Dem folgenden Artikel liegt ein Vortrag zugrunde, der von dem Verfasser im Rahmen eines vom Institut für Zeitgeschichte, München, veranstalteten Colloquiums am 4. November 1955 gehalten wurde.
Eine positive oder negative Beurteilung der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler hängt ganz gewiß nicht davon ab, ob ihre Existenz und ihr Handeln im Jahre 1939 England zur Kriegserklärung an Deutschland ermutigt haben oder nicht. Idi will jedoch diese grundsätzliche Frage zunächst einmal beiseite lassen, und midi den konkreten Behauptungen zuwenden, die seit längerer Zeit vorwiegend von ganz bestimmter Seite über die Auswirkung der innerdeutschen Opposition gegen Hitler — insbesondere die Auswirkung gewisser Fühlungnahmen deutscher Oppositioneller mit britischen Staatsmännern — auf den Kurs der amtlichen britischen Politik im Jahre 1939 aufgestellt werden Wer hat solche Behauptungen ausgestellt und was wird behauptet?
Eine positive oder negative Beurteilung der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler hängt ganz gewiß nicht davon ab, ob ihre Existenz und ihr Handeln im Jahre 1939 England zur Kriegserklärung an Deutschland ermutigt haben oder nicht. Idi will jedoch diese grundsätzliche Frage zunächst einmal beiseite lassen, und midi den konkreten Behauptungen zuwenden, die seit längerer Zeit vorwiegend von ganz bestimmter Seite über die Auswirkung der innerdeutschen Opposition gegen Hitler — insbesondere die Auswirkung gewisser Fühlungnahmen deutscher Oppositioneller mit britischen Staatsmännern — auf den Kurs der amtlichen britischen Politik im Jahre 1939 aufgestellt werden Wer hat solche Behauptungen ausgestellt und was wird behauptet? In seinen 1945 im Nürnberger Gerichtsgefängnis geschriebenen, jedoch erst 195 3 publizierten Erinnerungen hat der ehemalige Generalgouverneur von Polen, Frank, vermerkt, es seien „schon damals“, d. h. im September 1939, „die Gerüchte“ aufgetaucht, „daß sich in der Schweiz, in Schweden und sonstwo viele Spionagezentralen der Feinde Hitlers und des Reiches im Dienste der Kriegsgegner befänden, und daß gerade im Hinblick auf deren Wirken und Erklärungen über Deutschlands innenpolitische Lagemöglichkeiten die Engländer den Krieg gegen Hitler begonnen hätten. Es ist möglich", fährt Frank fort, „daß England gerade im Hinblick auf die Behauptungen solcher Gewährsleute, wonach Hitler in kurzer Zeit nach Kriegsbeginn von innen heraus gestürzt würde, den Krieg gegen Hitler erklärte 1)".
Auch der ehemalige Außenminister von Ribbentrop schreibt in seinen in Nürnberg abgefaßten, 1953 von seiner Witwe herausgegebenen Erinnerungen unter Hinweis auf Aussagen von Gisevius im Rückblick auf die britische Haltung im August 1939: „Wir wußten damals allerdings nodt nidu, daß man in London auf die bereits erwähnte Verschwörergruppe von maßgebendsten deutschen Militärs und Politikern rechnete und dadurch zu einem leichten Sieg über Deutschland zu kommen hoffte. Diese Verschwörer-kreise haben daher einen entscheidenden Anteil am Ausbruch des Krieges. Sie haben alle unsere Bemühungen, zu einer friedlichen Lösung zu kommen, in den letzten Augusttagen vereitelt und bei der englischen Kriegsentscheidung wahrsdteinlich den Ausschlag gegeben.“ 2)
Die gleichgestimmten Darlegungen Franks und Ribbentrops in ihren während des Nürnberger Hauptprozesses verfaßten Niederschriften legen die Vermutung nahe, daß diese Version im Kreise der damals angeklagten mitverantwortlichen Träger des nationalsozialistischen Regimes entstanden ist.
Frau von Ribbentrop unterstreicht in ihren kommentierenden Fußnoten zu den Niederschriften ihres Gatten dessen These, indem sie Zeugnisse über Verhandlungen deutscher Oppositioneller mit England in den Jahren 1938 und 1939 sowie Bemerkungen des ehemaligen Leiters der Mitteleuropa-Abteilung des britischen Geheimdienstes, Captain S. Payne Best 3) 4, und schließlich eine Stelle aus einem Brief des britischen Premierministers Neville Chamberlain vom 10. September 1939 anführt, die uns ebenfalls noch beschäftigen werden. Die erwähnte Bemerkung Chamberlains lautet, aus dem Zusammenhang genommen:
„Was ich erhoffe, ist nidit ein militärischer Sieg — ich bezweifle seine Erreidtbarkeit sehr —, sondern ein Zusammenbrudi der deutschen inneren Front.“ 4)
Im April 1952 hat sodann der frühere südafrikanische Verteidigungsminister Oswald Pirow von Erzählungen britischer „Chauvinisten“ in der Armee und im Foreign Office Ende 1938 berichtet, „daß, wenn der Krieg ausbrädte zwischen Deutschland und England, mit einem Aufstand gegen Hitler zu rechnen sei. Führende sozialistische Politiker und sogar hohe Offiziere würden sich daran beteiligen. Als ich“, fährt Pirow fort, „über diese Prophezeiungen lächelte, versicherte man mir, daß die erwähnten Leute sdton mit London Verbindung ausgenommen hätten. Ich, der glaubte, etwas von der deutschen Ehre und dem Fahneneid der Soldaten zu wissen, lehnte diese Zumutung energisdi ab. Heute kommt es mir vor, als ob diese Engländer mit ihrer Behauptung von dem deutsdien Verrat noch vor Kriegsausbruch recht gehabt haben können
In einer Schrift, betitelt „Der ekle Wurm der deutschen Zwietracht", im Drude erschienen 1953, hat weiter ein gewisser Friedrich Lenz die Meinung vertreten: „Für einen vernünftigen Deutschen kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß England den Kampf nicht gewagt hätte, wenn es diese Sicherheit auf die Flilfe so mächtiger Gegner seines größten Feindes innerhalb dessen eigenster Stellung nicht gehabt hätte. Der Konflikt Deutschland—Polen wäre im Sinne Hitlers ohne Krieg bereinigt worden, und es hätte nun wirklich keine ungeklärten Fragen mehr für Deutschland gegeben. . . . Hitler hatte nur dank dieser durch die Verschwörer dem Feinde gewährten Hilfe das Wettrennen um die Macht in Europa verloren.“
Diese „Feststellung“ hindert Lenz aber keineswegs, Hitler und seinen Außenminister gegen den Vorwurf zu verteidigen, sie hätten 1939 „nicht mit einem Eingreifen Englands gerechnet, also die weltpolitische Lage völlig falsch beurteilt“. Er beruft sich dafür auf Ribbentrops bekannten Bericht an Hitler vom 2. Januar 1 9 3 8, in dem jener wirklich sagte: „Jeder Tag, an dem in Zukunft . . . unsere politischen Erwägungen nicht grundsätzlich von dem Gedanken an England als unseren gefährlichsten Gegner bestimmt würden, wäre ein Gewinn für unsere Feinde
Im Anschluß an die Memoiren Ribbentrops heißt es dann 1954 in der Zeitschrift „Nation Europa“:
„Informationen und Ratschläge der innerdeutschen Opposition, . hart'zu bleiben, ließen im britischen Kabinett ernstlich die Überlegung Platz greifen, daß es nur der Kriegserklärung bedürfe, um in Deutschland einen Putsch der Generale auszulösen. Die verlockende Aussicht auf eine solche, ohne große Opfer zu erreichende Lageveränderung in Mitteleuropa hat vermutlich für Vansittart und Churchill die letzten Widerstände in der britischen Führung aus dem Wege geräumt. Es ist eine erschütternde, aber nicht anzuzweifelnde Tatsache, daß so letztlich deutsche Kreise selbst den großen Konflikt schürten und den englischen Kriegsentschluß auslösten.“
Im Jahrgang 195 5 der gleichen Zeitschrift lesen wir in einem Brief an Professor Hans Rothfels: „Es ist zu wünschen, daß sich unparteiische Historiker finden, weiche die Frage klären, welchen Einfluß die Kenntnis von dem Vorhandensein einer angebliclt großen und mächtigen und zu allem entschlossenen deutschen Opposition gegen Hitler auf den sonst völlig unbegreiflichen 8) Entschluß Englands hatte, Deutschland den Krieg zu erklären.“ 9)
Und endlich hat vor kurzem in einem politischen Prozeß, der sich gegen Mitschuldige an der Beseitigung führender Männer der deutschen Widerstandsbewegung richtete, der Verteidiger der Angeklagten erklärt, es sei nicht ausgeschlossen, daß durch die Tätigkeit dieser Männer es überhaupt erst zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges gekommen, die britische Regierung überhaupt erst zur Kriegserklärung veranlaßt worden sei — in der Hoffnung, daß es nach der Erklärung zu einer Revolte in Deutschland und zu einem Zusammenbruch komme. Der Verteidiger hat zwar wenig später selbst betont, kein vernünftiger Mensch bestreite, daß Hitlers Aggressionspolitik der eigentliche Grund für die Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs gewesen sei. Gleichwohl hat er unter ausdrücklichem Hinweis auf die vorhandenen Zeugnisse daran festgehalten, daß diese einen Verteidiger mindestens in einem Prozeß dazu berechtigten, die Behauptung aufzustellen, es sei nicht ausgeschlossen, daß die erwähnten Kontakte der Widerstands-kreise mit britischen Staatsmännern ein Grund — wenn auch nur ein ganz geringfügiger Grund vielleicht — für den Entschluß der britischen Regierung gewesen sein könnten, Deutschland den Krieg zu erklären. * Es stellen sich also im Sinne unserer Untersuchung folgende Fragen:
1. War die britische Regierung in den Jahren 1938 und 1939 von dem Bestehen einer innerdeutschen Opposition, ihren Absichten gegen Hitler und ihren damit verknüpften Wünschen hinsichtlich der britischen Politik gegenüber dem Diktator unterrichtet?
