Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau | APuZ 10/1956 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1956 Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

Als Häftling in Dachau . . . geschrieben von 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau

3. Fortsetzung und Schluß

Häftlingstransport

Das Leben geht weiter Wir hatten recht gehabt, uns vor dem grauen Alltag zu fürchten. Es war schlimm, was wir nun wieder durchmachen mußten.

Täglich wurde es kälter, morgens hüpften wir vor Frost von einem Bein auf das andere, wenn wir so wartend vor dem Block stehen mußten. Und die Kälte stieg täglich: 20 Grad, 22 Grad, 25 Grad unter Null.

Es schien, daß sich Schnell bei diesem Wetter noch wohler fühlte. Er und seine Helfer waren teuflischer als je.

Täglich trugen die Kameraden jetzt dreißig Särge. Jeden Morgen sahen wir den Moorexpreß hochbeladen mit Strohsäcken. Wenn wir sie zählten, so wußten wir, wieviele Tote wir den Tag vorher gehabt hatten, einmal waren es sechsunddreißig, einmal sogar zweiundvierzig. Die Kälte beschleunigte das Sterben, sie brachte die Menschen schnell um. Auch von uns, die wir in der Strafkompanie waren, starben täglich viele, mit den Juden zusammen, je nachdem, manchmal drei, manchmal sechs, — oft auch acht Mann.

Das Barometer stieg und sank, sank und stieg. Der Schnee klirrte geradezu unter den Füssen, wir hatten schließlich 25 und 28 Grad unter Null. Da kam aus irgendeinem unerfindlichen Grunde der Befehl zum Einrücken. Die Kälte wäre zu groß, hieß es.

Sollte der Lagerkommandant plötzlich ein menschliches Rühren verspürt haben? Oder war die Sterbeziffer zu hoch, so daß der Arzt sie nicht mehr „verantworten“ konnte, wenigstens scheinbar nicht? Vielleicht war es möglich, daß auffallend hohe Todesziffern sich doch herum-sprachen. Tatsache war, daß wir auf dem Block blieben, — das bedeutete eine halbe Lebensrettung, so unter Dach zu sein.

Wir schrieben Anfang 1941.

Was würde uns 1941 bringen? Die Freiheit? Es brachte vorderhand nur grimmige Kälte.

Einige Tage vergingen so. Bei der Wärme unter Dach, in der Baracke und bei dem Nichtstun blühten wir langsam wieder auf, aber innerlich zitterten wir täglich, daß die Herrlichkeit bald zu Ende sein werde, ...

wenn das Barometer fiel.

An diese wenigen Tage habe ich keine besonderen Erinnerungen mehr.

Frohe Tage lassen wenig Spuren zurück, bei mir wenigstens.

Da, eines Morgens, nach dem Frühappell hieß es plötzlich, unerwartet:

„Antreten!“

Wir schossen wild durcheinander, suchten die Schuhe, den Mantel. Also würden wir doch wieder ausrücken, trotz der Kälte. Es wäre ja auch zu schon gewesen, wenn das so geblieben wäre.

In wenigen Minuten standen wir alle in Reih und Glied vor dem Block. Aber wir blieben stehen, das Tor tat sich nicht auf. Was mochte das zu bedeuten haben? Wir standen und standen.

Da ging eine Parole von Mund zu Ohr: Wir sollen ausgesucht werden .. . Transport . .. wohin? Niemand wußte es.

Eine große Unruhe kam in unsere Reihen, wir fühlten das Schicksal, das über uns schwebte.

Da kam Schnell und ein SS-Mann. Schnell schrie:

„Mein Stamm, meine Handwerker, müssen hierbleiben! Los, Handwerker raus! Maurer?"

Oskar stand neben ihm und überwachte alles. Es traten acht Mann vor. Fünf davon kannte ich, sie waren keine Maurer. Schnell sah sie an, blickte dann auf Oskar, der nichte. Doch dann faßte Oskar einen ins Auge:

„Was tust Du hier?“

„Ich bin doch Maurer."

„Ja, der hat bei mir als Maurer gearbeitet.“

Schnell sagte es und sah Oskar wieder an, las etwas in dessen Augen, nickte verständnisinnig und sagte:

„Aber Du taugst nichts. Los, ein anderer Maurer her.“

Oskar rief einen anderen Namen. Jemand trat vor, er war alles, nur kein Maurer. Oskar sagte:

„Da hast Du einen guten Mann.“

Schnell nickte:

„Also los, dahin gestellt. Jetzt Zimmerleute raus!“

Ich sah mit Erstaunen, daß Kramer bei den Zimmerleuten war. Das gleiche Spiel begann. Es waren zu viele, einige mußten zurücktreten. Schnell und Oskar suchten sie aus, nahmen jemanden heraus, setzten andere dafür ein.

Um mich her wurde geflüstert:

„Die Protektionskinder. Man rettet wieder welche. Das sind alles keine Zimmerleute, höchstens fünf davon, aber mehr nicht.“ Wieder wurden einige mit Namen aufgerufen, Oskar sagte zu ihnen:

„Du bist auch Zimmermann?“

-Die Gefragten zögerten eine Sekunde, dann verstanden sie den Wink und sagten: „Ja.“

Ich stand ziemlich vorn und sah alles genau. Kramer machte mir ein Zeichen, auch vorzutreten. Maler und Schreiner waren jetzt an der Reihe. Ich hätte nur einen Schritt zu machen, nur vorzutreten brauchen, ich wußte, Oskar würde midi anerkennen. Aber in mir sträubte sich alles dagegen. Sollte ich wieder meine Kameraden verlassen? Ich sah ihre traurigen Augen, mit denen sie den ganzen Vorgang verfolgten, Augen, die sagten: Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt und keine Kameradschaft, auch in der größten Not nicht, auch im Lager nicht, auch hier herrscht die Protektion. Und ich sah die verbitterten und enttäuschten Züge um ihren Mund.

Ich fühlte, daß einige mich ansahen, schon sagte einer:

„Willst Du nicht auch vortreten, Kupfer? Sie werden Dich nicht weg-schicken."

Es war eine Frage, die auf Antwort lauerte, die wissen wollte: Wird er es machen wie alle, die sich retten können? Da drehte ich mich um, sah ihm voll ins Gesicht, sah, daß noch mehr Augen auf mich gerichtet waren als nur die seinen und sagte:

„Nein , ich bleibe bei Euch, ich bin kein Maler und kein Schreiner."

„Die anderen sind es auch nicht“, sagte einer, „hier ist sich jeder selbst der Nächste, wie Du siehst."

„Aber ich bleibe bei Euch.“

Kramer machte ungeduldige Gebärden. Dann trat er unbemerkt etwas zurück, kam neben mich und flüsterte:

„Mensch, tritt bei der nächsten Gruppe heraus, man wird Dich nicht wegjagen. Du brauchst nur einen Schritt zu machen."

Ich flüsterte zurück: „Ich bleibe."

Er mußte wieder an seinen alten Platz zurückkehren. Er zuckte die Schultern. Sicherlich verstand er meine Handlungsweise nicht. Er würde sich sagen: Wozu soll das gut sein?

Ein kleines Häuflein war jetzt ausgesucht, es waren fünfundzwanzig oder dreißig Mann, nach den Malern und Schreinern waren noch die Dachdecker verlangt worden. Sie traten zur Seite. Wir aber erhielten den Befehl:

„Im Gleichschritt . . . marsch!“

Das Tor öffnete sich, wir marschierten ins Bad.

Als wir über den Platz marschierten, sahen wir auf die Uhr unter dem Turm des Jourhauses. Es war acht Uhr.

Wir gingen ins Bad. Der große Raum war nicht geheizt. Wir mußten uns ausziehen, schnell mußte es gehen, schnell. Eine Weile standen wir nackend herum, dann kamen einige von der SS und mit ihnen der SS-Arzt. Wir mußten einzeln an ihnen vorbeimarschieren. Der SS-Arzt betrachtete uns, wie man wilde Tiere in einem Zoo betrachtet, von weitem. Lind er machte eine Geste mit der Hand. Wen er für untauglich hielt, irgendeines körperlichen Gebrechens wegen, der mußte zur Seite treten. Es waren nur wenige. Fast alle wurden als tauglich befunden.

Dann mußten wir uns wieder anziehen, Abmarsch, zurück auf den Blöde. Die Untauglichen wurden sofort vom Blockschreiber notiert.

In der Blockstraße blieben wir vor dem Blöde stehen. Unsere Personalien wurden alle genau ausgenommen, das erforderte viel Zeit. Wir standen in der Kälte und froren. Na, es würde ja nicht mehr lange dauern. Wohin mochte nur die Reise gehen?

Endlich waren wir fertig. Wir durften in den Block. Wir waren glücklich, wieder im Wannen zu sein, zogen unsere Schuhe aus und setzten uns. Die Parole sagte, der Transport ginge nach Neuen-Gamme.

Neuen-Gamme? Was ist das? Ein Lager bei Hamburg hieß es. Wer weiß darüber Bescheid? Es sollte einer unter uns sein, der schon einmal dort gewesen war.

Glänzend wäre es dort, ein gutes, nahrhaftes Essen gäbe es, das Lager wäre klein gewesen, als er dort war, etwa sechs-bis achthundert Mann Belegschaft, natürlich anders als hier, die Grünen und die Schwarzen wären da tonangebend. Freilich, es würde viel geschlagen, aber wenn man seine Arbeit mache, dann ginge es schon. Spinde gäbe es allerdings nicht, auch keine Betten, dafür Strohsäcke auf dem Boden.

Das Lager erschien uns jetzt schon wie ein Paradies. Keine Spinde putzen, keine Betten bauen? Das bedeutete schon ein Stück vom Glück.

Er erzählte weiter; Es gäbe auch keine Tische und Hocker, man äße auf den Strohsäcken, jeder setze sich zum Essen auf sein Bett. Im Block gäbe es keine auf Hochglanz polierten Böden, dafür brauche man die Schuhe nicht auszuzichen, man konnte mit den Schuhen an den Füßen in den Block gehen. Unvorstellbar, ideal einfach!

Und dann rühmte er weiter, rühmte das gute Essen.

Wenn es nur wahr wäre, wenn es nur wirklich Neuen-Gamme wäre, wo wir hin sollen!

Noch mitten in seine Erzählungen hinein kam die Order: „Antreten!"

Was war denn schon wieder los?

Wir hasteten durcheinander, schlüpften in die Schuhe, in die Mäntel. Draußen antreten, warten, Abmarsch.

Als wir auf den Appellplatz kamen, zeigte die Uhr neun Uhr dreißig.

Wir nahmen auf dem Appcllplatz Aufstellung, Oskar war dabei, die Stubenältesten, der Blockschreiber. Man -sagte, es würde noch einmal jemand kommen, uns zu mustern.

Eine Stunde standen wir so. Es war bitter kalt, aber wir empfanden cs nicht so sehr, wir waren zu erregt.

Da hieß es plötzlich:

„Ins Bad!"

Wieder waren wir im Bad, wieder zogen wir uns aus. Diesmal kam außer dem SS-Arzt auch noch ein fremder SS-Offizier. Der „Arzt" sagte ihm, daß wir schon gemustert seien, aber der Offizier ließ uns trotzdem noch einmal an sich vorbeidefilieren, zog noch einige Untaugliche heraus.

Dann zogen wir uns wieder an. Die SS stand dabei, mit einer Verachtung im Gesicht, als wären wir eine Herde von Mißgeburten. Selbstbewußt wiegte sich der junge Offizier in den Hüften. Er wußte, daß seine Stiefel Hochglanz hatten, daß seine Uniform tadellos saß und seine Bügelfalten wie Messer waren. Er betrachtete uns, nachlässig, als ob wir sich bewegende Kadaver wären. Man sah es seiner Miene an, bei ihm waren wir längst schon abgeschrieben.

Wieder schlüpften wir in die Kleider, wieder marschierten wir auf den Block, wieder hatte der Blockschreiber alle Hände voll zu tun. Wieder standen wir vor dem Block, unsere Glieder waren kalt wie Eis.

Es war mittlerweile zwölf Uhr geworden und wir konnten wegtreten und essen.

Und wieder: „Antreten!" Über eine Stunde standen wir vor dem Block, die Sonne schien, aber es war eine kalte Wintersonne, nicht fühlbar, nur sichtbar. Worauf warteten wir eigentlich?

Die von Schnell ausgesuchte Gruppe war längst schon wieder zur Arbeit ausmarschiert, dort waren sie in Sicherheit.

Während wir so standen, wurden Meinungen ausgetauscht. Die vorherrschende Anschauung war: Schlechter kann es nicht mehr kommen, eher besser. Also fort von Dachau, nichts als fort!

Da, nach zwei Uhr, mußten wir auf den Platz marschieren und uns aufstellen. Das gab wenigstens etwas Bewegung. Es hieß, der Schutzhaftlagerführer von Neuen-Gamme wäre gekommen und wollte uns sehen, andere sagten sogar, es wäre der Kommandant selbst.

Nach einer halben Stunde erschien er, begleitet von Zill, dem Dachauer Schutzhaftlagerführer, und einigen SS-Offizieren. Er sah uns an, sprach etwas mit Zill und gab dann den Befehl:

„Ausziehen."

Ich hörte, wie er sagte:

„Ich will die Vögel genau sehen. Sicherlich taugt die Hälfte nichts." Er stand da, in einem mit Pelz gefütterten Ledermantel und sah zu, wie wir uns auszogen, pudelnackt, bei dieser grimmigen Winterkälte. So standen wir nun da. Er aber tat, als sei das etwas Normales.

Wir mußten unsere Kleider auf einen Haufen vor uns legen und dann langsam an ihm vorbeimarschieren.

Zwanzig Grad unter Null sind keine Kleinigkeit. Wir schnatterten, daß die Zähne klapperten. Und wie kalt, wie eiskalt der Boden war!

Er sah sich in Ruhe jeden Mann an, ließ ihn kehrt machen, sich wieder wenden. Ab und zu befühlte er einen Muskel und sagte dann: „Gut — Aufschreiben.''Oder: „Taugt nichts, weg damit.“ Er machte es fachmännisch, wie etwa ein Pferdehändler, der auf dem Pferdemarkt einkauft. Lind wie ein Pferdehändler legte er vor allen Dingen Wert auf gut entwickelte Beine. Ich hörte, wie er zu Zill sagte: „Die Leute müssen den ganzen Tag stehen, es ist schwere Arbeit, was schlechte, schwache Beine hat, ist nichts für mich.“

Und er suchte aus, besah, befühlte, winkte. Die anderen von der SS standen, wie ein Stab, daneben.

Sklavenmarkt, schoß es mir durch den Kopf, Sklavenmarkt in Dachau, weiße Sklaven. Alle hatten wieder antreten müssen, auch die, die zuerst als untauglich befunden worden waren, man hatte sogar außer der Strafkompanie noch andere Kameraden aus dem Lager geholt und für den Transport antreten lassen. Der SS-Mann im Ledermantel suchte alle neu aus, und es dauerte so lange, weil auch die Juden dabei waren.'Etwa tausend Mann standen nackend auf dem Appellplatz.

So verging die Zeit. Die LIhr zeigte schon drei.

Da marschierte eine neue Gruppe auf. Wer mochte das sein? Uneingeteilte wahrscheinlich. Nein, man sagte, es seinen Grüne und Schwarze, diese beiden Blocks sollten es sein.

Wir durften uns wieder anziehen und auf den Block marschieren. Es war inzwischen halbvier Uhr geworden.

Wir mußten zur Kammer marschieren, unsere Kleider abgeben und neue fassen.

In dei Kammer dauerte es lange. Man gab uns Kleider, die, wie wir sahen, alte Fetzen waren, Lumpen, Überreste, erbeutete Uniformen und zum Teil verbrauchte Lagerkleider. Es war das Schlechteste vom Schlechten, es war Abfall, womit wir uns bedeckten.

„Für Neuen-Gamme ist das gut genug", sagte der diensttuende SS-Mann.

Es schien, als wollte jedes Lager bei dem Sklavengeschäft so viel als möglich für sich profitieren. Wer weiß, wie die Verrechnungen sein mochten. Es konnten vielleicht die Gelder für achthundert längst abgeschriebene Monturen als Ausgaben für achthundert neue Monturen verbucht werden, und das war sicherlich eine hübsche Summe, die dann in verschiedene Taschen floß. Die Lager verrechneten alles genau untereinander. Selbst unsere Schuhe hatten sie uns genommen. Wir bekamen Holz-pantoffeln, oben hatten sie Leder, unten aber war die Holzsohle schon ganz dünn und schief abgetreten. Wer konnte wissen, woher sie stammen mochten, welcher Invalidentransport sie mitgebracht hatte Natürlich paßten sie auch nicht, außerdem wußte man nicht, wie man darin gehen sollte, ohne sie zu verlieren.

Nun war das Wetter auch noch umgeschlagen, es taute plötzlich. Der Boden unten war eine Eisfläche geworden, obendrauf stand das Wasser in Pfützen.

Als wir endlich von der Kammer wegmarschierten, wußten wir nicht, wie wir Schritt halten sollten, es war schon dunkel geworden. Wir traten ins Wasser, bekamen nasse Füße, viele von uns glitten aus, fielen Die glatt, hin. Holzsohlen waren so außerdem hatte man gar keinen Halt, die Pantoffel glitten von den Füßen.

Und wie wir alle aussahen! Es erinnerte an Bilder, die man von Napoleons geschlagene Heer sah. Diese schief und schlecht sitzenden Lumpen gaben uns ein gespenstig ärmliches Aussehen, doch wir trösten uns: In Neuen-Gamme würden wir schon neu eingekleidet werden.

Ob wir wirklich nach Neuen-Gamme kommen würden?

Nun standen wir wieder vor dem Block. Es war schon halbsieben Uhr. Einzeln durften wir nun schnell hinein gehen, unsere Habseligkeiten nehmen. Ich holte meine Hausschuhe und Zahnbürste, das war alles, was ich besaß. Dann verabschiedete ich mich von Kramer. Alle, die arbeiteten, waren wieder eingerückt. Ein fester Händedruck:

„Warum bis Du nur so dickköpfig gewesen? Du hättest doch nicht auf Transport gemußt. Aber wenn Du durchaus willst. ..“

Und er schüttelte den Kopf.

An meinem Tisch war ein junger Wiener, mit dem ich oft zusammen gearbeitet und mit dem ich mich viel unterhalten hatte. Auch mit ihm gab es einen kurzen, aber besonders innigen Abschied:

„Mach's gut, — Hals-und Beinbruch!“

Das war alles, was er sagte.

Der alte Mann aus Mauthausen saß hinter dem Ofen. Er fühlte sich sehr schlecht. Mit beiden Händen faßte er meine Hand.

„Wir werden uns nie wiedersehen, ich fühle, daß ich sterben muß. Möge der liebe Gott Dich begleiten.“

Ich versuchte, ihn zu trösten. Er schüttelte nur traurig den Kopf.

„Meine arme Frau und meine armen Kinder. Wenn Du einmal nach Mauthausen kommst, oder wenn Du es machen kannst hinzufahren, geh zu ihnen, grüße sie von mir, erzähle ihnen alles und sage ihnen, daß ich an sie gedacht habe und wie ich an sie gedacht habe, bis zum letzten Atemzug."

Dann ging ich zu Oskar und zu dem Stubenältesten.

„Mach's gut", sagte Oskar und reichte mir die Hand.

Ich ging hinaus.

Draußen stand schon alles abmarschbereit. Ich stellte mich an meinen Platz. Aus den Fenstern winkten die Kameraden.

Wir marschierten zum Block hinaus, in die Nacht hinein, ins Dunkel, in die Zukunft. Ein paar Hände winkten noch. Kramer stand am Fenster.

Die Kameraden traten von den Fenstern zurück. Wir marschierten schon auf der Lagerstraße.

Linser Ziel war die große Unterrichtsbaracke, so genannt, weil sie zu allen möglichen Dingen verwandt wurde, nur nie zum Unterricht. Als wir ankamen, wurden wir alle in den großen Raum hineingepfercht, auch die Juden kamen hinzu und die Grünen und Schwarzen von den anderen Blödes. Wir waren zusammen etwa fünfhundert Mann.

Der Raum war voll mit Menschen, es War ein heilloses Durcheinander. Ein paar alte Dachauer hatten freiwillig den Dienst für die Nacht übernommen, denn wir sollten hier die Nacht verbringen, bis zum frühen Morgen, bis der Zug ging. Strohsäcke waren keine da, wir würden auf dem bloßen Boden schlafen müssen.

Es waren Schüsseln aufgestellt, jeder bekam eine halbe Schale Kaffee. Wie gut das tat, der warme Trunk!

Decken wurden ausgegeben; soweit es reichte, erhielt jeder eine. Dann kam ein SS-Mann, der Rapportführer, und sagte, daß um drei Uhr alles marschbereit sein müsse.

Später wurden die meisten Lichter verlöscht. Jeder suchte sich einen Platz auf dem Boden, aber es gab so wenig Platz. Ich suchte lange vergeblich. Doch endlich fand ich an der Türe ein Plätzchen. Ausstrecken konnte ich mich nicht, nur zusammenkauern. Der Boden war hart und sehr kalt. Von der Tür zog es herein. So lag ich eine Weile und versuchte zu schlafen. Da alles schlief, gelang es mir, an den Kachelofen zu kommen. Dort stand ich die ganze Nacht, den Leib gegen die heiße Fläche gerichtet. Ich war todmüde. Wie ich die anderen beneidete, die schliefen. Ich hatte nicht einmal eine Decke erhalten.

So stand ich da, fühlte mich elend und erbärmlich. Ein übermüdeter Mensch ist kein Mensch mehr, nur noch ein zerfließendes Etwas, ein Häuflein Elend. In solch einem Zustand wäre man mit allem einverstanden, würde zu den unmöglichsten Dingen ja sagen, wenn man dafür dann nur schlafen dürfte. Mir wenigstens geht es so.

