Es ist erst zehn Jahre her, daß dem totalen Krieg der totale Zusammenbruch folgte. Die Historiker Anno 2000 werden den privaten Schicksalen, die dieses einschneidende Ereignis umrahmten, vielleicht nur noch selten Beachtung schenken. Sie werden der Zeit, die in der Zahl 1945 ihr tragisches Symbol fand, nicht mehr persönlich verhaftet sein. In der strengen Ordnung wissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung bekommen die Ereignisse andere Proportionen.
Der Mensch von heute aber steht noch unter dem Erlebnis der jüngsten Vergangenheit. Zahllose persönliche Zeugnisse künden von der Auseinandersetzung mit dieser ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die nicht zuletzt das Schicksal vieler junger Menschen entscheidend bestimmte In den wertvollsten dieser Zeugnisse erkennt man den leidenschaftlichen Versuch, die Zeichen einer Zeit zu bannen, die geistig und materiell in den Abgrund führte.
Einer dieser Versuche ist das Buch von Michel Mourre, das den ketzerischen Titel: „Gott ist tot?" trägt. Um dieses Buch und die Abrechnung, die es in sich birgt, richtig werten zu können, wird es notwendig sein, einen raschen Blick in das Deutschland des Jahres 1945 zu werfen.
Der Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reiches" stärkte wohl bei vielen der älteren Generation den Glauben an einen neuen Anfang. Ein großer Teil der Jungen verfiel jedoch in Resignation und Verzweiflung. Vor allem die damals Fünfzehn-bis Zwanzigjährigen, die nichts anderes kannten, als was die Hitlersche Propaganda ihnen zwölf Jahre hindurch eingehämmert hatte, fühlten sich verraten. Sie fühlten sich allein gelassen im großen Chaos, das der Kapitulation folgte.
Unter dem, was aus anderen Ländern damals nach Deutschland kam, Care-Paketen, Büchern und problemreichen Theaterstücken, befand sich auch eine faszinierende Weltanschauung: der Existentialismus Sartrescher Prägung. Sartres Philosophie von der Sinnlosigkeit des Lebens schien alle die Fragen bereits überzeugend ins Auge gefaßt zu haben, deren Beantwortung nun offen stand.
Waren denn in dieser Zeit der totalen Vereinzelung, des rücksichtslosen Egoismus überhaupt noch andere Antworten möglich, als die, die er zu geben hatte? Die traditionellen Leitbilder waren verblaßt, die Autorität der Erwachsenen war zumindest anfechtbar geworden, Deutschland als Staat bestand nicht mehr. Und Gott? Ja, was war mit Gott?
Doch nicht Deutschland allein fand sich vor den Trümmern, die der letzte Weltkrieg hinterlassen hatte. Michel Mourre ist Franzose. Er stammt also aus einem Land, das die Besatzung, die Besetzung durch die Deutschen im Jahre 1940, erleiden mußte und dessen Jugend vor den gleichen Problemen stand und steht wie wir.
Michel Mourre ist in seiner Heimat durch einen Skandal bekannt geworden. Am Ostersonntag des Jahres 1950 stieg er während des festlichen Hochamts in der Kleidung eines Dominikanermönchs und mit tonsuriertem Schädel auf die Kanzel von Notre-Dame zu Paris und rief: „Gott ist tot!"
Das Erbe einer unseligen Zeit Michel Mourre ist inzwischen 27 Jahre alt. Sein Buch: „Gott ist tot?" wurde die ehrliche Abrechnung mit einer von Verwirrungen und Verirrungen gezeichneten Jugend. Hinter dem blasphemischen Titel des Buches steht heute ein Fragezeichen. Dazwischen aber liegen zweiundzwanzig Jahre seines Lebens, die stolpernd und strauchelnd durch das Gestrüpp unserer jüngsten europäischen Vergangenheit führten. Er ist einer der vielen jungen Menschen unserer Zeit, die, allein auf sich gestellt, das Erbe einer unseligen Zeit überwinden mußten. '
Michel Mourres Familie hatte republikanische Überzeugungen. Diese Überlieferung hatte der Urgroßvater als Mitglied der Pariser Kommunistischen Partei begründet. Aus solcher Schule hervorgegangen, wurde Mourres Vater ebenfalls ein geeichter Republikaner. Er begann seine Laufbahn in anarchistischen Kreisen. . „Mein Vater redete sich ein, das Volk zu lieben. Nadi einer reichlichen Mahlzeit sang er an den gioßen republikanischen Feiertagen im Zug mit der Menge: . Der Tag der Revolution ist angebrochen und alle Hungerleider stehen auf'.“
In einem Vaterhaus, das sich mit extremen politischen Anschauungen und der Ablehnung des christlichen Glaubens sehr fortschrittlich dünkte, blieb für Ideale des Herzens wenig Platz. Spannungen zwischen den Eltern und die lauten Parolen der Wahlversammlungen waren die ersten Begleiter seiner Kindheit. Unvergeßlich blieben ihm die gedrängten Massen in den Versammlungen der Volksfront, zu denen ihn sein Vater mitnahm.