2. Besitzen wir ausreichende Zeugnisse für die Erwägungen der britischen Staatsmänner über die deutsche Opposition gegen Hitler? 3. Wenn ja, wie haben die britischen Staatsmänner Möglichkeiten und Potenz der deutschen Opposition in den Jahren 1938 und 1939 beurteilt? 4. Welche Aussichten und welche Potenz hatte die deutsche Opposition in den Jahren 1938 und 1939 nach dem Stande unseres Wissens jeweils tatsächlich?
5. Welche Gründe waren für die britische Haltung gegenüber Hitler im Jahre 1939, insbesondere für die britische Garantieerklärung zugunsten Polens vom 31. März und die britische Kriegserklärung vom 3. September, entscheidend?
Es wird also wesentlich darauf ankommen, den Kurs festzustellen, den die britische Politik in den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg genommen hat, und die Erwägungen zu klären, von welchen jener Kurs bestimmt war.
Chamberlain und die Normaltendenz britischer Außenpolitik Im abessinischen Krieg von 1935/36 war die Politik der kollektiven Sicherheit und der Sanktionen, in welche die britische öffentliche Meinung ihre Regierung gegen die faschistische Aggression — als Probefall der Wirksamkeit des Völkerbundes — hineingedrängt hatte, bekanntlich gescheitert: gescheitert an ihrer Halbheit, die wesentlich bedingt wurde durch die italienfreundliche Haltung Frankreichs unter Laval. Hitler unternahm darauf im März 1936 das tollkühne Wagnis der Wiederbesetzung des Rheinlandes, und das England Stanley Baldwins, das nicht nur seine Rüstungen außerordentlich vernachlässigt hatte, sondern auch schon mit dem Berliner Besuch Simons und Edens im März 1935 und mit dem deutsch-britischen Flottenabkommen vom 18. Juni 1935 bedenklich aus der Reihe getanzt war, lehnte es. in Übereinstimmung mit der britischen öffentlichen Meinung ab, Frankreich diejenige Mitwirkung und Rückendeckung zu gewähren, die diesem für eine Aktion gegen Hitler unerläßlich schien. Den Wandel der europäischen Konstellation infolge der Wiederbesetzung des Rhein-landes hat Churchill damals im Unterhaus anschaulich und mit guter Voraussicht gekennzeichnet. Durch Errichtung einer Befestigungslinie im Westen, so führte er aus, werde Deutschland sein „Haupttor durch starke Riegel sichern“, so daß es freie Hand habe, „durch die anderen Türen nach Osten und Süden vorzudringen“. Sämtliche mitteleuropäischen Staaten vom Baltikum bis Rumänien seien dadurch in Mit-leidenschaft -gezogen. Im Westen selbst aber könne infolge der dort eintretenden Entlastung die Hauptmacht des deutschen Heeres „eine Umgehungsoperation durch Belgien und Holland" unternehmen
Unter diesen Umständen stand die britische Regierung in ihrer Deutschland-Politik vor einem Scheidewege. Es fragte sich für die britischen Staatsmänner, ob der jahrhundertealte Grundsatz der britischen Interessen, gegen die stärkste Kontinentalmacht — und das war Deutschland oder drohte es sehr bald zu werden — Stellung zu nehmen, wieder Geltung forderte. Der Unterstaatssekretär im britischen Außenamt, Sir Eyre Crowe, hat in seinem berühmten Memorandum vom Jahre 1907 in klassischer Weise die Gründe dargelegt, warum es Englands Interessen als führender Seemacht von Hause aus zuwiderlaufen muß, daß eine überstarke Macht auf dem Festland entsteht, die übrigen europäischen Staaten mehr oder weniger zu Vasallen macht und den Kontinent womöglich geschlossen gegen England ins Spiel bringt. Nach der Wiederbesetzung des Rheinlandes und der Erreichung der Luftparität Deutschlands mit England erinnerte Churchill Ende März 1936 vor dem Parlamentsausschuß für auswärtige Angelegenheiten der Konservativen Partei an dieses Grundprinzip der britischen Außenpolitik seit 400 Jahren, „sich der stärksten, aggressivsten, beherrschenden Großmacht auf dem Kontinent entgegenzustellen“, und bemerkte: „Mir scheint, daß alle die alten Gegebenheiten wieder vorliegen und daß unsere nationale Rettung davon abhängt, ob wir noch einmal alle Mächte in Europa vereinigen können, um die deutsche Oberherrschaft in Schranken zu halten, zu verhindern und wenn nötig zu vernichten
Es ist nun eine geschichtlich höchst bemerkenswerte Tatsache, daß diese Normaltendenz britischer Politik mindestens in den nächsten beiden Jahren noch keine bestimmende Geltung erlangen sollte, daß die britische Regierung also nicht alle ihre Energie auf die militärische Rüstung und die Bildung einer anti-deutschen Mächtegruppierung gelegt hat, sondern daß sie unter Zustimmung der öffentlichen Meinung einer Politik weitgehender Konzessionen an Deutschland den Vorzug gab, obwohl diese Konzessionen das deutsche Potential im Falle des mindestens möglichen Waffengangs wesentlich verstärken mußten. Träger dieser unter dem Namen appeasement zunächst hochgelobten und später in Bausch und Bogen verurteilten Politik war bekanntlich Neville Chamberlain.
Chamberlain war als Politiker ein Realist eigener Art. Auf Weizsäcker machte er 1938 den Eindruck eines juristisch geschulten Geschäftsmannes
Zweifellos war Chamberlains Ehrgeiz, wie Churchill gesagt hat, „einst als der große Friedensstifter in die Geschichte einzugehen“ 16). So machte er sich nun an den Versuch eines „methodischen Abbaus“ der Konfliktsstoffe im Wege eines realistischen Ausgleichs der Interessen. „Diese Politik schien ihm so vernünftig", schreibt sein Freund Sir Samuel Hoare (der heutige Lord Templewood), „daß nach seiner Über-zeugung nicht einmal Hitler sie ablehnen würde
„Zu unserem Intelligence Service sickerten nur sehr wenige Nadt-
ridtten aus Deutsdtland durdh. Nunmehr, nach der Veröffentlidtung der deutschen Geheimdokumente, wissen wir, das? Hitler fortgesetzt an Aggressionsplänen gearbeitet hat. Aus dem sogenannten Hofl-
badt-Memorandum . . . geht hervor, daß Hitler bereits am 5. November 1937 seine künftigen Feldzüge zur Beherrschung Europas vorbereitete. Der als „Operation Grün“ bekannte Feldzugsplan General Jodls enthält alle taktischen und strategischen Einzelheiten 'ür einen Angriff auf die Tschechoslowakei. Und doch: wären diese Dokumente einem geschickten Agenten in die Hände gefallen und hätte er sie uns zugesandt, so würde Chamberlain, wie ich glaube, dennoch nidtt anders gehandelt haben. Er hätte gesagt, und wir mit ihm:
. Es handelt sich um zwei der vielen Pläne dieses Größenwahnsinnigen.
