zeit, eine dieser Generation entsprechende Form für die neue wirtschaftliche, politische, geistige Situation zu finden. Das ist vielleicht der eigentliche Grund für die Restauration. Das ist der Grund dafür, daß der Westen manchmal so alt, ja geradezu altmodisch wirkt. Man kann sich nicht mit der Erklärung beruhigen, daß die Führung eben bei so alten Männern liegt; umgekehrt, sie liegt bei den alten Männern, weil die jüngeren keinen Stil entwickelt haben, der sie selbst überzeugte. Von hier aus ist der Unterschied im Lebensgefühl und im Verhalten besonders deutlich zu verstehen. Die Menschen des deutschen Ostens sind fixiert an die Erfahrungen, die das ganze deutsche Volk in den Jahren 1945— 1948 gemacht hat. Sie sind noch so unsicher, sie sind noch so fremd gegenüber der Umwelt, sie sind noch so arm, sie sind aber ebenfalls noch so offen für Fragen und für Aufgaben. Sie erwarten nichts vom Osten. Sie haben ja auch keinerlei Beziehungen dahin. Das Beispiel von dem jungen Kommunisten zeigt mit erschütternder Deutlichkeit, wie unfähig Rußland gewesen ist, selbst für die wenigen Anhänger einen wirklichen Kontakt herzustellen.
Für die Massen der Bewohner in der Sowjetzone ist die Freundschaft mit dem Ostblock eine einzige Farce. So wendet sich der Blick immer wieder nach Westen, d. h. nach Westdeutschland. Das ganze Volk steht mit dem Blick nach dem Eisernen Vorhang hin.
Und nun kommt die große Not. Die Menschen des Westens sehen ja nicht nach Osten. Ihnen hat sich ja 1948 mit einem Mal die ganze weite westliche Welt — Europa, Amerika, auch die anderen Kontinente, soweit sie nicht in den Händen des Ostblocks sind — erschlossen. Niemand kann es den Westdeutschen verübeln, daß sie diese Chance ausgenutzt haben, daß sie nach Westen reisen, daß sie engliche, amerikanische, französische Bücher lesen, Stücke spielen, Filme sich vorspielen lassen. Ganz abgesehen von den guten Geschäften, die man mit dem Westen machen kann; daß sie die Lebenshaltung übernehmen, die ihnen jetzt ermöglicht wird, und daß sie sich dabei an die westlichen Vorbildei halten. Alles was dort geschieht, interessiert sie leidenschaftlich, um so mehr, als sie endlich aus der Isolierung heraus sind, die ja nicht etwa 1945 oder 1939 begann, sondern 1933, ja, die für einen großen Tei! des deutschen Volkes auch in der Zeit der Weimarer Republik nicht wirklich überwunden war. Seit 1914 hat es ja derartige internationale Kontakte für das deutsche Volk, vor allem für die deutsche Jugend, nicht mehr gegeben; das mußte die Menschen ergreifen, das mußte ihren Blick über die Grenzen hinaus richten. Es ist ein Segen, daß es so gekommen ist. Aber was bedeutet das für die Menschen der Ostzone? Sie schauen nach Westdeutschland, weil sie sich dahin gehörig fühlen, weil das ihr einziger Ausweg aus der Welt der Verzweiflung ist, und sie haben den Eindruck, daß diese Westdeutschen ihnen buchstäblich den Rücken kehren und immer nur weiter nach Westen schauen. Die Menschen in Ostdeutschland sind offen für Fragen und für Eindrücke. Wenn man es gelehrt ausdrücken soll: ihr Wertsystem hat zwar ein Zentrum, d. h. persönliche Freiheit, aber sonst ist nichts festgelegt. Und eben um der persönlichen Freiheit willen ist das Zentrum ihres politischen Bewußtseins die Wiedervereinigung mit Westdeutschland. Das ist ihre einzige Hoffnung, darauf warten sie. Das beschäftigt sie Tag und Nacht. Und der Partner, mit dem sie sich dauernd beschäftigen? Auch in seinem Wertsystem steht die persönliche Freiheit im Mittelpunkt; aber da sie nicht bedroht ist, wird ihm das nicht bewußt. Lebensstandard, Sicherheit, Geltung, Überlieferung, alles Dinge, die für den Osten sekundär geworden sind, haben sich in den Vordergrund geschoben. Ein ganzes geschlossenes System von Wertungen und Meinungen hat sich gebildet, in dem der eigene Staat zwar seinen Platz hat, aber nicht gerade einen entscheidend wichtigen. Und in dem die Wiedervereinigung eigentlich nur für diejenigen Menschen vorkommt, die engste persönliche Bindung an Menschen im Osten haben oder die in besonderer Weise politisch wach und aktiv sind. Man muß die Menschen im Westen an das, was den Menschen im Osten das Liebste und Wichtigste ist, ausdrücklich erinnern. Das führt allerdings zu großen psychologischen Spannungen, zu Enttäuschungen im Osten und zu Gereiztheiten im Westen.
Es scheint mir ein großer Vorteil der augenblicklichen Stunde zu sein, daß wir gezwungen sind, diese Lage nüchtern zu überdenken. Welche Folgerungen daraus für den Osten zu ziehen sind, können wir nur andeuten. Es ist ja nichts schwieriger, als Menschen zu Geduld und zum Ausharren zu mahnen, wenn man selber an ihrer Not nicht unmittelbar teilhat. Wir können höchstens sagen — und das mag das Selbstbewußtsein unserer Brüder im Osten stärken — seid gewiß, daß ihr bei einer Wiedervereinigung seelisch und geistig mindestens soviel zu geben habt, wie ihr wirtschaftlich und politisch nehmen werdet! Seid gewiß, daß das wiedervereinigte Deutschland seines Lebens nicht froh wird, wenn nicht ihr aus euren Erfahrungen ihm zu einer Haltung verhelft, die es von Bonn aus nie gewinnen kann. Was hat das für den Westen zu sagen? Wir können hier nicht in dem Sinn von einer Einheit sprechen, wie es im Osten möglich ist. Wir müssen unterscheiden, welche Schicht angesprochen werden soll. Von der geistig und politisch führenden Schicht muß verlangt werden, daß sie sich wieder zurückversetzt in die Lage von 1948, als die „Währung ausbrach". Es ist damals materiell — nicht durch Schuld der Deutschen — etwas Wesentliches versäumt worden, nämlich die Verbindung von Währungsreform und Lastenausgleich. Das hat sich zu einem Teil mit Hilfe von Gesetzen nachholen lassen. Es muß aber auch die entsprechende Erfahrung geistig nachgeholt werden. Der Westen muß die Last des Ostens mittragen. Er muß den Gegner, mit dem die Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone zu kämpfen haben, kennenlernen, denn er hat selber über kurz oder lang mit ihm zu ringen. Er muß die Weltanschauung des Marxismus ernst nehmen. Er muß die eigene Haltung daraufhin prüfen, ob sie — um jene guten Formulierungen von Lilje anzuwenden — elementar, präzis und verpflichtend genug ist. Der Westen, d. h. also hier die Presse des deutschen Westens, d. h. die Hochschulen des deutschen Westens, d. h. die Lehrer im deutschen Westen haben das ganze Deutschland im Auge zu behalten.
Man muß aber auch die wirtschaftliche und politische Verfassung der Zone kennen und sich darauf einrichten, daß das zukünftige Deutschland nicht so einfach traditionell-liberal wirtschaften und verwaltet werden kann, wie das für die Bundesrepublik in der Zeit des Aufschwungs gerade noch möglich war. Die scheinbare Normalisierung des Lebensstandards, der Verwaltung, der Parteipolitik im Westen ist ja über das Maß hinausgegangen, das zur Lage der Generation gehört. Wir, d. h. die Deutschen im ganzen, sind ärmer und sind sorgenvoller. Die alte Eigentumsordnung ist im einzelnen nicht wieder herzustellen, will man nicht neues Unrecht schaffen; die neue Ordnung verlangt aber mehr Bindung im Wirtschaftlichen und damit auch mehr Selbstverantwortung im Politischen, als es der Westen heute aufbringt, wenn wir existieren wollen. Wir treten wieder in die Nachbarschaft und in den Umgang mit den östlichen Völkern ein und müssen uns dort als die Vorposten des freien Europa bewähren. Wir müssen uns davor hüten, den dortigen Stil einfach als gleichwertig anzuerkennen, wie es etwa die Gesellschaft für den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit Polen tut; aber wir dürfen auch nicht mehr einfach den Eisernen Vorhang im Osten verschieben.
Das alles kann man aber nicht abstrakt den Menschen beibringen. Das muß man erfahren im ständigen Umgang mit den Menschen der Ost-zone. Jeder kleine Kontakt, jeder Hinweis, daß man einen Menschen einlädt, daß man noch ein Gespräch mehr führen, daß man noch eine Erfahrung aus dem Osten mehr anhören kann, ist wichtiger als langatmige Traktate über Wiedervereinigung. Das Kuratorium „Unteilbares Deutschland“ hat keine Massenbewegung werden sollen. Das ist gut, denn es erspart uns die Gefahr einer Propaganda, die in das billig-Nationale oder das schlecht-Weltanschauliche hätte abgleiten können. Das verpflichtet aber um so mehr, daß von Mensch zu Mensch die Mahnung weitergegeben und daß keine Ruhe gegeben wird; denke an die Menschen, denen du im Osten jetzt helfen kannst. Warum haben unsere westdeutschen Zeitungen nicht ständig an derselben Stelle, in demselben großen Druck wie sie über ihre eigene Stadt oder ihr eigenes Land berichtet, eine große Spalte „Aus der sowjetisch besetzten Zone"? Warum werden nicht alle Einzelheiten über Aue und Rostock, über Weimar und Frankfurt an der Oder ebenso selbstverständlich weitergegeben wie diejenigen über die benachbarten Gebiete? Es ist eine Quälerei, die Zeitungen des Ostens zu lesen. Sie lügen und sie sind außerdem noch langweilig. Es muß aber geschehen, und es müssen die nötigen Auszüge und die nötigen Erwiderungen jeden Tag gebracht werden, damit die Menschen im Westen die Lage kennen, in der ihre Brüder leben, und damit den Menschen im Osten, die ja noch nicht völlig von uns abgeschnitten sind, immer wieder zum Bewußsein gebracht wird: „Sie beschäftigen sich mit uns. Das, was wir nicht sagen können, das sagen sie nicht nur in allgemeinen Redensarten, sondern in konkreter Berichterstattung und konkreter Begegnung". Die Menschen im Westen Deutschlands müssen dem Tage der Wiedervereinigung so wach entgegensehen, wie es die Menschen des Ostens von selber tun.
Denn dieser Tag X wird ja nicht eine Annexion werden. Die Befreiung bedeutet ja, daß die Befreiten jetzt mitzureden haben, und man muß wissen, was sie für Fragen stellen. Und man muß offen sein für das, was sie dann fordern. Das wird noch etwas anderes sein als das zweite Eisenbahngleis und die Angleichung der Löhne, auch noch etwas anderes als die freie Wahl und das unabhängige Gericht. Denn mit der freien Wahl und mit dem unabhängigen Gericht können sie nur etwas anfangen, wenn sie dann ihre eigenen Geschäfte als unsere Geschäfte, als die aller Deutschen, führen. Und wenn sie mitzureden haben auf allen Gebieten. Die SBZ ist keine Arbeiter-und Bauernrepublik; aber ihr Leben ist viel agrarischer und — wenn auch nicht eigentlich proletarischer-so doch arbeiterhafter als das westdeutsche. Dem muß sich das ganze vereinigte Deutschland angleichen. Und das wird einigen unbehaglich sein. Es wird ihnen so unbehaglich sein, wie wir Berliner heute so vielfach für den Westen unbehaglich sind. Damit bin ich bei dem Letzten, was heute zur Einleitung dieser Vorlesungsreihe zu sagen ist. Wir in Berlin gehören ja wirklich zu beiden Fronten. Wir haben den weitaus größten Teil der Vorteile des Westens. Wir haben die Freiheit, wir haben einen großen Teil des Lebensstandards, und wir haben die Bewegungsmöglichkeit zum Reisen und zur geistigen Auseinandersetzung, und wir nutzen sie, weil wir immer noch die Bedrohung vor der Tür haben, vielleicht stärker und bewußter als die Bundesrepublikaner. Wir Berliner kennen die ganze Bedrohung, wir haben sie mit Hilfe der Alliierten abwehren können und haben das erproben können, was Ernst Reuter vor unseren Studenten einmal so gut genannt hat „das unbefangene Nationalbewußtsein derer, die sich geachtet wissen und darum nicht mehr in Versuchung sind, anzugeben". Daraus wächst uns das Recht und die Pflicht, die Bestandsaufnahme nach beiden Seiten zu vermitteln. Wir kennen die Erfahrungen des Westens und kennen die Erfahrungen des Ostens und können jene Rolle spielen, die wir in der Chemie den Katalysator nennen. Diese paar Menschen hier bedeuten eben deswegen mehr als ihre Anzahl.
Die Wiedervereinigung — Aufgabevon mir und dir im Osten und im Westen Und so wollen wir jetzt miteinander sprechen über die Lage im Osten und Westen und wollen äußerst nüchtern die Lage des Westens und die Lage des Ostens, die Lage Berlins und die Lage des ganzen Deutschlands hineinstellen in den Zusammenhang der Weltgeschicke. Wir wollen über die Wiedervereinigung sprechen, nicht, wie man von einem Ideal spricht, sondern wie man von einer sehr schweren Aufgabe spricht, von der man sich nicht lösen kann, von allen Schwierigkeiten und allen Risiken. Wir wollen mithelfen, daß es Menschen mit der Mentalität des Westens sich bewußt halten: die Wiedervereinigung ist nötig auch, damit wir selbst zu uns selbst kommen. Denn was sonst aus dem Westen wird, ist ein Stückchen Talmi-Europa und kein Deutschland mehr. Und wir wollen den Menschen im Osten und denen unter uns, die in Gefahr sind, nur vom Osten her zu denken, deutlich machen, was an Geduld und was auch an Risiko nötig ist. Denn das müssen beide wissen: Die Wiedervereinigung ist nicht umsonst, sie wird ein größeres politisches Risiko einschließen, als es der einfache Anschluß an die Westmächte heute darstellt. Sie wird ein nicht unerhebliches wirtschaftliches Risiko einschließen und organisatorisch Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Sie schließt auch ein geistiges Risiko ein. Die Auseinandersetzung mit den Erlebnissen, die dem Westen erspart geblieben waren, ist schon schwierig, und die Auseinandersetzung mit dem Gegner, den man bisher nicht ernst genug genommen hat und die man in Freiheit von denen übernehmen muß, die sie bisher in Unfreiheit führen mußten, wird noch schwieriger sein. Die Wiedervereinigung ist nicht eine Sache von zuständigen Stellen. Die Wiedervereinigung ist die Aufgabe von mir und von dir im Osten und im Westen, und sie ist vielleicht die schwerste Aufgabe für diejenigen, die so genau darum wissen, wie wir es hier zu tun glauben. Darum bitte ich alle Hörer dieser Versammlung und alle, die wir in Zukunft auf diesen Bänken zu sehen hoffen, arbeiten Sie mit in aller Nüchternheit und Gründlichkeit, damit Sie uns dazu helfen, daß hier nicht nur ein Lehrkörper Wissen weitergibt, sondern daß die Körperschaft der Schule in der Körperschaft der Stadt und des Volkes eine Zelle der Wiedervereinigung wird.