Als die geliebte Mutter stirbt, ist Michels Jugend zu Ende. Der Vater beabsichtigt, die langjährige Freundin zu heiraten. So vertraut sich Michel der Obhut seiner Großmutter an.
Der Krieg bricht aus. Er gibt dem Leben ein neues Gesicht. Die Lehrer werden einberufen, die Schulstunden vermindert. Dafür hat Michel jetzt Zeit, sich für die Soldaten zu begeistern, die den Ort auf ihrem Marsch an die Front durchziehen.
Bald jedoch kommt der Zusammenbruch. Die Deutschen marschieren in Paris ein. Der Vater wechselt seine Überzeugungen, er paßt sich an. Viele passen sich an. Mourre sagt zu der Haltung seines Vaters: „Er wollte nicht wahrhaben, daß der Faschismus für die Demokratie eine Zuchtrute war, die Verlogenheit von Demokraten seiner Art zu strafen“.
Das Leben nach der Niederlage sah nicht gut aus, das der zwölfjährige Michel mit wachen Sinnen verfolgte. Gesinnung, Stolz, nationales Selbstbewußtsein schwanden über Nacht dahin. Den Vater bekommt er nur noch selten zu Gesicht: die Stiefmutter gibt den Ton an, und dieser Ton ist ihm verhaßt.
Ohne leitende Hand, schlucken ihn 1944, sechzehn Jahre alt. die politischen Konjunkturbestrebungen der deutschen Besatzungszeit. Einer von Michels Kameraden gehört einem Kollaborationsverband an. Un-vergorene Ideen von einer neuen Welt ohne Grenzen, für die Hitlers Armeen nach ihrer Meinung kämpften, spuken in ihren Köpfen. Michel kannte ja kein Vaterlandsgefühl, woher auch. Die väterliche Erziehung hatte nichts unternommen, es in ihm zu wecken. Der Vater schwärmte für die Internationale des Kommunismus. Und war es nicht ebenfalls eine Internationale, die Hitler zu schaffen unternahm? Es war der große Trugschluß, dem damals nicht nur junge Menschen in Frankreich verfallen waren.
So tritt Mourre einer faschistischen Jugendbewegung bei. Eine Welt war im Aufbruch — wie er meinte — und man mußte versuchen dabei zu sein, wenn man sein Leben nicht verpfuschen wollte.
Die Tätigkeit dieser Organisation, der „Vaterländischen Jugend Frankreichs“, erstreckte sich vor allem auf tönende Aufmärsche in Uniform, aber auch auf die Beseitigung der durch alliierte Bombenangriffe verursachten Zerstörungen. „Die Toten, die wir aus den Trümmern hervorzogen, sahen gräßlich aus. Mich ekelte davor, Blut und offene Wunden zu berühren, ich schämte mich indes meiner Schwäche und sagte mir, dies Fleisch, noch warm, sei doch vor ein paar Stunden noch ein Mensch mit seinem Eigenleben gewesen, mit seinen Gedanken, Leidenschaften und Süchten. Immer fadenscheiniger, unstichhaltiger, wesenloser erschienen mir die Kriegsargumente, ob die der Engländer oder der Deutschen. Sie hatten e i n Argument gegen sich, eine höhere Wirklichkeit, den Tod dieser Menschen, die doch hatten leben wollen.“
Nach zwei Monaten bereits kehrt er dieser Jugendorganisation wieder den Rücken, denn er lernt bald, seinen neuen Kameraden und ihren Bestrebungen kritisch gegenüberzustehen.