Von jedem Generalstab verlangt man, daß er für den Ernst- fall Pläne vorbereitet. Solcherart dürften diese Pläne sein. Es ist durdtaus möglich, daß ein Mann wie Hitler, der mit Entschlüssen rasch bei der Hand ist, ebenso rasch seine Meinung ändert. Für den Fall, daß er es nicht tut, müssen wir so stark gerüstet sein, daß es sich für ihn nicht lohnt, einen Weltkrieg dieser Art vom Zaun zu brechen. Ein Weltkrieg ist eine so ungeheuere Katastrophe, daß ein britischer Premierminister die Hoffnung, sie zu verhüten, nicht eher aufgeben darf, als bis sie wirklich eingetreten ist.“
Bei seiner Befriedungspolitik stützten Chamberlain die Konservative Partei und die Kriegsabneigung der breiten Öffentlichkeit seines Landes. Audi ein Bewußtsein für die Ungerechtigkeiten von Versailles macht sich um 193 5/36 in der englischen öffentlichen Meinung geltend. In der Presse ist es vor allem der „Observer" mit seinem Herausgeber Garvin, der, ungeachtet innerpolitischer Gegensätze, für einen Ausgleich mit Deutschland plädiert
Hitler und die englischen Ausgleichsversuche 1937/38
Nachdem Chamberlain im Sommer 1937 bereits Italien gegenüber erste Befriedungsschritte unternommen hatte, die in Rom als Schwächezeichen gedeutet wurden
In der Berchtesgadener Verhandlung mit Hitler am 19. November 1937 würdigte nun Lord Halifax es bekanntlich als Verdienst Hitlers, durch die Vernichtung des Kommunismus in Deutschland diesem den Weg nach Westeuropa versperrt zu haben. Er machte im Hinblick auf Österreich und die Tschechoslowakei die beachtliche Andeutung, daß nach britischer Meinung der Status quo nicht unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben müsse. Änderungen hätten freilich im Rahmen einer Gesamtregelung zu erfolgen, durch welche Ruhe und Sicherheit in Europa hergestellt würden. Als der britische Minister nun weitere Verhandlungen anregte, da entzog sich der Diktator. Es spricht Bände, wenn Hitler, der Verächter der alten Diplomatie und ihrer Methoden, für solche Verhandlungen auf den gewöhnlichen diplomatischen Weg verwies! Sie bedürften genauer Vorbereitung; „man müsse außerdem auch warten können“; es sei falsch, so wagte er zu behaupten, daß man sich in der gleichen Situation befinde wie in den Jahren 1912— 1914
Als jedoch Henderson am 3. März 1938 mit einem konkreten Angebot in der Kolonialfrage kam und Deutschlands Beteiligung an einem neuen System gemeinsamer Verwaltung anregte, das in einem mittel-afrikanischen Gebiet vom 5. Breitengrad bis zum Sambesi eingerichtet werden sollte (was die Rückgabe ehemaliger deutscher Kolonien nicht ausschließe), wich Hitler auf der ganzen Linie aus. In die Regelung seiner Beziehungen zu stammverwandten Ländern oder Landesteilen in Mitteleuropa würde Deutschland keine Einmischung Dritter dulden., Wenn England in Österreich eine gerechte und vernünftige Lösung weiterhin hintertreibe, dann werde der Augenblick kommen, wo gekämpft werden müsse
Kontakte der Opposition mit England Die Form, in der sih der Anshluß Österreihs vollzog — Gewalt-androhung gegen die Regierung Schuschnigg und militärisher Einmarsh —, rief in England einen tiefen Shock hervor
Noch im Mai 193 8 proklamierte Hitler bekanntlich vor Vertretern von Wehrmacht, Partei und Staat die baldige Zerschlagung der Tschechoslowakei. Der Generalstabschef Beck nahm darauf in einer Reihe von Denkschriften gegen diesen Plan Hitlers Stellung, da seine Ausführung infolge der zu erwartenden Intervention der Westmächte mit einer Katastrophe für Deutschland enden müsse. Es war Beck klar, daß der von ihm geforderte Widerstand der Generale zu erheblichen innerpolitischen Spannungen führen würde, und er regte daher an, den gedachten Kollektivschritt der militärischen Führer bei Hitler mit einer für die Wiederherstellung geordneter Rechtszustände unvermeidlichen „Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie" zu verbinden
Damit nun die Generale von der Notwendigkeit einer solchen Aktion gegen Hitler vollends überzeugt wurden, war es für die Opposition von größter Bedeutung, daß England unumwunden seine Absicht zum Ausdruck brachte, im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechei zum Kriege zu schreiten. Das war Sinn und Zweck der von Canaris geförderten Reise des konservativen Politikers v. Kleist-Schmenzin nach London im August 1938, eines mutigen Patrioten, der in beispielloser Lage die Interessen des Auslandes mit denen der eigenen Nation gegen deren offensichtlichen Verderber verknüpfen wollte. Kleist sprach mit Vansittart, Lord Lloyd und Churchill und erklärte ihnen, England müsse den deutschen Generalen klarmachen, daß es nicht lediglich bluffe, wie Ribbentrop ständig behaupte. Ein führender britischer Staatsmann solle daher eine Rede halten, die im Falle einer deutschen Gewaltaktion gegen die Tschechei den Krieg als unentrinnbar bezeichnete. Das werde den Auftakt zum Sturz des nationalsozialistischen Regimes geben. Nur Churchill aber, der keine offizielle Stellung innehatte, bestärkte Kleist nachdrücklich in seiner Auffassung von den katastrophalen Folgen einer Kriegspolitik für Deutschland. Ganz anders der leitende Staatsmann Englands, Neville Chamberlain. Dieser erblickte in Kleist vor allem einen wütenden Hitlerfeind, der nur danach trachte, seine deutschen Freunde zu einem Umsturzversuch aufzustacheln: er erinnere ihn an die emigrierten Anhänger der Stuarts am französischen Hof zur Zeit Wilhelms III.; von dem, was Kleist sage, müsse man sicher vieles abstreichen. Die Anregung einer öffentlichen Erklärung, welche deutlicher wäre als jene vom 2L. Mai 1938 (die Hitler so sehr gereizt hatte), verwarf Chamberlain mindestens einstweilen. Als „warnende Geste" für den Diktator wollte er lediglich in auffälliger Form den Berliner Botschafter Henderson nach London zitieren!
Es ist dann noch zu weiteren, ganz ähnlich gerichteten Fühlungnahmen der Opposition mit England gekommen: Anfang September zu der Entsendung eines einstigen Regimentskameraden von Beck, des Majors a. D. und rheinischen Industriellen Boehm-Tettelbach, hinter welcher nachweisbar Halder und Oster und wahrscheinlich Bede selbst standen
Die Möglichkeiten der deutschen Opposition im Urteil Englands 1938 Die veröffentlichten Akten des britischen Außenamts bieten uns für die Jahre 1938 und 1939 in sieben stattlichen Bänden eine Fülle von Material zur Erkenntnis der britischen Politik. Je mehr wir uns dem Kriegsbeginn nähern, desto dichter wird die zeitliche Folge der Akten-stücke, so daß die Zahl der veröffentlichten Ein-und Ausgänge im Jahre 1939 durchschnittlich auf 10— 20, in den letzten Wochen vor Kriegsbeginn sogar bis zu 60 pro Tag ansteigt. Damit ist, ganz abgesehen von dem guten Namen, den die Herausgeber der Publikation aufs Spiel setzen, die Problematik der Auswahl der Dokumente auf ein Mindestmaß verringert. Und es fehlt nun keineswegs an aufschlußreichen Zeugnissen für die Erwägungen der britischen Staatsmänner und Diplomaten über Möglichkeiten und Potenz der deutschen Opposition. Wie schon der dokumentarische Niederschlag der Mission Kleist-Schmenzin zeigte, ist man in London über die Absichten deutscher Widerstands-kreise gegen Hitler und ihre damit verknüpften Wünsche hinsichtlich'der politischen Haltung Englands gegenüber dem Diktator ausreichend unterrichtet gewesen. Ebensowenig ist den britischen Diplomaten in Berlin entgangen, daß im deutschen Volk große Kriegsfurcht und bei der Generalität schwerste Bedenken gegen Hitlers Gewaltabsichten gegen die Tschechei bestanden
Und am 22. August 1938 schrieb Henderson:
„Welcher Ansicht wir auch sein mögen, jeder Deutsche würde Hitler als durchaus im Recht befindlich ansehen, wenn er in Nürnberg sagen sollte, daß die Sudetenfrage nicht länger aufgeschoben werden könne. Er würde sich auf unerfüllte Besprechungen berufen, die von Benesch vor 11/2 Jahren gemacht wurden, und würde argumentieren:
da im Laufe der letzten 4 Monate weder die britische Regierung noch der britische Vermittler [Lord Runciman] imstande waren, Herrn Benesch Vernunft annehmen zu lassen .. ., so sehe er [Hitler] sich gezwungen, das für sie zu erledigen. Auf dieser Basis würde es Dr. Goebbels ein Leichtes sein, das ganze Land um den Führer zu sdtaren.“
Zwei Tage später schrieb der britische Militärattache:
„Es ist wahr, daß die Aussicht auf einen Krieg, in den England und Frankreidt hineingezogen werden würden, in Deutsdiland furchtbar unpopulär ist. Es würde jedoch ein großer Fehler sein, anzunehmen, daß das deutsche Volk unwillig marsdüeren würde. Ich hege keinen Zweifel, daß Herr Goebbels und seine demagogisdten Mit-streiter wenig Schwierigkeiten haben würden, einen soldten Krieg als einen Präventivkrieg hinzustellen, der Deutschland aufgezwungen sei, weil es für das Selbstbestimmungsrecht eintrete. Ich glaube, daß es auf jeden Fall zu Anfang und während eines kurzen Krieges mit anfänglichen Erfolgen möglidr wäre, eine wirklich echte Begeisterung zu erzeugen und aufrechtzuerhalten.“