Die Wärme tat gut. Ich überschaute dieses bunte Lager, diese in Lumpen hingestreckten Menschen. Und ich mußte mich anstrengen zu glauben, daß das alles Wahrheit war, daß ich dieses seltsame bunte Bild nicht träumte. Und ich fragte mich: Wo bin ich eigentlich? In Dachau? Aber in Dachau sind doch Schlafsäle mit spiegelglatten Fußböden und Betten mit blau-weißem Karobezug und schneeweißem Leintuch, und jedes Karo liegt in Reih und Glied wie ein Trupp Soldaten. Bin ich wirklich in Dachau? Träume ich nicht? Könnte das hier nicht ein Flüchtlingslager sein?

Das Licht der Lampen warf bizarre Schatten über die Schläfer. Irgendeiner stöhnte im Schlaf, ein anderer flüsterte mit seinem Nebenmann.

Da lagen nun Menschen, die draußen Häuser stehen hatten, Häuser mit weichen Betten, die leer sind. Sie lagen da auf der kalten Erde, in Lumpen gehüllt. Warum?

Und doch, wie froh, wie hoffnungsvoll waren diese Schläfer heute alle noch, bevor sie sich niederlegten. Jeder hoffte auf eine Wendung zum Besseren. Jede Änderung kann ja eine Verbesserung bringen. Die Stimmung war gut gewesen, fast froh, wenige nur waren bedrückt. Endlich einmal fort aus dem verhaßten Dachau, hinaus aus dem Tor, eine Bahnfahrt winkt. Ein neues Lager, ein neues Leben, vielleicht ein freieres, froheres, wer weiß? Eine Wendung.

Friedlich und bunt lagen die Schläfer. Die ganze Szene hatte gar nichts Schauerliches an sich, eher das Bunte, Bezaubernde eines Lagers. Nur das Lagerfeuer fehlte und eine Wache. Aber trotz allem erschien es mir wie ein grotesker Totentanz, wie ein bunter Totentanz in Lumpen.

Die Wärme tat gut. Ich wachte und träumte im Wachen. So verging die Zeit.

Der Transport Das Licht wurde wieder angeschaltet, jemand rief:

„Aufstehen!“

Alle erhoben sich schlaftrunken. Von der Küche wurden Kessel mit Kaffee gebracht. Jeder eine halbe Schale Kaffee. Es war eine Wohltat. Ein Stück Brot dazu, von dem, was gestern abend übrig geblieben war. Es sollte für drei Tage reichen, aber die meisten hatten es vor Hunger sofort ganz verschlungen.

Es hatte aufgehört zu regnen, draußen war wieder alles gefroren und glatt. Aus der warmen, schlechten Luft kamen wir hinaus in die eisige Morgenkälte. Wir mußten vor der Baracke antreten und wurden abgezählt. Es fehlte keiner, alles stimmte.

Wir standen draußen und froren.

So standen wir etwa 20 Minuten, dann marschierten wir ab. Über den Appellplatz, der eine einzige Eisfläche geworden war. Wir nahmen vor dem Tor Stellung, dort, wo wir einst „Belehrung“ hatten. Wir standen und standen. Die Zeit schlich dahin. Schließlich zeigte die Uhr über dem Tore vier Uhr.

Der Stacheldraht war weiß gefroren, die Lampen auf dem Zaun beleuchteten ihn ringsum. Alles war still, das Lager schlief noch.

Da hörten wir vor dem Tor Soldaten aufmarschieren. SS. Gewehr-schlösser knackten. Endlich waren sie gekommen, um uns zu holen.

Draußen sprach jemand. Wortfetzen flogen zu uns herüber:

» .. Gewehr immer schußbereit ... fünf Schritte Abstand ... geringster Fluchtversuch .. . sofort schießen ... Verantwortung . .. man hat es mit gefährlichen Subjekten zu tun ... Schonung ist nicht am Platze .. . Kommando . .. verstanden? ..

Dann ertönte, wie eine Salve, aus Stimmen geformt, ein einziges: „Jawohl!“

Der Rapportführcr kam:

„Alles fertig? Im Gleichschritt marsch!“

Wir marschierten auf das Tor los, in das die schmiedeeisernen Worte eingelassen waren: Arbeit macht frei.

Ich dachte daran, wie ich damals durch dieses Tor einmarschierte. Wie lange lag das zurück, wie unendlich lange. Waren Jahre seither vergangen? Und ich rechnete die Zeit nach. Es war wie ein seltsamer Zufall: Es war der 11. Januar. Am 11. November vorigen Jahres schritt ich das erste Mal durch dieses Tor, ... vor zwei Monaten also.

Vor zwei Monaten? Hatte ich das alles in zwei Monaten erlebt? Es schien mir unfaßlich. Zwei Jahre mußten es gewesen sein. „Links, — rechts, — links, — rechts!" kommandierte jemand.

Wir gingen durch das Tor. Das innere Lager lag hinter uns. Wir verließen Dachau.

Draußen standen die SS-Männer, links und rechts, eine lange Reihe. Sie trugen das Gewehr schußbereit im Arm, auf jeder Seite, im Abstand von fünf Schritten ging ein Posten. „Tapp, tapp, tapp ..." machten die Holzpantinen. Es war das einzige Geräusch in dem morgendlichen Schweigen. Dazwischen lagen die festen Schritte der SS-Wachen. Sie hatten die Kragen ihrer warmen Mäntel hochgeschlagen, warme Handschuhe bedeckten ihre Hände, ihre Füße stechten in guten, festen Schuhen, und ihre Ohren waren von warmen, gestrickten Schützern eingemummt. „Pfui Teufel, so eine Kälte!“ sagte einer der Posten.

Die Posten froren also auch, trotz ihrer warmen Kleidung. Kein Wunder, daß wir in den Lumpen schnatterten. Und von unten, von den Füßen her kroch die Kälte, vom Eis der Straße her, an uns herauf.

Es war so glatt, wir rutschten, glitten aus, keiner wußte recht, wie er gehen sollte, ohne zu fallen, und die Füße waren eiskalt.

Die Luft zog eisig durch die Kleider, wir hofften auf die Bahnfahrt. Wir hofften, daß es keine ungeheizten Viehwagen sein würden. O, diese Morgenluft, sie drang durch und durch mit ihrer feuchten Eiseskälte. „Klapp, klapp, klapp . . .“ machten die Holzpantoffeln. Die SS ging mit verbissenem Gesicht und schußbereiten Gewehr nebenher. Unter dem Arm trug ich den Rest meines Brotes, die Hausschuhe, die Karl mir schenkte, und das letzte Stück Zivilisation, das mir von meinem Gepäck gelassen wurde, — die Zahnbürste. Ich durfte sic nicht verlieren, sie war ein kostbarer Besitz. „Klapp, klapp, klapp . . .“ ging es zum letzten der drei Tore hinaus.

Nun hatten wir den Lagerbereich hinter uns. Wir marschierten an einer Siedlung neuer Häuser vorbei, an der Siedlung der SS. Dort wohnten also unsere Quäler, dort schliefen sie, ihre Frauen und Kinder. An einer Seite der Straße waren kleine Villen. Auch von der SS, Offiziers-Wohnungen. „Klapp, klapp, klapp . . .“ ging es an all dem vorbei. Nun sahen wir links freies Feld, und dann kamen kleine Häuser, der Ort Dachau. Das soll eine kleine Stadt sein, aber die Häuser hier sahen aus wie zu einem Dorfe gehörig. Lauter ländliche Anwesen, klein, niedrig, aber sie sahen freundlich aus, nicht so starr und herrisch wie die Siedlung der SS.

Eine Weile hörte man nur das Schlürfen der Holzpantoffeln und das Stampfen der Militärstiefel. Es war noch Nacht, und bei Nacht führte man uns durch den Ort. Es war wohl Absicht so, es war besser, daß niemand uns sah.

Endlich waren wir an den kleinen Bahnhof angelangt. Linser Zug stand schon bereit. Es war kein Güterzug, sondern ein Personenzug. Alte, ausrangierte Wagen, aber ein Personenzug, in dem man richtig sitzen konnte. Wir mußten in die Wagen klettern, schnell.

Die Wagen waren nicht durchgehend. In jeden Wagen kamen zwei SS-Männer Bewachung, in unserem waren es ganz junge Kerle.

Ich fand einen Platz am Fenster. Unter mir war die Zentralheizung. Es war wunderbar warm. Idi kam mir wie erlöst vor. Dachau war hinter uns. Wir saßen in einem richtigen Personenwagen, es war sogar warm. Viele Stunden, vielleicht Tage sogar würden wir nun so sitzen. Niemand würde eine Arbeit von uns verlangen, niemand würde uns schlagen. Ein Stück Brot hatte ich auch noch zu essen, wenn es auch nicht mehr viel war. Und es war warm, warm, warm.

Freilich, wo die Reise wirklich hinging, wir wußten es nicht. Vielleicht ... nach Mauthausen. Aber das sollte uns gleich sein, wir, wenigstens ich, wollten diese Fahrt genießen.

Die zwei von der SS sahen sich im Wagen um: „Alles setzt sich auf seinen Platz, niemand darf aufstehen. Wer, ohne etwas zu sagen, aufsteht, wird erschossen. Wer austreten muß, hat um Erlaubnis zu fragen. Und nicht aus den Fenstern sehen. Verstanden?“

„Ja!" sagten wir. Also sie hatten Angst. Jedes Aufstehen würden sie als Gefahr für sich ansehen. Wir waren etwa fünfunddreißig Mann im Abteil, saßen alle eng zusammengepreßt.

Die Tür wurde geöffnet, irgendein Befehl hereingerufen, dann wurde sie zugeschlagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.

„Puff, paff, puff, paff .. machte die Lokomotive, dann immer schneller und immer kürzer: „Puff, paff, paff, piff, puff, puff . . .“ Die Räder rollten, der Zug trug uns weg von Dachau, von dem Lager voll Blut und Qual. „Ratatat, ratatat, ..." machten jetzt die Räder.

Es schien mir unendlich lange, die Zeit, in der ich nur Baracken und Stacheldraht sah. Wie sah die Welt so friedlich aus, ohne Wachttürme mit Maschinengewehren, ohne Stacheldraht, ohne SS-Uniformen. Ach, es gab noch Weite, es gab noch eine andere Welt! Dort fuhr ein Bauer mit zwei Pferden aufs Feld, da drüben weidete eine Kuh, weit hinten schaute ein spitzer Kirchturm hinter einem Hügel hervor, und in der Ferne lagen Berge im Nebel. Lind die Sonne, die Sonne! Sie war aufgegangen und machte alles festlich und feierlich. Das schien mir eine echte Sonne, eine andere Sonne zu sein, die Sonne einer anderen Welt, einer Welt voller Möglichkeiten und voller Weite. Und ich fühlte, wie das sein müßte, da draußen gehen, ungefragt, unbewacht wohin man will. Unvorstellbares Glück! Und beginnen können was man mochte . . .

Die Welt lag vor mir, wie ein freier Thron, der zu besteigen war, und es gelüstete mich nach Taten. Ich fühlte wieder Kräfte in mir wachsen, die ich schon längst erstorben glaubte. Alles schien möglich, alles, Die Welt der Möglichkeiten lag um mich gebreitet, die herrliche Welt! Die freie Welt! Und ich verstand, daß einen die Lust mit Macht ankommen konnte, das Fenster zu öffnen und hinauszuspringen, zu fliegen, hinein zu entfliehen in dieses namenlose Glück der Freiheit. Aber wäre das Freiheit? Wäre das Glück? sich verstecken zu müssen, gehetzt zu sein, verfolgt wie ein armes, hilfloses Wild, nirgends einen Unterschlupf zu finden und wenn, dann nur für kurze Zeit.

Bleiben, sagte eine Stimme in mir, bleiben und den Kelch zu Ende zu trinken, alles andere ist Wahnsinn. Unsichtbare Netze sind überall gespannt. Den Kelch zu Ende trinken! Aber ich sehe den Grund des Bechers nicht, wird es viel sein oder wenig? Habe ich erst genippt von der bitteren Galle, oder ist es nur noch ein Rest, den ich zu schlürfen habe?

Wir durchfuhren eine kleine Stadt. Leute gingen auf den Straßen, Autos fuhren. An den Häusern waren Anschriften: „Bäckerei von Alois

Müller." Eine Fabrik mit Schornstein stand am Geleise. Dort ging sogar ein Kaminfeger. Eine Frau schob einen Kinderwagen, daneben ging eine Gruppe Kinder, den Ranzen auf dem Rücken, zur Schule.

Ich schaute zurück ins Abteil. Da saßen die beiden jungen SS-Männer und die Kameraden. Die SS-Männer hatten es sich bequem gemacht, aber ihre Augen wachten über uns. Die Gewehre lehnten neben ihnen, dafür hatten sie ihre Revolvertasche geöffnet, der eine von ihnen hatte sogar seinen Revolver schußbereit neben sich liegen. Die Kameraden sahen alle grau aus im Gesicht und unglücklich.

Weiter und immer weiter rollte der Zug. Es dämmerte, es wurde dunkel. Nacht brach herein. „Ratatat, ratatat, . . .“ machten die Räder •„ratatat, ratatat . ..“

Im Wagen wurden alle sehr müde. Die beiden jungen SS-Männer gestatteten uns, uns hinzulegen. Einer durfte sogar in einem Gepäcknetz schlafen, das war der beste Platz. Bald lagen alle auf dem Fußboden, auf den Bänken, unter den Bänken, oder saßen angelehnt und halb verrenkt und schlafend umher. „Ratatat, ratatat, . ..“ machten die Räder, die Pfeife der Lokomotive gellte durch die Nacht, der Zug fuhr mit rasender Geschwindigkeit, die Wagen schaukelten.

Irgendwo blieben wir plötzlich stehen. Eine Tür wurde aufgerissen, Kommandorufe ertönten, kalte Nachtluft strömte herein.

Ich hörte, wie jemand neben mir seinem Kameraden zuflüsterte: „Du darfst sicher sein, es ist die Strecke, ich kenne sie doch, es ist die Strecke nach Hamburg."

Dann spürte ich, wie der Zug wieder zu fahren begann, schneller und schneller. Die Pfeife der Lokomotive war wieder zu hören, schauerlich, als wollte sie sagen: „Platz für die Opfer der Gestapo, Platz für die, die in ein neues Leben fahren oder in einen neuen Tod.“

Ich träumte vor mich hin. erlebte vergangene Dinge in Dachau. Der Zug aber raste dahin und trug mich immer weiter fort, fort von Dachau.

Es war tiefe Nacht.

. „Ratatat . . .“ machte der Zug, — „ratatat ..." — Manchmal pfiff die Lokomotive, der Zug raste, die Wagen schwankten.

Wie schön das war, so im Warmen zu sitzen und ruhen und schlafen zu können. Der Zug sollte nicht so schnell fahren. Man wußte doch nicht recht, wohin er einen fährt.

Neuen-Gamme

Der erste Eindruck Plötzlich stand der Zug still. Wir hatten alle geschlafen.

Wir standen auf, unsere Glieder waren ganz steif geworden und wie eingerostet. Die Posten schrieen:

„Aufstehen, los, auf!"

Was hatte das zu bedeuten? Wir versuchten zum Fenster hinauszusehen. Es schien, wir standen auf freier Strecke. Wo mochten wir nur sein? Einen Tag und eine Nacht waren wir erst gefahren, und man hatte uns gesagt, bis Neuen-Gamme würden wir wohl drei Tage brauchen. Es kam eine gewisse Unruhe über uns, bis wir herausfanden, daß wir am Ende einer kleinen Bahnhofsstation hielten; auf dem Gebäude stand groß;

Neuen-Gamme.

Draußen hörte man Geschrei. Die Wagentüre wurde aufgerissen.

„Alles in Ordnung?“ schrie der mitfahrende Transportführer.

„Alles in Ordnung!" antwortete der Posten.

„Dann aussteigen, los, marsch!"

„Aussteigen!" brüllten die Posten uns zu.

Wir kletterten aus den Wagen. Man mußte hinunterspringen, denn wir standen nicht an der Rampe.

Draußen lag Schnee. Um den Zug her stand eine enge Kette von Posten, die Gewehre schußbereit auf uns gerichtet. Es war noch im allerfrühesten Morgengrauen, alles war bedeckt wie mit einer fremden Trostlosigkeit, wie sie die Landschaft und die nebelige Luft des nordischen W'intermorgen hat.

Gepäck hatten wir keines, also war es leicht, auszusteigen und gleich wieder ru einer Kolonne anzutreten. Nur unsere Holzpantoffeln machten uns Schwierigkeiten. Sie glitten von den Füssen, wir kamen auf den Schnee zu stehen, mußten sie wieder suchen, uns bücken. Die Posten-kette aber stand unbeweglich im Morgengrauen, es mochten etwa zweihundert Mann sein, die Gewehre im Anschlag, die Finger am Hahn.

Nun standen wir wieder in einer Kolonne, fünfhundert Mann. Das Kommando ertönte:

„Marsch!“

Die Postenkette formierte sich an den Seiten, das Gewehr im Arm tragend. Die Straße war hart gefroren, wir rutschten auf dem glatten, teils vereisten Boden. Die Pantoffeln wollten gar nicht an den Füßen halten. „Klapp, klapp, klapp . . .“ tönte es durch die nächtliche Stille, dazwischen der harte, feste Tritt der Posten.

Viele alte Häuser sahen wir stehen, dann wieder Landschaft, eintönig, weit.

Langsam wurde es heller, das harte Licht eines nordischen Winter-morgens begann sich auszubreiten, hart und unerbittlich wie unser Schicksal. Eine Weile gingen wir so, dann kamen plötzlich Häuser, helle, freundliche Anwesen voller Charakteristik, schöne Giebelbauten mit vielen, aber kleinen Fenstern, tiefe Giebel, dick mit Stroh bedeckt und die Mauern mit Fachwerk von alten, gebräunten Balken durchzogen. Gärten sahen wir und Gewächshäuser. Es war nun schon ganz hell. Aber seltsam, es ließ sich kein Mensch auf der Straße sehen. Weit weg, in einem Gehöft, sah ich’ zwei Männer abseits stehen, und hinter dem Schutze einer Gardine stand der Schatten einer Frau.

Weiter, immer weiter.

Weckte denn unser Geklapper die Menschen nicht auf? Lockte denn die Sensation unseres Durchmarsches niemanden aus den Stuben an die Fenster, in die Türen? Nein, kein Mensch ließ sich blicken.

Neben mir ging Otto. Er war ja aus dieser Gegend. Das Herz klopfte ihm vor Freude, als er die altvertrauten Bauweisen seiner Heimat sah. Er flüsterte mir zu: .

„Kein Mensch läßt sich sehen. Es ist, als ob sie das absichtlich tun. Sie wollen wohl unser Elend nicht sehen."

An eines der Häuser erinnere ich mich noch besonders gut. Es war ein schöner, breiter Fachwerkbau mit tiefem Strohdach und vielen aneinander gereihten Fenstern. In diesen Fenstern standen Puppen zum Verkauf, Puppen, richtige Puppen, mit denen Kinder spielen. So etwas, daß cs doch gab, so ein Stück Friedlichkeit.

Der Ort hörte auf, eine Strecke weit kam eine Landstraße, dann eine breite, neue Chaussee. Rechts und links, soweit man schaute, Felder, Felder, Felder. Alles eben, keine Hügel, flaches Land. Darüber hoch gewölbt der Himmel, ein grauer Himmel, aber so unwahrscheinlich hoch, selbst die Wolken, daß die Erde dagegen ganz klein und nur wie ein Streifen erschien. Mir kamen alte, niederländische Bilder in Erinnerung. Ja, auch da nahm der Himmel stets einen so großen Teil ein, und die Erde lag da, ganz flach, wie ein Teller, über den eine riesige Glocke sich wölbte.

Alte Ulmen standen auf einer Seite der Straße. Sie streckten knorrige Äste von sich, wie verkrüppelte Hexenfinger, und sie sahen düster und drohend aus, dunkel in ihren Farben. Es wär, als würden sie uns warnen. Ein unheimliches Bild.

Waren es drei, waren es fünf Kilometer, die wir so gingen, vom Bahnhof bis zum Lager?

Da begegneten uns die ersten Häftlinge. Uns fiel auf, wie zerlumpt sie aussahen. Sie trugen alte, erbeutete Uniformen, nur wenige von ihnen hatten Schuhe, die meisten trugen Holzpantoffeln wie wir. Sie arbeiteten an einem Graben an der Straße, hackten und schaufelten, standen in der feuchten Erde und betrachteten uns neugierig. Einige lächelten. Ich sah, daß viele von ihnen den Rosa-Winkel trugen.

Dann tauchte das Lager auf, zuerst das der SS. Sauber, wie neu. Dann ragten hölzerne Türme auf, Palisaden, Stacheldraht. Es sah aus wie ein Fort im Wilden Westen, nur daß an Stelle des Pfahlzaunes ein Stachel-drahtzaun war. Ein niedriges, aber breites Tor lag in der Mitte, von einem Wachtturm gekrönt.

Direkt an der Straße lag das Lager, nicht versteckt wie in Dachau. Es gab keinen äußeren Lagerbezirk, keine Blumenbeete, keine Allee, keine festen Steinbauten. Alles war aus Holz, Wachttürme wie Tore.

Das breite Tor öffnete sich, und wir marschierten in unser neues Schicksal.

Wir sahen, daß das Lager kleiner war als das große Lager von Dachau. Acht niedrige Baracken, dafür aber sehr lang, standen auf der einen Seite, links vom Eingang. Rechts stand eine einzige Baracke, das Revier. Und gegenüber dem Tor, tief im Hintergrund, eine quergestellte Baracke, die Küche. Und was leuchtete uns in großer, weißer Schrift von dem Dache entgegen? Die Meilensteine! „Es gibt einen Weg zur Freiheit..

und genau dieselben Phrasen, dieselben schönen Worte wie in Dachau standen dahinter. Die Lager hatten also alle anscheinend dieselbe Norm.

So formten die Gebäude einen Hof, den Appellplatz, der dem Dachauer Appellplatz gegenüber klein und fast primitiv wirkte. Dazu war er ungepflastert, roher Boden, uneben, gefroren, wie der Hof eines Bauernhauses.

Ich sah Otto an, als wir einmarschierten, und er sah mich an. Dann sagte ich:

„Ich glaube, hier ist es ländlich, nicht so unerbittlich Wie in Dachau. Freier kommt mir hier alles vor. Hast Du gesehen, wie die Häftlinge hier angezogen sind? In Dachau würde der, der so herumläuft, über den Bock gehen: Knöpfe auf, zerrissener Mantel an, einen Schal um den Hals, es ist kaum zu glauben.“ • „Es scheint weniger Disziplin hier zu sein, also mehr Freiheit. Vielleicht haben wir einen guten Tausch gemacht.“

Wir standen jetzt in der Mitte des Hofes, ohne Posten, sie waren vor dem Tore geblieben. Wir waren wieder hinter Stacheldraht, wieder in einem neuen Lager, also in unserem neuen „Heim“, in ... Neuen-Gamme.

Dann kamen Blockälteste und SS-Männer.

Wir staunten. Das Blockpersonal und die Capos trugen hier nicht ge-3 streifte Kleider, wie in Dachau, nein, sie trugen hohe Schaftstiefel, glänzend blank gewichst, Militärhosen dazu und Jacken, alles tadellos sitzend, man sah, sie mußten vom Schneider extra auf die entsprechende Figur abgenäht worden sein. Dazu sahen aus diesen fast elegant wirkenden Kleidungsstücken weiße Hemden hervor, richtige Zivilhemden oder elegante, bunte Halstücher. Aber sie trugen keine Schildmützen, wie das bei den Prominenten in Dachau der Fall war, nein, sie trugen alle eine dunkelblaue oder schwarze Mütze, in der Art der Baskenmützen. Diese Lager-Granden machten in ihrem Äußeren einen sehr guten Eindruck, ihre Gesichter dagegen schienen brutal zu sein, und vor allen Dingen war fast keines zu sehen, das Geist verriet. In Dachau waren doch viele Menschen gewesen, denen man ansah, daß sie dachten. Diese Menschen hier sahen eher aus, als würden sie sich mit Denken gar nicht zu viel beschweren, sondern lieber nur handeln. Lind daß dieses Handeln sich meist auf die Hände, das heißt, Fäuste oder Füße bezog, war leicht zu erraten.

Wir marschierten in unseren neuen Block. Aber welch ein Block! Man konnte mit der Hand auf das Dach reichen, die Fenster waren ganz niedrig. Diese Baracken waren alle aus Holz gebaut und bedeutend länger als die in Dachau. Dafür formte eine solche Baracke zwei verschiedene Blocks.

Wir traten ein, müde von der Reise, neugierig und . . . hungrig.

Wie anders war doch hier alles als in Dachau. Der ganze Block war ein einziges Zimmer, besser gesagt, ein einziger, scheunenartiger Raum. Oben sah man das schräge Dach mit den Verstrebungen. Es war nicht, wie in Dachau, mit einer Stubendecke abgedeckt. Keine Abteilung in verschiedene Zimmer gab es da, keinen spiegelglatten, glänzenden Fußboden, keine Spinde und schöne Fenster, keine Tische, deren Platten gelblich schimmerten, keinen großen Kachelofen in der Mitte, keine licht gestrichenen Wände. Alles war aus Brettern, die Wände, der Fußboden, alles. Nirgends war ein Bett zu sehen, kein Schrank. Auf dem Boden aber lagen Strohsäcke, einer neben dem anderen, in langen Reihen. Und zwischen diesen Reihen waren Bretter in der Höhe der Strohsäcke, die so einen Gang bildeten. Diese Bretter verhinderten, daß die Strohsäcke sich in den Gang schoben. Der Gang war etwa achtundzwanzig Zentimeter breit, man konnte sich auf ihm nicht ausweichen, es war die reinste Einbahnstraße. Mir kam das Ganze vor wie in einer Gärtnerei die Gartenbeete. Von diesen schmalen Gängen gab es zwei, die der ganzen Länge nach durch die Baracke liefen.

Als einzige Möbel waren drei eiserne Öfen zu sehen, kleine; winzige Öfen, wie sie wohl eine kleine Stube erwärmen, aber wie sollten sie eine so lange Baracke heizen? Sie sahen verrostet und verwahrlost aus. Der Fußboden war schmutzig,, wir durften mit den Pantoffeln in die Baracke treten.

Unsere Namen und Nummern wurden verlesen. Es begann ein seltsames Durcheinander, man verstand nichts. Manche Namen wurden zweimal gerufen, andere gar nicht, zwischendurch wurde wieder geschrien. Nun erst begannen wir zu begreifen, wie gut in Dachau alles organisiert war, wie verhältnismäßig reibungslos da alles vor sich ging. Warum klappte das hier nicht?

Im Vergleich zu der ganzen Aufmachung hier war eine Baracke in Dachau ein eleganter Salon zu nennen. Aber wir nahmen das alles mit Humor hin. Endlich einmal würde uns keine übertriebene Sauberkeit mehr quälen. Wir waren schon glücklich, daß wir nicht in Strümpfen in den Block gehen mußten, wie in Dachau. Und Betten gab es keine, also gab es auch kein Bett zu „bauen“, diese Plage fiel also auch weg! Und es gab keine Spinde, also gab es auch keine Spinde zu putzen!

Die Organisation klappt nicht Unsere Namen wurden endlos oft verlesen. Mittag war längst vorüber, man verlas noch immer. Es wurde drei Uhr, vier Uhr, man verlas immer noch. Uns hungerte. Aber es gab nichts zu essen. Wir waren erst für frühestens vierundzwanzig Stunden später erwartet worden, und so hatte die Küche nichts für uns gekocht, wir hatten ja auch für zwei oder drei Tage Proviant gefaßt, das Brot und die Wurst, die wir schon längst aufgegessen hatten. Geduld: das einzige Mittel.

Ja, wir hatten Geduld, aber das Blockpersonal ... Je mehr Fehler sie machten, um so nervöser wurden sie, sie schrien, tobten, verlasen die Liste aufs neue, beschimpften uns. Wir aber standen geduldig und hungrig da und warteten. Es war nicht einmal geheizt.

Da es nur eine Stube, nämlich den ganzen Block gab, gab es auch nur einen Stubenältesten und einen Blockältesten, sowie einen Blockschreiber.

Dazu kamen noch einige junge Menschen mit undefinierbaren Funktionen, die sich Stubendienst nannten.

Der Blockälteste hieß August. Er war groß, stark, hatte ein finsteres Aussehen, wie ein Seeräuber, und er hatte auch diesen Gang. Hätte er eine Schärpe mit Dolch und Revolver um den Leib getragen, man hätte ihn leicht für einen Piratenkapitän halten können, zumal abends, wenn er mit finsteren Blicken durch die Baracke schritt. Die ganze lang-gestreckte Baracke glich dann dem Inneren eines großen Segelschiffes, nur die Ruder fehlten, sonst wäre die Galeere fertig gewesen, in der Vorstellung wenigstens, mit etwas Phantasie. Dieser Blockälteste trug den grünen Winkel. Er sah aber auch aus, als könne er eine ganze Reihe schwerer Gewaltaten begangen haben. Im Zivilleben soll er Schornsteinfeger gewesen sein.

Seine rechte Hand, der Stubenälteste, war klein und geschmeidig, er war äußerst lebendig und hüpfte umher wie ein Affe auf einem Baume. . Er hieß Ernst Hesse, auch er trug einen grünen Winkel.

Diese beiden waren ein seltsames Paar. Man sagte, daß beide „schwere Jungens“ gewesen waren. Der Blockälteste finster, mürrisch und gewalttätig, aber im Grunde, wie alle großen und starken Menschen, auch gutherzig, der Stubenälteste etwas boshaft, katzenhaft geschmeidig und von unstetem Gemüt. Er war es, der immer den Blockältesten solange bearbeitete bis es Krach gab. Er konnte es nicht ertragen, wenn zu lange Frieden im Hause war. Was er im Zivilleben war, habe ich nie erfahren, ich weiß nur, daß er aus Hannover oder Braunschweig stammte.

Der Dritte im Bunde war der Blockschreiber, ein junger Bursche, der eigentlich keinem etwas zu Leide tat.

Der Stubendient wurde später aus uns Neuangekommenen gebildet.

Wir standen also und warteten, hörten viel Geschrei, vernahmen immer wieder aus dem Munde des Blockpersonals, wie gut sie wären. Der Blockälteste hielt uns sogar eine dementsprechend lange Rede, der eine Rede des Stubenältesten folgte. Die berühmte „Gutheit“, die sie in großem Maße zu besitzen vorgaben, wurde darin erwähnt, und in drohendem Tone, daß sie aber auch noch ganz anders könnten, wenn wir ihre Gutheit mit Füßen treten würden. Es wurde viel gesprochen, und wir waren immer noch nicht satt.

Mittlerweile war es Nacht geworden. Als Entschädigung für das ausgefallene Essen hatten wir endlich jeder einen Zettel erhalten, auf dem unsere neue Neuen-Gammener Nummer stand. Das war aber nur unter Zuhilfenahme mehrerer Schreiber aus der Lagerschreibstube gelungen. Also soweit waren wir endlich.

Dann sollten wir unseren Strohsackplatz angewiesen erhalten, aber das wurde dann auch wieder alles umgeworfen. Es wurde immer später, zu dem Hunger kam die Müdigkeit. Doch dagegen hatte der Lager-kommandant sich ein herrliches Mittel ausgedacht. Er ordnete an, daß wir alle unsere neuen Nummern erhalten und außerdem annähen müßten. Wir protestierten. Zuerst mußten wir einmal eingekleidet werden, so meinten wenigstens die Weisesten von uns.

„Eingekleidet?“ entrüstete sich der Stubenälteste, „ja, seid Ihr denn nackend?“

„Nein, aber ..

„Was, aber! Glaubt Ihr denn, wir haben hier für Euch alle Smokings bereitgelegt? Für die Arbeit, die Ihr zu tun habt, sind die Kleider gerade gut.“

„Aber das sind doch Lumpen!“

„Was, Lumpen. Seid froh, daß Ihr was auf dem Leibe habt."

„Und wann bekommen wir Schuhe?" fragte Rinkenburger, mein ehemaliger Spindkamerad, der in solchen Dingen immer besonders naseweis war.

„Schuhe?" schrie der Stubenälteste, „Schuhe?!"

Der Blockälteste begann Töne auszustoßen, die sicher ein Lachen sein sollten:

„Schuhe? Holzpantinen bekommt Ihr, und die habt Ihr ja schon alle."

„Und so sollen wir herumlaufen?“

„Freilich, für Dachauer Prinzen ist das zuviel verlangt, aber hier gehen alle so und sind froh, wenn sie welche haben.“

Das war für uns unvorstellbar. Aber Tatsache war, wir durften unsere schwarzen Isolierpunkte, die Punkte der Strafkompanie, herunterreißen. Das war uns eine große Genugtuung, fast ein Fest. Wir würden hier also nicht wieder in die Strafkompanie kommen. Dann wurden wir truppweise in die Schneiderei geführt, die heute unseretwegen Über-stunden machen mußte, und erhielten dort unsere Stoffnummer, erhielten sie sogar angenäht.

Die Schneider waren sehr nett zu uns, obwohl es schon elf Llhr nachts war und wir der Grund waren, weshalb sie noch arbeiten mußten.

Neben mir stand ein junger Tscheche, ein Student. Er hatte Fieber, er schwankte, seine Augen waren groß und weit offen, seine Lippen vor Hitze spröd.

„Durst .. flüsterte er mir zu. „Durst, ich habe so Durst.“

Ich hatte ihn schon bisher etwas gestützt, weil er zum Umfallen elend war. Seine Augen wurden größer und größer, ich folgte der Richtung, die sie nahmen, denn sie starrten wie hypnotisiert auf ein besonderes Ziel. Auf der Nähmaschine von einem der Schneider stand eine Flasche mit Sprudel, sicherlich aus der Kantine.

Ich ließ den Kranken einen Augenblick stehen, ging zu dem Besitzer der Flasche und fragte ihn höflich, ob er so gut sein wolle, mir den Sprudel zu schenken. Er sagte mürrisch, nein. Da erklärte ich ihm:

„Es ist für den Kranken hier."

Er sah auf, sah den schwankenden Tschechen stehen und gab mir lächelnd sein Getränk. Auch dieser Schneider trug den grünen Winkel.

Der junge Tscheche trank gierig aus der Flasche, man sah direkt, wie wohl ihm das Trinken tat.

Es mochte gegen zwölf Uhr sein, als der letzte Mann seinen Winkel und seine Nummer an alle Kleidungsstücke angenäht bekommen hatte. Da nicht genügend rote Winkel da waren, wurden einfach rosa Winkel verwendet, man nahm das hier nicht so genau. Das amüsierte mich. Es schien also in Neuen-Gamme nicht so streng zu sein wie in Dachau, den übermilitärisch starken Drill schien man hier nicht zu kennen. Und daß der Kranke so ohne weiteres die Limonade erhielt, nur weil er ein Kranker war, das gefiel mir auch.

Als wir auf den Block zurückkamen, wurden gerade noch Schüsseln, Handtücher, Wischtücher und Löffel ausgegeben. Das dauerte auch eine ganze Weile. Endlich wurden die Strohsäcke aufgelegt. Jeder suchte sich ein Quartier. Ich bettete den Kranken neben Otto Milusz und mich, es mußte sich ja jemand seiner annehmen.

Da wurden auch schon die Decken ausgegeben, pro Mann eine Decke. Und mit dem Platz, das war nicht so leicht, auf zwei Strohsäcken mußten drei Mann liegen, das heißt, weniger noch, denn auf fünf Strohsäcke kamen neun Mann. Alles verengte sich zuletzt so sehr, daß es nur auf der Seite liegend möglich war zu schlafen. So lagen wir wie die Heringe aneinandergepreßt und gaben uns so wenigstens gegenseitig warm. Bett-tücher ... gab es nicht. Man zog Mantel und Kleider aus, legte sie unter das Kopfpolster, das auch wie ein kleiner Strohsade war, legte die Schüssel, den Löffel, das Handtuch, und was wir sonst noch hatten, dazu. Das Hemd und die Unterhose durfte man anbehalten, die Strümpfe jedoch mußten ausgezogen werden. Es war alles so anders als in Dachau.

Und die Strohsäcke! Sie waren aus Papiergeflecht, der Inhalt bestand aus etwas zerriebener Spreu, sie waren ganz dünn. So lag man hart auf dem Boden und nur wenig von der Kälte des Bodens isoliert. Die Dachauer Betten, . . . ach, das waren geradezu luxuriöse Möbel dagegen. Aber ach was, dafür brauchten wir keine Betten zu . bauen'!

Nun lagen wir, wie die Sardinen verpacht. Otto und ich, wir deckten uns gemeinsam mit einer Decke zu und gaben dem Kranken unsere zweite Decke. Da man so eng, Körper an Körper, schlafen mußte, ging das. Außerdem deckten wir uns noch mit unseren etwas zerlumpten Militärmänteln zu. Das Licht wurde gelöscht. „Gute Nacht", sagte ich zu Otto. „Ich schlafe schon“, lallte er zurück.

Auch mir blieb keine Zeit zu weiteren Erwägungen, ich machte die Augen zu und schon schlief ich ein.

Draußen war eine kalte Nacht, der Boden war hart gefroren, und die Uhr mochte etwa an halb zwei Uhr zeigen.

Das war unsere Ankunft in Neuen-Gamme, unser erster Tag und Abend dort.

Der erste Tag im neuen Heim Dieser ganze erste Tag ist meinem Gedächtnis entfallen, ich weiß nur, daß es etwas Kaffee am Morgen gab, die Hälfte der Ration, die wir in Dachau erhielten, daß wir mittags ein Essen bekamen, das nichts als eine Wassersuppe war, Wasser und darin einige Stücke Kartoffeln und einige kleine Brocken Fleisch.

Ich erinnere mich aber, daß mir die Ecke der „Prominenten" einen großen Eindruck machte. Am Ende der Baracke war sie. Da standen ein Schrank und ein Tisch, da gab’s auch einige Hocker. Daneben waren einige bessere Strohsäcke, mit darüber gebreiteten besseren Decken. Außerdem besaß dieser Winkel genügend Raum und Bewegungsfreiheit, was für diese Baracke einen großen Luxus bedeutete. An einer Wand waren zur Verzierung sogar einige bunte Postkarten angenagelt. Es war eine beneidenswerte Ecke, nur der Prominenz vorbehalten. Einer der drei Öfen stand natürlich auch dort. Die Prominenz verschmähte es, in den Waschraum zu gehen, sie ließ sich vom Stubendienst Wasser in Eimern heiß machen und wusch sich in ihrem Winkel mit warmen Wasser. Wer es so gut hätte haben können!

Und Parolen gab es natürlich auch. Keine politischen wie in Dachau, nein, Parolen über das Lager hier.

Es gab hier fast nur Erdarbeiten zu tun. Da es in der letzten Zeit zu viele Tote gegeben hatte, man sprach von achtzig am Tag, bei einer Belegschaft von‘etwa zweitausend Mann, und da die Erde bis tief hinunter über anderthalb Meter gefroren war, wurden ab Weihnachten diese Arbeiten eingestellt. Der größte Teil des Lagers feierte, die Leute saßen auf ihren Strohsäcken in den Baracken und verbrachten so den Tag. Nur morgens traten sie zum Appell an. Die Küche jedoch, das Revier und was sonst zur Aufrechterhaltung des Lagers wichtig war, arbeiteten natürlich.

Man hörte auch sonst unglaubliche Dinge. Man sollte hier ruhig alles in den Taschen tragen dürfen. Tabak, Pfeife, Briefe, die man erhalten hatte, ja sogar Taschenmesser. Man nahm es hier nicht so genau. Das klang alles märchenhaft für uns, wurde aber noch überstrahlt von der Tatsache, daß hier jedermann Pakete empfangen durfte, soviel man ihm schickte, bis zu zwei Kilo, aber es wurde jedoch alles ausgehändigt, was kam, und es sollten schon Pakete bis zu vierzig Kilo angekommen sein. Nur Alkohol wurde beschlagnahmt. Auf den Blocks durfte geraucht werden. Man stelle sich vor, auf dem Strohsack liegend rauchen, — einfach paradiesisch! — Welch glückliche Zustände! Also hatten wir doch einen guten Tausch gemacht.

Freilich, über das Essen wurde viel gesprochen, aber das konnte ja nicht immer so sein. Kein Mensch konnte sich auf die Dauer von Wasser ernähren.

Die Stimmung bei uns war auf diese vielen guten Nachrichten hin ziemlich hochgestimmt, so hoch gestimmt sogar, daß zuviel gesprochen wurde, was zur Folge hatte, daß der Blockälteste und der Stubenälteste einige Male brüllend umhersprangen, wieder von ihrer Gutheit erzählten und davon, daß sie aber auch ganz anders könnten. Und sollte die Stimmung nicht glänzend sein? Gestern hatten wir unsere schwarzen Punkte, unsere Pestbeulen, abgetrennt, wir kamen hier nicht in die Strafkompanie, wir waren hier wieder freie Menschen, wenigstens im Lager würden wir uns wie alle anderen Gefangenen bewegen dürfen Mit welcher Wonne hatten wir diese Kreise heruntergerissen und fortgeworfen, der Boden der Schneiderei war damit besät gewesen, und direkt wollüstig waren wir darauf herumgetreten.

Übrigens waren wir nicht alle von uns hier auf dem Block, nur dreihundertfünfzig Mann hatten Platz gefunden, die übrigen waren auf andere Blocks verteilt worden. Sie waren ungern gegangen, sie wären lieber bei uns geblieben.

Es gab auch sonst viel zu diskutieren. Hier im Lager waren die Grünen und Schwarzen vorherrschend. Ob sie es uns nun entgelten lassen würden, daß wir „Politische", „Rote“ waren? Bei jeder Gelegenheit hatte es in Dachau geheißen: Du grüner Lump! Du Berufsverbrecher! In Dachau hatte es keinen einzigen grünen Capo gegeben, keinen grünen Stubenältesten oder ähnliches, auch die Schwarzen konnten dort nicht zu solchen Würden gelangen.

Die Grünen und Schwarzen dagegen wiegten sich in den kühnsten Träumen für die Zukunft. Alles stand ihnen nun offen, überall würden sie jetzt Unterstützung statt Ablehnung erfahren, und bald würde es ihnen gut gehen, den Grünen unter den Grünen.

Doch wir hatten uns alle getäuscht. Man machte hier kein großes Aufheben der Farbe wegen, zwar bevorzugten die Grünen die Grünen, wie das natürlich war, aber nicht in der Weise geschah es, wie wir es uns gedacht hatten. Hier spielte die Farbe keine große Rolle, hier zerfielen die Menschen in zwei große Gruppen, in: „Kretiner“, die man hier „Muselmänner“ nannte, und in „Prominente". Muselmann war so ziemlich alles, was schwer arbeiten mußte, das heißt, alles was schwer arbeiten mußte, wurde es sehr schnell, und das waren wohl neunzig Prozent. Prominente aber waren die, die über die anderen herrschten. Der Muselmann war zerlumpt, verlaust, hungrig, schwach, elend, krank. Der Prominente war wohlgenährt, stark, gut angezogen und schon von weitem zu respektieren, so wie ein Herr zu Zeiten des Feudalismus. Diese beiden Schichten setzten sich aus allen Farben zusammen, die einen verelendet, verspottet, geschlagen, die anderen lachend und mit Faust und Stiefel Respekt einflößend.