Alle diese jungen Leute, so erkennt er, fühlten sich der heimatlichen Erde, ihrem geistigen Nährboden entfremdet, weil man es unterlassen hatte, sie die Heimat lieben zu lehren. So hofften sie, da ihnen die Wirklichkeit fremd geblieben war, ihre Gemeinschaft auf ein heldisches Traumbild gründen zu können.
Im August 1944 wird Frankreich befreit, Michel aber verhaftet und als Verräter gebrandmarkt. „Was hatte ich nun eigentlich verraten, was verleugnet? Frankreich? Das zu tun war ich gar nicht in der Lage gewesen, denn ich hatte nie dazugehört. Wir waren fünfzehn, zwanzig Jahre alt, und man beschuldigte uns des Verrats am französischen Volksverband, ohne sich die Frage vorzulegen, ob wir jemals zu diesem Verband gehört hatten, in ihn ausgenommen worden waren. Erst hätte man uns Frankreich lieben lehren müssen, ehe man uns vorwarf, es vergessen zu haben. Man hatte uns entwurzelt, hatte in unser Herz kein Ideal gepflanzt, die sinnenhafte Liebe zur tausendjährigen Vergangenheit des Landes, die es hätte beflügeln und über sich hinausheben können.“
Wieder entlassen, folgt der Ausschluß aus dem Gymnasium. Michel schlägt sich fortan mit Gelegenheitsarbeiten durch. „Umtriebe“
Eines Tages stößt er auf das Werk von Charles Maurras. Charles Maurras, der „Monarchist aus Nationalismus“, wie er in Frankreich genannt wurde, vertrat die Wiederherstellung der Monarchie, deren feste Hand der Staat nach seiner Meinung brauchte. Der Gründer der polemischen Tageszeitung „L‘Action Francaise" war weniger ein Mann der Wirklichkeit als ein politischer Träumer. Immerhin war er das Vorbild vieler junger Franzosen. Der Mut des unansehnlichen Greises, der im Januar 1945, des Einvernehmens mit dem Feind beschuldigt, abgeurteilt wurde, die leidenschaftliche Überzeugungskraft, mit der er seine Ideen vertrat, waren es, die den richtungslos treibenden Michel begeisterten.
Da erwächst aus einer Freundschaft die erste Begegnung mit dem christlichen Glauben. Jaques, den er in einer monarchistischen Versammlung kennenlernt, wird bald sein engster Vertrauter. Dieser Jaques ist zwar ebenfalls Monarchist, vor allem aber Katholik.
Unter dem Einfluß des Freundes vollzieht sich für Michel etwas Entscheidendes. Aus den verschwommenen Umrissen eines Lebens aus zweiter Hand, eines Lebens nach mehr oder weniger zutreffenden politischen und persönlichen Konzeptionen, schält sich zum ersten Mal das Profil selbständigen kritischen Denkens. Sie erkannten, es war keineswegs diese oder jene Gesellschaftsform, die sie enttäuschte. Es war vielmehr — wie Michel es ausdrückt — das Leben selbst, dem sie sich nicht einzuordnen vermochten. So ersetzten sie das Leben durch „Umtriebe" Sie waren von der Überzeugung ausgegangen, die Einrichtungen verdürben den Menschen. Also folgerten sie, mit dem Fall der Demokratie würden alle Übel der Zeit von selbst verschwinden, würden alle moralischen Probleme von selbst gelöst. Aber sie übersahen dabei, daß die Krankheit in jeden einzelnen von ihnen steckte, und daß es moralische, individuelle Probleme gab, die durch eine bloße Verfassungsänderung nicht zu lösen waren. Eine Schule der Politik genügte ihnen nun nicht mehr. „Wir brauchten mehr als das, wir brauchten eine Schule der Moral."
Der Freund war um sieben Jahre älter, seinem Wesen nach jedoch der Jüngere. „Im Vergleich zu ihm war ich alt, sehr alt. Ich fühlte mich ihm gegenüber dekadent, blasiert, von den widersprechensten Einflüssen zerrissen. Jaques war ganz anders: er war jung, ein Mensch des Mittelalters, der in unsere arme Welt des 20. Jahrhunderts gekommen war, sie fremd durchschritt und um ihre Krankheiten wußte, ohne ihnen zu verfallen.“
Michel sah nun einen neuen, wahrhaftigeren Weg, „zuinnerst Franzose zu werden“, wahrhaftiger als der, den ihm der Nationalismus Maurras'weisen konnte. „Nun empfand ich das Bedürfnis, meinem Geist und Gemüt eine neue Form zu geben, das altvertraute Antlitz eines Menschen unsrer Heimat, denn es war in meiner Familie seit über einem Jahrhundert von mehreren Generationen entstellt worden. Die innere Entdeckung Frankreichs, das Verlangen nach Frankreich in uns, das Sichbesinnen auf die Wesensmerkmale unseres Landes, dies alles hatten vor uns unsere Lehrmeister zu leisten versucht. Lang war dieser Weg gewesen, oft hatten sie den Schritt verhalten müssen, ankämpfend gegen den Geist der Zeit. So waren sie ihn zwar manchmal nicht zu Ende gegangen, doch hatte er sie alle zu einer einzigen Quelle geführt — zur Katholischen Kirche."