Und am 4. September 1938 wiederum der Botschafter:
„Aber hüten wir uns vor einem Fehler. Wenn Hitler das entscheidende Wort spricht, wird sich die ganze Nation in den Krieg stürzen und die jungen Männer werden für das „Vaterland“ sterben, wie sehr auch die alten im Hintergrund murren mögen. Ich will gern glauben, daß Deutschland dann nicht mehr als eine gewisse Zahl von Monaten durchhalten würde, aber das Unglück wäre passiert.“
Und ein Telegramm des britischen Botschaftsrats vom 11. September 1938 enthält die Feststellung:
„Die Stimmung geht entschieden gegen den Krieg, aber die Nation befindet sich hilflos im Griff des Nazi-Systems ... Die Alenschen sind wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden. Wenn Krieg ausbricht, werden sie marschieren und ihre Pflicht tun, mindestens für einige Zeit.“
Bemerkenswert ist schließlich, wie der britische Militärattache auf den Versuch des Rittmeisters a. D. von Koerber reagierte, ihn für die Bestrebungen der deutschen Opposition zu interessieren und ihn von der Notwendigkeit einer entschiedenen Haltung des Auslandes zu überzeugen, die Hitler zum Zurückweichen zwingen würde und damit seinen Sturz herbeiführen könnte:
„Idt verhielt mich vorwiegend zuhörend: erklärte ihm, daß seine Beurteilung der Lage mich sehr interessiere und ließ keinen Zweifel darüber, daß, wenn er dächte, er könnte mich als Mitverschworenen gewinnen, er sich völlig irren würde. Ich l: alte es durchaus für mög-
lieh, daß seine Behauptungen, die deutsche Regierung wolle im Herbst Krieg beginnen, glaubwürdig sind. Er sprach tatsächlich so, als habe er engsten Kontakt mit Hitlers vertrautesten Ratgebern. Was die Möglichkeit angeht, eine deutsche Revolution von außen zu fördern, als die einzige Hoffnung, eine europäische Katastrophe zu verhüten. so habe ich diese Frage oft geprüft, aber nur um auf ein etwaiges Ableben Hitlers vorbereitet zu sein. Ich habe mehrere Entwürfe von Denkschriften über dieses Thema zerrissen. Daß eine Untergrund-
opposition gegen die Partei existiert; daß diese Opposition in letzter Zeit gewachsen ist, und daß sie, wie von Koerber sagt, besser organisiert ist als wir annehmen, ist durchaus möglich. Aber jeder Versuch eines Hineinpfusdtens von außen in Deutschlands innere Politik zu Lebzeiten Hitlers würde höchstwahrscheinlich gerade zu dem führen, was wir alle vermeiden wollen.“
Doch die Frage von Ausmaß und Potenz der deutschen Opposition war für die britische Politik in dieser Phase nicht einmal entscheidend. Noch hatte man in London ja keineswegs klar erkannt, daß Hitler gar nicht zu befriedigen war, oder glaubte doch, das Risiko entsprechender Enttäuschungen im Interesse des Friedens eingehen zu müssen
Entscheidend für die Haltung der britischen Staatsmänner im Herbst 1938 war also, daß sie Hitler verkannten, daß sie seine ursprüngliche Absicht gewaltsamer Beseitigung der gesamten Tschechoslowakei, geschweige denn seine weiteren Pläne, gar nicht durchschauten. Falls so konservativen Naturen wie Chamberlain und Halifax ein Zusammenspiel mit den deutschen Verschwörern überhaupt möglich war, so erblickten sie darin doch jedenfalls jetzt noch nicht die einzige Chance einer Erhaltung des Friedens. Und hätten sie es getan, so würden sie die Potenz der deutschen Opposition, wie wir sahen, aus Gründen be-zweifelt haben, die gewiß nicht einfach von der Hand zu weisen sind. Sie hätten wahrscheinlich auch gefürchtet, durch eine Mitwirkung des Auslandes der Opposition eher zu schaden und damit das Gegenteil des Erstrebten zu fördern. So erschien ihnen die direkte Verhandlung mit Hitler selbst als bester und sicherster Ausweg
Auch in dieser letzten Phase der Krise telegrafierte der Botschafter Henderson (am 25. September 1938) an Halifax, wenn England in Prag nicht ultimativ die Annahme der Forderungen Hitlers verlange, so werde das deutsche Volk meinen, der Krieg sei nicht wegen der Sudetenfrage begonnen worden, sondern als bloße Präventivmaßnahme. „Unter solchen Umständen werde es sich bis zum letzten Mann um Hitler scharen
„Es ist völlig falsch anzuHehweM, daß das Volk, weil der Krieg unpopulär gewesen wäre, Hitler fallengelassen hätte. Es besteht nicht die geringste Möglichkeit, daß dies geschehen wäre, zumal in den Anfangsstadien, es sei denn, die Westmächte würden eine wirklich machtvolle und erfolgreiche Offensive unternommen haben, bevor die deutschen Operationen gegen die Tschechen Erfolge gezeitigt hätten. Schläge und Hungersnot wären nötig gewesen, um die bloße Unzufriedenheit zu steigern und das deutsche Volk aufzureizen, sidt gegen Wehrmacht und Parteidisziplin zu behaupten. Der Führer und die Partei mögen bei vielen herzlich unbeliebt gewesen sein, aber fast alle erkannten sein Genie und die vielen Vorteile an, die er seinem Lande verschafft hat. Bis zu der letzten Krise hatte Hitler auf dem Gebiet der Außenpolitik nie einen falschen Schritt getan, und so wären Armee und Partei ganz bestimmt marschiert. Solange alles gut gegangen wäre, und es besteht außerordentlidt große Wahrscheinlidt-
keit, daß dies der Fall gewesen wäre, würde „das Volk“ in dieses Frage nichts zu sagen gehabt haben, und es wäre wohl durch Propaganda erfolgreidt hypnotisiert worden.“
England und die deutsche Opposition nach München Nicht einmal jetzt also, auf ihrem zweifellosen Höhepunkt im Herbst 1938, konnte die deutsche Opposition England zum Kampf gegen Hitler irgendwie „ermutigen“. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob sich in der Einschätzung der Potenz der Widerstandsbewegung durch die Engländer in den 11 Monaten von München bis zum Kriegsbeginn eine Änderung vollzogen hat, ob die Fühlungnahmen der Opposition mit englischen Staatsmännern vom Jahre 1938 bei der weiteren Verschärfung der internationalen Lage etwa nadiwirkend bzw. ob neue derartige Kontakte in London die Auffassung hervorgerufen haben, im Vertrauen auf die innerdeutsche Opposition Hitler im polnischen Streitfall „leichteren Herzen?" oder doch gefahrloser Schwierigkeiten bereiten oder ihm gar den Krieg erklären zu können. Es geht also um die Frage, ob die Ausweitung des Polenkriegs zum Weltkrieg ganz oder teilweise mit der Hoffnung Englands auf die deutsche Opposition erklärt werden muß bzw. erklärt werden darf. * Zur Empörung Hitlers beschleunigte Chamberlain nach München die englische Aufrüstung — die allerbegreiflichste Maßnahme
So schrieb der britische Geschäftsträger in Berlin am 16. November 1938:
. idt habe nidtt einen einzigen Deutschen, gleich welcher Bevölkerungsschicht, angetroffen, der nicht in unterschiedlichem Maße zum mindesten mißbilligt, was geschehen ist. Aber ich fürchte, daß selbst die eindeutige Verurteilung von seifen erklärter Nationalsozialisten oder höherer Offiziere der Wehrmacht keinerlei Einfluß auf die Horde von Wahnsinnigen haben wird, die gegenwärtig Nazi-
Deutschland beherrscht.“
Und am 6. Dezember 1938:
„Nie seit 1933 hat es so viel Unzufriedenheit im Lande gegeben, aber die nationalsozialistische Maschine hat die Menschen unbarmherzig in ihrem Griff, und sie scheinen gegenwärtig zu keinerlei Aktion imstande, die sie retten könnte. Viele richten ihre Hoffnung ohne viel Überzeugung auf die Demokratien, besonders England, und hoffen, daß die britische Aufrüstung mit genügender Geschwindigkeit und Entschlossenheit durchgeführt wird, um Elitler, wenn nicht zu stürzen, doch wenigstens von den gefährlichsten Exzessen abzuschrecken.“
Viel pessimistischer als zu Zeiten der Sudetenkrise ist der britsche Militärattach geworden. -Es scheint ihm (am 26. Dezember 1938) ziemlich sicher, daß von Hitler eine militärische Aktion für das nächste Jahr ins Auge gefaßt ist, aber er bemerkt:
„Obwohl das deutsche Armeeoberkommando zweifellos seine technischen und Ressorteinwände gegen jede von Hitler beabsichtigte Aktion geltend machen wird, so ist es doch höchst unwahrsdrein-
lich, daß es diese durch Opposition gegen einen inspirierten Führer unterbauen wird, der ihm bisher nachweisen konnte, daß es in jeder größeren Frage Unrecht hatte, wo ihre Meinungen aufeinandergeprallt waren.“
Aus den Tagen nach der Jahreswende liegt eine Lagebetrachtung des britischen Botschaftsrats vor, deren letzter Absatz lautet:
„Ich schließe diesen Bericht mit einer Warnung. Idi habe von ver-
schiedenen Seiten gehört, daß in maßgeblichen Kreisen in London immer noch der Eindruck besteht, daß wir in einem Kriege mit Deutschland eine Trumpfkarte in der Hand hätten, die den Aussdtlag geben könnte, nämlich die Macht, eine innere Revolte hervorzurufen.