Wir hatten zum Beispiel einen jungen Mann mitgebracht, einen ehemaligen Reichswehrsoldaten, der im Straflager Hilfscapo war. Man sagte ihm nach, daß er mindestens fünfunddreißig Juden auf dem Gewissen hätte. Er war es, der mit ihnen in den Keller der Neubauten ging, der dann meist ohne die Juden zurückkam und grinsend sagte: „Dieses Rindvieh hat sich aufgehängt.“ Fast alle prophezeiten ihm ein baldiges Ende. Daß er „fertig gemacht“ werden würde, stand bei allen fest. Jetzt war er niemand mehr, jetzt würde ihn sein Schicksal erreichen, die Grünen würden die vielen Morde rächen, es war klar, er hatte nicht mehr lange zu leben.

Und tatsächlich, der Blockälteste rief ihn heraus, der Stubenälteste durchbohrte ihn mit seinen Blicken:

„Du Schwein wirst verrecken“, sagte er drohend zu ihm.

Es war zu fühlen, daß das keine leere Drohung war, daß ein schauerlicher Abgrund hinter diesen Worten lag ... — Aber ... ein paar Tage später war dieser junge Reichswehrmann, für dessen Leben keiner mehr etwas gegeben hätte, als Stubendienst in unserer Baracke beschäftigt und somit ein halber Prominenter.

Ja, es geht nicht alles immer so, wie man es sich denkt.

Zunächst saßen wir alle mehr oder weniger vergnügt auf unseren Strohsäcken und dachten an die Zukunft. Die Vergangenheit war so traurig gewesen und so schlecht, es mußte jetzt besser kommen für uns, schlechter konnte es auf keinen Fall werden. Das war die Meinung von uns allen, denen ein weiterer Grad auf der Leiter nach unten nicht denkbar war. Wie logisch, vielmehr wie unlogisch der Mensch doch manchmal denkt, wenn es sich darum handelt, sich selbst zu beruhigen.

Es war in diesem Lager ohne Tische und Hocker üblich, die Strohsäcke nach dem Schlafen in der Mitte zusammenzulegen, sie waren so dünn, daß man das leicht tun konnte, und auf das so entstandene Polster setzte man sich. Zugleich gewann man so etwas Platz, nämlich die andere Hälfte, die der Strohsack vorher weggenommen hatte. So wußte man, wo man die Füße hintun konnte.

Auf den Strohsäcken sitzend grübelten wir nun über andere schwere Probleme nach: Würden wir bald unser Geld aus der Dachauer Kantine hier ausgezahlt erhalten? Manche sagten, es sei schon mit uns angekommen, andere wiederum behaupteten, das Privatgeld sei beim letzten Transport, der von Dachau kam, erst ein Vierteljahr später ausgezahlt worden. Das konnte sein, vielleicht wollte die SS in Dachau noch möglichst lange die Zinsen daraus ziehen. Das war ein vielbesprochenes Thema, denn alle hatten großes Verlangen nach Tabak und------o Wunder, o echtes Neuen-Gammener Wunder, in der Kantine gab es jede Woche einmal Kuchen zu kaufen, richtigen Napfkuchen. Wir sahen dann selbst dieses Gebäck bei unserem Blockpersonal erscheinen. Später erst erfuhr ich den Zusammenhang. Einer der SS-Offiziere war mit einer Bäckerstochter verheiratet. Der Schwiegervater lieferte nun für das Lager große Mengen von Kuchen, zu guten Preisen natürlich.

Es schien wirklich, als ob wir in eine Art Schlaraffenland gekommen seien. Was bedeutete es da, daß man etwas zerlumpt angezogen war, daß die Baracken nicht solche Salons waren wie in Dachau? O Dachau, was für ein Sklavenlager warst du doch!

So dachten wir, saßen auf unseren Strohsäcken und erwarteten bessere Tage. Bessere Tage erwartet man eigentlich immer, aber kommen sie? Ja, manchmal vielleicht und darum eben . . .

Eine andere interessante Feststellung machte ich: Alle Grünen, die früher unter den Titel „BV“, „Berufsverbrecher", geführt wurden, ein Titel der eine Ungeheuerlichkeit war, wurden jetzt unter der Kennmarke „PSV“, „Politische Sicherheitsverwahrung" geführt, was schon eher den Tatsachen entsprach. In Dachau waren sie, wenn man sie fragte, alles ganz harmlose Fälle gewesen, denn in Dachau stießen sie auf Ablehnung. Hier jedoch begann ein jeder zu erzählen, was für große Taten er schon vollbracht hatte. Meist waren es allerdings haarsträubende Untaten, nur selten erzählte einer Episoden, bei denen man sich amüsieren konnte und auf Seiten des Gauners stand. Und plötzlich kramten sie alle lange Ketten von Vorstrafen aus, schmückten sich damit, als seien es lauter Perlen.

Inzwischen war das Blockpersonal sehr geschäftig. Wir wurden in „Tische“ eingeteilt, besser gesagt, in Tischgemeinschaften. Die Tische waren natürlich nur bildlich gedacht, denn wir mußten ja auf unseren Strohsäcken hockend essen. Es wurde für je zwanzig oder fünfundzwanzig Mann ein „Tischältester" gewählt. In der Reihe, in der ich lag, war ein recht blöd aussehender junger Berliner, von Beruf Taschendieb, sehr bescheiden und ziemlich schmierig. Wenn er sah, daß irgend jemand etwas hatte, sei es zu rauchen oder zu essen, so begann er darum zu betteln, zu schmieren, geradezu zu winseln. Er klaubte gierig den kleinsten Zigarettenstummel auf. Er wurde „Tischältester".

Zuerst war er wie vor den Kopf geschlagen und wußte nicht, was er sagen sollte. Dann lachte er und meinte so obenhin, das sei ihm egal. In einigen Tagen aber schon wuchs er sich zu einem großen Herrn aus, derBe-fehle erteilte, huldvoll Gaben in Empfang nahm, nur noch ganze Zigaretten rauchte und diejenigen schikanierte, die ihm einmal nichts gegeben hatten, oder die ihm jetzt noch nichts gaben oder geben konnten. Es war lustig zu sehen, mit welch einer großartigen Miene er nun auf seinem Strohsack (doppelt so dick wie der von gewöhnlichen Häftlingen) saß, mit welch verächtlicher Miene er um sich sah, mit welch großen Gesten er winkte und wie barsch er befahl. Aus dem elenden Wurm, der sich vor Angst krümmte, war e'ine Kröte geworden, die nun selber Würmer fraß.

So ein Tischältester hatte immerhin eine ganz nette Macht. Da er dem Autoritätenkreis der Block-und Stubenältesten zugerechnet wurde, so mußte seinen Weisungen unbedingt Folge geleistet werden, und als kleine Autorität fand er natürlich stets Deckung bei seinen Schützern, dem Blockpersonal. In Wirklichkeit bestand die Aufgabe eines Tisch-ältesten nur darin, die Rationen zu holen und zu verteilen, schmutzige Wäsche zu sammeln, neue abzugeben, dann dies oder das bekanntzumachen und für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit in seiner kleinen Abteilung zu sorgen.

Unser „Justav“ tat es auch. Alle fünf Minuten brüllte er: „Ruhe!" Bald fügte er dem Schimpfworte hinzu, dann folgten nach einiger Zeit Drohungen, und als er schon einige Wochen Übung in dem allen hatte, begann er auch seine Hand nicht nur bildlich, sondern wirklich auf diesen oder jenen seiner Untertanen zu legen, meist in der streichelnden Form einer Ohrfeige. Später entwickelte er dann diese Kunst bis hinauf zum Faustschlag. Aber er war immerhin ein kleiner und sehr milder Tyrann.

Am Abend stieg das Fieber des jungen Tschechen neben mir bedenklich.

Ich schleppte den Jungen ins Revier.

Wir verließen den Block. Während ich den Kranken halb trug, halb führte, schaute ich mich um.

Es sah eigentlich recht trostlos aus. Diese niedrigen, langgestreckten Baracken, die trübe Luft und der völlig unebene Appellplatz, dahinter da und dort ein aufragender Postenturm und Stacheldraht. Es sah teils trostloser aus als in Dachau, teils wiederum ländlicher, primitiver. Das Tote, Kasernenmäßige von Dachau fehlte hier.

Wir gingen über hartgefrorenen Boden. Es war bitter kalt. Dieser kurze Weg genügte, daß Ohren und Nase vor Kälte brannten. Es begegnete uns fast niemand. Wir gingen über den Platz, hinüber zu der einzeln stehenden Baracke, in der das Revier untergebracht war.

Im Revier kamen wir in einen kleinen Vorraum, vielleicht drei auf vier Meter groß, der gestopft voll mit Menschen war, ich wollte sagen Häftlingen, denn da wir außerhalb der menschlichen Gesellschaft und Gesetze standen, waren wir eigentlich keine Menschen mehr.

Wir warteten und warteten. Langsam verschwand einer nach dem anderen in der Türe. Endlich kamen auch wir daran.

Wir traten in einen kleinen, aber freundlichen Ambulanzraum. Jemand fragte nach unserer Nummer und unserem Namen, blätterte in einer Kartei, auch ein Häftling. Die anwesenden Pfleger waren alle Häftlinge, aber in ihren weißen Kitteln sahen sie gleich viel vertrauenerweckender aus. Es waren übrigens fast alles politische Häftlinge, ehemalige Dachauer. Sie waren freundlich, so freundlich wie ihre kleine Ambulanz. Und sie erkundigten sich nach Dachau und dem Revier dort. Was ich ihnen darüber sagte schien sie gar nicht zu erbauen. Anscheinend zerstörte es irgend welche Vorstellungen in ihnen, die sie von Dachau als von einer besseren Welt hegten. Denn ich sagte ihnen, wie die Häftlinge dort oft mit Prügeln weggejagt wurden, statt empfangen zu werden, wie der Heyden-Sepp die Leute, die Kranken und Schwachen mit Fußtritten bedachte, und wie wohltuend ich ihre Atmosphäre hier dem gegenüber empfände. Sie erklärten mir, daß heute nur Ambulanz sei, keine Revieraufnahme, ich müsse an einem anderen Tage mit dem Kranken wiederkommen. Trotzdem wurde seine Temperatur gemessen. Er hatte Fieber, ziemlich hoch. Sic sahen einander an, flüsterten etwas, dann sagte der eine:

„Aber wir haben kein einziges Bett frei, er muß morgen wiederkommen, es geht nicht anders.“

Ich, bedankte mich.

Ich schleppte den Kranken wieder hinaus, durch den Vorraum, vorbei an den Elendsgestalten, zurück über den eiskalten Appellplatz. Rot-glühend war das Gesicht des jungen Menschen. Nur mühsam, wie im Traum, schleppte er sich dahin. Seine Lippen waren aufgesprungen, seine Zähne klapperten.

Es schien mir eine Ewigkeit, bis ich ihn endlich zurückgeschafft hatte. Der Block erschien mir nun wie ein Hafen der Sicherheit, in dem wir wieder geborgen waren, waren wir erst dort, so konnte ich den Armen wieder auf den Strohsack legen. Ich breitete ihm sein Lager, zog ihm einen Teil seiner Kleider aus, deckte ihn gut zu. Dann ging ich, den Stubenältesten um Decken für ihn zu bitten. Der machte große Augen:

„Was, Decken? Bist Du verrückt? Was glaubst Du denn. Wenn wir jedem, der mal krank ist, Decken geben wollten, wo wir da hinkämen! Wenn er eine braucht, gib ihm halt eine, wenn Du eine hast, ich habe keine. Und ... warum ist er denn nicht im Revier geblieben? Er ist also anscheinend doch nicht krank."

„Doch, aber sie haben keinen Platz.“

„Dann mußt Du halt morgen wieder mit ihm hingehen.“

Damit war der Fall erledigt. Er tänzelte zu seinem Strohsack, der schön hoch und vollgestopft und mit vier schweren hellgrauen Decken belegt war. Er warf sich auf sein Lager, schlug die Beine übereinander, daß die Schaftstiefel nur so blitzten, und zündete sich eine Zigarette an. Für ihn war der Fall erledigt.

Das Abendessen wurde verteilt, ein Drittel Brot, ein Stück Margarine und ein Stückchen Wurst, dazu eine halbe Schale Kaffee. Das war reichlich. Das Brot setzte uns in helle Begeisterung, es war gutes, schweres Vollkornbrot, zum Teil waren noch die Hülsen darin zu spüren. Es schmeckte uns wie Kuchen. Diesem Brot verdanken wir es eigentlich, daß wir nicht verhungerten, es war all die Zeit unser eigentlicher, wirklicher Ernährer, denn das Mittagessen war und blieb Wasser mit irgend etwas darin. Zwar sagte die Parole, das sei nur, weil im Lager nicht gearbeitet würde. Sowie die Arbeit wieder begänne, ja dann .. . , und sie erzählten Märchendinge von der Güte des Essens, das wir dann haben würden.

Der Abend verging, die Strohsäcke wurden zum Schlafen hergerichtet, einige hatten sich schon gelegt, da ertönte der Ruf:

„Achtung!"

Ein SS-Mann war in die Baracke getreten, unser Blockführer, Verzeihung, unser „Herr Blockführer“. Alic waren aufgesprungen, wir standen stramm, wo wir uns auch gerade befanden, manche schon halb ausgezogen, in den LInterhosen. Seine Hoheit, der Herr Blockführer, geruhte durch den Block zu gehen und alles in Augenschein zu nehmen. Er war ein junger Mensch von etwa zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. Ab und zu blieb er vor einem von uns stehen, maß ihn mit verächtlichen Blicken, fragte ihn etwas, fragte nach Beruf oder dergleichen Dingen, oder schnauzte:

„Machen Sie mal Ihren Knopf zu!“

Er war gefolgt vom Hofstaat des Blockpersonals, das Bücklinge machte und eifrig dienerisch um ihn herumschwänzelten, Ernst Hesse wenigstens. August dagegen, der Blockälteste, stand finster und drohend im Hindergrunde.

„Was, so viel Polen habt Ihr hier?" sagte der Blockführer mit schneidender Stimme. Und dann höhnisch: „Polen werden bei uns nicht alt, Polen haben hier nichts zu erwarten.“

Und da er sich gerade erniedrigt hatte, mit einem Polen zu sprechen, schrie er ihn an:

„Die Polen machen wir fertig hier. Die müssen alle in Neuen-Gamme krepieren! Hast Du midi verstanden, Du polnische Edelsau?"

Und da der Pole nicht gleich antwortete, schlug er ihn ins Gesicht.

„Ob Du mich verstanden hast, Stück Scheiße?!“

Ernst Hesse, der Stubenälteste, fiel ein: „Wir werden denen schon zeigen, was Neuen-Gamme heißt Herr Blockführer. Mensch, nimm Du eine anständige Haltung an, wenn der Herr Blockführer mit Dir spricht, Du Mistvieh!“

Dabei gab er ihm einen Schlag, daß er taumelte.

„Willst Du Stillstehen, Du Polensau!" schrie der Blockführer. .

In diesem Stile ging es weiter, eine halbe Stunde lang und eine halbe Stunde lang mußten wir still und stramm stehen, dreihundertfünfzig Mann, bis der große Herr Blockführer seine Inspektion beendet hatte, dann erst ertönte das erlösende: „Rührt Euch!"

Als er gegangen war, hielt Ernst Hesse eine Rede. Er sprach von Sauberkeit und von der Kameradschaft, die das Blockpersonal uns gegenüber gezeigt habe und noch zeigen werde, er sprach davon, daß wir uns dem würdig zu erweisen hätten, und er sagte, daß ja kein Pole sich einbilden solle, er habe hier irgend welche Rechte. Frech würden die Polen in Dachau sich benehmen, wie er gehört habe, aber in Neuen-Gamme seien es die Reichsdeutschen, die bevorzugt würden, nicht die Ausländer.

„Soll sich ja kein Pole wagen, eine Hand gegen einen Deutschen zu erheben! Wenn Euch ein Pole schlägt, schlagt ihn tot, schlagt ihn auf der Stelle tot, er hat es nicht besser verdient. Wir kennen dieses Gesindel, faul, dreckig und dabei meist noch Brotdiebe. Übrigens für die Herren Tschechen gilt dasselbe, sie sollen sich nur ja in acht nehmen, sollen sich ja nicht mucksen und frech werden!"

Ein großes Beifallsgemurmel ging durch die Baracke.

„Und da ich gerade von Brotdieben spreche, merkt Euch, hier bei uns wird ein Brotdieb nicht alt, länger als drei Tage hat keiner mehr zu leben. Das ist die größte Gemeinheit, wenn einer seinem Kameraden das Brot wegstiehlt, er stiehlt ihm sein Leben. Jeder hat das Gleiche zu essen, keiner hat mehr. Und damit Ihr seht, was für gute Kameraden wir sind, hat Euch der Blockälteste Brot organisiert, weil Ihr uns leid tut, weil Ihr so verhungert und elend von Dachau gekommen seid. Und jetzt los auf die Strohsäcke!“

Diese Rede und die Verkündigung einer Brotverteilung hatte einen guten Eindruck auf alle gemacht und viel Hoffnungen geweckt.

Aus dem Ende der Baracke löste sich die große, finstere Gestalt des Blockältesten. Er ging durch die Reihen der Strohsäcke, gefolgt von zwei Mann Stubendienst, die einen Waschkorb voll mit ausgeschnittenem Brot trugen. August ging prüfend die Reihen entlang. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er suchte sich die aus, die am elendesten aussahen, und gab jedem von ihnen ein Stück Brot. Es reichte ja nur für einen Teil von uns. So schritt er daher, wie ein wohltätiger König.

Wo er erschien, hefteten sich halb hungrige, halb gierige Blicke auf ihn und vor allen Dingen auf seine Hände, die das Brot hielten. Jeder war hungrig, jeder hätte gerne so ein Stück Brot extra gehabt.

Als er alles verteilt hatte, hinterließ er viele kauende Münder und viele Sympathien. Dann wurde das Licht verlöscht. Die Mehrzahl von uns schlief ein, mit dem schönen Glauben, daß wir endlich an die richtige Adresse gekommen waren. Das waren. Kerle, dieses Blockpersonal, die taten etwas für uns! Hoffentlich benahmen sich dafür alle von uns entsprechend anständig, daß sie nicht die „Güte" dieser Menschen mit Füßen traten, denn sie hatten ja gesagt, sie könnten auch ganz anders.

Dem jungen Tschechen neben mir ging es besser. Er konnte sich schon wieder allein aufrichten und begann sich sogar langsam selbst anzuziehen. Das war mir wenigstens ein Trost. Es war seltsam, ich hatte seinetwegen verschiedene von uns um eine Gefälligkeit, um eine Hilfe gebeten, aber ich erhielt nur mürrische und ablehnende Worte. Einer sagte:

„Was gehen mich die Tschechen an?"

Ein anderer:

„Ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein, der soll ins Revier gehen."

Wieder ein anderer:

„Jeder ist sich selbst der Nächste, wer kümmert sich denn um mich, wenn ich krank bin?"

Lind wieder ein anderer:

„Hier im KZ muß jeder zuerst an sich denken."

Niemand wollte zu der eigenen Belastung, die er zu tragen hatte, auch noch eine neue Belastung hinzufügen.

Draußen war es noch finster. Uns fror jämmerlich, vor allem an den Füßen, die keinerlei Schutz hatten.

Vor dem Block wurde angetreten, dann marschierten wir zum Appell- platz. Es war eine Kälte, wirklich kaum auszuhalten. Wir stellten uns vor der Küche auf, nicht in Fünferreihen, wie in Dachau, sondern in fünf langen Reihen. Bei solch langen Reihen eine gerade Linie zu halten, war sehr schwer. Da gab es viel Geschrei, gerade dieser Linie wegen. Wir wurden beschimpft, daß wir in Dachau nicht einmal das gelernt hätten.

Endlich klappte es. Ein SS-Mann kam, lief die Front ab, zählte und verschwand wieder. Bald darauf hieß es: „Mützen ab!" Der Rapport wurde abgegeben. Gleich darauf: „Mützen auf, — rührt Euch!“ Der Appell war vorüber. Wir frieren und ich mache zwei Besuche Die Blocks zogen ab. Wir standen noch immer. Von den Dachrinnen der Küche hingen schwere, große Eiszapfen. Endlich marschierten wir zurück, über den holperigen, unebenen Appellplatz, zu unserem Block. Aber wir durften diesmal nicht hinein, nein, wir sollten arbeiten.

Hacken wurden gebracht und Schaufeln. Vor dem Block lagen Haufen von Erde, Sand, Abfall, alles Steinhart gefroren. Wir mußten sie weg-hacken, in Schubkarren schippen und wegfahren. Ein paar Capos standen herum und schrieen auf uns ein. Ab und zu gab es Ohrfeigen. „Arbeitet, dann wird es Euch warm!" schrieen sie.

Aber wir mußten immer wieder die Hände zusammenschlagen und Nase und Ohren reiben, um sie nicht zu erfrieren, mußten mit den Füßen trampeln.

Drei Tage dauerte diese Arbeit, die genau so gut ein andersmal hätte verrichtet werden können. Es gab viele Erfrierungen, manchen mußten Glieder abgenommen werden. Die Amputationen verliefen in neunzig von hundert Fällen tödlich.

Es waren schlimme Tage. Dabei zeigte das Thermometer nur siebzehn Grad unter Null. Der eisige Wind, der über die See strich und über den breiten Flußarm der Elbe, über die breite Ebene, in der wir uns befanden, drang durch alles durch, durch alle Kleider und schien bis auf die Knochen zu gehen.

An diesen Abenden waren wir völlig ausgefroren und selig ins Bett zu kommen. Aber da wir gearbeitet hatten, waren wir sozusagen frei geworden, wir konnten nun auch auf einen anderen Block gehen, um dort Besuch zu machen. Einige taten es, sie kamen voller Neuigkeiten zurück. Vor allem erzählten sie wahre Wunderdinge von den Paketen, die täglich ankamen, von den Familien der Häftlinge geschickt, mit tausend guten Dingen darin: Speck, Kaffee, Butter, Brot, Kuchen, Honig, lauter rare Dinge, die auch draußen sehr schwer zu erhalten waren. Aber es schien, daß draußen sich viele Personen zusammen taten, um ein Paket für einen Häftling zusammenzustellen.

Und am Abend kamen auch schon die ersten Kameraden als Händler auf den Block. Sie boten Pullover an aus reiner Wolle, einen schönen Pullover für — drei Mark. Geld war im Lager rar, und alle wollten welches haben, um rauchen zu können. So verkauften die, die von zu Hause im Paket mehrere Pullover geschickt bekamen, einen oder zwei davon und machten sie zu Geld. Es war meist Ware, die die Betreffenden geschenkt erhalten hatten, oder gestohlen war. Auch Schuhe konnte man so kaufen, doch selten, sie standen unerschwinglich hoch im Preis, billiger jedoch waren Schals und Handschuhe.

Doch die Händler konnten wenig Geschäfte machen, denn nur ganz wenige von uns hatten Geld, da wir fast alle aus der Strafkompanie kamen. Einige Sachen aber wurden doch abgesetzt, freilich für den Käufer war das Risiko dabei, daß später einer ihm den Pullover auszog und sagte, es sei ein gestohlener. Außerdem waren natürlich diese „Geschäfte“ verboten.

Mit diesen Kleidungsstücken kamen auch die ersten Läuse in den Block, doch das merkte man noch nicht. Die Läuse! Das war ein Kapitel für sich.

Vor dem Schlafengehen stolzierte Ernst Hesse durch die schmalen Gänge, sah die Füße nach, ob sie auch alle gewaschen seien, und ließ sich dann sogar huldvoll herab, uns gute Nacht zu wünschen. Die Lichter wurden verlöscht, nur über den Türen brannten dunkelgefärbte Birnen.

Wenn bei uns die Lichter verlöscht wurden, dann fing das fidele Leben in der prominenten Ecke erst an. Dort brannten die Lampen hell, dort saßen der Blockälteste, der Stubenälteste, der Blockschreiber und die vom Stubendienst beieinander, spielten Ziehharmonika und Gitarre, hängten Wäsche am Ofen zum Trocknen auf, lachten und spielten Karten. Sie hatten sogar ein krächzendes Grammophon, das ab und zu merkwürdige Tangoplatten spielte. Dieses Bild erinnerte mich wieder an eine Galeere, an die Kajüte des Kapitäns. Der lange Schlund der Baracke, wie ein Schiffsleib, lag im Dunkeln, nur vorn brannte Licht, erklang das Schifferklavier, gingen die Männer in ihren hohen Schaftstiefeln und klatschten die Karten auf den Tisch. Wirklich, wie bei Räubern sah es aus, vor allem, wenn man dazu die Gestalten sah, teils ohne Rock, in bunten Piratenhemden. Nur der Revolver und das Messer im Gürtel fehlten.

Aber lange konnte ich dieses Bild nie anschauen, bald verschwammen die zum Trocknen aufgehängten Hemden und die Unterhosen vor meinen Augen, und ich war eingeschlafen. Die Müdigkeit war zu groß.

Die drei Tage Arbeit waren vergangen. Einige von uns lagen sehr krank im Revier, vier oder acht Mann hatten Ruhr, sie lagen auf den Strohsäcken, die schweren Fälle an der Tür zum Waschraum. Nach den ersten vier Tagen hatten wir schon drei Tote. Das Leben ging weiter, wenn auch einige von uns wie Gespenster umherschlichen.

Der Schmutz wuchs. Wie sollte man sich auch in solchen Verhältnissen rein erhalten?

Man hatte mir in Dachau Grüße an zwei Kameraden aufgetragen. Am Abend des dritten Tages ging ich gleich nach dem Abendappell und suchte sie auf allen Blocks. Einer von ihnen hieß Wünsch, ein Österreicher, ehemaliger Polizeimajor.

Endlich fand ich Wünsch. Er war ein etwas dicklicher Mann, der seltsam verschwommene Augen hatte und der einen fast apathischen Eindruck machte. Er war weder freundlich noch unfreundlich zu mir. hörte mir zu, von wem ich Grüße brachte, erkundigte sich nach Dachau und erzählte mir dann seine Geschichte.

Er war, wie die anderen, zu Erdarbeiten ausgerückt. Das war eine Zeitlang gegangen. Dann wurde er immer schwächer und elender, so wie alle. Schließlich begann es ihm täglich schwarz vor den Augen zu werden, alles drehte sich, er mußte seine letzten Kräfte aufwenden, um nicht um-zufallen und um noch ins Lager zurückzukommen. Morgens ging es ihm dann immer wieder besser. Er sagte zu mir: „Das übliche, wie es fast allen geht. Man weiß, die übernächste Station ist das Krematorium. Die meisten sterben so. Ich wußte auch, daß ich es nur noch wenige Tage machen würde, und schon ganz abgestumpft. Da kam, als ich abends auf dem Strohsack lag, plötzlich einer herein und fragte nach mir. , Ist ein Wünsch hier?'fragte er. Dann kam er zu mir. Ich kannte ihn nicht. Er stellte sich vor, einen Namen, den ich nie gehört hatte. , Was, sagte er, , Du kennst mich nicht? Ich war doch der größte Geldschrankknacker Österreichs!'Da erinnerte ich mich. Er sagte mir: , Du warst zwar Polizeioffizier, aber Du hast Dich so tadellos gegen uns alle benommen, daß Du hier nicht eingehen darfst. Wer ist Dein Capo? Warte, morgen spreche ich mit ihm, Du kommst dann zu mir ins Kommando. Und am anderen Tage war ich in seinem Kommando Ich war gerettet, im letzten Augenblick. Heute noch halte ich es für ein Wunder. Wenn es so weitergeht, kann ich es aushalten, es fehlt mir nichts, ich habe zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf. Man sieht also, es gibt doch Gentleman-Verbrecher, die es anerkennen, wenn man sich anständig gegen sie benahm.“

Seine Augen blickten müde und verschwommen, er erzählte das alles ganz apathisch, und ich dachte mir: Wie mag dieser Mensch damals ausgesehen haben, als er sagte, er hätte nur noch wenige Tage zu leben gehabt.

Auf einem anderen Block fand ich endlich Linger, den anderen Kameraden, dem ich Grüße zu sagen hatte. Er saß auf seinem Strohsack, hatte eine kleine Kiste vor sich, über die er ein unsäglich schmutziges Wisch-tuch gebreitet hatte, und verzehrte sein Abendbrot. Er aß ruhig weiter, hörte midi an und sagte, daß es ihm ganz gut gehe, er sei im Betriebs-büro der Ziegelei als Ingenieur, nur die Läuse, die Läuse. Dabei kratzte er sich, entblößte seine Brust. Sie war ganz zerstochen und rot: „Täglich fange ich durchschnittlich vierzig Stüde, aber es werden nicht weniger, eher mehr. Alle sind wir voller Läuse, und man kann gar nichts dagegen tun. Ach, das schöne Bad in Dachau! Hier gibt es so etwas nicht.“ Beide fragte ich, ob sie mir behilflich sein könnten, mir eine gute • Arbeit zu finden. Sie erzählten mir, das wäre hier sehr schwer, fast unmöglich, da es nur ganz wenig gute Kommandos gäbe. Achtzig bis neunzig Prozent der Häftlinge müßten im Freien arbeiten, es gäbe da nur zwei große Kommandos, beides schwere Erdarbeiten. „Klinker", das war eine Ziegelfabrik, eine riesige Ziegelfabrik, die gebaut wurde, und an deren Bau etwa achthundert Mann arbeiteten, „Elbe-Regulierung“, hieß das andere Kommando, auch das beschäftigt sich mit Erdarbeiten; bei denen etwa achthundert bis tausend Mann eingesetzt waren. Das ganze Lager hatte aber nur achtzehnhundert bis zweitausend Insassen. Der Rest verteilte sich auf Küche, Revier, Kammer, Schreinerei, Schmiede und Blockpersonal. Das waren lauter kleine Kommandos, auf die viele lauerten, vor allem solche, die schon länger im Lager waren und gute Beziehungen hatten.

Beide trösteten mich, daß im Augenblick ja doch nicht gearbeitet würde und später ... ja, später. Im Lager mußte man immer für jeden Tag froh sein, der einen noch lebend fand.

Auf dem Block

Das Blockpersonal senkt die Maske Wir durften immer noch auf dem Block bleiben. — Aber . . .

Immer im Leben ist es ein aber, im Paradies war es die Schlange, und bei uns auf dem Block war es das Blockpersonal. Hauptsächlich Ernst Hesse. Wir gingen denen vom Block auf die Nerven, es war ihnen zu laut, sie wollten ihre Ruhe haben. Da hatten sie sich etwas Wunderbares ausgedacht, etwas, das ihnen viel Lob von Seiten des Blockführers einbringen mußte.

Morgens nach dem Waschen, dem Kaffee und Appell wurden die Strohsäcke schön zurecht gelegt und mit unseren Decken zugedeckt. Auch über die Kopfpolster aus Stroh kamen Decken. Auf diese Weise erhielten wir am Abend stets eine andere Decke, oft solche, die durch eitrige Wunden mit Eiter und Blut verschmiert waren. Daß das sehr unhygienisch war, spielte keine Rolle. Die Hauptsache war, daß die Betten tadellos aussahen und die ganze Baracke so einen sauberen, aufgeräumten Eindruck machte. Jedoch wohin mit uns? Es gab ja nur wenig Platz um die Öfen. Auf den Strohsäcken war die einzig mögliche Unterkunft für so viele Menschen. Doch das Blockpersonal war findig. Sie sperrten uns alle, alle dreihundertfünfzig Mann in den Waschraum. „Sperrten“ ist nicht nicht das richtige Wort „pferchten“ wäre besser.

Jemand wagte zu sagen, daß wir da nicht Platz genug haben würden. Ein Faustschlag brachte ihn zum Schweigen. Aber es blieb trotzdem ein Problem, dreihundertfünfzig Mann in einem Raum von etwa acht auf vier Meter unterzubringen, in dessen Mitte außerdem noch der lange, breite Waschtrog war. Wie das einrichten? Doch sie schafften es. Mit Intelligenz? Mit höherer Mathematik? Nein, ganz einfach mit einem festen Knüppel. Der Blockälteste und der Stubenälteste kamen, als nicht alle in den Waschraum hinein gehen konnten, und schlugen blind auf uns los: „Wollt Ihr in den Waschraum, Ihr Hunde! So also belohnt Ihr unsere Gutheit, daß wir Euch Brot gaben, als Ihr halb verhungert hier ankamt? Und jetzt wollt Ihr schon meutern? Na, wartet nur Ihr Kanaillen, wir werden es Euch schon zeigen!“

Und der Knüppel schlug zu, ganz gleich wohin er traf. Das Resultat war, daß tatsächlich dreihundert Mann wie die Sardinen gepreßt im Waschraum Platz fanden. Dr Rest mußte in dem stinkenden, zugigen und sehr kalten Abort stehen.

Ganz in der Ecke des Waschraums war ein Ofen, vielmehr ein winziges Öfchen. Es wurde für uns geheizt. Aber wohin sollte die Wärme, die bescheidene Wärme dringen, die es entwickelte? Nur die kleine Ecke, in der es stand, konnte es erwärmen.

Dreihundert Mann standen hier, dicht aneinandergepreßt, aber wirklich gepreßt. Es war unmöglich sich zu bücken. Wer austreten mußte, hatte große Schwierigkeiten, und es dauerte lange Zeit, bis er sich vorgearbeitet hatte, sein Platz schloß sich sofort wieder, und er mußte auf dem kalten Abort bleiben.

Wir dachten, das sei vielleicht für einen Tag so. Es war kaum zu ertragen, schien es uns. Eine halbe Stunde verging so, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, der ganze Vormittag. Einige wurden herbeigerufen zum Fensterputzen und ähnlichen Dingen. Sie durften später zur „Dekoration“ in der Baracke bleiben und sich am Ofen aufwärmen, so sah der Block nicht ganz leer aus.

Endlich durften zwölf von uns heraus, die Essenkübel holen, und nach einer weiteren Stunde durften wir alle in die Baracke. Die Decken wurden weggenommen, die Strohsäcke hochgeschlagen, wir faßten Essen und durften es auf den Strohsäcken sitzend einnehmen.

Nach dem Essen . . . ach ja, Essen . . ., es war kein Essen, es war nur Wasser mit irgend etwas darin, aber es war warm, warm, und wir gierten danach. Ja unsere Ernährung. Morgens Wasser in Form von Kaffee, mittags Wasser in Form von Suppe mit vereinzelten Kartoffel-oder Krautstücken und kleinen Fleischbröckchen, völlig geschmacklos, ungesalzen und vor allem lieblos gekocht, nur abends kam das gute Brot und eine Scheibe Wurst, eine Scheibe Margarine und wieder eine halbe Schale Kaffee.

Kaum war das Essen beendet, so mußten wir unsere Schüsseln spülen, die Strohsäcke wieder hinlegen, die Decken alle fein säuberlich darauf legen, alles so, daß es eine schöne, glatte, dem Auge wohlgefällige Linie ergab. Dabei wurde auf uns eingeschrieen, daß wir in Dachau so mit Bettenbau gequält worden seien und hier in Neuen-Gamme seien wir zu faul, auch nur unsere Strohsäcke richtig aufzuschütteln und zu bauen. O. es war grausam, was man uns alles sagte. In Wirklichkeit waren die Strohsäcke meist nur Fragmente von Strohsäcken, gefüllt mit zu Häcksel zerriebenen Stroh, einer war etwas dicker, einer wiederum ganz dünn. Wie sollte man eine Ebene erzielen? Aber wir schafften es doch. Und wenn alles wieder wie zur Parade dalag, wenn wir dieses Kunststück fertiggebracht hatten, dann mußten wir wieder hinaus in den Waschraum.

Wir pferchten uns jetzt schon selbst zusammen. Es ging auch ohne Knüppel. Es geht ja so vieles auf der Welt. Wir waren einsichtig geworden und begannen nun ganz gefügig zu werden.

Und wieder standen wir eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden. O, sie schlichen gräßlich langsam dahin. Wir standen in den Mänteln, ohne uns bewegen zu können, und froren. Wir hatten eiskalte Füsse. Ab und zu drehte sich irgend ein Krösus aus Zeitungspapier und etwas Tabak eine Zigarette. Er tat es mit vieler Mühe, und man ließ ihm die Arme frei, preßte sich noch etwas mehr zurück, in der Hoffnung, daß er dafür die Umstehenden werde „einen Zug“ machen lassen. Was wurde da alles gesprochen, erzählt, gesagt, gedacht, in diesen Stunden im Waschraum.

So waren wir den ganzen Tag eingesperrt, stehend, ohne uns nur bewegen zu können. Die, die im Abort waren, hatten wohl mehr Platz, aber sie froren ganz elend, da die Luft ungehinderten Zugang hatte. Sie sahen rot und blau aus und schnatterten vor Kälte. Viele erkälteten sich den Darm und gingen elend zu Grunde.

Es dunkelte. Da wurden wieder einige von uns herausgeholt, die Kaffeekübel zu tragen. Der Abendappell nahte, unsere Erlösung.

Wahrscheinlich hatte man einen Besuch erwartet, dem man einen aufgeräumten Block zeigen wollte, und uns deshalb versteckt, das war unsere Meinung. Einen Tag lang waren wir da eingepfercht worden. Mich schmerzt jetzt noch der Rücken, wenn ich an diese Zeit denke. Einen Tag lang eng aneinander gepreßt stehen, fast ohne die geringste Bewegung machen zu können, mit eiskalten Füßen. Einen Tag lang.

Einen Tag lang? Drei Wochen, drei volle Wochen hielt uns das Block-personal so im Waschraum gefangen, drei Wochen! Auf diese Art war der Block immer sauber, und sie hatten ihre selige Ruhe, lachten uns aus, lachten über ihren gelungenen Streich. Um uns einzuschüchtern, ließen sie von Zeit zu Zeit den Blockführer einen Blick zu uns hineinwerfen. Er fand das natürlich ganz in Ordnung, daß diese „Hunde" da so stehen mußten. Und er tobte und drohte, sagte, er rieche, daß jemand gerauchte habe, und schwor, er werde uns alle in das Eis und in die Kälte hinaus jagen und uns draußen den ganzen Tag strammstehen lassen. Da beschwichtigte ihn dann Ernst Hesse, damit wir sehen sollten, was für ein guter Mensch er war, der uns vor dem neuen Unglück rettete. In Wirklichkeit tat der Blockführer, was das Blockpersonal wollte, wir sahen das erst später ein. Sie hatten den Blockführer durch alle möglichen Dinge ganz in der Hand, durch Geld, das sie ihm zusteckten und durch gestohlene Waren. Und er brauchte immer Geld und manchmal war er auch betrunken.

Während wir da unsere Kräfte und Energien nutzlos im Stehen vergeudeten, lagen auf allen Blocks im ganzen Lager die übrigen Häftlinge auf ihren Strohsäcken, rauchten, aßen, schliefen sich aus und kräftigten sich so für die Zeit der schweren Arbeit, die uns allen bevorstand. August und Ernst Hesse aber entkräftigten uns, raubten uns Ruhe und Erholung, nahmen uns die Wärme und jede Art von etwas Behaglichkeit, jede Möglichkeit, uns auszuruhen, obwohl sie wußten, daß wir fast alle aus der Strafkompanie kamen, daß wir alle schwere Strapazen hinter uns hatten. Sie legten den Grundstein zu unserer so schnellen Verelendung, sie tragen die Schuld mit am frühzeitigen Tode vieler Kameraden, sie selbst, sie, unsere „Kameraden" töteten uns so, Ernst Hesse, der Stubenälteste und August, der Blockälteste. Lind warum? Um einen aufgeräumten Block zu haben und ohne das Geräusch der Stimmel, ohne den Geruch von uns „Kanaillen“ gemütlich in ihrer Ecke Zigaretten rauchen zu können. Die gute Stube war aufgeräumt, die Kinder wurden ins Bad und in den Abort gesperrt. Alles blieb so. wie es war.

Drei Wochen, drei Wochen, drei Wochen!

Das sagt sich so schnell, aber wie lange solch ein Tag war, wie furchtbar lang solch eine Woche. Mir ist es heute, als seien es Monate gewesen. Lind die Kranken, die da mit eingepfercht standen, und die Trostlosigkeit, die Hilflosigkeit von uns allen. Gerade diese Zeit, die wir gebraucht hätten, um etwas zu Kräften zu kommen, uns zu erholen, gerade diese Zeit, die uns paradiesisch erschienen wäre, ein Geschenk des Himmels, diese Zeit stahlen uns die zwei. Wenn es Diebe gibt, gewissenlose Diebe, dann sind es diese beiden gewesen.

Mein Gespräch mit dem jungen tschechischen Juden Ich hatte im Waschraum Gespräche mit einig, der Juden, die unter uns waren. Sie w. aren von uns getrennt worden und auf einen anderen Block gekommen. Sie mußten nun draußen irgendwelche unnötigen Arbeiten machen in der bitteren Kälte. Drei von ihnen hatten sich in unseren Block geschmuggelt und verbrachten den Tag mit uns im Waschraum. Wenn wir in die Baracke nach dem Appell zurückfluteten, drängten sie mit hinein, verdeckten ihren gelben Davidstern und gelangten so unbemerkt in den Waschraum. Zu den Essenszeiten entschlüpften sie dann wieder.

Einer von ihnen war besonders begabt, ein tschechischer Schneider. Er war Modeentwerfer gewesen und hatte in seinem Beruf viel Geld verdient, jedes Jahr fuhr er zweimal nach Paris, um die neuesten Modelle zu sehen und Anregungen zu schöpfen. Er hatte ein sympathisches Aussehen und sehr intelligente, lebhafte Augen. Mit ihm sprach ich einmal länger über die Judenfrage. Jemand hatte ihn erkannt und gesagt:

„Was tut dieser Saujud hier?“

Alle lachten. I Ich sagte:

„Er wärmt sich hier, denn sie müssen bei dem Wetter draußen arbeiten, nur weil sie Juden sind. Aber ich denke, wir sind Kameraden, ganz gleich was wir sonst sind."

„Ach was — Jud bleibt Jud."

Der vorher gesprochen hatte, sagte es und alle lachten.

Doch ich nahm diese Entgegnung nicht so ohne weiteres hin; „Lind ein Schutzhäftling bleibt ein Schutzhäftling, das hast Du aber anscheinend noch nicht gemerkt, Du wärst ein guter SS-Mann geworden."

Jetzt waren die Lacher auf der anderen Seite, und es wagten sich sogar einige Stimmen hervor, die etwas zur Verteidigung der Juden sagten.

Der junge Tscheche schaute mich groß an, wies mit dem Kopf auf die Umstehenden und fragte: „Sind das Christen?“

Die Frage klang fast töricht, niemand schenkte ihr Gehör, jeder sprach und dachte schon wieder etwas anderes. Mich aber traf die Frage schwer, denn in ihr war alles enthalten, jeder Vorwurf, den man den Christen machen konnte. „Es gab einmal Christen", sagte ich, „vor fast zweitausend Jahren, ganz am Anfang. Heute gibt es auch noch welche, einige, verstreute, einzelne, fast könnte man sagen, verborgene. Die aber, die sich heute Christen nennen, wissen selbst nicht, was es heißt, oder wollen es nicht wissen. Sie sind getauft, das ist wie ein Stempel. Die Regeln und die schönen Grundsätze des Christentums kennen sie zwar, aber sie kümmern sich nicht darum. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. .. Gibt es einfachere, schönere Regeln? Gäbe es etwas Beglückenderes als die Erfüllung dieser Regel? Die Erde würde ein Paradies werden, sie aber tun das Gegenteil. Sagte nicht Christus: Stecke das Sehwert in die Scheide, denn wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen . . . und nicht sieben Mal, sondern siebzig Mal si: ben Mal sollst Du Deinem Bruder vergeben, Wer lebt das? Nein, diese Menschen sind alle keine Christen, sie sind wie ein schlechtes Fabrikat, das eine edle Marke trägt.“

Er schaute mich verwundert an: „Bist Du denn kein Christ?“ „Nein, ich bin ein Heide. Aber ich liebe die Lehre von Christus und ich bemühe mich sogar ihr zu folgen.“ „Seltsam“, sagte er, „wie kommt das? Bist Du denn nicht getauft?" „Nein, weder getauft, noch beschnitten, nichts. Meine Eltern sagten, daß ihre Kinder selbst wählen sollten, wenn sie erwachsen seien, zu welcher Religion sie sich bekennen wollten. Und ich kann mich zu keiner bekennen, denn ich bekenne mich zu allen, gerade weil ich in allen Religionen nur eine einzige Religion sehe, so wie ich in vielen Gliedern als Ganzes nur einen Menschen sehe, gerade deshalb habe ich keine Konfession. Für mich ist eine Moschee genau so ein Tempel wie eine Synagoge oder eine christliche Kirche oder ein buddhistischer Tempel. Ich weiß, sie alle wollen das Eine, das Schöne, das Große, Erhabene, wollen GOTT. Und ich bin glücklich, an jedem Orte, an dem man das will. So bin ich eigentlich alles, aber da ich außerhalb der Grenzen stehe', die die Konfessionen gesteckt haben, so sage ich, ich sei ein Heide. Und gerade weil ich ein Heide bin, gerade weil ich etwas abseits stehe, kann ich Dir sagen, es sind keine Christen."

Er fragte:

„Kennst Du die Bibelforscher?“ „Ja, ich kenne sie.“ „Siehst Du, die gehen nicht in den Krieg, die lassen sich lieber töten, als daß sie einen anderen Menschen töten. Ich glaube, das sind die wahren Christen. Und weißt Du, dann habe ich etwas Schönes mit ihnen erlebt. Wir sind nämlich mit ihnen zusammen auf einem Block, hier in Neuen-Gamme, Juden und Bibelforscher. Als wir Juden auf den Block kamen, da versteckten die anderen Juden, was sie hatten, um nicht teilen zu müssen. Du schüttelst den Kopf, aber es ist doch so. Draußen haben wir uns gegenseitig geholfen, aber hier, wo es um Tod und Leben geht, da will jeder sich zuerst retten und denkt nicht an den anderen. Lind denke Dir, was taten die Bibelforscher? Sie müssen zur Zeit schwer arbeiten, irgend eine Reparatur an der Wasserleitung. Sie stehen in diesem kalten Wetter den ganzen Tag im Eiswasser. Kein Mensch begreift, wie sie es aushalten. Sie sagen, Jehova gibt ihnen die Kraft dazu. Sie brauchen ihr Brot sehr nötig, sie haben Hun-ger, wie wir auch. Aber was taten sie? Sie trugen alles Brot zusammen, was sie hatten, nahmen sich die Hälfte davon und legten die andere Hälfte ihren Brüdern hin, ihren Glaubensbrüdern, die jetzt von Dachau kamen. Und sie bewillkommneten sie und küßten sie, und bevor sie aßen, beteten sie und nachher hatten sie alle verklärte und glückliche Gesichter, und sie sagen, daß keiner mehr Hunger hatte. Siehst Du, da habe ich mir gesagt: Das sind die wahren Christen, so habe ich sie mir immer vorgestellt.

Warum können wir Juden nicht so sein?

Wie schön wäre es gewesen, unsere Mitbürger hätten uns einen solchen Empfang bereitet. Eigentlich sollte man das erwarten, gerade in dieser Lage, wo wir doch alle dem Tode entgegengehen, wenn nicht in letzter Stunde etwas kommt, das uns rettet. Sage nicht nein um mich zu trösten, es ist so, ich weiß es genau. Vor dem Kriege noch, da wurde ab und zu einer entlassen und die, die Papiere nach Amerika hatten, diese Juden durften das Lager und das Land verlassen. Aber jetzt? Wir werden systematisch zu Tode gequält. Die schlechteste Arbeit ist für uns recht und das wenigste und schlechteste Essen gut. Dafür aber bekommen wir die meisten Prügel und haben die größten Schikanen. Zu unseren Wächtern bestellt man Capos und Blockälteste, die viel schlimmer als Tiere sind, die Schlimmsten der Schlimmen, die es im ganzen Lager gibt. Die SS behandelt uns mit ausgesuchtem Hohn, Haß und Grausamkeit. Man tut alles, daß die, die nicht totgeschlagen werden, auf andere Weise so schnell wie möglich eingehen. Wir müssen im Frost stehen, ohne Mütze und Handschuhe, ohne Mantel, oft tagelang. Wenn bei uns die kleinste Sache vorkommt, so nimmt man uns für einen oder mehrere Tage das Essen weg. Wo wir hinsehen, überall ist für uns im Großen wie im Kleinen der Tod vorbereitet, es ist nur eine Frage, ob er heute schon an uns herantritt oder erst nach Tagen, Wochen oder Monaten. Wer von uns ist schon länger als ein Jahr im Lager? Ja, es gibt sogar welche, die sind mehrere Jahre hier. Aber das sind Ausnahmen, sie hatten als einzelne besonderes Glück. Aber wir als Masse? Lins sind nur Monate zum Leben gelassen.

Und nun ist es das Seltsame, statt daß wir uns diese kurze, letzte Frist vergolden, durch gegenseitige Liebe, statt dssen ist einer gegen den anderen. Was ist nur in uns gefahren? Sind wir wirklich so schlecht? Draußen haben wir uns doch gegenseitig geholfen, warum tuen wir es hier nicht? Sehen wir denn nicht den Tod, der auf uns alle wartet?

Alles ist verboten, nur zahlen dürfen wir, zahlen. Die Blockältesten schlagen uns, die Capos schlagen uns, schlagen uns sogar tot, aber vorher halten sie noch die Hand auf: , Ich brauche das und das.'Und schon regnet es Geld in ihre Hände, wir geben ihnen, was wir aus der Kantine bekommen. Sie. lachen, sie schlagen uns einen halben Tag lang nicht und dann schlagen sie uns mehr als vorher. Und das Lager? Da heißt es: Die Saujuden, denen geschieht es recht. Das sind unsere „Kameraden". Aber dann brauchen sie Bücher oder Musikinstrumente oder irgend etwas fürs Lager, das viel Geld kostet, gleich immer Tausende. Das sollen die Juden bezahlen, heißt es dann. Und sie nehmen von uns schmutzigen Juden Geld, so als ob wir ihre besten Kameraden wären. Und dann gibt man uns zur Belohnung einen halben Tag Schonung, einen halben Tag lang werden wir nicht geschlagen und dürfen uns ausruhen. Und sie sprechen vom schmutzigen, jüdischen Geschäft. Was sind das für Geschäfte, die sie machen? Haben wir ihnen nicht schon hunderte Mark, ja tausend Mark bezahlt für einen Laib Brot, in der Zeit, als wir am Verhungern waren? Wer hat diese Wuchergeschäfte gemacht? Wer hat uns den heimlich verborgenen Groschen, der für die letzte Zeit der Not irgendwo eingenäht war, weggenommen? Sie, die vom jüdischen Geschäft reden und damit Übervorteilung meinen. Aber das ließe sich ja alles noch ertragen, wenn wir selber uns einig wären, wenn wir uns lieben und helfen würden. Draußen unterstützte jeder den anderen, draußen, als jeder etwas hatte. Das war leichter, wer etwas hat, kann etwas geben. Aber von dem Nichts, das man besitzt, noch etwas geben, da fängt das wahre Geben an, nicht aus dem Überfluß, nein, aus der Not heraus dem Nächsten noch helfen, das ist groß, das ist schenken. So arm sein, daß man kein Stück Brot mehr hat, aber einen guten Blick, ein gutes Wort noch verschenken können, das ist Reichtum.

Und diesen Reichtum sah ich bei ihnen, bei den Bibelforschern. Ich habe ihre Augen leuchten gesehen, und ich werde es nie vergessen. Oh, wenn ich sehe, wie wir uns schlecht benehmen, wie wir nach einem Stück Brot gieren und wie wir es mit beiden Händen festhalten, statt es mit dem Hungrigen zu brechen, wenn ich sehe, wie wir uns gegenseitig beschimpfen in unserer Not, wie jeder nur an sich denkt, ja, wenn ich sogar sehe, daß wir Verräter unter uns haben, die uns für ein Stüde Brot verkaufen, dann, dann könnte ich der größte Antisemit werden. Ich glaube, ich bin es schon."

Er tat mir leid, dieser junge Mensch. Ich sagte ihm:

„Bei den anderen ist es so: Wenn sie ein Stück Brot dafür erhalten, verraten viele ihren sogenannten besten Freund. Für ein großes Stück Brot wird es möglich sein, daß einer seinen Kameraden erschlägt. Das scheint in der menschlichen Natur zu liegen. Wenn der Mensch Hunger hat, wird er zur Bestie. Das ist nicht nur bei den Juden so. Und daß jeder sein Brot selber ißt, das machen auch alle so. Die es nicht tun, von denen muß man denken, daß sie entweder übersatt sind, aber diese wenigen Übersatten „verkaufen“ ja ihr Brot, oder aber, daß es wirklich große Menschen sind, innerlich groß. Denn Du weißt es ja selbst. Tag und Nacht träumen wir von Brot und davon uns einmal richtig satt zu essen. Wer also trotzdem fähig ist, sein Brot zu teilen, der ist fähig, einen Schritt, einen ganz kleinen Schritt über seine eigene Natur hinaus zu gehen und das ist groß, das ist Größe.

Die Bibelforscher haben das gekonnt, sagst Du. Schau, im Lager spricht man von allen, nur nie von schönen oder guten Dingen, oder wenigstens nur sehr selten. Die Menschen hier sind alle fast Verzweifelte, sind wie Vögel, die man aus ihren Nestern und von ihren Bäumen und aus der freien Luft genommen hat und in einen häßlichen Käfig sperrte und denen man falsches, schlechtes Futter gibt. Viele sterben deshalb. Nun sind sie ganz verängstigt und besorgt, ihr Leben zu erhalten. Sie denken an die vergangenen schönen Zeiten, also an etwas Materielles und an das Unrecht, das ihnen jetzt geschieht, an ihre Machtlosigkeit, an ihre Erniedrigung und ihr Elend. Höchstens leben sie alle noch in der Hoffnung auf die Freiheit. Fast niemand im Lager hat einen inneren festen Halt. Alles Äußere ist zerbrochen, alles worauf man sich stützte und was einen nun umgibt, darauf kann man sich nicht stützen. Sie alle tragen kein klares, volles Weltbild in sich, sie alle hatten und haben keinen festen Halt, keine geistige Achse, um die ihr Leben ruhig und geregelt weiterschreiten könnte. Die Bibelforscher aber haben das. Sie leben in der Religion und . .. leben selbst Religion, leben sie vor. Sie ließen sich erschießen, um dem, an den sie glauben, treu zu bleiben, dem Worte: Du sollst nicht töten. Und schon damit haben sie bewiesen, daß sie Christen sind, wirklich Jünger Jesu.

Denke Dir irgend jemand würde in einem anderen Erdteil leben und dort das Leben sehen, wie es überall ist. Er würde Mord sehen und Krieg, Betrug und Falschheit, Grausamkeit und Habsucht. Und da würde er plötzlich die Lehre Christi lesen: Wer zwei Röcke hat, der gebe dem einen, der keinen hat, teile mit Deinem Nächsten Dein Brot, Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst, Du sollst Deinem Bruder siebzigmal siebenmal vergeben, stecke Dein Schwert in die Scheide, denn ich sage Dir, Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst. Dieser Mann würde hören, es gibt einen Erdteil, Europa. Dort leben seit über tausend Jahren die Menschen nach diesen wunderbaren Grundsätzen, dort bekennen sie sich zu ihnen und nennen sich sogar alle nach dem Namen des Erleuchteten, der diese Grundsätze brachte, nennen sich Christen. Dieser Mann würde all sein Hab und Gut verkaufen, er würde alles verlassen, um in diesen Erdteil zu gelangen, in dem Hunderte Millionen von Menschen seit so langer Zeit diese Regeln befolgen. Und er wäre voll Glück, denn das, was er finden würde, das wäre das irdische Paradies, in dem der Bruder dem Bruder hilft, in dem keiner den anderen tötet, in dem der Feind dem Feinde vergibt, wo es nach so vieler Zeit gar nicht mehr denkbar sein kann, daß der Mensch dem Menschen feind ist. Und was würde er sehen? Was würde dieser Mann sehen, wenn er käme? Was würde er in der Geschichte dieses Erdteiles lesen?

Dieser Mann müßte sich in eine Einöde setzen, sein Haupt verhüllen und weinen. Denn aus dem Frieden haben sie den Krieg gemacht und aus der Liebe das Blutvergießen, aus der Hilfe die Selbstsucht und aus dem Teilen die Habgier. Und sie haben das alles sich selbst gestattet. verbrieft und versiegelt, sie haben es sogar Christentum genannt und haben so eine Rose zu einem Gestank gemacht, ein Paradies zu einer Hölle und den Namen Christ zu einem Abscheu und einem Hohngelächter für die, welche in anderen Erdteilen leben, und denen es der Begriff vom weißen Unterdrücker ohne Herz ist.

Und die sich Christen nennen, sie würden selbst Christus nicht mehr erkennen und ihn kreuzigen, so oft er käme, sie zu lehren, denn seine Lehren sind ihnen Narrheit und wenn jemand sich bemüht, nach ihnen zu leben, so verfolgen sie ihn.

Ihr habt die schöne, alte Geschichte vom goldenen Kalb. Das ist auch ihr Götze, er ist besonders groß in unserer Zeit und heißt: „Materialismus". Denke Dir aber, die wenigen, die wirklich sich bemühen nach diesen herrlichen Lehren zu handeln, welch ein inneres Glück sie schon in diesem Leben empfinden müssen. Es ist ein ewiges Gesetz, daß wir ernten, was wir aussäen. Da sie also nur Brieden säen, so ernten sie Frieden, da sie nur Gutes säen, so ernten sie Gutes, und da sie Schönes, Edles wollen, so will auch das Schöne und Edle sie. So leben sie in einer Harmonie, die sie trägt. Sie liegen wie ein Fels in der Brandung, wohl schäumt und frißt die Umwelt, das Meer, an ihnen mit seinen Wogen, doch sie haben festen Grund. Bei ihnen geht das prophetische Wort Christi in Erfüllung: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Geiste, in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Und Du hattest das Glück, eine solche kleine Gruppe echter Christen zu sehen.

Nicht alle Bibelforscher werden es sein. Es gibt auch noch unter anderen Bekenntnissen echte Christen, ja, es gibt sicherlich sogar unter den Christen noch Christen und . . . unter den Heiden.

Und Euer Volk, die Juden, schau, es ist ein unglückliches Volk. Es liegt ein Fluch auf ihnen, der ein Segen ist. Ihr seid eines der ältesten Kulturvölker, die sich, als Volk lebend erhalten haben.

Nicht ein kleines, nein, ein großes, umfassendes Ideal ist Eure Religion. Es waren immer welche in Eurem Volke, die dieses Ideal hüteten, schützten, verbargen. Diese heilige Flamme hat Euch genährt, in ihrem Lichte habt Ihr Euch zusammengefunden und so habt Ihr Euch nie ganz verloren. Das war Eure geistige Bundeslade. Aber Ihr wäret zerstreut in alle Welt, allen Völkern, aller Willkür preisgegeben, es gab keinen Schutz für Euch.

Ihr mußtet viel von Eurem Denken auf das Geld richten. Ihr mußtet wie die Alchimisten werden und aus Staub Gold machen, Euch zu retten und zu schützen. Und da waren viele, die verloren über der langen Zeit den Sinn für den Zweck des Goldes, den Sinn des Walles. Sie häuften das Gold um sich her und lebten wohl und geborgen dahinter, und sie häuften soviel, daß sie nur noch schwach das Licht der Bundeslade sahen, das heilige Licht. Und manche sahen es gar nicht mehr und vergaßen es und wurden wie alle Welt um sie her.

Fast zweitausend Jahre lang bliebet Ihr ein Volk, fast zweitausend Jahre lang aber mußte Euer ganzes Denken und Handeln auf den Erwerb von Geld gerichtet sein. In den Ländern, in denen man Euch gastlich entgegenkam, triebet Ihr Handwerk und lebtet von Eurer Hände Arbeit. In den anderen Ländern aber, die Euch kennzeichneten, brandmarkten, die Euch gesondert wohnen ließen, wie Aussätzige, da wurdet Ihr Händler, Wucherer, denn um Euch her war Feindschaft, und Ihr tatet, was Ihr Böses tatet, denen, die Euch Böses taten.

Da kam eine neue Zeit.

Die Mauern der Städte fielen, und Ihr konntet beginnen frei unter den anderen zu leben, sogar Rechte wurden Euch zugesprochen, in jenen Ländern die auf dem neuen Wege am weitesten fortgeschritten waren.

Da begann Euer Untergang.

Die Juden hatten gelernt, daß man mit Geld alles auf der Welt kaufen kann, alles, aber sie hatten vergessen, daß nur materielle Dinge mit Geld zu kaufen sind, Liebe, Achtung, Freundschaft und vieles andere wird nie mit Geld gekauft, noch weniger aber . ..der Segen. Und der Segen wich von ihnen.

Und es begann der Kampf gegen die Juden.

Die Juden aber, die sich vermischt hatten, lachten. Hatten sie nicht Rechte? Waren sie nicht verwandt mit den anderen Völkern rings umher? Hatten sie sich nicht mit ihnen verschwägert? Da mochten die nun, die so hartnäckig am Alten festgehalten hatten, zusehen, wie sie fertig wurden, jene, die immer noch nicht begreifen wollten, daß eine neue Zeit war.

Aber die Güte des Schicksals sandte wieder die Rute, gerade, als das Volk als Volk sich ganz verlieren wollte, es sandte die Verfolgung. Millionen Juden mußten ihr Leben lassen, die aber, die es sahen, erinnerten sich, daß es die Bundeslade war, die sie aus Ägypten führte, das heilige Licht, die Erleuchtung des Guten. Das goldene Kalb konnte sie noch nie retten. Es war stets nur ihr Untergang, brachte ihnen den Schrecken des Todes. Und auch die, die geglaubt hatten, durch ihre Vermischung dem zu entfliehen, auch sie konnten sich vor diesen Schrecken nicht retten.

In dieser Zeit leben wir heute.

Dieses Schreckliche, das dem Volke Israel widerfährt, ist in Wirklichkeit die größte Güte, die ihm geschieht, ist die starke Hand, die es wieder zurückführt auf seinen Weg, auf den Weg, den es verlassen hat, auf den Weg des Lichtes.

Ich glaube, daß die nächste Aufgabe desjüdischen Volkes und der weißen Menschheit über-haupt darin bestehen wird, das Herz zu e n t w i k -kein, das Gemüt. Ein edles Gemüt, das ruhig als Helfer den klaren Verstand haben darf, ist wohl das Köstlichste, was wir Menschen besitzen können, ein goldenes Herz, mit einem klaren, reifen Verstand als Hüter.

Und ich glaube: Durch das viele Leiden wird das Volk Israel sich selber wieder finden, wird seine wahren Schätze erkennen, beim Scheine des geheimnisvollen Lichtes aus der Bundeslade, beim Scheine der alten Weisheit, wird es sich wiederfinden. Denn das Volk Israel war verlorener und verstreuter in der Umwelt, in der es lebte, als jetzt, da cs nur äußerlich zerstreut und verloren ist. Es hatte vergessen, daß es ein Volk ist, seine Feinde aber haben es ihm gelehrt, haben es ihm mit glühendem Stempel ins Herz gegraben: Israel, Du bist e i n Volk! Und ich glaube, daß die Zeit nicht fern sein wird, wo dieses Volk sich wieder sammeln wird, wo es auch äußerlich sich vereinen wird. Es wird bald die Zeit kommen, wo es wieder ein Land besitzen wird, sein Land."

Er hatte mir stumm zugehört. Seine Augen blickten eine Weile groß und träumerisch in die Ferne, dann®aber verhüllten sie sich wie mit Trauer, und er sagte: „Wir sind ja an so vielem selber schuld, an so vielem. Ja, wir haben zu sehr an das Geld geglaubt und an seine Macht und je mehr wir an das Geld glaubten, um so weniger glaubten wir an GOTT.

Als bei uns in der Tschechei die Verfolgungen begannen, bin ich zu einem unserer reichen Männer gegangen, jemand, der über viele Millionen verfügte. Wir sahen, was nun Schreckliches kommen mußte, aber noch war uns die Gelegenheit gegeben, das Land zu verlassen, doch es gab soviele Juden, die keine Mittel dazu hatten. Da ging ich zu ihm, machte ihm folgenden Vorschlag: Er solle 3000 oder wenigstens 300 Juden das Geld geben, nach Palästina auswandern zu können, wenigstens 300. Dreihundert Menschen konnte man so retten und ihnen eine neue Zukunft geben. Er sollte ihnen das Geld nicht schenken, sollte es ihnen leihen, sollte eine Liste mit allen ihren Namen erhalten, und jemand sollte dafür Sorge tragen, daß in Palästina ein Konto errichtet würde, auf das von jedem einzelnen die Rückzahlungen gemacht werden sollten. Auf diese Weise hätte er selbst auch einen Teil seines Geldes ins Ausland gebracht, was ja sonst verboten war. Auf diese Weise hätte er Schuldner gehabt, die ihm ihr Leben lang dankbar gewesen wären, und auch sein ausgegebenes Geld hätte er mit Zinsen zurückerhalten. Aber er wollte nicht. Es war ihm ein zu unsicheres „Geschäft“. An die Not und an das Elend der Verzweifelten dachte er nicht, nur an sein Geld. Es hätte genügt, wenn er ein oder zwei seiner großen Geschäftshäuser verkauft hätte, sie allein waren schon Millionen wert. Aber er wollte nicht, sein Geld stand ihm näher als sein Volk.

Heute ist dieser Mann so arm wie die anderen, es ist ihm alles genommen worden. Niemanden hat er glücklich gemacht, niemand denkt in Dankbarkeit an ihn. Von den Menschen aber, die er hätte retten können, sind die meisten nun schon tot. Vielleicht lebt er selbst auch schon nicht mehr.

Und im Lager — da haben Juden nicht nur ihr Volk verloren, sondern sogar sich selbst. Natürlich, es gab leuchtende Ausnahmen. Aber selbst die, die draußen wohltätig gewesen waren, sie hielten im Lager ihr Stück Brot fest und dachten nicht an den Schwächeren.“

Ich schüttelte den Kopf:

„Du täuscht Dich, es ist bei den anderen nicht andes. Bei Euch ist es vielleicht schlimmer, weil Ihr es auch schlimmer als sie habt, weil bei Euch die Gefahr jede Stunde, jede Minute noch größer ist, weil Ihr mehr noch gehetzt und geschlagen seid als die anderen, weil Ihr einem noch sichereren Tode entgegengeht als wir, weil man Euch noch schneller und gründlicher zu vernichten sucht und weil man es Euch ja auch ganz offen zeigt und sagt.

Was wir hier im Lager sehen und erleben, ist die tägliche Panik, ein täglicher Schiffsuntergang. Nicht daß das Schiff nun in der nächsten Minute sinken würde, unser Lebensschiff, nein, aber das Wasser steigt jede Minute höher, langsam, unaufhaltsam kriecht es an uns hoch, kalt, schauerlich. Und das ist das Schreckliche, das ist die Panik. Und wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert, fest, daß man ihn ihm nicht entreißen kann, so klammern sich hier die Menschen an ein Stüde Brot, an ihr Leben. Glaube mir, alle hier sind so, alle, es gibt fast keine Ausnahme, es sind nicht nur die wenigen. Tröste Dich. Es sind Ausnahmezustände, und wer sich wirklich schämen muß, ist die SS, die Partei und das ganze deutsche Volk, das solche Dinge zuläßt, das seit sieben Jahren weiß, daß es solche Schreckenslager gibt, und sie nicht stürmt. Dieses Volk, das wie ein gehorsamer Knecht alle Fron erträgt und alle Schandtaten ausführt, die sein Herr ihm befiehlt. Dieses Volk soll sich schämen, mehr als wir uns schämen sollten, wenn unsere Kameraden vor Hunger Kartoffelschalen essen und vor Verzweiflung und Jammer ihr Menschsein verlieren.“

Plötzlich verstummte das leise Gesumme der Stimmen um uns her. Wir schauten alle auf. Im Rahmen der Tür standen der Blockälteste und der Stubenälteste. Mit höhnischen Augen blickten sie über uns weg, dann sagte Ernst Hesse mit schneidender Stimme:

„Haben sich hier Juden versteckt? Die sollen sofort herauskommen, bevor wir sie herausziehen!"

Er machte eine wirkungsvolle Pause, dann sagte er drohend:

„Na, wird's bald? O, ich finde sie schon heraus!"

Aber kein Mensch antwortete. Da schrillte seine Stimme ganz hoch:

„Schmeißt sie doch heraus, dieses Gesindel, diese Volksbetrüger, die Euch immer das Geld aus der Tasche gestohlen haben! Los, her mit ihnen, oder ich lasse Euch alle draußen antreten und wehe, wenn sie unter Euch sind! Dann könnt Ihr bis Mittag in der Kälte stehen oder Sport machen, wenn Euch das besser gefällt, auf und nieder, Kniebeugen, auf dem Boden rollen. Na, was ist, wird's bald?!"

Irgendwo sagte jemand: „Hier sind keine Juden."

Aber schon kam eine Gegenstimme:

„Sollen wir vielleicht draußen in der Kälte stehen wegen denen? Drei Stück sind da, da stehen sie doch!“

Jetzt erhoben sich gleich verschiedene Stimmen: „Schmeißt doch die Juden raus! Was brauchen wir die Juden hier, wir haben sowieso keinen Platz, raus mit den Juden!“

Der Mann, mit dem ich mich unterhalten hatte, suchte und faßte meine Hand: „Ich muß gehen“, sagte er, „das wird wieder ein schönes Theater geben."

„Bleibe doch", flüsterte ich, „Dein Stern ist ja gar nicht zu sehen.“

Er sagte: „Aber sie suchen uns. Ich will Euch nicht alle in Gefahr bringen. Du weißt doch, sonst heißt es wieder: die Juden. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.“

Es ging kaum, aber man machte ihm doch Platz. Er preßte sich durch, bis vor zur Tür, die anderen beiden folgten ihm.

„Ah, kommt Ihr endlich!“ schrillte die Stimme von Ernst Hesse. „Na, auf Euch haben wir gewartet, Ihr Mistbienen!“

Hesse packte den ersten Juden und schlug ihm die Faust ins Gesicht:

„Was hast Du hier zu suchen, Du Hund, Du Hund, Du!“

Seine Stimme gellte wie die eines bösen Weibes. Der Blockälteste und der andere packten die beiden übrigen Juden. Sie traten sie, zerrten sie zur Tür hinaus, dann waren sie unseren Blicken entschwunden. Durch die dünne Holzwand hindurch hörten wir das Klatschen von Schlägen, das wütende Schnaufen der Schlagenden und das Poltern fallender Körper.

So endete mein Gespräch mit dem jungen tschechischen Juden.

Der Brotdieb In dieser Nacht heulten die Sirenen, die Baracken erzitterten von den Schüssen der Abwehrkanonen und von der Erschütterung fallender Bomben. Unsere dicken Porzellan-Eßnäpfe, die auf breiten Leisten an der Barackenwand aufgestellt waren, gaben ein feines klirrendes Geräusch, die Fenster bebten leise. „Liegen bleiben!" schrie Ernst Hesse. „Liegen bleiben!“

Einige hatten sich von den Strohsäcken erhoben. Sie waren neugierig. Später gewöhnten wir uns dann daran, Hamburg hatte oft Angriffe, die meisten von uns wachten nicht einmal mehr auf deswegen, obwohl die Baracke oft bedenklich erschüttert wurde.

Der Mensch gewöhnt sich an alles, an Tyrannei, wie an Bombardements, und er wächst und lebt weiter unter all diesen Umständen, unter Bedingungen, unter denen selbst Ungeziefer eingeht. Der Mensch überdauert es. Er gewöhnt sich an den Strohsack ebenso wie an den seiden-bespannten Sessel und an schlechte Manieren ebenso wie ehemals an gute. Und wir begannen uns an Neuen-Gamme zu gewöhnen. Selbst das Stehen im Waschraum war uns schon zur Selbstverständlichkeit geworden, es kam uns schon vor, als sei es der Sinn eines Waschraumes und seine Verwendungsmöglichkeit nicht nur die, sich darin zu waschen. Es war uns, als würden auf der weiten Welt alle Waschräume dazu benützt, um tagelang Menschen in sie hineinzupferchen.

Es gibt ein Stadium, wo man sich das Denken langsam abgewohnt, wo man nicht mehr denken will. Je mehr das gelingt, um so fügsamer wird man gegenüber den neuen Verhältnissen, aber auch um so apathischer, und’darin liegt eine große Gefahr, die Gefahr, sich willenlos von jeder Welle tragen zu lassen, ganz gleich, ob sie uns an das ersehnte Ufer spült oder uns in den Abgrund treibt.

Die Capos und das Blockpersonal, überhaupt alle „Prominenten“ trugen in Neuen-Gamme die Köpfe glattrasiert als Zeichen ihrer Würde. Sie waren wohl darauf gekommen, daß irgend ein sichtbarer Unterschied zwischen ihnen und uns „Muselmännern“ sein mußte. So ließen sie sich die Köpfe einseifen und glatt rasieren, kahl wie eine Kugel. Wir dagegen trugen nur das kurz geschorene Haar, das jede Woche einmal neu geschoren wurde. Dieser Tag des Haarschneidens, er war unser Festtag, in dieser Zeit wenigstens. Es war gewöhnlich am Samstag. Wir durften dann den Waschraum verlassen, auf den Block gehen. Gleichzeitig wurden wir rasiert, die zweite Rasur in der Woche fand mittwochs statt. Es fanden sich unter uns tüchtige Friseure, angebliche und solche, die es wirklich waren. Sie verschönten oder verhäßlichten uns so gut sie konnten.

An zwei Stellen im Block stand so ein Barbier und rasierte aus Leibes-kräften, jeder 175 Leute an einem Nachmittag oder Abend. Zwei lange, aus Menschen gebildete Schlangen standen an, um dieser Verschönerungskur teilhaftig zu werden.

O, das waren unsere goldenen Tage! Es war uns ganz wohl und friedlich ums Herz, geradezu feierlich, wenn wir uns so auf dem Strohsack strecken durften, frisch rasiert. Diese glückliche Stimmung hielt gewöhnlich einige Stunden an, bis es Ernst Hesse einfiel zu toben, weil er sich über irgend etwas geärgert hatte, oder weil er im Kartenspiel verlor. Kartenspiel war natürlich auch strengstens verboten, aber die Prominenten spielten jede Nacht und, wie man sagte, um hohe Einsätze, um Geld, oft um viele hundert Mark, für Neuen-Gammener Verhältnisse wahre Vermögen. Wo mochten sie das Geld nur hernehmen? Ich begriff das nicht. Jeder konnte sich dreißig Mark im Monat schicken lassen, aber fast niemand von ihnen war „Geldempfänger". Also woher kam das viele Geld?

Geld ... — Ja, wir hatten kein Geld,, was wir besaßen, stand in der Kantine in Dachau gutgeschrieben, und das Geld kam und kam nicht, man sagte, das sei immer so, der SS sei es um die Zinsen zu tun. Immerhin war anzunehmen, daß wir 400 Leute etwa 15 bis 20 000 Mark in der Kantine stehen hatten. Viele von uns batten zwar kein Geld, andere aber viel, einige sogar über 1000 Mark. Wir waren nun hier und wollten unseren Angehörigen Nachricht geben. Es war unmöglich. Wir hatten kein Geld für Briefpapier, geschweige denn für Briefmarken. Einige von uns, die noch einige Pfenige Bargeld hatten, konnten schreiben. Die anderen kamen und bettelten:

„Du, gib mir bitte fünf Pfennige und eine Briefmarke, ich gebe es Dir wieder, sowie mein Geld kommt.“

Die Antwort kam dann:

„Du bist wohl verrückt, ich brauche mein Geld selber.“

Meist waren es leidenschaftliche Raucher, und sie dachten, daß sie sich durch Geldverleihen der Möglichkeit, Rauchwaren zu kaufen, beraubten. Aber das Wunder geschah: Ein Zigeuner schenkte mir einen Brief, und ein anderer Kamerad gab mir eine Briefmarke, ganz umsonst. Es war wunderbar. Von den dreihunderfünfzig Mann auf dem Block konnten nur etwa zwanzig Mann schreiben. Einige hatten sich auch einen Brief um den Preis ihrer Abendration „gekauft“, also für ein Drittel Brot und Margarine. Soweit waren wir schon, daß man unter den Kameraden Wucher trieb, aber man nannte sich „Kamerad“. Die Kameradschaft starb nach und nach ganz aus. Hunger und Roheit töteten sie. Jeder sah zu, daß das Lämpchen seines Lebens nicht verlosch, da blieb keine Zeit zu solch einem Luxus. Jeder mußte an sich denken, man mußte einfach.

Das Essen war und blieb Wasser mit Kartoffel-und Fleischstückchen darin. Mittwoch abends gab es außer der Brot-und Margarineration noch fünf kleine, meist verfaulte Kartoffeln. Der Hunger wuchs. Zuerst aßen viele die Kartoffeln heimlich mit der Schale, dann ganz öffentlich, und etwas später kamen sie und bettelten: „Du, gib mir Deine Kartoffelschalen“. Aber diese Schalen waren meist dunkle, halb faulige Masse. Doch sie verschlangen sie. Man knetete sie zusammen, formte Klöße daraus, legte sie zum Braten unten in die glühende Asche des Ofens. Lind die glücklichen Besitzer saßen davor und bewachten diese Schätze, bereit, sie bis aufs Leben zu verteidigen.

Nachdem wir etwa zwei Wochen da waren, waren wir schon sehr entnervt und hungrig. Das Frieren und das Stehen im Waschraum kostete auch viel Kraft.

Da begannen die ersten Brotdiebstähle. Brot stand hoch im Preis. Man konnte für ein Drittel Brot einen goldenen Ehering erhalten, einen Ring, den sonst der Besitzer wohl selbst in Zeiten der Not nicht verkauft hätte. Aber der Hunger . . . Und das Brot stand wiederum gering im Preis dem Tabak gegenüber. Je nachdem gerade mehr oder weniger Tabak im Lager war, schwankte der Preis: ein Drittel Brot gleich zwölf Zigaretten, ein Drittel Brot gleich fünf Zigaretten, ein Drittel Brot gleich zwei Zigaretten. Nur wenn man den Hunger versteht, versteht man, welch enorme Preise das waren. Ich habe viele, sehr viele Menschen an diesem Handel zu Grunde gehen sehen. Sie siechten dahin, bis sie elend und erbärmlich starben, für Zigaretten.

In normalen Verhältnissen läßt sich viel Moralisches dazu und darüber sagen. Aber bei einem Leben unter solchen Verhältnissen, ohne Freude, ohne genügend Nahrung, nur den Tod vor Augen, der täglich näher schleicht, ja, ist es da nicht zu begreifen, daß ein Mensch alles daran setzt, sich noch einmal Genuß zu verschaffen, koste es, was es wolle? Nirgends wie im Lager habe ich es so sehr einsehen gelernt, daß einer unserer größten Fehler der ist, zu bewerten, zu sagen: Das ist schlecht, das ist gut. Woher wissen wir es denn? Man sollte soweit kommen, daß man nur ganz objektiv feststellt: Das ist so oder so, jedoch ohne jedes Urteil. Die Werte machen wir uns alle selbst, und die Werte, die im Umlauf sind, sind zu achtzig Prozent Falschgeld unter der vergoldeten Prägung: „Moral“.

Der Hunger war auf ein schon ziemlich hohes Maß gestiegen. Brot schien etwas unendlich Rares, Kostbares und vor allem Unerreichbares zu sein. Aber gab es nicht Brot genug? Kamen nicht täglich über hundert Brote in den Block? Erhielt nicht jeder Mann ein Drittel?

Die Tischältesten empfingen die Brote und mußten sie schneiden. Aller Augen blickten auf diese Handlung. Oft waren Stücke ungleich geschnitten, dann bangte schon jeder im Stillen, ob ihm am Ende das kleinere Stück zufallen würde. Auf dem Stück aber, das größer war als die anderen, lagen die gierigen Blicke aller. Jeder ersehnte es sich. Es handelte sich ja nur um ganz wenig mehr, nur um Gramme, aber sie zählten.

Jeder, der sein Brot aß, breitete sein Geschirrtuch über die Knie, daß ja kein Brosamen herunterfallen konnte. Und dann, wenn alles aufgegessen war, (o, wie ging das märchenhaft schnell) dann klaubte jeder voller Andacht die Brosamen zusammen und steckte sie genießerisch und hungrig in den Mund, auch die allerwinzigsten. Einmal Brot haben, viel Brot, einmal sich satt essen zu können, einmal!

Kein Wunder also, wenn flinke Finger ein Stück Brot ergriffen und verschwinden ließen. Dazu kam, wir hatten viele bei uns, die Gewandtheit dann hatten, weil das Stehlen früher ihr Gewerbe war.

Die ersten Brotdiebstähle waren eine große Sensation.

Irgend jemand kam aufgeregt und völlig kopflos zu Ernst Hesse:

„Mein Brot ist verschwunden! Gerade lag cs noch da, in dem Augenblick, in dem ich nicht hinschaute, war es weg.“

Der Bestohlene gebärdete sich gewöhnlich fassungslos und so empört wie eine Mutter, der ihr eigenes Kind entführt wurde. Ernst Hesse kam und stellte Untersuchungen an.

Jeder im Umkreis mußte sein Brot zeigen. Hesse schaute unter den Strohsäcken nach, er fragte, wer etwas Verdächtiges gesehen habe. Einer verdächtigte dann gewöhnlich den anderen. Der Verdächtigte leugnete. Ernst Hesse überschüttete ihn mit Drohungen und Ohrfeigen, um ein Geständnis zu erzwingen, bis sich dann herausstellte, daß er doch unschuldig war. Ernst Hesse aber kam in volle Fahrt:

„So also seid Ihr Dachauer! Brotdiebe seid Ihr! Na, bei uns werden die Brotdiebe nicht alt, da lebt keiner länger als drei Tage. Und Ihr wollt Rote sein, politische Häftlinge, und stehlt Euren eigenen Kameraden das Brot weg? Pfui Teufel noch einmal, schämt Euch!"

Er schämte sich natürlich nicht, daß er Brot in Hülle und Fülle in seiner Schublade liegen hatte und Kuchen aus der Kantine, daß er den ganzen Tag lang Zigaretten rauchte, vor aller Augen und Nasen. Aber er beschwor immer wieder:

„Jeder im Lager hat das gleiche Essen, den gleichen Hunger, wer einem Kameraden das Brot wegstiehlt, gehört geschlagen.“

Ernst Hesse, schimpfte:

„Ihr Hunde, Ihr Lumpen, Ihr gottvergessene Teufelsbrut! Stehlen wollt Ihr, stehlen, wo wir uns die größte Mühe mit Euch geben, wo Euch nichts abgeht und wir Euch behandeln wie die rohen Eier. Ausgerottet gehört Ihr, Ihr Gesindel! Na, wartet nur, wenn Ihr erst an die Elbe kommt (das war eines der beiden gefürchtctsten Kommandos), da werdet Ihr sehen, dort gehen die Brotdiebc ein, keiner lebt da länger als drei Tage! Lind wir geben uns solche Mühe mit Euch, wir sorgen für Euch wie Vater und Mutter."

Diesmal suchten sie eifrig.

'Decken und Strohsäcke wurden zur Seite gerissen, es wurde furchtbar geschrien, und das Stück Brot kam zum Vorschein. Der Verdächtigte begann zu schreien und zu winseln:

„Ich habe es nicht gestohlen, ich habe es nicht gestohlen!"

„Was hast Du, Du Mistvieh?!"

Lind Ernst Hesse trat ihn in den Bauch, daß er hinfiel, und schrie, daß sich seine Stimme überschlug:

„Hurensohn, verkommenes Subjekt, schamlose Wanze, Mist von einem Menschen, Ausgeburt Scheiße!“ „Hast Du das Brot gestohlen oder nicht, Du Sau?"

Der am Boden röchelte endlich:

»Ja, ich habe es, ich habe es gestohlen.“

Da griff August ein:

„Ernst, mach Dir Deine Stiefel nicht dreckig an dem Stück Mist da.“ Dann brüllte er:

„Steh auf, Du Hund!"

Und er packte ihn beim Kragen und schüttelte ihn, als ob er eine Ratte wäre. Ernst Hesse schrie:

„So, damit Ihr seht, wie es einem Brotdieb geht, werden wir Euch das jetzt zeigen. Der gemeinste Diebstahl ist Kameradschaftsdiebstahl. Jeder hat gleichviel zu essen, jeder hat gleichen Hunger. Wer seinem Kameraden ein Stück Brot stiehlt, stiehlt ihm ein Stück von seinem Leben. Wir dulden das nicht, wir sind hier, um für Recht und Ordnung zu sorgen, wir schützen Euch. Diese Schädlinge der Menschheit müssen vertilgt werden, ausgerottet! Aber weil es das erstemal ist, werden wir ihm nur eine Lektion geben. Beim zweitenmal geht er durch den Kamin.“

August sagte dumpf:

„Besser, ihn gleich totschlagen." -

„Stubendienst!" schrie Ernst Hesse. Stubendienst! Hierher und Knüppel mitbringen!"

Der Stubendienst kam gerannt und der junge Blockschreiber, drei Mann. Sie trugen Knüppel in den Händen.

„In den Waschraum!" befahl August.

Sie schleppten den Brotdieb in den Waschraum. Ernst Hesse drehte sich an der Türe um:

„Daß alles auf seinen Plätzen bleibt, daß sich keiner wegrührt!“

Dann schlug er die Tür hinter sich zu.

Was nun folgte, waren zuerst Schreie und Schimpfworte, und dann . . . die Knüppel begannen ihr Werk Wir hörten Schläge und Schreie. Die Schläge waren hart und wuchtig, sie folgten dicht aufeinander, und es war, als würden sie nicht auf einen menschlichen Körper, sondern auf Holz niederprasseln, so hart klangen sie.

Wir alle hielten den Atem an. Die da drinnen erschlugen ihn ja. War das möglich? Lind wir sahen im Geiste diese harten Knüppel, die erbarmungslosen Gesichter und den hilflosen Menschen, der geschlagen wurde.

Das Schreien war längst verstummt, aber die Schläge prasselten noch immer, sie klatschten auf Fleisch und krachten auf Knochen.

Da hörten wir die Stimme von August:

„Aufhören."

Dann Ernst Hesse: „Er atmet nicht mehr.“ Lind wieder August: „Wasser."

Ernst Hesse:

„Nur tüchtig, eine Kanne über den Kopf, dann wird er schon wieder zu sich kommen.“

Eine Pause .. .

Es verging noch eine Weile, dann ging die Türe auf, Ernst Hesse trat ein. Er blieb an der Türe stehen. Es schien, als ob er in unseren Mienen, in unserer Haltung las, was in uns vorging. Er drehte sich um und schrie gellend in den Waschraum:

„Kommt einmal heraus, seht Euch das einmal an, wie die Kerle dastehen, als ob sie sich auf uns stürzen wollten! Lind dabei haben wir doch gar nichts getan, als ihre Rechte verteidigt.“

August streckte seinen Kopf zum Waschraum heraus und brummte etwas. Dann trat er ganz zu uns herein und raffte sich zu seiner ganzen Größe auf:

„Ihr braucht keine Angst zu haben", sagte er verächtlich, „Euer Genosse Brotdieb lebt noch. Der hat nur das erhalten, was er verdient. Ihr werdet ja gleich sehen.“

Dann drehte er sich um und schrie in den Waschraum:

„Ernst! Wenn der Kerl aufgewacht ist, schleppt ihn in die Mitte von der Baracke und laßt ihn auf einen Schemel steigen, damit seine . Kameraden' sehen, wie es bei uns einem Brotdieb geht.“

Dann ging er, ganz gegen seine Gewohnheit, aufgerichtet, den Knüppel in der Hand schwingend, durch die Reihen der Strohsäcke.

Wir wußten nun, der, den wir erschlagen wähnten, lebte. Der, der eben noch für uns ein unglückliches Opfer roher Lynchjustiz war, ein Wehrloser, der totgeschlagen wurde, war mit einem Schlage nichts anderes geworden als ein bestrafter, gezüchtigter, gemeiner Brotdieb.

Dieser Vorgang spiegelte sich deutlich in den Mienen aller wider, und er fand auch in Worten seinen Ausdruck. Neben mir sagte einer:

„Recht ist ihm geschehen, meinetwegen hätten sie ihn ruhig totschlagen können, seinem Kameraden das Brot wegstehlen! So ein Schuft!“

Der es sagte, sah aus, als hätte er selbst sein Leben lang die Hände in anderer Leute Taschen gehabt. Aber das sind oft die schlimmsten Richter.

Bald darauf kamen der Stubendienst und Ernst Hesse herein. Sie trugen ihre Knüppel, traten mit ihren Stiefeln über die Strohsäcke. Einer der Knüppel war zerbrochen. Sie schleppten und pufften den Delinquenten, stießen ihn vor sich her. Er taumelte, wurde hin-und hergeworfen wie eine Gummipuppe.

In der Mitte der Baracke sollte er auf den Schemel steigen. Er konnte nicht. Ernst Hesse versetzte ihm zwei Faustschläge. Da raffte der Bestrafte seine letzte Kraft zusammen und stieg auf den Schemel.

Aber wer stand auf dem Schemel? Ein Mensch mit nassen Kleidern. Aber wer war dieser Mensch?

Der Brotdieb den sie fortgeschleppt hatten, war ein junger Mann von gutem Aussehen gewesen, auf dem Schemel aber stand eine zusammengesunkene Gestalt mit einem Kopf, der vollkommen unkenntlich ge-schlagen war. Dieser Kopf war sehr groß, an einigen Stellen klebte Blut. Alles war verschwollen. Von den Augen war fast nichts zu sehen. Die Ohren waren feuerrot, die Lippen rissige Schwülste. Dieser Kopf war ein Klumpen blau-roten Fleisches mit vielen schwarzen Stellen. Zähne hatte der Mann nicht mehr, aber viele Blutflecken auf seinem Anzug, und seine Hände waren geschwollen wie das Gesicht.

Es gab welche von uns, die gingen hin, ihn anzustarren und fanden es ganz in Ordnung. „Der stiehlt so gleich nicht wieder“, sagten sie. „Seine schönen Perlzähne hat er ooeh einjebüßt“, meinte unser Berliner Tischältester, „und aus die Ogen kann er ooeh nich richtig kieken. Aber ik hab es ja immer jesacht: Bloß keene schiefen Sachen nich machen, ehrlich währt am längsten. Ik bin en schwerer Junge, en janz jewiegter Einbrecha, aber sowas, nee sowas, mache ike nich.“

Am anderen Morgen wurde der Brotdieb als erster aufgescheucht. Er wurde mit Schlägen geweckt und in den Waschraum gejagt. Dort mußte er für uns alle Wasser pumpen. Mittags ging es ihm ebenso und abends auch. Er kam kaum oder überhaupt nicht zum Essen. Zwei Wochen lang hatte er böse Zeit.

Was soll ich weiter erzählen? Diese Szenen wurden zu täglichen, gewohnten Erlebnissen, wurden so üblich, daß sie selbst die Stärke und die Eindringlichkeit eines Erlebnisses verloren. Irgendwo wurde geschrien und geprügelt, wir aßen ruhig weiter unser Brot, wir waren nicht einmal neugierig zu wissen, um wen und was'es sich handelte, die Hauptsache, man ließ uns im Augenblick in Frieden. Mochte gerecht oder ungerecht sein, was geschah, wir konnten es doch nicht verhindern oder ändern. Also am besten nichts sehen und nichts hören: Stumpfheit hatte uns erfaßt. Das schrille, gereizte Schreien des Stubenältesten hörten wir bald ebenso mit halben Ohr wie die Schmerzensschreie der Geschlagenen. Erst wenn die Schreie näher kamen wurden wir wach, denn es war die Gefahr, die nahte. Dann freilich war alles in uns angespannt, jeder Muskel. Der Prügel sauste herab und traf, wohin er eben gerade traf, ganz gleich, ob er den Kopf traf oder die Lende, den Rücken, das Gesicht oder den Bauch.

Diese Wochen, die wir so lebten, sie schienen mir eine endlos lange Zeit, mit dem Maßstab anderer Zeitempfindung gemessen, die wir gewöhnlich im Leben anlegen. Mit dieser normalen Zeitrechnung würde ich sagen, es waren zwei Jahre, die wir so lebten, oder wenigstens ein langes, schweres Jahr. Doch es waren nur Wochen. Aber jeder Tag, jede Minute, jede Stunde geschah so vieles, hörte, sah und empfand man so viel, daß jede Stunde einen vollgepfropften Sack voller Eindrücke und Aufnahmen bewahrte. So wurde jeder Tag zu einem vollbeladenen Ernte-wagen des Erlebens.

Gedanken im Waschaum Die viele Zeit, die ich im Waschraum stand, benützte ich, mich, soweit es ging, gegen alles, was um mich her geschah, taub zu machen.

Ich dachte an „die Hölle von Dachau". Was hatte eigentlich das Leben dort zur Hölle gemacht? War da nicht alles im Vergleich zu hier wie ein Salon gewesen? Ja, wie ein Salon-Lager erschien mir Dachau jetzt. Diese reinen Betten, die alle vierzehn Tage frisch überzogen wurden, diese blinkenden Stuben, dieser ebene Appellplatz, der eigentlich ein Paradeplatz war, und diese Bäume und Blumenbeete . . . Waren es die Wachttürme gewesen, die so erschreckten mit ihren Maschinengewehren, waren cs die SS-Männer? Die Capos? Ja und nein.

Man hatte uns dort zerbrochen, in ganz kleine Stücke, unser Ich willenlos gemacht und mit banalen Dingen unser Ich abgetötet, eigentlich mit Dingen, die lächerlich waren. Ja, stolz und aufrecht erschossen zu werden das war etwas. Aber so dahin zu vegetieren, ohne großes Heldentum, in einem kleinen Hcldcntume, das eigentlich viel größer als ein großes war, wer vermochte das? Die Haare wurden geschoren, das lächerliche gestreifte Gewand uns angezogen, schon waren wir keine Persönlichkeiten mehr. Und dann wurden wir uns täglich bewußter, welche Idioten wir waren, Idioten, die kein Bett bauen konnten, keine Schüssel richtig zu putzen verstanden und keinen Spind zu putzen vermochten, wie es sich richtig gehörte. Und wenn wir dann das alles gelernt hatten, so wurde uns klar, daß wir nicht stramm genug standen vor der SS, daß wir einen Knopf zu schließen vergessen hatten, und zur Strafe mußten wir Kniebeugen machen. Wie komisch das aussah, wenn ein Universitätsprofessor das tat oder ein Fabrikant oder ein Schreiner, alle mit todernsten Gesichtern und mit vorgestreckten Armen, zitternd vor der SS und vor ihren Tritten.

Und was ist das für ein Heldentum, hundert Kniebeugen zu machen? Nichts, gar nichts ist es! Aber die, die es tun mußten, die wissen, was das heißt, hundert langsame Kniebeugen .. . Oder wenn man uns hüpfen ließ, in der Kniebeuge hüpfen, die alten Männer, wie die jungen, mit vorgestreckten Armen. Wie lächerlich das aussah! Und wie schwer das war, wie anstrengend, vor allem für die alten Leute und wie ermüdend. Oder wenn wir rollen mußten mit angelegten Armen, im Dreck rollen oder auf und nieder machen mußten, uns hinwerfen und aufstehen mußten, hinein und heraus aus dem Dreck, wie war das alles erniedrigend!

Hanswursten wurden wir, und doch war es Heroismus, das alles zu ertragen, täglich zu ertragen. Aber wie diesen Heroismus schildern? Täglich, stündlich Märtyrer sein, Märtyrer kleiner Schikanen, täglich in den Schmutz getreten werden, innerlich und äußerlich, dazu bedarf es vieler Kraft, es ist ein unerhörtes Heldentum. Doch wer sieht es, wer preist es?

Und im Regen stehen, mit bloßem Kopf beim Appell. Täglich den Tag so beginnen und täglich den Tag so beenden. Morgens noch müde und vor sich den ganzen endlos qualvollen Tag. Und abends nach der Arbeit müde, todmüde und hungrig, eine oder anderhalb Stunden stehen im Regen und Wind, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Und von den dummen, plumpen Stubenältesten und Blockältesten geschlagen und aufs gemeinste beschimpft werden, von denen, die unsere Kameraden sind, von denen, deren Dummheit groß ist, so groß wie ihre Einbildung, und es ertragen, ertragen müssen.

Und all das Elend rings mit ansehen, Tag für Tag, Jahr für Jahr und nicht verrückt werden und nicht sich aufhängen, nicht durch die Posten-kettegehen oder in den elektrischen Drahtzaun, das war Heldentum, das war Kraft, das war Stärke.

Und wir wurden alle zum erbärmlichen Nichts, zu Menschen, die ihr eigenes Selbst nicht mehr fühlen, die irgend etwas geworden waren, ein Häftling, eine Nummer, ein niemand, jemand, der sich selber fern und fremd war, der sich selber nicht mehr recht verstand und kannte, der alle vierzehn Tage nach Hause schrieb: Es geht mir gut, jahrelang: Es geht mir gut. Und wenn er auch elend war, elend wie noch nie, und wenn er auch wußte, er würde es nicht mehr lange machen, er schrieb: Es geht mir gut.

Und ohne Hoffnung leben, ohne Zeit, Tag für Tag. Zerschlagen und trostlos zu Bett gehen, ohne Aussicht auf Befreiung, ja ohne Abwechslung. Immer das gleiche Essen essen, immer das gleiche Gewand tragen, die gleiche Arbeit tun, immer das gleiche Bett bauen, immer den gleichen Spind putzen, immer die gleichen Worte um sich her hören, immer den gleichen Zaun sehen, immer die gleichen Türme. Immer den gleichen trostlosen, elenden Tag vor sich haben mit seinen Ängsten und seinen schrecklichen Geschehnissen und immer hoffnungsloser werden, immer apathischer und doch jeden Morgen die Kraft finden aufzustehen, mitten hinein zu springen in den neuen Tag, in ein neues Grau.

Sie haben uns so zu den Helden von der lächerlichen Gestalt gemacht. Sie haben uns unsere alten Gewohnheiten und Gedanken mit den Haaren vom Kopf geschoren, sie haben unser Ich mit ihren Kleinigkeiten und ihren Schikanen verformt, daß es zuletzt in den gestreiften Clowns Anzug paßte, als gehöre es hinein. Sie haben aus unserem Ich eine Nummer gemacht, ein Stück Inventar, das mehr und mehr verfiel, bis es morsch wurde und von selbst zerbrach und verbrannt wurde, wie man eben altes, morsches Zeug verbrennt, altes Inventar. Ja, sie haben uns mit ihren lächerlichen Strafen und Vorschriften, mit ihren seltsamen Befehlen und mit der Knute ihrer Dummheit das Menschtum fortgenommen, sie haben uns ausgelacht und haben gesagt: „Seht Ihr, so seht Ihr in Wirklichkeit aus, ohne Eure Kleider, ohne Eure Umgebung, ohne die Möglichkeit Eure Fähigkeiten zu zeigen. Hanswurste seid Ihr, die nur fressen und schlafen wollen, Hanswurste seid Ihr, die wir hüpfen lassen, wann wir es wollen, die wir treten, wann wir wollen, und die vor uns zittern. Nichts seid Ihr, Dreck seid Ihr!"

Und wir fühlten, irgendwie hatten sie recht, denn sie, die nichts waren als Rohheit und Dummheit und Stiefel, und deren einziger Besitz ihre Pistole war, sie zwangen uns, das zu sein, was wir nicht waren, sie zwangen uns, uns selbst aufzugeben. Warum?

Ja warum? Warum gingen wir nicht einfach stolz und aufrecht in ihre Kugeln hinein? Weil wir am Leben hingen? Oder weil wir ihnen die Freude nicht machen wollten, uns zu erschießen? Oder weil wir hofften, hofften, daß doch der Tag der Befreiung kommen müßte oder der Tag der Entlassung, weil wir dachten, daß ewig die Tyrannei nicht währen könnte?

Warum schleppten wir uns so mühsam dahin, Tag für Tag, voller Erniedrigung und Schmach? Vielleicht, weil sie uns innerlich doch nicht erniedrigen konnten, weil wir vielleicht innerlich so frei waren wie je und weil wir äußerlich vielleicht wie Menschen in einer Halbnarkose waren? Wir fühlten nicht mehr klar und wach, wir dachten nicht mehr klar und wach, aber in uns glomm alles weiter, lebte der verborgene Funken, das Ich.

Und warum taten wir nichts dagegen?

Was sollten wir dagegen tun? Draußen lebte ein Volk von Millionen, das unsere Schande, unsere Qualen, unser Sterben kannte, das deutsche Volk. Lind dieses Valk lebte ruhig weiter, wußte um uns und ... war zu feig, etwas für uns zu tun, oder zu träge. So wie es zu feig und zu träge war, zum Kriege nein zu sagen, so wie es zu feig und zu träge war, die eigene Vernichtung aufzuhalten. Lieber gingen sie in den sicheren Tod, lieber ließen sie sich von den Bomben zerreißen, als sich gegen ihre Peiniger aufzulehnen.

In diesem Volk hätten wir nie eine Zuflucht, eine Hilfe, eine Stütze gefunden. Keine Flucht, keine Revolte hätte uns gerettet. Nein, das hätte uns nur den sicheren Tod gebracht. Oder .. . sollte dieses Volk am Ende gar nicht wissen, wie es uns ging? Sollte es so träge sein, daß es sich auch gar nicht um unser Schicksal kümmerte, hm das Schicksal Tausender, Zehn-und Hunderttausender Väter, Söhne, Männer? Sollte dieses Volk so träge sein?

Aber wenn das Volk es nicht wußte, woher hatte es dann so große Angst vor der Gestapo, vor dem Lager?

Nein, das ganze deutsche Volk war eine Mauer um uns, eine dunkle, starke Mauer, und wir waren die lebend Begrabenen, nichts konnte uns retten, nur der Wandel der Zeit, nur auf ihn hofften wir und einzelne auf-----die Entlassung, das heißt auf den Zufall, auf eine Laune der Gestapo.

Und war nicht hier bei uns ein großer Teil dieses Volkes eingesperrt, dienten sie nicht, selbst hier, ihren Unterdrückern, willfähig, zu allem bereit? Die Capos, die Blockältesten, die Stubenältesten? Schlugen und peinigten sie uns nicht, getreu die Anordnungen der SS befolgend, oft schlimmer noch als die SS ? Freilich sie sagten zu ihrer Entschuldigung, daß es besser sei, sie führten die „Disziplin“ durch, statt die SS. Mag sein.

Nein, das ganze deutsche Volk war anzuklagen. Aber was heißt anzuklagen? Gingen sie nicht jubelnd in ihr Schicksal? Und die, die nicht jubelten, trotteten sie nicht wie die Schafe mit und vermehrten mit ihrem Trott die große Masse der Herde?

Wir litten dieses Martyrium, diese Qualen allein für uns, Tag für Tag, Stunde um Stunde, weil es keinen Ausweg für uns gab, nur den Tod. Lind für den Tod eilt sich niemand besonders. Jeder von uns hatte immer noch das Gefühl, daß hinter einem zukünftigen Tage verborgen das Leben stehen werde, die Freiheit, und ihm winken. Und für diesen zukünftigen Tag erlitten wir die Qualen und die Erniedrigungen des Gegenwärtigen.

Jetzt, wo ich diese Zeilen in Dachau *) schreibe, tobt der Krieg noch immer. Berlin ist wohl heute schon mehr oder weniger ein Trümmerhaufen. Hamburg, Köln, Wuppertal, Essen und andere Städte sind es auch. Die Deutschen sind von Stalingrad zuriidigeworfen, bis nach Polen hinein, in Italien kämpft man um Rom. Es ist ein aussichtsloser Kampf. Das deutsdte Volk steht schon mitten in seinem Untergang, es ist lange genug mit festen Schritten hineingegangen, nun steht es mitten darin, mitten in seinem Verderben, und es hat immer noch nicht die Kraft, ein Ende zu machen, die Waffen gegen die Unterdrücker zu richten oder die Waffen wegzuwerfen. Es gehordtt, gehorcit wie immer. Zwar es murrt, ja, es murrt, wie ein Knedit murrt, dessen Herr ihm zu sdtwere Last gibt, aber es murrt hinter dem Rücken des Tyrannen. Wenn er sich zeigt, so beugt es tief den Rücken und aus Angst, Gewohnheit oder aus Trägheit sagt es: Heil Hitler!

Heute, da ich dieses schreibe, ist der 7. Februar 1944. Wie lange wird der Krieg noch dauern? Will das deutsdte Volk sich selbst verniditen? Die Leistungen der deutschen Sollaten sind heroisch, sind so, daß sie bewunderungswürdig ") Später käm der Verfasser mit einem Invalidentransport wieder nach Dachau zurück (die Red). wären, aber wofür kämpfen sie? Zuerst kämpften sie für die Aufrichtung der Tyrannei, unter der sie litten, für deren Aufrichtung auf der ganzen Welt. Und jetzt? Ja, wofür kämpfen sie jetzt noch? Für die Erhaltung ihrer vielen Tyrannen, für die Erhaltung dieser blutbesudelten Existenzen. Denn für ihr eigenes Wohl kämpfen sie wohl längst nicht mehr.

Wunder an Zähigkeit haben sie verriditet. Was hätte aus den Ländern Europas werden können, hätte man all das Geld, was der Krieg kostet, all die Opfer und all die Energie, den Willen, die Kraft für den Frieden eingesetzt. Jeder könnte sein kleines Häuschen haben, überall könnten Gärten gepflanzt werden, Straßen entstanden sein und Parks, Fabriken und Denkmäler. Ein kleines Paradies hätte mit dieser vergeudeten Kraft geschaffen werden können, statt einer Hölle.

Und nach diesen fünf Jahren Arbeit könnten die Menschen erschöpft ihre Hände in den Scho/J legen und beglückt um sich schauen und sehen, was sie schufen und glücklich die Arbeit ihren Kindern weitergeben. Aber. . .

Der Mensch ist noch nicht so weit. Wir sind alle noch Bestien. Und ich glaube, nicht nur wir in Deutschland, sondern wir in Europa, wir auf der Welt, wir Menschen alle. Denn: noch sind wir nicht das, was wir wirklich sein möchten, noch sind wir keine Menschen. Nur wenige von uns waren es, nur wenige unter uns sind es und . . . leider nur wenige von uns erstreben es mit ganzem Herzen. Und so tragen wir die Disteln heim, die wir säten, so tragen wir schwer an uns selbst.

Aber das sind Gedanken, die einen draußen in die Hände der Gestapo bringen und hier bringen sie einen in den Bunker und ins Krematorium, vor allen Dingen, wenn man sie aufschreibt, so wie ich es tue. Doch es tut gut, seine Gedanken aufzuschreiben. Warum soll ich nicht? Vielleicht wird sie nie ein Mensch sehen, vielleicht werden sie mein Tod sein. Ganz gleich, ich habe einmal meine Gedanken geschrieben, und ich glaube, auch sie haben ein Recht hier zu stehen, auJt sie gehören mit in dieses Buch, denn auch sie gehören mit in das Leben, das idt jetzt lebe.

Fussnoten

Weitere Inhalte