Flucht vor dem Zugriff der unbewältigten Zeit Diese Erkenntnis vollzog sich jedoch zunächst wie alles andere zuvor. Als Flucht vor dem Zugriff der unbewältigten Zeit. Die Taufe, die erste Messe erlebte er als festliche Veranstaltungen, deren Sinn er rein verständlich begriff. Das Christentum blieb ein Gesprächsobjekt, ein Gegenstand, an dem sich die verschiedensten Ansichten lebhaft entfalten konnten. Er wußte nicht, ob er wirklich Gott suchte. Er suchte ihn jedenfalls nicht als den „Anderen", er suchte sich selbst in Ihm, und er suchte Ihn, um sich seiner selbst besser zu versichern.
Im März 1947 entschließt er sich, einem Orden beizutreten. Doch dieser erste Versuch, mit dem Christentum in seiner letzten Konsequenz ernst zu machen, war zu schnellem Scheitern verurteilt. Er verläßt das Dominikanerkloster im Widerstreit seiner Gefühle noch am gleichen Tag. Schon bald macht er jedoch einen neuen Versuch. Aber noch immer konnten die Voraussetzungen, die diesem neuerlichen Entschluß zugrunde lagen, den Forderungen des Klosterlebens nicht standhalten. „Es war gleichsam ein kategorischer Imperativ gewesen, ein unumstößliches Gebot der Pflicht: ich mußte ins Kloster gehen. Voller Genugtuung sagte ich mir immer wieder, ich hätte mir gegenüber folge-richtig gehandelt — und ich weiß nicht, ob diese innere Genugtuung nicht die größte aller Befriedigungen war, die mir mein Entschluß bis jetzt verschafft hatte."
Diesmal dauert es vierzehn Tage, bis er der klösterlichen Zucht neuerlich entflieht. Unfähig, seinem Leben in Paris eine feste Richtung zu geben, entschließt er sich, Soldat zu werden. Er kommt nach Deutschland und führt in einem Artillerieregiment unweit der Saargrenze acht Monate lang das Leben eines Rekruten. Ursprünglich für drei Jahre verpflichtet, wird er jedoch wegen körperlicher Schwäche vorzeitig entlassen.
Und wieder ist es die Kirche, die für ihn aus der Erscheinungen Flucht als die große Bewahrerin unsterblicher Überlieferung hervorragt. Der Glaube, den er immer wieder vernachlässigte, dem er so wenig standzuhalten vermochte, fordert eine neue Entscheidung.
Da macht er den dritten Versuch. Das Kloster von Saint-Maximin nimmt ihn auf. Er wird eingekleidet, wird Novize dieses Dominikaner-ordens. Er lebt im strengen Gleichmaß der Regeln und fühlt zum ersten Mal wunschlose Ruhe. In der freiwilligen Unterordnung fühlt er sich wohl. Das Leben, die Qual der Welt, so empfindet er es, innerhalb dieses Kreises entziehen sie sich menschlicher Tragik. Es gibt nur noch eine Angst, die von der Zeit unberührte Angst vor der Sünde, „die Angst des Kampfes zwischen Gut und Böse ...“
Ihn überrascht die Geringschätzung historischer Abläufe durch die Dominikaner von Saint-Maximin. Es ist ihm, als zählte die Geschichte dort nicht mehr, als hätte sie keinerlei Geheimnisse mehr zu enthüllen. Ja, als wäre alles längst vorbei und geschehen, als sei der letzte Sinn vor zweitausend Jahren bereits enthüllt worden mit der Gewißheit des endgültigen Sieges Christi. Die historische Angst unserer Zeit, sie scheint die Mauern des Klosters nicht durchdringen zu können.