Mit größtem Respekt gebe ich zu bedenken, daß dies eine gefährlidte Täuschung ist. Wenn Herr Hitler entsdieidet, daß ein Krieg mit England nötig ist, werden die Deutschen, Radikale oder Gemäßigte, mit ihrer diarakteristischen Disziplin bis zum letzten Mann folgen, und jede etwa aufkommende Opposition wird sofort und unbarmherzig von der SS erstickt werden. Es wird lange Zeit dauern, und erst nach erheblicher gegenseitiger Zerstörung möglich werden, daß die Opposition sich wirklich geltend madtt. Das ist jedoch keine Trumpfkarte, die wir sdton in der Hand halten; es ist bestenfalls ein Trumpf, der uns zufallen kann.“
Nun, Chamberlain und Halifax, nach München mehr als je die maßgebenden Männer Englands, gehörten jedenfalls nicht zu jenen Kreisen, die solche Hoffnungen hegten — obwohl sich gerade bei Halifax schon im Januar 1939 ein erhebliches Mißtrauen gegen Hitler dokumentiert. In einem Erlaß an den britischen Botschafter in Washington vom 24. Januar, der eine vertrauliche Beratung mit der amerikanischen Regierung bezweckte, spricht der Außenminister schon für November 1938 von Anzeichen für Expansionspläne Hitlers im Osten. Seitdem hat er Nachrichten über Erwägungen des Diktators erhalten, als Vorbereitung seiner Ostexpansion einen Stoß nach Westen zu führen. Und er gelangt zu folgendem Urteil:
„Die Wirtschafts-und Finanzkrise, in der sich Deutsddand jetzt befindet, könnte Hitler sehr wohl zu irgendeiner Aktion treiben . . .
Überdies spredten Hitlers Geistesverfassung, sein unsinniges Wüten gegen Großbritannien und sein Größenwahn . . .sehr wohl für die Ausführung eines verzweifelten Streichs gegen die Westmächte. Die Entfernung von Gemäßigten wie Schacht und Wiedemann ist sympto-
matisdr.“
Doch er fährt fort: „Es ist in gewissen Kreisen angedeutet worden, daß das deutsdte Volk Hitler auf einem solchen Wege nicht folgen und daß es zu einer Revolte kommen würde. Wir haben diese Ansicht geprüft, aber die Deutschlandkenner, die wir befragt haben, einsdiließlich antinazistischer Deutscher von gesundem Urteil, stimmen darin überein, daß Hitlers Befehle ausgeführt werden würden und daß keine Revolte zu erwarten ist, auf jeden Fall nidtt im Anfangsstadium des Krieges.“
Auf Grund seiner Beurteilung der Lage stellte England im Februar mit Frankreich ein Einvernehmen her, einen deutschen Angriff auf Holland und die Schweiz als eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der beiden Westmächte zu betrachten, der man gemeinsam Widerstand leisten würde. England nahm ferner mit der holländischen Regierung vertrauliche Fühlung und beschloß endlich, die Generalstabsbesprechungen mit Frankreich über einen gemeinsamen Kriegsplan zu intensivieren
Andererseits stehen mit der Befürchtung, Hitler könne unter wirtschaftlichem Druck zum Kriege treiben, wohl englische Tendenzen einer wirtschaftlichen Kooperation mit Deutschland in Zusammenhang, die sich nach Ende Januar 1939 deutlicher abzeichnen, Jedenfalls besaß das Projekt eines für den 17. März verabredeten Besuches des britischen Handelsministers Stanley in Berlin auch erhebliche politische Bedeutung
Hitlers Marsch nach Prag Man sollte es sich nun im Grunde ersparen dürfen, des näheren darzulegen, was nach alledem der Prager Gewaltstreich Hitlers vom 15. März für die Gestaltung des weiteren Verhältnisses Deutschlands zu den Westmächten, insbesondere zur britischen Regierung des Münchener Abkommens, bedeuten mußte. Der Verzicht auf einseitige Gewaltmethoden hatte ja in den Augen der britischen Politiker mit gutem Grunde einen wesentlichen Prüfstein für die innere Ehrlichkeit und Begrenzbarkeit der letzten Absichten Hitlers dargestellt — was primitiven „Realpolitikern" und gewissenlosen Imperialisten als Pedanterie erscheinen mag
„Ist dies das Ende eines alten Abenteuers oder der Beginn eines neuen? Ist dies der letzte Angriff auf einen kleinen Staat, oder sollen weitere folgen? Ist dies ein Schritt int Sinne eines Versuchs, die Welt tatsädtlich mit Gewalt zu beherrschen?“
Am 17. März berief die britische Regierung ihren Botschafter für unbestimmte Zeit aus Berlin ab.
Opposition und Polen-Garantie Der englische Journalist Jan Colvin hat nun berichtet, auf Veranlassung des Herrn von Kleist-Schmenzin hätten Beck und Oster ihm zu dieser Zeit nachdrückliche Warnungen vor weiteren Aggressionsplänen Hitlers anvertraut, welche gegen Polen gerichtet seien. Sie hätten erneut die Forderung erhoben, die britische Regierung möge ein eindeutiges Zeichen dafür geben, daß es bei einer neuen Aggression Hitlers unfehlbar zum Kriege kommen würde. Er, Colvin, sei daraufhin am 20. März in London erschienen und habe hier eine vertrauliche Unterredung mit dem Ständigen Unterstaatssekretär des britischen Außenamtes, Sir Alexander Cadogan, sodann mit Lord Halifax und schließlich in deren Beisein mit Chamberlain selbst gehabt. Auf die Frage Cadogans, welche Wirkung es hätte, wenn England Polen garantieren würde, habe er erwidert, dies würde den deutschen Revolutionären helfen, Hitler zu stürzen
Tatsächlich aber war, als Colvin in London eintraf, die grundsätzliche Entscheidung Englands über seine weitere Politik gegenüber Hitler bereits gefallen
„Lord Halifax bemerkte, er habe heute morgen den polnischen Botsdtafter empfangen und ihn von dem Schritt unterrichtet, der in Paris, Warschau und Moskau unternommen werde. Um den Standpunkt der britischen Regierung zu kennzeichnen, habe er dem Botschafter erklärt, — wenn Herr Beck [der polnische Außenminister] ihm sagen sollte: , Sie fordern uns auf, im Falle eines deutschen Angriffs auf Ihre Seite zu treten — wie stellen Sie sich zu Danzig?', so würde er [Halsfax] erwidern: Sollten Polen und Deutsdtland über Danzig zu einer direkten Verständigung gelangen, um so besser; sollte sich aber aus der Danziger Frage eine Bedrohung der Unabhängigkeit Polens entwickeln, so würde nach seiner Meinung und, wie er glaube, audt nadt der Meinung der britisdien Regierung diese darin eine ernste Frage erblicken müssen, die alle angehe.
Die Auffassung der britisdien Regierung unterscheide sich nidit von derjenigen, die Herr Bonnet [der französische Außenminister] vertreten habe. Die britisdte Regierung glaube, daß es jetzt gelte, der deutsdienAggression Halt zu gebieten, ob diese sidt gegen Frankreich, Großbritannien, Holland, die Sdtweiz, Rumänien, Polen, Jugoslawien, oder wen auch immer, ridtte. Sie sehe keine andere Möglichkeit.“
Im Anschluß hieran machte Halifax noch zwei Gesichtspunkte geltend: erstens, daß die Hauptfrage sei, ob Großbritannien und Frankreich erfolgreich gegen Deutschland Krieg führen könnten, daß durch eine sehr feste Haltung der Westmächte Polen jedoch gewonnen werden könnte, was von kapitaler Bedeutung wäre. „Der zweite Punkt, den man im Auge behalten müsse, sei“ — fuhr der Minister fort —, „daß nur eine geringe Aussicht auf Erhaltung des europäischen Friedens bestände, solange die Nazis an der Macht blieben. Es seien jedoch einige Unterlagen dafür vorhanden, daß, falls Herr Hitler das deutsche Volk in einen größeren Krieg führe, dies in Deutschland immerhin innere Auswirkungen zeitigen könnte, die für das Nazi-Regime verhängnisvoll wären. Das gleiche könnte auch für Italien gelten.“
Man sieht: jetzt, nachdem Hitlers hemmungslose Gewalt-und Expansionspolitik klar zutage getreten war und damit die geringe Aussicht für England, mit ihm jemals zu einem dauerhaften Frieden zu gelangen, stellte Halifax, auf der Suche nach hellen Punkten im politischen Bilde
Die britische Polen-Garantie vom 31. März 1939 ist des öfteren als ein „Blankoscheck“ bezeichnet worden. Ihr Inkrafttreten war jedoch abhängig von einer „klaren Bedrohung“ der polnischen Unabhängigkeit, worüber die Entscheidung mindestens formell in der Hand der britischen Regierung lag. Gewiß hat die Garantie-Erklärung Polen in seinem Widerstand gegen die Forderungen bekräftigt und sollte nach englischem Wunsche dies tun, soweit jene Forderungen mit der politischen Unabhängigkeit Polens unvereinbar erschienen. Die Erklärung war jedoch keineswegs ursächlich für die ablehnende polnische Haltung gegenüber Hitlers anfangs relativ gemäßigten Vorschlägen in der Korridorfrage: hat doch Polen vor der englischen Garantie-Erklärung ebensowenig Neigung gezeigt, jene Vorschläge anzunehmen, wie nach ihrer Abgabe
Rückwirkungen Münchens auf die deutsche Opposition Von wesentlicher Bedeutung für unsere Untersuchung ist nun die Frage, ob in den 11 Monaten von München bis zum Polenfeldzug der deutsche Widerstand überhaupt eine Potenz darstellte, die England zu einem Kriege ermutigen konnte, den nicht aussdhließlich sein vitales Interesse gebet. Man muß diese Frage verneinen Hitlers „unblutiger Erfolg" von München schien die Opposition mit ihren Warnungen und Bedenken widerlegt, ja. „blamiert" zu haben
Auch jetzt noch fehlte es nicht an Erwägungen klarblickender Soldaten und Zivilisten, wie der Diktator gestürzt oder doch das Ausland zu kategorischen Warnungen an seine Adresse und zu eindeutigem Auftreten veranlaßt werden könnte. Hierum bemühten sich in Erkenntnis der drohenden Katastrophe für Deutschland Halder und Weizsäcker bei den Botschaftern der Westmächte in Berlin, Goerdeler und Schlabrendorff bei Churchill. Auch Trott zu Solz und Graf Helmuth Moltke hielten Kontakt mit englischen Freunden
Englands Urteil über die Opposition im Frühjahr 1939 Auf englisdher Seite hat man denn audh Ausmaß end Stärke der deutsdhen Opposition, zumal in militärischen, 1939 nodh geringer bewertet als im Jahre zuvor. So schrieb der britische Geschäftsträger in Berlin am 1-1. April 1939 zwar:
„Gewisse militirisdie Kreist sollen der Meinung sein, da^. falls Hitler wegen Danzig einen Weltkrieg provozierte, seine Regierung zusannnenbredien würde';
er fügte jedoch hinzu:
. aber weder der Militärattadie noch idi stintmen gegenwärtig mit der Voraussage eines Zusammenbrudts der Naziregierung überein.
Im Gegenteil, die Danziger Frage würde das deutsdie Volk in der Unterstützung seiner Blutsbrüder einigen
Der am 25. April 1939 nach Berlin zurückgekehrte Botschafter Henderson bemerkte am 4. Mai:
. Eine Tatsache, die wir erkennen müssen, ist, daß — obwohl ein allgemeiner Krieg hier natürlidi nodt ködest unpopulär ist. die Nation viel einiger in der Unterstützung Hitlers sein wird, als sie dies im September vorigen Jahres gewesen wäre — vor unserer Amäherung an Rußland und dem Geschrei über die Einkreisung In der polnischen Frage selbst wird sie weit begeisterter sein als wegen der Sudetendeutsdien und sogar der Tsdtedten."
Der britische Militärattach schrieb am 15. Mai: „Idi habe festgestellt, daß die weissen Offiziere in den folgenden Punkten wit wir aufriditig übereinstiwwen: 1. daß Herr Hitler mit der Einverleibung Böhmens und Mährens vor der vollen Durdtführung seines Heiw-ins-Reidt-Prograwws einen großen politischen Fehler gewadit hat. 2. daß nidtt zu erwarten ist, daß jemand nadt irgendeiner von Herrn Hitler gegebenen Zusidierung oder übernommenen Verpflichtung Glauben schenken wird. Und 3. daß England keine aggressiven Absichten hat. Andererseits sind sie davon durchdrungen, daß Danzig und der Korridor zu Deutschland zurückkehren müssen, und bestehen darauf, daß die Korridorfrage von jeher die unmöglichste der Versailler Bestimmungen sei. Sie sind betrübt über die Tatsache, daß Herrn Hitlers Aktionen die Danzigund Korridorfrage, was England angeht, zu dem gewacht haben, was sie eine Prestigefrage'nennen. Man sollte sich darüber klar sein, daß das deutsche Offizierkorps in der Korridorfrage absolut einig ist, und daß die meisten höheren Offiziere iw Kriegsministeriuw jetzt überzeugte Anhänger Herrn Hitlers sind.“
Und als dem Botschafter Henderson die angebliche Äußerung des Londoner deutschen Botschafters Dr. Theo Kordt mitgeteilt wurde, die deutsche Armee sei „in ihrer Loyalität geteilt und unentschieden“, entgegnete er am 2S. Juni 1939:
„Idt weiß nickt, was X. (Dr. Tlt. Kordt] meint, wenn er sagt, die Armee sei in ihrer Loyalität geteilt und unentsdiieden. Sie wird marsdueren wie ein Mann wenn Hitler den Befehl gibt. Mit ungeheuerer & ege sienutg. soweit der Korridor in Frage kommt aber sehr uriderwtlhg gegen Frmüereuit und uns selbst.“ 103)
Nodhmalige Ausgleidhsversudhe Englands Tret: der Entschlossenheit jedoch, im Falle eines deutschen Angriffs auf Polen zu seinen Verpflichtungen zu stehen und den Eindruck zu vermeiden, daß sich ein . neues München'anbahnte, war England nicht geneigt, sich von Polen ins Schlepptau nehmen zu lassen. Bereits am 3. Mai 1939 ließ Halifax in Warschau erklären, Englands Entschlossenheit, die erteilte Garantie zu erfüllen, sei ebenso fest wie sein Vertrauen, daß Polen nicht leichtfertig eine gerechte Regelung ablehnen werde — in dem Gefühl, es würde die britische Unterstützung in jedem Kriege finden, der aus einer solchen Ablehnung entstände. Insbesondere sollte Polen sich nicht vor weiten Kreisen der Weltöffentlichkeit dadurch ins Unrecht setzen, daß es bereits zu den Waffen griff, wenn Danzig seine Wiedervereinigung mit dem Reich ohne deutsche Besetzung der Stadt proklamierte!
Ab Ende Juni 1939 kam es darüber hinaus zu einem gewissen Wandel in der britischen Haltung. Schon am 18. Mai hatte Halifax mit dem deutschen Botschafter in London die Danziger Frage sowie das deutsch-englische Verhältnis selbst besprochen und dabei erklärt: So sicher eine Katastrophe sei, wenn Deutschland eine „hundertprozentige Lösung" der Danziger Frage in seinem Sinne anstrebe, und so wenig England mehr geneigt sei, „unter der Drohung mit Gewalt“ zu verhandeln, so bereitwillig würde es jedes freie und vernünftige Bemühen um Verständigung fördern. Zur Verbesserung des unmittelbaien deutsch-britischen Verhältnisses regte der Minister eine Mäßigung der beiderseitigen Presse, eine Belebung der Wirtschaftsbeziehungen und eine Friedensrede Hitlers an, der er ein sofortiges freundliches Echo von Seiten des amtlichen England garantierte
„Wenn wir erst einmal zufriedenstellend davon überzeugt sein könnten, daß die Absichten anderer die gleichen wie unsere eigenen sind, und wir alle wirklich friedliche Lösungen wünschen, dann — ich sage das hier definitiv — könnten wir die Frage diskutieren, die heute der Welt Besorgnis verursacht. In einer derartigen neuen Atmosphäre könnten wir das koloniale Problem lösen, die Frage der Rohmaterialien, der Handelsschranken, die Frage des Lebensraumes, der Begrenzung der Rüstungen und jede andere Frage, die das Leben aller europäis&. en Bürger berührt" 108)
Tatsädlidh um die ippeasetaeni-Pe'itlk noch t>hht voüig aufgegeben.
„Selbst nadh Prag", so sdhreibt Sr Samuel Hotte, „hielt Chamberlain es nidht für rchfg alle Hoffnungen auf Frieden Lilien zu L»a Nach seiner Auffassung bestand immer noch die Aussidht, daß sidh Hitler angesidhts des nunmehr sicheren Widerstandes der Alliierten zur Mäßigung gezwungen sehen werde. Wir konnten nicht glauben, daß »Mein Kampf mit seinen schwülstigen Phrasen ein praktisches Handbuch für den täglichen Gebrauch sein und Hitler niemals davon abweichen sollte
In der Folge gewann man in London sogar die Überzeugung, daß die Warnungen Englands vor britischer Intervention im Falle eines deutschen Angriffs eine gewisse Wirkung auf Hitler erzielt hätten, daß ihre ständige Wiederholung mehr Schaden als Nutzen stiften und jedenfalls eine friedliche Lösung des Konflikts nicht fördern würde !