Aber die Ruhe im Glauben sollte ihm nicht lange vergönnt sein. Wieder treten die bohrenden Zweifel auf, die ein Teil seiner Art sind. Der unüberwindliche Drang ins Kloster zu gehen, erschien ihm plötzlich nur noch als eine Auswirkung seiner Feigheit. „Du hast zwar versucht, zu deiner Zeit Stellung zu beziehen, teilzunehmen an ihren Wirrnissen und Kämpfen, hast dich aber eigentlich damit begnügt, in Wahlversammlungen herumzufuchteln, Hiebe auszuteilen und zu beziehen, blöde Parolen im Sprechchor mitzubrüllen. Im Grunde suchtest du dir nur ohne viel Anstrengung ein tätiges Leben vorzutäuschen. Wirklich zu leben hast du ja nicht versucht, nein, immer bloß geglaubt, das Leben erschöpfe sich in Bocksprüngen des Intellekts und politischen Glaubensbekenntnissen. Deiner Meinung nach war der Eintritt ins Kloster ein Akt der Demut — dabei hat dich lediglich dein Dünkel hingeführt, denn du warst dir ja zu gut, dein schlichtes Tages-werk zu tun. Allein vor Gott stehen, das war deine Absicht, weil du die volle Gewißheit haben wolltest, daß Gott dich bemerke. Und am ehesten, so dachtest du, würde er dich bemerken, wenn du ins Kloster gingst!"
Die Krise war da. Die Abgeschiedenheit des klösterlichen Lebens von den Fragen der Welt meinte er nicht länger ertragen zu können. Im Kloster, so glaubte er erfahren zu haben, schien man offenbar Angst davor zu haben, das Leben zu bestehen. Das Leben „mit all seinen Widersprüchen, seinem ganzen Widersinn", dort hatte es keinen Zutritt. „Alles schien längst bekannt und getan, alles vorgesehen, seit jeher geregelt, Geburt und Tod und das ewige Leben." Er wollte hinaus, wollte zur kämpfenden Kirche. In Saint-Maximin schien sich ihm die Kirche vor der Not der Zeit geradezu zu verschließen. Er aber wollte sich mit seinem Christentum der Zeit entgegenstemmen.
Wieder kehrt er nach Paris zurück — und erleidet Schiffbruch. Die Stützen des Klosterlebens waren gefallen, er war wieder allein. Das Leben der Großstadt mit all ihren Verlockungen nahm ihn auf. „Indes war mir das Kloster noch nicht so weit entrückt, daß ich nicht manchmal mit Bedauern daran zurückdachte. Es war gar nicht so leicht, mitten in der Welt sein Leben gänzlich Gott zu weihen. Monatelang hatte ich nur von Gott gesprochen und sprechen hören. Ich versuchte mich wieder daran zu gewöhnen, Gott in der Welt zu finden, und das unbestimmte, aber hartnäckige und allgemach unleidliche Gefühl loszuwerden, Gott sei in den Klöstern gegenwärtiger als andernorts. Mußte man die Hoffnung aufgeben, als Christ in der Welt zu leben?"
Wieder schlägt er sich mit den verschiedensten Arbeiten durch. Vor allem aber macht er die neuerliche Bekanntschaft mit einer Welt, deren Menschen betriebsam aneinander vorbeihasteten, ohne durch irgendetwas miteinander verbunden zu sein, als was der Augenblick, was Geld und Geschäfte gerade erforderten.
Die Menschen waren inzwischen nicht anders geworden: nun ging er den Weg zu ihnen zurück. „Der Glaube war eines Tages ganz unerwartet über mich gekommen. Nicht ich hatte meinen Glauben gezeugt. Wie ich auch jetzt keineswegs das Gefühl hatte, ich sei es, der ihn verlor, er ging eben hin, wie er gekommen war, unter dem Druck einer äußeren, von mir unabhängigen Gewalt." „Der Mensch, nur ein Fremder auf Erden“
Enttäuscht, verbittert, verliert er sich wieder in den ausweglosen Diskussionen in den Cafes um Saint-Germain-des-Pres. Man langweilte sich dort und zwang sich zur Langeweile. Wußte man dort doch seit Camus, daß der Mensch nur ein Fremder auf Erden, daß er als „Strandgut" in die Welt „geworfen" ist, ohne je zu ihr zu gehören. Mourre und seine Kameraden erkannten zwar, daß sie sich in einer Sackgasse befanden. Aber je länger sie debattierten, desto unfähiger wurden sie, ihrem Leben Sinn und Gestalt zu geben. An Jean Paul Sartre entzündeten sich die Gespräche. Nicht etwa, weil er ihnen sagen wollte, wie das Leben sein soll, sondern weil ihnen seine Philosophie zur Rechtfertigung ihres eigenen Unvermögens und ihrer Hoffnungslosigkeit diente. Leben, Liebe, Freundschaft erschienen ihnen sinnlos, hatten sie sich doch der Erkenntnis ausgeliefert, daß der Mensch allein sei, heillos allein.