An dem Ernst des britischen Angebots im Sinne „vollwertiger weltpolitischer, Partnerschaft", wie der deutsche Botschafter bemerkt
Englands Politik in der Schlußphase Auch in den letzten Wochen der Krise blieb England bestrebt, die Grenze zwischen Festigkeit und Drohung ebensowenig zu überschreiten wie diejenige zwischen der Bereitschaft zum Entgegenkommen und dem Anschein von Schwäche. Am 18. August überzeugte sich der Botschafter Henderson davon, daß Hitler mit keinem oder doch keinem ernstlichen Eingreifen Englands rechnete
„Hendersons Rat in diesem Punkt ist nach meiner Auffassung inkonsequent. Einerseits mißbilligt er alles, was den 21. Mai 1938 wiederholen würde, und gleichzeitig empfiehlt er Ironside, was, wie ich glaube, bestimmt jene Wirkung hätte . . . Wir haben heute nachmittag an Henderson telegrafiert, um sein wohlerwogenes Urteil über diese beiden Möglichkeiten zu erbitten. Wenn er aber nicht sehr starke Gründe dagegen vorbringt, so geht mein eigenes Urteil ziemlidt klar dahin, daß der Sdiritt durdt einen persönlidten Brief von Ihnen namens der britischen Regierung an Hitler erfolgt.
Ich möchte annehmen, daß so die etwaige Wirkung im Sinne einer Klärung der Lage nicht den Nachteil der Öffentlid-tkeit und der angeblichen Einsdiüchterung hätte.“
Man entschied sich denn auch für ein warnendes Schreiben Chamberlains, das am 23. August Hitler überreicht wurde und bereits auf die Nachricht vom bevorstehenden Abschluß des deutsch-russischen Paktes Bezug nehmen konnte. Chamberlain bemerkte darin, „daß anscheinend die Ankündigung eines deutsch-sowjetisdten Abkommens in gewissen Kreisen in Berlin als Anzeidten dafür aufgefaßt wird, daß eine Intervention seitens Großbritanniens zugunsten Polens nicht mehr eine Eventualität darstellt, mit der zu rechnen notwendig ist. Kein größerer Fehler könnte begangen werden. Welcher Art auch immer das deutsch-sowjetisdte Abkommen sein wird, so kann es nicht Großbritanniens Verpflidttung gegenüber Polen ändern, die'Seiner Majestät Regierung wiederholt öffentlich und klar dargelegt hat, und sie entschlossen ist, zu erfüllen
Es lag denn auch weder an zu großer Intransigenz noch an zu weitgehendem Entgegenkommen Englands, wenn diese Warnung ebenso-wenig eine bleibende Wirkung auf Hitler erzielte, wie der Abschluß des britisch-polnischen Bündnisses selbst an dem berühmten 25. August. Bereits eine Woche zuvor hatte sich England dem Rat Hendersons entsprechend in Warschau um die Einleitung direkter deutsch-polnischer Verhandlungen bemüht
Mentalität der Polen. Wenn Zusagen Englands gegeben würden, wäre Polen viel frecher. Abgehörte Gespräche!
Führer hat Sorge, daß England ihm den endgültigen Abschluß iw letzten Augenblick durch Angebote erschwert.“
So diente die britische Haltung gegenüber Polen Hitler geradezu als Beweis für die Richtigkeit seiner Auffassung, daß England nicht intervenieren werde! Später hat er die ihm unerwartete Beteiligung Englands am Kriege mit den Indiskretionen erklärt, die Italien Ende August über seine beabsichtigte Neutralität nach London gelangen ließ
Was die Frage einer Auswirkung der deutschen Opposition auf den Kurs der britischen Politik in diesen letzten Monaten vor Kriegsbeginn betrifft, so ist von jener Opposition in den britischen Akten an sich schon viel weniger die Rede als in der Zeit vorher und gar im Jahre 1938. Wir sahen bereits, daß dies seinen Hauptgrund in der eingetretenen Lähmung des Widerstandes hat. Auch konnten die isolierten Versuche Einzelner, England zu einer womöglich noch deutlicheren Bekundung seiner Interventionsbereitschaft zu veranlassen, dieses nicht über seine feste, aber verhandlungsgeneigte Haltung hinausdrängen. Weder dramatisierte Mitteilungen über die Rede Hitlers vor den Generalen auf dem Obersalzberg vom 22. August
Die vielberufene Äußerung Chamberlains
Und nun zu der eingangs zitierten Bemerkung Chamberlains vom 10. September 1939. Sie lautet im ganzen: „Solange der Krieg noch zu verhüten war, hatte ich das Gefühl, ich sei unersetzlich, denn niemand konnte meine Politik ausführen. Heute hat sich die Lage geändert. Ein halbes Dutzend Leute könnten meinen Platz einnehwen, jetzt wo der Krieg im Gange ist, und ich sehe keine besondere Rolle, die ich spielen könnte, bis es zur Erörterung von Friedensbedingungen kommt. Und bis dahin ist es vielleicht ein langer Weg.
Vielleicht, doch ich habe das Gefühl, daß es nicht so sehr lange dauern wird, es herrscht ein so weitverbreitetes Verlangen, Krieg zu vermeiden, und es ist so tief verwurzelt, daß es bestimmt irgendwie Ausdruck finden muß. Die Schwierigkeit liegt natürlich bei Hitler selbst. Bis er verschwindet und sein System zusammenbricht, kann es keinen Frieden geben. Aber was ich erhoffe, ist nicht ein militärischer Sieg — ich bezweifle seine Erreichbarkeit sehr —, sondern ein Zusammenbruch der deutschen inneren Front. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die Deutschen zu überzeugen, daß sie nicht gewinnen können. Und die USA könnten im richtigen Augenblich dabei helfen.
Nach dieser Theorie muß man jede Handlung im Lichte ihrer wahrscheinlichen Wirkung auf die deutsche Mentalität abwägen.“
Jetzt also, nach der Entfesselung des Krieges mit all seinen Schrekken, setzt Chamberlain in seinem sichtlichen Wunsch nach möglichst baldigem Ende des Kämpfens seine Hoffnung, statt auf die notwendig langwierige und für die Westmächte allein schwierige Niederwerfung Deutschlands, auf die allmähliche Einsicht des deutschen Volkes, den Waffengang niemals siegreich beenden zu können. Diese Einsicht und der immanente Zwiespalt zwischen Diktator und Volk in totalitären Staaten sollen, so hofft und wünscht er, zum Sturz Hitlers führen. Aus der von Chamberlain nach einmal entfesseltem Kriege geäußerten Hoffnung auf einen inneren Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes aber zu folgern, er habe im Hinblick auf die Existenz der deutschen Opposition und ihre Kontakte mit England nicht sein Äußerstes zu Verhinderung des Krieges getan — wie Ribbentrop ihm vorzuwerfen wagt
„Die Fühlungnahmen mit Hitler und Göring sahen zeitweilig ganz vielversprechend aus, aber es kam schließlich zu nichts, da Hitler augenscheinlich von der Vorstellung ergriffen wurde, es gäbe nur einen kurzen Krieg in Polen und dann einen Friedensschluß. Die Fühlungnahmen erweckten den Eindruck, daß es möglich sei, Hitler für eine friedliche und vernünftige Lösung der polnischen Frage zu gewinnen, um zu einer englisch-deutschen Verständigung zu gelangen, welcher, wie er fortwährend erklärte, sein größter Ehrgeiz gelte.
Was geschah, das diese Chance zerstörte? Sprach Hitler nur ins Blaue hinein, um uns vorsätzlich zu täuschen und inzwischen seine Pläne reifen zu lassen? Ich glaube nicht. Es ist gut bezeugt, daß tat- sädtlidt ant 25. August Augriffsbefehle gegeben und dann iw letzten Augenblick rückgängig gewacht wurden, weil Hitler schwankte. Bei einem so außergewöhnlichen Geschöpf kann man nur spekulieren.
Aber ich glaube, daß er ernstlich eine Verständigung mit uns erwog und daß er ernstlidt an Vorschlägen
Diese für Chamberlain so unendlich bezeichnenden Worte zeigen, daß er selbst jetzt noch nicht Hitlers rein taktisches Manöver des „ 16-Punkte-Vorschlags" zur Lösung der Korridorfrage
Ergebnis Unsere Untersuchung führt somit notwendig zu dem Ergebnis: Allein die aggressiv-hegemoniale Tendenz, die in der Politik Hitlers, zumal in seinen Methoden, für die britischen Staatsmänner zum Ausdrude kam, hat ihren Kurs von der Beseitigung der Resttschechei über die Polen-Garantie vom 31. März bis zur Kriegserklärung an Deutschland vom 3. September 1939 bestimmt. Der gewählte Kurs schloß eine allgemeine deutsch-britische Verständigung unter der Voraussetzung gemäßigter Forderungen Hitlers in der polnischen Frage sowie eine positive Einstellung Großbritanniens zu diesen nicht aus. Allerdings hat England im ganzen nicht mehr den gleichen Drude auf Polen geübt wie im Vorjahre auf die Tschechoslowakei — wofür-im wesentlichen ebenfalls die Politik Hitlers in der Vergangenheit sowie die von Natur und auf Grund der Ereignisse weniger beeinflußbare Haltung Polens selbst ursächlich waren. Auf der anderen Seite beweist die praktische Politik Großbritanniens sowohl wie ihr dokumentarischer Niederschlag eindeutig, daß Existenz und Bestrebungen der deutschen Opposition den britischen Staatsmännern zwar bekannt gewesen sind, in ihren Augen jedoch keinen Faktor von nennenswerter Bedeutung für ihre politischen Entscheidungen dargestellt, geschweige denn sie zur Erteilung der Garantie für Polen oder zur Kriegserklärung an das nationalsozialistische Deutschland „ermutigt“ haben. Angesichts der klaren Sprache der so reichlich verfügbaren Dokumente ist man versucht, Apologeten, Amateur-und Tendenzhistorikern das Wort G. M. Trevelyans entgegenzuhalten:
„Die Wirkung, die eine zu geringe Dosis Geschichte haben kann, ist so fürditerlidi, daß man alles daran setzen sollte, so bald wie möglich mehr gesdhiichtliche Kenntnisse zu schaffen.“
Das Gebot des Gewissens Um Mißverständnisse über Sinn und Zweck meiner Untersuchung von vornherein zu vermeiden, habe ich eingangs betont, daß ein positives oder negatives Urteil über die deutsche Widerstandsbewegung gegen Hitler gänzlich unabhängig davon ist, ob ihr Vorhandensein und ihr Handeln Großbritannien im Jahre 1939 zur Kriegserklärung an Deutschland ermutigt haben oder nicht. Denn nicht aus blinder Leidenschaft, nicht in vorschneller Mißachtung übernommener Pflichten und gewiß nicht nach flacher Willkür und bloßem Belieben haben sich Männer mit überragender Möglichkeit des Einblicks in Tendenzen und Handlungen ihrer Regierung vor und nach 1939 gegen diese aufgelehnt, nein: unter einem unausweichlichen Gewissensdruck — auf Grund einer ganz außergewöhnlichen Situation! Diese Situation aber haben nicht die Männer des Widerstandes, sondern hat die damalige Staatsführung heraufbeschworen und zu verantworten. Jede Autokratie birgt von vornherein eine potenzierte Gefahr in sich, durch ihr Handeln mit den Interessen der Gesamtheit ihres Volkes in Widerstreit zu geraten, die zu vertreten sie für sich in Anspruch nimmt. Nur zu leicht gerät durch den Alleinherrscher (um ein konkretes Urteil Rankes ins Grundsätzliche zu wenden) in dessen Politik „ein persönliches Moment" hinein, „das von der Notwendigkeit des Staates nicht durchaus abhängt“
Als Hitler im Sommer 1938 in der Sudetenfrage auf einen Weltkrieg hinsteuerte, da steigerte sich jenes Empfinden Becks zur Gewißheit und ließ ihn an das fachliche und staatspolitische Wissen und Gewissen seiner militärischen Mitführer appellieren mit den berühmten Worten:
„Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet. Es ist ein Mangel an Größe und an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung in solchen Zeiten seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten Rahmen seiner militärischen Aufträge sieht, ohne sich der höchsten Verantwortung vor dem gesamten Volk bewußt zu werden.“
Und wie sich für Beck mit der Wahrnahme des nationalen Anliegens nun sogleich das Postulat einer Wiederherstellung der Rechtsordnung und des Kirchenfriedens praktisch verband
In diese Spannungen und Konflikte aber hat der Nationalsozialismus, lange vor seinen größten Verbrechen, ein ganzes Volk getrieben. Denn er beschränkte sich ja nicht auf die Rolle eines politischen Faktors im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern beanspruchte mit allen Mitteln offenen und latenten Terrors eine Diktatur auch über die Gewissen. Nach einer Formulierung von maßgebender Seite löste er Rasse. Volk und Staat, ja die Träger der Staatsgewalt selbst, „aus der irdischen Wertskala heraus, machte sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte“
ANHANG Die Warnung eines Widerstandskämpfers Auszug aus einer Aufzeichnung von Dr. Albrecht Haushofer
Streng vertraulich 26. Juni 1938 Zur persönlichen Verfügung des Reichsaußenministers
England Juni 1938 . . . Da England durch einen Krieg nur zu verlieren, nicht zu gewinnen hat, muß ein zu führender Krieg von Volk und Regierung als unvermeidlich empfunden werden. Noch hat man die Suche nach der Möglichkeit eines echten Ausgleichs mit Deutschland (etwa auf der Basis: Deutsche Führung (nicht Eroberung!) Südosteuropas, Grenzrevisionen durch Abstimmung, westafrikanische Kolonien; Viermächtepakt, Rüstungsbegrenzung nicht aufgegeben. Ein gewisses Maß deutsch-freundlicher Stimmung ist im englischen Volk noch nicht verschwunden; die Regierung Chamberlain-Halifax sieht ihre persönliche Zukunft aufs stärkste verknüpft mit dem Gelingen eines echten Ausgleichs mit Rom und Berlin (und mit dem Hinausdrängen des Sowjet-Einflusses aus Eropa: deshalb die sonst unverständliche Haltung in der spanischen Bombardements-Frage: Chamberlain wünscht, daß Franco siege, und zwar schnell?).
Aber der Glaube an die Möglichkeit einer Verständigung zwischen England und Deutschland ist in raschem Schwinden. Hinter dem volksdeutschen Programm des Nationalsozialismus (mit dem man sich weitgehend abgefunden hat) wittert man einen neuen Imperialismus.
Hier gewinnt die tschechische Frage die Bedeutung des entscheidenden Probefalls.
Regierung und öffentliche Meinung in England sind sich klar darüber, daß der tschechische Nationalstaat in den jetzigen Grenzen derTschechoSlowakei der Vergangenheit angehört. Neutralisierung nach außen (Verzicht auf Sowjet-Bündnis!), autonome Lösung nach innen hält man für nötig, Abgliederung der Randgebiete durch Volksabstimmung für möglich, falls die Tschechen weiterhin Obstruktion treiben (daß man im Mai von den Tschechen „hereingelegt“ worden ist, hat man in London inzwischen begriffen). Aber nur unter dieser Voraussetzung: daß Deutschland gewillt sei, in der tschechischen Frage den Weg einer stufenweisen Lösung 3) in Betracht zu ziehen, hält man einen neuen Weltkrieg für vermeidbar.
Ein deutscher Versuch, die böhmisch-mährische Frage mit einem militärischen Handstreich zu lösen, würde unter den jetzigen Umständen für England (und nach englischer Meinung auch für Frankreich) den sofortigen Kriegsfall 3) bedeuten. In einem solchen Krieg hätte die britische Regierung das ganze britische Volk hinter sich. Er würde als „Kreuzzug zur Befreiung Europas vom deutschen Militarismus“ geführt werden. Man ist in London davon überzeugt, daß er mit amerikanischer Hilfe (auf deren vollen Einsatz man in Tagen und Wochen, nicht in Monaten rechnet) gewonnen werden würde — freilich um den Preis einer unberechenbaren Ausbreitung des Bolschewismus in der nicht-angelsächsischen Welt.
A. Haushofer.
* Zu dieser prophetischen Warnung Dr. Albrecht Haushofers machte Herr von Ribbentrop die einzigartige Randbemerkung: „Secret Service Propaganda“.
Anmerkung:
Dr. Phil. Helmut Krausnick, geb. 19. 2. 1905 in Wenden (Kreis Braunschweig). Studium: Geschichte, Staatswissenschaften, Philosophie. Universitäten: Breslau, Heidelberg, Berlin. Promotion 1938 in Berlin. Mitglied der Zentralstelle für Nachkriegsgeschichte Berlin 1938— 1944, Mitarbeiter des Internationalen Schulbuchinstitutes Braunschweig 1949— 51, Referent am Institut für Zeitgeschichte, München, seit 1951. Schriftleiter der „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte" seit 1953. Spezialgebiet: Bismarckzeit und Vorgeschichte der beiden Weltkriege.
David J. Dallin, der Verfasser des demnächst erscheinenden Buches „Die Sowjetspionage" bittet um die Veröffentlichung der folgenden Stellungnahme:
An die Redaktion der Zeitschrift 13. Dezember 1955 „Das Parlament"
Bonn In der Nr. 51 Ihrer Zeitschrift erschien ein Brief des Herrn Günther Weisenborn, der als Richtigstellung gegen Ausführungen in meinem Buch „Sowjetspionage" dienen soll.
In einem Kapitel in Eric H. Boehms Buch (We Survived, 1949) berichtet Herr Weisenborn (Seite 203) von Harro Schulze-Boysens „Außenfront" „which was in constant communication with foreign countries. Harro had direct contact with Russia." Weisenborn andererseits übermittelte an Schulze-Boysen Nachrichten, die er in Geheimabteilungen der Funkstelle zu erhalten pflegte. Seine Stellung in der wichtigen Behörde verdankte er auch Schulze-Boysen: „One day early in war Harro drove me to the huge building in the Reich Broadcasting Company. According to our plan I was to get a job there and within a year should be taking part in the Secret Conferences of the Corporation. How? I would to find a way. I did get a job in the Information section and after a year I was in on the secret Conferences. Thus I acquired secret material from government sources which I passed on to Harro." (Seite 195).
Diese Darstellung, die ziemlich klar ist, erschien vor 6 Jahren in einem in Amerika herausgegebenen Buch und war von Herrn Weisenborn selbst gezeichnet.
Herr Weisenborn hat sie niemals dementiert.
Im Gegenteil, seine Genugtuung und sein Stolz, daß er diese Rolle gespielt hat. treten in die Augen.
___ David J. Dallin