„Unser Saint-Germain-des-Pres war das der Lebensuntüchtigen, der Einzelgänger, Ausgestcßenen und Pechvögel. Der von allem und jedem Enttäuschten, von Widerstand und Faschismus, von Kirche und den Parteien, ja selbst von der Luft, die sie seit ihrer Geburt allerorten eingeatmet hatten —
In dieser Welt hatten wir nach dem Leben Ausschau gehalten, aber bloß Ruinen vorgefunden. Wir durften, wie ich’s getan, von vergangenem Glück träumen, durften uns nach den alten Einrichtungen sehnen, die vor Zeiten Segen und Gedeihen über die Erde gebracht hatten — waren aber unserem Gefühl nach auf nichts als längst verlassenes, rissiges, baufälliges Mauerwerk gestoßen, auf Schattenbilder versunkener Größe, Mahnmale einstiger Lebenskraft — und ob wir's wollten oder nicht, wir mußten mit der romantischen Lust an geborstenen Säulen und dahingeschiedener Größe vorliebnehmen.
Allesamt zwangen wir uns, die alten Hoffnungen zum Schweigen zu bringen, die Ruinen zu bejahen, uns in ihnen wohnlich einzurichten, selber zu bewußten, selbstzufriedenen Ruinen zu werden. Es war so weit mit uns gekommen, daß wir in allem planmäßig das Häßliche, Böse, Verpfuschte aufspürten, wobei die meisten von uns sicherlich nur aus Verzweiflung mit großen Worten um sich warfen und hinter dieser Maske bloß ihre Enttäuschung darüber verbargen,, das Wahre, Schöne und Gute nicht gefunden zu haben ..
Aus der einstigen Gottesliebe wird unfruchtbarer Haß. Die Erinnerung an Gott, der letzte Rest von Sehnsucht nach Seiner Liebe, wie konnte er besser zum Schweigen gebracht werden, als wenn man ihn für tot erklärte? Hatte nicht Nietzsche schon, der philosophische Vater des „Übermenschen", in seinem „Zarathustra" die ketzerische Behauptung in die Welt geschleudert, daß Gott tot sei? „Gott war es, oder die Erinnerung an Ihn, Gott, Zeichen des Widerspruchs, der Zwietracht zwischen den Menschen und im Menschen selbst, der mich im Leben behinderte. Gott mußte subjektiv getötet werden, sollte ich frei sein. Gott mußte getötet werden, und mit Ihm der Teil meiner selbst, der ihn geliebt hatte und sich noch nach Ihm sehnte. Gott war nicht tot, im Gegenteil. Er war sehr lebendig, sehr gegenwärtig, allzu gegenwärtig allenthalben in dieser Welt: und deshalb mußte ich mir zur eigenen Beruhigung einreden, daß Er tot war. Heillos von Ihm getrennt, sehnte ich mich heillos nach Ihm . . „Gott ist tot“
Was dann an jenem Ostersonntag des Jahres 1950 auf der Kanzel von Notre-Dame geschah, wurde von einer schockierten Öffentlichkeit mit Abscheu kommentiert. Aber kam dieser verlorene Aufschrei nicht zum größeren Teil auf das Schuldkonto der modernen Gesellschaft, deren Sonntagsglaube weder vor Gott noch vor der Jugend bestehen kann? „Meiner erhitzten Phantasie erschien der Aufruf zur Empörung, zu dem wir an einem Tisch des Cafe Mabillon die Vorkehrungen trafen, als eine Botschaft an die Kirche und die Welt, und ich fand es ganz natürlich, die Mönchskutte anzuziehen und die Kanzel zu besteigen.
Anderntags bestieg ich in Notre-Dame nach dem Credo des österlichen Hochamts, als Dominikaner verkleidet und mit tonsuriertem Schädel die Kanzel und rief von ihr herab die alte Lästerung: „Gott ist tot!"
Bloß, daß diese Lästerung nun nicht mehr wie zu Nietzsches Zeiten nur das Vorspiel zu einem Hymnus an die Freude ist. Heute tönt sie wie ein Wahnsinnsschrei, erschütternd freudeleer ..
Michel wird verhaftet, nach eingehender Untersuchung seines Geisteszustandes („Solche wie Sie muß es auch geben, damit die Leute was zum Lachen haben!“) jedoch wieder entlassen. Man hatte sich geeinigt, seine Tat als einen Studentenulk aufzufassen.
In Wahrheit ist es der traurige Höhepunkt einer verunglückten Jugend, an deren Ende die Worte des Augustinus stehen: „UNRUHIG IST UNSER HERZ, BIS ES RUHET IN DIR---------“
Die Geschichte eines Scheiterns Es ist die Geschichte eines Scheiterns, von der Michel Mourre bekennt, er habe sie geschrieben, „weil sie die Geschichte eines Scheiterns ist." „Es war ein Fehlschlag. Wir müssen weise werden, was nicht vorsichtig bedeutet. Müssen uns einordnen können, was nichts mit .frommer Denkungsart'zu tun hat. Und sind wir eines Tages weise, dann deshalb, weil wir doch ein wenig närrisch waren. Unsere Narrheit zielte auf Weisheit. Sie rumorte als alte Lockung in unserem Blut: uns verlangte nach Gerechtigkeit, nach Ruhm, nach dem Reich — sie lassen ein wenig auf sich warten —, nach dem Kreuz, das im Gold und Dunkel unserer Kirchen mitunter so schwer auszunehmen ist. Wir müssen weise werden, aber nicht wie die, denen Armut und Gerechtigkeit immer Hekuba gewesen sind. Wir lächerlichen Ritter von der traurigen Gestalt waren in unserem Nachkriegs-Europa nicht die einzigen, Luftschlösser zu bauen und gegen das unmittelbar Gestrige eine fernere Vergangenheit aufzurufen. Vielleicht wandern morgen auf Europas Straßen junge Menschen, Lieder auf den Lippen und Glauben im Herzen — mit beiden wußten wir nichts anzufangen. Wenigstens aber haben wir es ihnen als Andenken hinterlassen . .."
Das also ist die Summe eines zweiundzwanzigjährigen Lebens. Niemand wird die Behauptung wagen, dieses Leben sei vorbildlich gewesen. Vielleicht wird man Mourres Schicksal sogar als Ausnahmefall abtun wollen. Aber damit wäre das Problem nicht gelöst. Besteht doch kein Zweifel darüber, daß sich viele junge Menschen dieser Zeit einem seelischen Zustand ausgeliefert sehen, für den Michel Mourre mit seinem Bericht nur ein besonders ausgeprägtes Beispiel liefert. Wer aber findet wie er auf dem schwankenden Untergrund dieses Jahrhunderts noch zu einer festgefügten inneren Haltung? Wer findet noch zu der letzten Wahrheit, die Gott nicht nur als überliefertes Wunschbild begreift? Die Frage nach Gott ist die Frage nach dem, was Bestand hat. Und der Platz, den Gott im Herzen der Jugend findet, wird die Zukunft unseres Planeten entscheidend bestimmen.
Anmerkung:
Dr. Jörg Mager, geboren 1906 in Scheinfeld/Bayern. Direktor der Volkshochschule der Stadt Düsseldorf.
Hans Lamm wurde in München geboren und studierte an der dortigen Universität sowie der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, an der Kansas City University (B. A., M. A) und Washington University (M. S. W.), sowie an der Universität Erlangen, wo er 1951 mit einer Studie „Uber die innere und äußere Entwicklung des -deutschen Judentums im Dritten Reich“ promovierte.
Dr. Lamm, der seit 1934 in jüdischen Organisationen des In-und Auslandes tätig ist, wirkt augenblicklich als Kulturdezernent des Zentralrates der Juden in Deutschland, Düsseldorf.
Robert Peter Hertwig, geboren am 10. November 1927 in Prerow auf dem Darß. Studium an der Hochschule für Theater in Weimar. Lebt als freier Schriftsteller in München. Arbeitet für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Auf den Gebieten Zeitgeschichte, Literatur und Film ständiger Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks München und des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart.