Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser Ausgabe die im Verlage C. Bertelsmann erschienenen „Letzten Briefe aus Stalingrad" (Das kleine Buch Nr. 60). über die Herkunft der „Letzten Briefe aus Stalingrad" ließe sich eine abenteuerliche Geschichte schreiben, die Geschichte einer überorganisierten Partei-und Kriegsbürokratie mit ihren Zensoren, Schnüfflern und Bütteln. Denn die Briefe durchliefen vom Tag ihrer Beförderung aus dem Stalingrader Kessel an alle Stationen dieser Bürokratie. Man wollte aus ihnen „die Stimmung in der Festung Stalingrad kennenlernen" und ordnete deshalb im Führerhauptquartier an, die Post zu beschlagnahmen. Die Anordnung wurde als Befehl vom Oberkommando des Heeres an die Heeresfeldpost-Prüfstelle weitergegeben. Als die letzte Maschine aus dem Kessel in Nowo-Tscherkask landete, wurden sieben Postsäcke beschlagnahmt. Das war im Januar 1943. Die Briefe wurden geöffnet, Anschrift und Absender entfernt Danach wurden sie, nach Inhalt und Tendenz geordnet, in sorgfältig verschnürten Bündeln dem Oberkommando der Wehrmacht übergeben. Die statistische Erfassung der „Stimmung" besorgte die Heeresinformations-Abteilung und teilte sie in fünf Gruppen ein. Es ergab sich folgendes Bild: A. Positiv zur Kriegführung 2, 1 °/o. B. Zweifelnd 4, 4 °/o. C. Ungläubig, ablehnend 57, 1’/o. D. Oppositionell 3, 4 °/o. E. Ohne Stellungnahme, indifferent 33, 0 °/o.
Nach der statistischen Erfassung und Kenntnisnahme gelangten die Briefe mit den übrigen Dokumenten über Stalingrad, mit Führeranweisungen, Befehlen, Funksprüchen und Meldungen — im ganzen etwa zehn Zentner Material—, in die Obhut eines PK-Mannes, der beauftragt worden war, ein dokumentarisches Werk über die Schlacht an der Wolga zu schreiben. Die Oberste deutsche Kriegführung hätte sich gerne gerechtfertigt, aber die Sprache der Dokumente war eindeutig. So wurde das Buch verboten. „Untragbar für das deutsche Volk!" entschied der Propagandaminister. Danach wanderten die authentischen Abschriften der Briefe in das Heeresarchiv Potsdam, wo sie wenige Tage vor der Einnahme Berlins in Sicherheit gebracht und in unsere Tage herübergerettet wurden.
I ... In nichts hat sich mein Leben geändert, es ist wie vor zehn Jahren von den Sternen gesegnet, von den Menschen gemieden. Ich hatte keine Freunde, und Du weißt, warum sie nichts mit mir zu tun haben wollten. Idi war froh, wenn ich am Fernrohr saß und den Himmel und die Sternenwelt betrachtete, und glücklich wie ein Kind, das mit den Sternen spielen darf.
Du warst mein bester Freund, Monika. Du hast Didi nicht verlesen, Du warst es. Die Zeit ist zu ernst, um Scherze zu machen. Dieser Brief wird 14 Tage gebrauchen, um zu Dir zu kommen. Bis dahin wirst Du es schon in der Zeitung gelesen haben, was sich hier abgespielt hat. Denk nicht zu viel darüber nach, es wird in Wirklichkeit ganz anders ausgehen, und laß die Klarstellung Sorge anderer Menschen sein. Was gehen sie Dich und midi an? Ich dachte immer nur in Lichtjahren und empfand in Sekunden. Auch hier habe ich viel mit dem Wetter zu tun. Wir sind zu viert, und wenn es so weiterging, ganz zufrieden. Die Tätigkeit selbst ist einfach. Das Messen von Temperaturen und Luftfeuchtigkeit, Angaben über Wolkenhöhe und Sicht sind unsere Aufgabe. Wenn das so ein Bürokrat lesen wüide, was ich so schreibe, dann gingen ihm seine Augen über... die Verletzung des Dienstgeheimnisses. Monika, was ist unser Leben im Vergleich zu den Jahrmillionen des gestirnten Himmels! Über meinem Haupte stehen in dieser schönen Nacht Andromeda und Pegasus. Ich habe ihnen lange zugeschaut, bald werde ich ihnen sehr nahe sein. Meine Zufriedenheit und Ausgeglichenheit verdanke ich den Sternen, unter denen Du für mich der schönste bist. Die Sterne sind unsterblich, und des Menschen Leben ist wie ein Stäubchen im All.
Ringsherum bricht alles zusammen, eine ganze Armee stirbt, der Tag und die Nacht brennen, und vier Menschen sind damit beschäftigt, Temperatur und Wolkenhöhe täglich weiterzugeben. Ich verstehe nicht viel vom Krieg. Von meiner Hand ist kein Mensch gefallen. Ich habe noch nicht einmal mit meiner Pistole scharf geschossen. Aber so viel weiß ich, daß die Gegenseite eine solche Verständnislosigkeit nicht aufbringt. Ich hätte gern noch ein paar Jahrzehnte Sterne gezählt, aber damit wird es wohl nun nichts mehr werden. 2 ... Ich habe Dein Bild noch einmal zur Hand genommen und es lange betrachtet. In meiner Erinnerung steht das gemeinsame Erlebnis an dem schönen Sommerabend des letzten Friedensjahres, als wir durch das Blütental unserem Hause zugingen. Als wir uns zum erstenmal fanden, sprach aus uns nur die Stimme der Herzen, später die Stimme der Liebe und die des Glückes. Wir sprachen von uns und von der Zukunft, die wie ein farbenfroher Teppich vor uns lag.
Dieser farbenfrohe Teppich ist nicht mehr. Der Sommerabend ist nicht mehr und auch nicht das Blütental. Lind wir sind nicht mehr zusammen. An die Stelle des bunten Teppichs ist ein endloses weißes Feld getreten, es ist kein Sommer mehr, sondern Winter, und es gibt keine Zukunft mehr, wenigstens nicht für mich, damit zwangsläufig auch nicht für Dich. Ich habe die ganze Zeit ein unerklärliches Gefühl gehabt und wußte nicht, was es war, aber heute weiß ich es, daß es die Angst um Didi gewesen ist. Ich empfand über die vielen tausend Kilometer, wie Du ähnlich zu mir standest. Wenn Du diesen Brief erhältst, dann lausche tief in ihn hinein, vielleicht hörst Du dann dabei meine Stimme. Man sagt uns, daß unser Kampf für Deutschland sei, aber es sind nur wenige hier, die glauben, daß unserer Heimat das sinnlose Opfer von Nutzen sein könnte. 3 .. . Das mußt Du Dir aus dem Kopf schlagen, Margarete, und Du mußt es bald tun. Ich möchte Dir sogar raten, es gründlich zu tun, denn um so geringer wird die Enttäuschung sein. Ich lese aus jedem Deiner Briefe den Wunsch, mich bald bei Dir zu sehen. Es ist gar nicht so verwunderlich, daß Du Dich danach sehnst. Ich warte ja auch, und zwar leidenschaftlich, auf Dich. Dieser Umstand macht mich nicht so unruhig, sondern daß im Hintergrund und zwischen den Zeilen ein Verlangen wartet, nicht nur den Mann und Geliebten, sondern den Pianisten wieder bei sich zu haben. Das spüre ich sehr deutlich. Ist es nicht eine komische Verwechslung der Gefühle, daß ich, der am glücklichsten sein müßte, sich in sein Schicksal ergeben hat, und die Frau, die allen Grund hätte dankbar zu sein, daß ich überhaupt lebe (bis jetzt noch), hadert mit dem Schicksal, das mich betroffen hat.
Ich habe oftmals den Verdacht, daß ein stiller Vorwurf gegen mich erhoben wird, als ob ich schuldig sei, nicht mehr spielen zu können. Das wolltest Du doch hören. Lind darum bohrtest Du solange in Deinen Briefen um Klarheit, die ich Dir besser und lieber persönlich gegeben hätte. Vielleicht will es das Schicksal so, daß unsere Lage hier einen Stand erreicht hat, der keine Ausreden und kein Ausweichen mehr gestattet. Ob ich noch einmal zu Dir sprechen kann, weiß ich nicht, darum ist es ganz gut, wenn diese Post in Deine Hände gelangt und Du es bereits weißt, wenn ich eines Tages auftauche. Die Hände sind hin, schon seit Anfang Dezember. An der linken fehlt der kleine Finger, noch schlimmer ist es, daß an der rechten Hand die drei mittleren Finger erfroren sind. Idi kann den Trinkbecher nur mit dem Daumen und kleinen Finger halten. Ich bin ziemlich hilflos, und man merkt es erst, wenn einem die Finger fehlen, wie sehr man sie bei den kleinsten Verrichtungen gebraucht. Am besten kann ich noch schießen mit dem kleinen Finger. Die Hände sind hin. Ich kann doch nicht mein ganzes Leben schießen, wenn ich zu etwas anderem nicht mehr zu gebrauchen bin. Ob es vielleicht zum Förster langt? Das ist Galgenhumor. Lind ich schreibe es auch nur, um mich zu beruhigen.
Kurt Hahnke, mir ist so, Du kennst ihn aus dem Kollegium aus 37, hat auf einem Flügel in einer kleinen Seitenstraße am Roten Platz vor acht Tagen die Appassionata gespielt. So was erlebt man nicht alle Tage, direkt auf der Straße stand der Flügel. Das Haus ist gesprengt worden, aber das Instrument haben sie wohl aus Mitleid vorher herausgeholt und auf die Straße gestellt. Jeder Landser, der vorbeikam, hat drauf rumgehämmert, und ich frage Dich, wo stehen auch sonst Klaviere auf der Straße. Idi habe es schon geschrieben; am 4. Januar hat Kurt unerhört gespielt, er wird bald in der vordersten Front stehen.
Entschuldige, jetzt habe ich schon für „Reihe“ das Wort „Front gebraucht, so sehr hat der Krieg Einfluß auf alle um uns herum. Wenn der Junge heimkommt, werden wir bald viel Rühmenswertes von ihm hören. Ich werde diese Stunden bestimmt nicht wieder vergessen. Dafür sorgen schon die Art und der Rahmen des Publikums. Schade, daß ich kein Schriftsteller bin, um das in Worte zu kleiden, wie die hundert Landser in ihren Mänteln hier herumhockten, mit Decken über dem Kopf; überall bummerte es, aber keiner ließ sich stören, sie hörten Beethoven in Stalingrad, auch wenn sie ihn nicht verstanden. Ist Dir nun wohler, da Du die volle Wahrheit weißt? 4 . . . Bleiben Sie mir doch mit Ihren gutgemeinten Ratschlägen vom Halse. Wissen Sie denn nicht, in welche Situation Sie midi bringen? Was sind das für Worte! Ihr hättet es nicht getan, Ihr wüßtet, wie es zu machen wäre! Das hätte man so machen müssen! Was heißt das? Sie wissen, daß ich Ihrer Ansicht bin und daß wir darüber mehr gesprochen haben als gut war; aber das kann man doch nicht schreiben. Halten Sie denn die anderen für Idioten?
Wenn ich jetzt schreibe, dann weiß ich, daß mir ja nichts passieren kann, und ich ließ wohlweislich den Absender weg, und Sie werden diesen Brief ja auf dem bekannten Wege erhalten. Selbst wenn man wüßte, wer dieses Papier beschrieb, dann wäre ich in keinem Ort sicherer als in Stalingrad. Es ist so leicht zu sagen: Lege die Waffen nieder. Meinen Sic, daß die Russen uns schonen werden? Sie sind doch ein kluger Mensch, warum fordern Sie dann nicht auch, daß Ihre Freunde die Herstellung von Munition und Kriegsausrüstung verweigern sollen.
Es ist leicht, gute Ratschläge zu erteilen; aber so geht das nicht, wie Sie sich das denken. Völkerbefreiung, Linsinn. Die Völker bleiben die gleichen, ihre Herrschaft wird wechseln, und die Außenstehenden werden immer wieder damit argumentieren, das Volk von der jeweiligen Herrschaft zu befreien. 32 wäre es an der Zeit gewesen zu handeln, das wissen Sie doch sehr gut. Und daß dieser Moment verpaßt wurde, auch. Vor zehn Jahren ging es noch mit dem Stimmzettel, heute kostet es die Kleinigkeit Leben. 5 . . . Hannes hat mich heute morgen auf dem Gefechtsstand dazu überredet, doch an Dich zu schreiben. Ich habe mich seit einer Woche um diesen Brief herumgedrückt und immer gedacht, daß die Ungewißheit zwar qualvoll sei, aber immer noch einen Hoffnungsschimmer enthalte. So dachte ich auch über den Ausgang meines eigenen Schicksals nach und nahm täglich die Ungewißheit unserer Lage, die zwischen Hilfe und Untergang schwebte, mit in den Schlaf. Und ich bemühte mich auch nicht, das Zweifelhafte endgültig zu klären. Vielleicht aus Feigheit. Idi hätte dreimal unter der Erde liegen können, aber das wäre dann immer unvorbereitet gewesen, urplötzlich und überraschend. Jetzt ist es anders geworden, seit heute morgen weiß ich Bescheid, und weil mir so freier ist, sollst Du auch von der bangen Ungewißheit befreit sein.
Ich war entsetzt, als ich die Karte sah. Wir sind ganz allein, ohne Hilfe von außen. Hitler hat uns sitzenlassen. Dieser Brief geht noch ab, wenn der Flugplatz noch in unserem Besitz ist. Wir liegen im Norden der Stadt. Die Männer meiner Batterie ahnen es auch, aber sie wissen es nicht so genau wie ich. So also sieht das Ende aus. In Gefangenschaft gehen Hannes und ich nicht, ich habe gestern vier Mann gesehen, die von den Russen gefangengenommen waren, nachdem unsere Infanterie wieder den Stützpunkt genommen hatte. Nein, in Gefangenschaft gehen wir nicht. Wenn Stalingrad gefallen ist, wirst Du es hören und lesen, und Du weißt dann, daß ich nicht wiederkehre. 6 ... es hat überhaupt keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen, und ich würde bestimmt einen Weg finden, wenn es einen gäbe. Ich habe selbstverständlich alles versucht, aus dieser Falle zu entschlüpfen, aber es gibt nur zwei Richtungen: in den Himmel oder nach Sibirien. Abwarten ist das beste, weil das andere, wie schon gesagt, keinen Zw'eck hat. In der Heimat werden sich einige Herren die Hände reiben, daß sie ihre Stühle und Sessel behalten können, und in mancher Zeitung werden schöne, hochtönende Worte stehen mit einem dicken schwarzen Rand. Sie werden uns immer in Ehren halten. Laß Dich nicht einwickeln von dem dämlichen Geschrei. Ich könnte vor Wut alles zerschlagen, aber so hilflos bin ich noch nie gewesen.
Eins sage ich mir nur immer: Bleib gesund, dann wirst du auch die schwersten Zeiten überstehen. Gesundheit ist Voraussetzung für eine Heimkehr, ich will auf meinen Stuhl in der Heimat nicht verzichten. Wenn Du mit den Kollegen zusammenkommst, dann sag es ihnen so, wie es geschrieben steht. Je höher man auf einem Stuhl sitzt, um so tiefer kann man fallen. .. . Du bist die Frau eines deutschen Offiziers, und darum wirst Du, was ich Dir zu sagen habe, aufrecht und standhaft hinnehmen, genau so aufrecht, wie Du an dem Tage auf dem Bahnsteig standest, an dem ich zum Osten fuhr. Ich bin kein Briefschreiber und mehr wie eine Seite lang sind meine Briefe nie gewesen. Heute hätte ich Dir noch vieles zu sagen, aber das hebe ich mir auf bis später. Später, d. h. in sechs Wochen, wenn alles gut geht, und in hundert Jahren, wenn es nicht gut geht. Lind damit mußt Du rechnen. Geht es gut, dann werden wir lange Zeit davon sprechen können, und warum soll ich dann den Versuch machen, so viel zu schreiben, wie ich gar nicht kann. Geht es nicht gut aus, dann werden die Worte auch nicht viel ausrichten.
Du weißt, wie ich zu Dir stehe, Augusta; über unsere Gefühle haben wir wenig oder gar nicht gesprochen; ich liebe Dich sehr und Du liebst mich, und darum sollst Du die Wahrheit wissen. Sie steht in diesem Briefe. Die Wahrheit ist das Wissen um den schwersten Kampf in hoffnungsloser Lage. Elend, Hunger, Kälte, Entsagung, Zweifel, Verzweiflung und entsetzliches Sterben. Mehr sage ich darüber nicht. Im Urlaub habe ich auch nicht darüber gesprochen, in meinen Briefen stand nichts darüber. Wenn wir zusammen waren, damit meine ich auch brieflich, waren wir Mann und Frau, und der Krieg war eine, wenn auch notwendige, häßliche Begleiterscheinung unseres Lebens. Die Wahrheit ist aber auch das Wissen, daß dieses Vorstehende kein Jammer und keine Klage ist, sondern eine sachliche Feststellung.
Meine persönliche Schuld an den Dingen ist nicht abzuleugnen. Aber sie steht im Verhältnis wie 1 zu 70 Millionen, das Verhältnis ist klein, aber es ist da. Idi denke nicht daran, mich um die Verantwortung herumzudrücken, und ich argumentiere so, daß ich durch die Hingabe meines Lebens die Schuld beglichen habe. Über Ehrenfragen läßt sich nicht streiten.
Augusta, in der Stunde, in der Du stark sein mußt, wirst Du es fühlen. Sei nicht verbittert und leide nicht zu sehr unter meiner Abwesenheit. Ich bin nicht feige, sondern nur traurig, daß ich keinen größeren Beweis meiner Tapferkeit abgeben kann, als für diese nutzlose Sache, um nicht von Verbrechen zu sprechen, zu sterben. Du kennst den Wahlspruch derer von H . . . : „Schuld erkannt, Schuld gesühnt.“
Vergiß mich nicht so schnell. 8 . . . Nun schreibe ich wieder ein Brieflein, obschon ich gestern einen Brief geschrieben habe und noch einen zweiten an Hans Müller. Du kannst Didi nicht beklagen, daß ich keine Post geschickt habe. Ein Kamerad nimmt diesen Brief mit. Ich gratuliere herzlich der Großmutter zu ihrem 74. Geburtstage, und ich bedauere, daß ich nicht bei ihr Kuchen essen kann. Gibt es alles zum Kuchenbacken? Wir haben keinen Kuchen, doch wenn wir erst raus sind, gibt es wieder alles; so lange wird der Gürtel eben enger gezogen. Gehe zur Sparkasse, hole fünfzig Mark ab und kaufe ein Geschenk für Großmutter, sie soll sich tüchtig freuen. Bergers haben sicher noch Kaffee, ihr Mann ist doch in der Hafen-verwaltung. Wenn die welchen haben, geben sie ihn Dir bestimmt. Du mußt eben sagen, daß es für den Geburtstag ist. Ich habe Bergers auch schon viele Gefallen getan.
Ich schreibe lauter Blödsinn. Aber besser Blödsinn als gar keine Post. Lind man kann nie wissen, ob nicht eine Kugel bereits gegossen ist. Habe bloß keine Angst um uns. Wir kommen bestimmt raus und fahren dann alle erst vier Wochen auf Urlaub. Es ist jetzt hier sehr kalt, liegt dort auch Schnee? Wir brauchen hier nicht zu streuen, jeder muß aufpassen, daß er nicht fällt. 9 . . . Um mich herum ist alles verworren, so daß ich nicht weiß, wie ich anfangen soll. Wird es nicht besser sein, das Ende an den Anfang zu stellen?
Liebste Änne, Du wirst sicher erstaunt sein, einen verhältnismäßig komischen Brief zu erhalten, aber wenn Du genau hinsiehst, dann ist der Brief gar nicht komisch. Du sähest in mir früher immer einen Philister, und ich muß Dir insoweit recht geben, wenn ich mir z. B. das Frühstücksbrot in die Tasche packte. Zwei Scheiben lagen links, zwei Scheiben rechts, darauf packte ich die Äpfel und darüber die Thermosflasche. Die Flasche mußte quer auf den Äpfeln liegen, damit die Butter auf dem Brot nicht weich wurde. Es war eine — wie sagte Onkel Herbert immer? — besinnliche Zeit. Heute bin ich keine Philister mehr. Du müßtest sehen, wie ich zur „Arbeitsstätte“ gehe. Es ist mollig warm in unserem Bunker. Wir haben einige Autos abgewrackt und in den Ofen transportiert, das darf keiner wissen, aber hier gibt es ganz andere Sorgen.
Meine „Arbeitsstätte“ liegt gleich nebenan. Ich schrieb Dir das schon vor einigen Tagen. Sie ist ein Bunker, in dem kurz vorher ein Hauptmann gewohnt hat. Nun erzähle ich Dir lang und breit, wie es hier aussieht, und möchte was ganz anderes schreiben. Ich möchte es auch wieder nicht, aber es ist empfehlenswert und auch von Wichtigkeit, wenn ich es doch tue. Idi will Dir keine unnötige Angst verursachen, es soll ganz mulmig sein. Man hört es von allen Seiten. Wir liegen in der tiefsten Etappe, ab und zu ist ein Schuß zu hören; wenn das nicht wäre, würden wir an den Krieg direkt gar nicht erinnert. Soowie es jetzt ist, könnte ich es hundert Jahre aushalten. Aber ohne Dich nicht. So lange wird es auch gar nicht dauern, wir rechnen jeden Tag damit, daß wir hier rauskommen. Diese Hoffnung steht im Gegensatz zu dem Gemurmel.
Sieben Wochen ist die Armee jetzt eingeschlossen, und noch mal sieben Wochen kann es nicht dauern. Mein Urlaub war schon im September fällig, aber da ging es nicht, und ich habe mich mit den anderen Kameraden getröstet, die auch den LIrlaub in den Schornstein schrieben. Ende Januar soll ein Drittel von hier nach Hause fahren, ist gestern morgen gesagt worden. Der Spieß von der Stabskompanie will es mitgehört haben. Es kann noch ein paar Tage länger dauern, und richtig weiß hier keiner, was eigentlich gespielt wird. Acht Monate war ich nicht bei Dir, und nun kommt es auf die paar Tage auch nicht an. Idi kann Dir leider nicht viel mitbringen, aber ich will sehen, was sich in Lemberg machen läßt. Ich freue mich schon auf einen richtigen Llrlaubstag, und noch viel mehr freue ich mich auf Dich und die Mutter. Wenn ich telegraphiere, dann benachrichtige sofort Onkel Herbert. Es ist schön, sich auf etwas zu freuen, und von dieser Freude lebe ich seit gestern morgen ganz besonders und mache jeden Tag einen Strich im Kalender. Jeder Stridi bedeutet, daß ich einen Tag näher an Euch heran bin. 10 . . . Du bist mein Zeuge, daß ich mich immer gesträubt habe, weil ich Angst vor dem Osten hatte, vor dem Kriege überhaupt. Ich war nie Soldat, immer nur uniformiert. Was habe ich davon? Was haben die anderen davon, die sich nicht gesträubt haben und keine Angst hatten? Ja, was haben wir davon? Wir, die Statisterie des leibhaftigen Unsinns? Was haben wir vom Heldentod? Ich habe den Tod ein paar dutzendmal auf der Bühne gespielt, aber nur gespielt, und ihr saßt im Plüschsessel davor, und mein Spielen vom Tode erschien Euch echt und wahr. Es ist erschütternd zu erkennen, wie wenig das Spiel mit dein Tode zu tun hatte.
Der Tod mußte immer heroisch sein, begeisternd, mitreißend, für eine große Sache und aus Überzeugung. Und was ist es in Wirklichkeit hier? Ein Verrecken, Verhungern, Erfrieren, nichts weiter wie eine biologische Tatsache, wie Essen und Trinken. Sic fallen wie die Fliegen, und keiner kümmert sich darum und begräbt sie. Ohne Arme und Beine und ohne Augen, mit zerrissenen Bäuchen liegen sie überall herum. Man sollte davon einen Film drehen, um den „schönsten Tod der Welt“ unmöglich zu machen. Es ist ein viehisches Sterben, das später einmal auf Sockeln aus Granit mit „sterbenden Kriegern", die Binde um den Kopf oder den Arm, veredelt wird.
Hymnen, Romane und Weihgesänge werden geschrieben und ertönen. Lind in den Kirchen wird man Messen lesen. Ich mache das nicht mehr mit, denn ich habe keine Lust, in einem Massengrabc zu verfaulen. An Professor H . . . schrieb ich Ähnliches. Du und er werdet von mir wieder hören. Wundert Euch nicht, wenn es eine Zeitlang dauert, denn ich habe beschlossen, mein Schicksal in meine eigenen Hände zu nehmen. 11 . . . Heute haben O. und ich einen wunderschönen, ruhigen Abend. Alles sitzt mal drüben und nicht hier. Der Russe ist ruhig, und wir konnten zeitig Schluß machen. Eine gute Pulle Cordon Rouge machte in aller Ruhe am Abend besonders gemütlich.
Ich las in Kriegstagebuch-Notizen von Binding und anderem. Wie unerhört fein klingt doch besonders bei diesem Mann wieder, was hier draußen so einen bewegt und berührt. Alles Unsachliche und Nebensächliche entfällt. Nur das wirklich Entscheidende strahlt aus seinem Geist, in seinen Worten.
Wir versprachen uns jetzt nichts von großen Entschlüssen, die . . . oben wohl mal gefaßt werden müßten. Ob die schnell laufende Zeit diese Entschlüsse nicht überholt, kann natürlich keiner sagen! Doch für uns ist das einzige, was es zu hoffen gibt. Es wurde bisher nur mit fürchterlicher Heftigkeit um die Höhe X. in und außerhalb der Stadt gekämpft. Generale und Obersten liebäugelten mit der Möglichkeit, daß ausgerechnet diese Höhe X. Weltgeschichtliches bedeuten könne! Lind nicht nur Generale!
Täglich wurden einige Stellungen gestürmt, täglich wird der Feind — oder werden wir, je nachdem wer darin sitzt — hinausgeworfen! Daß man es nur nehmen sollte, wenn man es auch halten kann, zu dieser Entscheidung waren bisher weder der Feind noch wir fähig.
Im Kleinen — so kann man sagen — ist es so wie im Großen! Diese dauernde Ergebnislosigkeit fordert eine kaum aufbringende Indolenz oder eine Ausdauer, die, weil sie lediglich im Hinwarten besteht, aufreibt.
Nun geht es schon auf zehn. Ich will schlafen, noch so viel ich kann. Je mehr man schläft, desto weniger hat man Hunger. Und Hunger ist nicht schön — ist hart.
Alles Liebe Euch! 12 ... So nun weißt Du es, daß ich nicht wiederkomme. Bringe es unseren Eltern schonend bei. Idi bin schwer erschüttert und zweifle sehr an allem. Einst war ich gläubig und stark, jetzt bin ich klein und ungläubig. Vieles, was hier vor sich geht, werde ich nicht erfahren; aber das wenige, das ich mitmache, ist schon so viel, daß ich es nicht schlucken kann. Mir kann man nicht einreden, daß die Kameraden mit dem Worte „Deutschland“ oder „Heil Hitler“ auf den Lippen starben. Gestorben wird, das läßt sich nicht leugnen; aber das letzte Wort gilt der Mutter oder dem Menschen, den man am liebsten hat, oder nur dem Ruf nach Hilfe. Ich habe schon Hunderte fallen und sterben gesehen und viele gehörten wie ich der HJ an, aber sie haben alle, wenn sie noch konnten, um Hilfe gerufen oder nach einem Namen, der ihnen doch nicht helfen konnte.
Der Führer hat fest versprochen, uns hier herauszuhauen, das ist uns vorgelesen worden, und wir glaubten auch fest daran. Ich glaube es heute noch, weil ich doch an etwas glauben muß. Wenn das nicht wahr ist, woran sollte ich dann noch glauben? Dann brauchte ich keinen Frühling und keinen Sommer mehr und nichts mehr, was Freude macht. Laß mir diesen Glauben, liebe Greta, ich habe mein ganzes Leben oder wenigstens acht Jahre davon immer an den Führer und sein Wort geglaubt. Es ist entsetzlich, wie sie hier am Zweifeln sind, und beschämend, die Worte zu hören, gegen die man nichts sagen kann, denn die Tatsachen sprechen für sie.
Wenn es nicht wahr ist, was man uns versprach, dann wird Deutschland verloren sein, denn in diesem Fall kann kein Wort mehr gehalten werden. Oh, diese Zweifel, diese furchtbaren Zweifel, wenn sie doch bald behoben wären! 13 . . . Leider war es kein schönes Weihnachtsfest, von dem ich Dir berichten muß, aber wir hatten es recht gemütlich warm. Unsere Stellung liegt direkt an der Wolga. Wir haben Rum erwischt, er war etwas dünn, hat aber vortrefflich geschmeckt. Mein Kumpel hat von der Division etwas mitgebracht: Schinken und Sülze. Sicher hat er es aus der Küche geklaut, aber uns hat es herrlich geschmeckt, und die haben noch mehr, sonst hätte er es gar nicht klauen können. Mit Brot ist es reichlich knapp. Und darum haben wir Pfannkuchen gemacht. Mehl, Wasser und Salz, darunter Schinken in der Pfanne. Das Mehl war auch nicht auf unserem Mist gewachsen. Viermal habe ich jetzt schon Weihnachten im Kriege gefeiert, aber dieses Mal war es das traurigste Fest. Das muß alles nachgeholt werden, wenn der Krieg aus ist, und hoffentlich können wir das nächste Jahr Weihnachten zu Hause feiern.
Wir liegen seit drei Monaten in Stalingrad und sind immer noch nicht weiter. Hier ist ziemlicher Frieden, aber auf der anderen Seite, wo die Steppe ist, wird gekämpft. Die Kameraden in der Steppe sind nicht so gut dran wie wir. Aber sie haben eben Pech gehabt. Vielleicht kommen wir auch noch an die Reihe, denn sie haben viel Verluste. Aber es ist das beste, man denkt gar nicht daran. Und doch denkt man immer wieder daran, wenn man 24 Stunden nichts zu tun hat, als zu dösen, dann ziehen die Gedanken zur Heimat. Habt Ihr am Weihnachtsabend alle an mich gedacht? Ich hatte ein so komisches Gefühl, und das gibt es ja, daß man es merkt, wenn einer an uns denkt. 14 . . . Heute ist es wohl nun so weit, daß ich Dir noch einmal Grüße senden muß und auch bitte, alle Lieben zu Hause noch einmal von mir zu grüßen.
Der Russe ist überall durch. Unsere Truppen, durch die lange Hunger-'periode ohne . . . möglichkeit, seit Beginn des Einsatzes ohne einen Tag Unterbrechung in schwerstem Kampf stehend, in ihrer physischen Kraft völlig erschöpft, haben Heldenhaftes geleistet. Es ergibt sich auch keiner! Wenn Brot, Munition, Betriebsstoff und Menschen ausgehen, dann ist es für den Gegner weiß Gott kein Sieg, uns noch zu zerdrücken!
Wir sind uns klar darüber, schweren Führungsfehlern zum Opfer gefallen zu sein, auch wird die Aufreibung der Festung Stalingrad unserem Volk und Volkstum überhaupt schwersten Schaden zufügen. Aber trotzdem glauben wir noch an eine glückhafte Auferstehung unseres Volkes. Dafür werden ja Männer wahrhaften Herzens Sorge tragen! Es wird bei Euch zu Hause ganze Arbeit geleistet werden müssen, um allen Wahnwitzigen, Narren und Verbrechern das Handwerk zu legen. Und die da nach Hause kommen, werden sie wegfegen wie Spreu vor dem Wind! Wir sind preußische Offiziere und wissen, was wir zu tun haben, wenn es an uns herankommt.
Wenn ich mein Leben bisher noch einmal überschaue, so kann ich voll Dankbarkeit zurückschauen. Es ist schön gewesen, wunderschön. Es war wie das Aufsteigen auf einer Leiter, und selbst die letzte Sprosse als Krönung ist schön, ich möchte fast sagen harmonisch abschließend.
Du mußt den Eltern sagen, daß sie nicht traurig sein dürfen, sie sollen mich fröhlichen Herzens in der Erinnerung erhalten. Keinen Glorienschein, bitte, ich war nie ein Engel! Lind ich werde auch nie als ein solcher vor meinen Herrgott hintreten wollen; ich werde es können als Soldat mit einer freien, stolzen Reiterseele, als Herr! Vor dem Tod habe ich keine Angst, mein Glaube gibt mir diese schöne (Freimütigkeit?). Dafür bin ich besonders dankbar.
Gib mein Vermächtnis weiter an die, die nach uns kommen: erzieh sie zu Herren? Strenge Einfachheit des Denkens und Handelns! Keine Verzettelung!
Helft durch besondere Liebe den Eltern, den ersten Schmerz zu überwinden. Richtet mir wie Onkel X. ebenso ein schönes, schlichtes Holzkreuz auf dem Parkfriedhof.
Erhalte Sch. als Herrensitz der X. Das ist mein großer Wunsch. In meinem Schreibpult liegt ein Brief, in dem hielt ich während des letzten Urlaubs meine Wünsche fest.
So, nun wende ich mich an Euch Lieben alle. Habt nochmals Dank für alles, und Kopf hoch! Weiter vorwärts!
Ich umarme Euch alle! 15 . . . Wenn es einen Gott gibt, hast Du mir in Deinem letzten Brief geschrieben, dann bringt er Dich mir gesund und bald zurück, und Du schriebst weiter, ein Mensch wie Du, der Tiere und Blumen liebt, und niemand Unrecht tut, der sein Kind und seine Frau liebt und verehrt, wird immer im Schutze Gottes stehen.
Ich danke Dir für diese Worte, und den Brief trage ich immer im Brustbeutel bei mir. Aber, Liebste, wenn Deine Worte nun gewogen werden und Du davon die Existenz Gottes abhängig machst, dann wirst Du vor eine schwere und große Entscheidung gestellt. Ich bin ein religiöser Mensch, Du warst immer ein gläubiger, nun wird das anders werden müssen, wenn wir beide die Konsequenzen aus unserer bisherigen Haltung ziehen, weil ein Umstand eingetreten ist, der alles, an das wir glaubten, über den Haufen wirft. Ich suche noch Worten, um es Dir zu sagen. Oder ahnst Du es bereits? Ich finde, es ist ein so merkwürdiger Ton in Deinem letzten Brief vom 8. Dezember. Wir haben Mitte Januar.
Dieses ist für lange Zeit, vielleicht für immer, mein letzter Brief, und von einem Kameraden, der zum Flugplatz muß, wird er mitgenommen, denn morgen soll die letzte Maschine aus dem Kessel fliegen. Die Lage ist unhaltbar geworden, der Russe steht drei Kilometer vor der letzten Flugbasis, und wenn diese verloren ist, kommt keine Maus mehr heraus und ich auch nicht. Gewiß, Hunderttausende andere auch nicht, aber es ist ein schwacher Trost, den eigenen Untergang mit anderen geteilt zu haben.
Wenn es einen Gott gibt. Drüben auf der anderen Seite sagen es auch viele, in England und in Frankreich sicherlich Millionen. Ich glaube nicht mehr, daß Gott gütig sein kann, denn sonst würde er ein so großes Unrecht nicht mehr zulassen. Ich glaube nicht mehr daran, denn sonst hätte Gott die Hirne der Menschen erleuchtet, die diesen Krieg begannen und immer vom Frieden und vom Allmächtigen in drei Sprachen redeten. Ich glaube nicht mehr an Gott, weil er uns verraten hat. Ich glaube nicht mehr, und Du mußt sehen, wie Du mit Deinem Glauben fertig wirst. 16 ... Am Abend vor dem heiligen Feste feierten elf Kameraden in einer noch eingermaßen heilen Hütte in stiller Andacht. Es war nicht leicht, sie aus der Herde der Zweifelnden und Hoffnungslosen und Enttäuschten zu finden, aber die ich fand, kamen gern und mit frohem, empfangsbereitem Herzen. Es war eine seltsame Gemeinde, die sich zum Geburtstagsfest des Christkindes zusammenfand. Es gibt viele Altäre in der weiten Welt, aber einen ärmeren als hier nicht. Gestern waren noch Flakgranaten in der Kiste, über die heute meine Hand den feldgrauen Waffenrock eines toten Kameraden hing, dem ich am Freitag in diesem Raume die Augen schloß. Ich schrieb seiner Frau einen trostreichen Brief, Gott möge seine Hände über sie breiten.
Ich las meinen Jungen aus dem Evangelium des Heidenchristen Lukas die Weihnachtsgeschichte, die im 2. Kapitel vom 1. bis 17. Vers geschrieben steht, vor, gab ihnen hartes schwarzes Brot als heiliges Opfer und Sakrament des Altars, als den wahren Leib unseres Herrn Jesu Christi, und erflehte für sie Gnade und Erbarmen. Über das 5. Gebot sprach ich nicht. Die Männer saßen auf Schemeln und Hockern und blickten mit großen Augen in ausgehungerten Gesichtern zu mir empor. Sie waren alle jung, nur einer zählte 51 Jahre. Ich bin sehr glücklich, daß ich den Herzen Trost und Mut zusprechen durfte, zum Schluß gaben wir uns alle die Hand, nahmen Adressen und das Versprechen, wenn wir aus dem Krieg lebend zurückkommen sollten, die Angehörigen aufzusuchen und ihnen zu sagen, wie wir die Heilige Nacht 1942 gefeiert haben.
Gott möge seine Hände über Euch breiten, geliebte Eltern, denn es will jetzt Abend werden, und wir sollten guttun, unser Haus zu bestellen. Wir werden gefaßt in den Abend und in die Nacht gehen, wenn es der Weltenherr will. Aber wir blicken in keine Nacht ohne Ende. Wir geben unser Leben in Gottes Hand zurück, möge er gnädig sein, wenn es so weit ist. 17 ... In Stalingrad die Frage nach Gott stellen, heißt sie verneinen. Ich muß Dir das sagen, lieber Vater, und es ist mir doppelt leid darum. Du hast mich erzogen, weil mir die Mutter fehlte, und mir Gott immer vor die Augen und die Seele gestellt.
Und doppelt bedaure ich meine Worte, weil es meine letzten sein werden, und ich hiernach keine Worte mehr sprechen kann, die ausgleichen könnten und versöhnen.
Du bist Seelsorger, Vater, und man sagt in seinem letzten Brief nur das, was wahr ist oder von dem man glaubt, daß es wahr sein könnte. Ich habe Gott gesucht in jedem Trichter, in jedem zerstörten Haus, an jeder Ecke, bei jedem Kameraden, wenn ich in meinem Loch lag, und am Himmel. Gott zeigte sich nicht, wenn mein Herz nach ihm schrie. Die Häuser waren zerstört, die Kameraden so tapfer oder so feige wie ich, auf der Erde war Hunger und Mord, vom Himmel kamen Bomben und Feuer, nur Gott war nicht da. Nein, Vater, es gibt keinen Gott. Wieder schreibe ich es und weiß, daß es entsetzlich ist und von mir nicht wiedergutzumachen. Lind wenn es doch einen Gott geben sollte, dann gibt es ihn nur bei Euch, in den Gesangbüchern und Gebeten, den frommen Sprüchen der Priester und Pastore, dem Läuten der Glocken und dem Duft des Weihrauches, aber in Stalingrad nicht. 18 ... Es ist zum Verrücktwerden, lieber Helmut, da kann man nun schreiben und weiß nicht an wen. Tausend arme Teufel, die vorne in den Löchern liegen und keine Ahnung von einer solchen Chance haben, würden mich darum beneiden und ihren Jahressold geben. Vor einem Juhr hockten wir beide noch in Jüterbog und paukten „Kriegswissenschaft“, und jetzt sitze ich mitten in der Scheiße und weiß mit dem ganzen Krimskram nichts anzufangen. Aber den anderen hier geht es genau so. Es ist eine blödsinnige Situation. Wenn Dir im OKW-Bericht mal der Name „Zaritza“ auffällt, es könnte ja der Fall eintreten, daß die mal wahrheitsgemäß berichten, dann weißt Du, wo ich bin. Leben wir eigentlich auf dem Mond oder Ihr? Sitzen mit 200 000 Mann im Dreck, ringsherum nur Russen, und dürfen nicht sagen, daß wir eingeschlossen sind, restlos und ohne Hoffnung.
Deinen Brief habe ich am Montag erhalten, heute ist Sonntag, ein richtiger Feiertag. Vor allem möchte ich Dir auf Deine Worte antworten, mit denen Du mir zum Fronteinsatz gratuliertest. Ich habe soeben „Gneisenau" gelesen (wozu wir nicht alle Zeit haben) und möchte Dir einen Satz aus seinem Brief zitieren, den er nach Kolberg an Beguelin schrieb: «... bei Lesung dieser Nachricht dachte ich wohl, daß sie unseren Kanonendonner gehört haben möchten und dann Wünsche für unser Heil emporgestiegen sein würden. Es gab Tage, wo die Erde zitterte und ich betrug mich dabei, als ein Spieler, der seine letzten Louisdor mutig aufs Spiel setzt, in Hoffnung, daß sich ihm das Glück wenden werde, denn es gab einmal eine Zeit, wo ich nur noch auf 14 Tage Munition hatte und dennoch durfte ich mein Feuer nicht verringern, aus Furcht, der Feind möchte meinen Munitionsmangel gewahr werden. Es ist schändlich, wie schlecht diese Festung versehen war.“
Ach, lieber Junge, das waren noch Zeiten. Gneisenau hätte die Werfergarben noch hören müssen und den Feuerschlag von 200 Geschützen auf einen Kilometer. Aber nicht nur er, sondern auch Du, dann hättest Du es nicht so eilig mit dem „nach vorn“ kommen. Sei nicht eingeschnappt, ich will Dir den Glauben an Deine persönliche Tapferkeit nicht nehmen, aber hier würde sie nichts nutzen. Hier sterben die Tapferen und die Feigen in einem Loche und ohne Möglichkeit zu haben, sich zu wehren.
Wenn wir auch einmal „nur“ für 14 Tage Munition gehabt hätten, Mensch, wäre das eine Freude gewesen mit der Ballerei! Meine Batterie hat noch 26 Schuß, das ist alles, und es kommt auch nichts mehr dazu. Du bist ja auch von den Barbarajüngern und kannst Dir Dein Sprüchlein jetzt machen. Da ist man noch ziemlich beieinander, hat noch einigermaßen normalen Puls, ein Dutzend Zigaretten, vorgestern eine Suppe bekommen, heute einen Rollschinken aus einer Verpflegungsbombe erobert (es klappt nichts mehr, wir sind Selbstversorger geworden), hockt in einem Keller und verfeuert Wohnungseinrichtungen, ist 26 Jahre alt und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen, hat sich mächtig auf die Schulterstücke gefreut und damals mit Euch „Heil Hitler“ gebrüllt und muß nun verrecken oder nach Sibirien. Das wäre ja nicht das Schlimmste, aber daß man weiß, daß alles für eine völlig sinnlose Sache vor sich geht, treibt das Blut in den Kopf.
Aber laß sie mal kommen, die Dritte hat noch 26 Schuß und ihr Führer noch eine 08er mit sechs blanken Pillen. Es wird Zeit, daß ich Schluß mache, der Abendsegen kommt, da kriecht man etwas tiefer in die Erde. Lieber, alter Junge, eine Antwort kannst Du Dir auf diesen Brief ersparen, aber denke einmal, so etwa in 14 Tagen, an meine Zeilen. Es gehört keine hellseherische Begabung dazu, das Ende vorauszusehen. Wie es wirklich kommt, wirst Du nie erfahren. 19 ... Ich höre auf dem Gefechtsstand, daß Post abgeht. Hoffentlich kannst du lesen, was ich schreibe. Besseres Papier gibt es hier nicht. Aber die Hauptsache ist das, was draufsteht. Dazu wird's noch dunkel. Ich bin jetzt als Kradfahrer eingesetzt und komme viel herum. Sonst hätte ich auch nicht erfahren, daß Briefe geschickt werden können. Mir geht es noch ganz gut, was ich auch von Dir hoffe. Nur draußen fahren in Schnee und Eis ist faul. Stell Dir vor, wen ich getroffen habe? Den Sohn von Gründel, dem Kaufmann. Er sitzt im Verpflegungsmagazin. Da sitzt er lange warm. Ich habe bei dieser Gelegenheit eine Dose Schweinefleisch gekriegt und zwei ganze Brote. Päckchen dürfen wir nicht schicken, sonst schickte ich Dir die Dose. Aber ich esse sie auch ganz gern selber. Was macht Mariechen, und was machen die Eltern? Ich habe schon lange keine Briefe mehr erhalten. Vor 14 Tagen den letzten von Richard. Jetzt muß ich schließen, denn es ist schon dunkel, und ich muß noch zehn Kilometer fahren. 20 ... Sechsundzwanzigmal habe ich Dir schon aus dieser verfluchten Stadt geschrieben, und Du hast mir mit siebzehn Briefen geantwortet. Nun schreibe ich noch einmal, und dann nicht mehr. So, da steht es, ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diesen inhaltsschweren Satz formulieren sollte, um alles in ihm zu sagen und doch nicht so weh zu tun.
Ich nehme Abschied von Dir, weil die Entscheidung seit heute morgen gefallen ist. Ich will in meinem Brief die militärische Seite gänzlich unberücksichtigt lassen, sie ist eine eindeutige Angelegenheit der Russen, und die Frage geht nur dahin, wie lange wir noch dabei sind. Es kann noch ein paar Tage dauern oder ein paar Stunden. Unser persönliches Leben liegt vor uns. Wir haben uns geachtet und geliebt und zwei Jahre gewartet. Es ist schon richtig gewesen, daß die Zeit dazwischen liegt, sie hat zwar die Spannung auf das Wiedersehen erhöht, aber auch in starkem Maße die Entfremdung gefördert. Die Zeit ist es, die auch die Wunden meiner Nichtwiederkehr schließen muß.
Du wirst im Januar 28 Jahre alt, das ist noch sehr jung für eine so hübsche Frau, und ich freue mich, daß ich Dir dieses Kompliment immer wieder machen durfte. Du wirst mich sehr vermissen, aber schließe Dich trotzdem nicht ab von den Menschen. Laß ein paar Monate dazwischen liegen, aber nicht länger. Denn Gertrud und Claus brauchen einen Vater. Vergiß nicht, daß Du für die Kinder leben mußt, und mach um ihren Vater nicht viel Wesens. Kinder vergessen sehr schnell und in dem Alter noch leichter. Sieh Dir den Mann, auf den Deine Wahl fällt, genau an und achte auf seine Augen und seinen Händedruck, so wie das bei uns der Fall gewesen ist, und Du wirst Dich nicht täuschen. Vor allem eins, erzieh die Kinder zu aufrechten Menschen, die den Kopf hoch tragen und jedem frei ins Angesicht blicken können. Ich schreibe mit schwerem Herzen diese Zeilen, Du würdest es mir auch nicht glauben, wenn ich schrieb, daß es mir leicht fiele, aber mach Dir keine Sorgen, ich habe keine Angst vor dem, was kommt. Sage es Dir immer wieder, und den Kindern auch, wenn sie älter geworden sind, daß ihr Vater nie feige gewesen ist und daß sie es nie sein sollen. 21 . . . Nun geht dieses furchtbare Treiben schon elf Tage. Heute kann ich nun noch einmal diese Zeilen absenden. Hoffentlich hast Du alles andere gut erhalten. Mir ist auch nichts erspart geblieben. Aber das Leben war doch sehr schön, so daß man diese Tage wohl auch noch ruhig durchstehen muß.
Wir sind nun ganz in die Stadt hineingedrückt worden. Diese verdammte Stadt! Wenn das Ende doch bald käme? Lind wie ich schon einmal schrieb: Laßt mich fröhlich meine Straße ziehen . . .
Leb wohl! 22 . .. Herzallerliebste, ich denke immer an Dich. Heute, beim Essen-holen, habe ich auch an Dich gedacht. An das schöne Essen, was Du immer gemacht hast. Meine Strümpfe sind auch alle entzwei, und den Husten werde ich nicht mehr los. Es gibt keine Tabletten dafür. Du könntest mir aber Sirup schicken, aber keine Glasflaschen nehmen. Bist Du. auch erkältet? Zieh Dich immer gut warm an. Gibt es denn genug Kohlen? Geh mal zu Al. .., der hat von mir auch Holz für seine Möbel gekriegt. Nun soll er dafür Kohlen geben. Onkel Paul hat doch sicher das Filz an die Fenster genagelt, denn sonst ist es zu spät für das Jahr. Weihnachten habe ich hier nicht gefeiert. Ich war mit dem Auto unterwegs, und wir sind im Schnee steckengeblieben, weil es ein verkehrter Weg war. Aber wir sind bald wieder rausgekommen. Ich habe mir vorgenommen, daß wir nächstes Jahr richtig Weihnachten feiern, dann schenke ich Dir auc ganz was Schönes.
Ich habe keine Schuld, daß ich es Dir jetzt noch nicht schenken kann. Die Russen sind um uns herum, und wir kommen nicht wieder raus, bis Hitler uns rausholt. Aber das darfst Du nicht weitersagen. Es soll eine Überraschung werden. 23 . . . Haben schon manches schlucken müssen, schlucken wir dieses auch noch! Blöde Situation. Man könnte sagen, verteufelt schwierig. Bin mir nicht im klaren, wie hier herauszukommen ist. Ist ja auch eigentlich nicht meine Aufgabe. Wir sind auf Befehl einmarschiert, haben auf Befehl geschossen, schieben auf Befehl Kohldampf, sterben auf Befehl, marschieren auch auf Befehl wieder heraus. Hätten wir schon lange können, aber die Strategen sind sich noch nicht einig. Es wird bald zu spät sein, wenn das nicht schon ist. Aber auf Befehl-werden wir bestimmt noch einmal marschieren. Mit großer Wahrscheinlichkeit auch in der ursprünglich geplanten Richtung, nur ohne Waffen und unter anderer Führung.
Kemner, von der Schweren nebenan, hat mit Helms . . . geknobelt. Wehrsold futsch, Uhr, Ring und Schuldschein, auch sein Klavier im trauten Heim. Man kommt hier auf die blödesten Einfälle. Bin neugierig darauf, wie die Rechtslage wegen des verknobelten Klaviers ist. Uhr und Ring hat der kleine Dicke zurückgekriegt. Vielleicht gewinnt er morgen das Gartenhaus dazu. Wenn sie nun beide draufgehen, wie regelt sich dann das Nachlaßverfahren? Hätte das gern gewußt, aber die Zeit reicht nicht hin und her. Weiß vieles nicht, werde auch das überstehen. Sagte ja schon zu Anfang, haben schon manches schlucken müssen. Erzähl es Egon. Titel: „Sorgen eines Leutnants in Stalingrad.“ Wenn’s drauf ankommt, scheint mir so, daß es bald sein wird, wird wieder rangetickt. z Können wir noch besser als knobeln. 24 . . . Nachdem ich nun weiß, woran ich bin, gebe ich Dir Dein Wort zurück. Es ist mir nicht leicht geworden, aber die Gegensätze waren zu groß. Ich suchte eine Frau mit weitem Herzen, aber so weit sollte es nicht sein. Ich habe an Mutter schon geschrieben und ihr auch gesagt, was sie wissen soll. Erspare es mir bitte, Dir die Zeugen zu benennen und die Umstände, die mir die Beweise für Deinen Treubruch brachten. Ich habe keinen Haß gegen Dich, sondern gebe Dir den Rat, suche Dir einen guten Grund aus und beschleunige alles sehr. Ich habe an Dr. F . . . geschrieben, daß ich mit der Scheidung einverstanden bin. Und wenn ich nach sechs Monaten nach Hause komme, dann möchte ich durch nichts mehr an Dich erinnert werden.
Auf meinen Urlaub im Februar oder März werde ich verzichten. 25 . . . Nun hat mir der Spieß gesagt, daß ich Weihnachten nicht nach Hause fahren kann. Ich habe ihm gesagt, daß er doch sein Versprechen halten muß, und er hat mich zum Rittmeister geschickt. Der Rittmeister hat gesagt, andere hätten Weihnachten auch auf Urlaub fahren wollen und sie hätten es ihren Angehörigen auch versprochen und nicht halten können. Und so könnte er auch nichts dafür, daß wir nicht fahren dürften. Wir sollten froh sein, daß wir noch lebten, hat der Rittmeister gesagt, und die lange Reise wäre auch nicht gut im kalten Winter.
Liebe Maria, nun mußt Du nicht böse sein, wenn ich nicht auf LIrlaub komme. Ich denke oft an unser Haus und unsere kleine Luise. Ich frage mich, ob sie wohl schon lachen kann. Habt Ihr auch einen schönen Weihnachtsbaum? Wir sollen auch einen kriegen, wenn wir nicht in ein anderes Quartier kommen. Ich will nun nicht so viel von hier schreiben, sonst weinst Du darüber. Ich schicke Dir ein Bild mit, ich habe einen Bart darauf, es ist schon ein Vierteljahr alt und in Charkow von einem Kameraden gemacht. Es wird vieles hier gemunkelt, aber ich finde mich nicht durch. Manchmal habe ich Angst, daß wir uns nicht mehr wiedersehen. Das darf ein Mann nicht schreiben, hat mir der Heiner aus Krefeld gesagt, man ängstige nur seine Angehörigen damit. Aber wenn es doch wahr ist!
Maria, liebe Maria, ich habe immer drumherum geredet, der Spieß hat gesagt, es sei die letzte Post nach Hause, weil kein Flugzeug mehr ginge. Ich kann es nicht übers Herz bringen, zu lügen, lind mit dem Urlaub wird es nun wohl nie wieder etwas werden. Wenn ich Dich doch nur noch einmal sehen könnte, wie ist das schrecklich! Wenn Ihr die Kerzen ansteckt, dann denkt an Euren Vater in Stalingrad. 26 ... ich muß Dir noch schreiben, daß wir am Donnerstag im Kino waren. Es war kein richtiges Kino, sonst denkt Ihr, wir wüßten nicht, wie wir die Zeit rumkriegen sollten. Wir haben die „Geier-Walli“ gesehen, alle saßen auf dem Fußboden auf ihren Helmen oder wie die Neger. Es ist ein sehr schöner Film. Du hast mir geschrieben, ich soll mit den Mädchen vorsichtig sein. Maria, es gibt hier ja keine Mädchen. Wir waren allein im Kino, wohl zweihundert Mann. Das Kino kam von der Propaganda-Kompanie. Die spielt jeden Abend in der Scheune, nur gestern, habe ich gehört, hat der Russe ins Dorf geschossen. Ich wollte die „Geier-Walli“ mir schon früher angucken, in Dresden und in Hannover; es reichte nicht dazu. In Stalingrad habe ich dann die „Geier-Walli“ gesehen. Das ist ein Witz. Wenn ich auf Urlaub komme, dann sehe ich mir die „Geier-Walli“ in einem richtigen Kino an. Hoffentlich gibt es den Film in Dresden. Hier in der Scheune war der Film schon sehr schön. Nur der Ton war nicht richtig zu verstehen, und dann machten die Kameraden immer Witze, und es wurde geraucht, vor Qualm konnte man bald nichts sehen. Ein paar benutzten diese Kinovorführung auch, um sich zu wärmen und hier zu pennen. „Geier-Walli“ in Stalingrad. Daran werde ich immer denken. 27 . . . Was ist das für ein Unglück, daß der Krieg kommen mußte! Die schönen Dörfer fielen ihm zum Opfer und wurden zerstört. Und das Feld ist nirgendwo bestellt. Und am schrecklichsten ist es, daß so viele Menschen gestorben sind. Nun liegen sie begraben in Feindesland. Was ist das für ein großes Unglück! Doch seid Ihr nur froh, daß der Krieg im fernen Lande ist und nicht in unserer geliebten deutschen Heimat. Dorthin darf er nicht kommen, damit das Unglück nicht noch größer wird. Ihr müßt recht dankbar dafür sein und Eurem Herrgott auf den Knien danken. Wir stehen hier am Wolgastrand und halten die Wacht. Für Euch und unsere Heimat. Wenn wir nicht hier ständen, müßten die Russen durchbrechen und alles zerschlagen. Sie sind sehr gewalttätig und viele Millionen Mann. Dem Russen macht die Kälte nichts aus. Aber wir frieren fürchterlich.
Ich liege in einem Schneeloch, und nur des Abends kann ich für einige Stunden in einen Keller unterschlüpfen. Ihr glaubt nicht, wie gut das tut. Wir sind da, und darum braucht Ihr keine Angst zu haben. Nun werden wir immer weniger, und wenn das so weitergeht, werden bald keine mehr hier sein. Aber Deutschland hat viele Soldaten, und sie kämpfen alle für die Heimat. Wir wünschen alle, daß es bald Frieden wird, und daß wir gesiegt haben, das ist die Hauptsache. Haltet den Daumen! 28 . . . Dieser Brief fällt mir schon schwer, wie schwer wird er Dir erst sein! Es ist leider keine gute Nachricht, die in diesem Briefe steht. Und sie ist auch dadurch nicht besser geworden, daß ich zehn Tage gewartet habe. Nun hat sich unsere Lage so verschlimmert, daß die Befürchtung laut wurde, bald völlig von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Es wurde vor kurzem versichert, daß diese Post noch bestimmt abgeht. Wenn ich wüßte, daß es noch eine andere Gelegenheit gäbe, dann würde ich noch warten, aber ich weiß es eben nicht, und wohl oder übel muß ich mit der Sprache heraus. Der Krieg ist für mich aus.
Ich liege im Lazarett in Gumrak und warte auf den Abtransport mit dem Flugzeug. So sehnsüchtig ich auch warte, immer verschiebt sich der Termin wieder. Daß ich heimkomme, ist eine große Freude für mich und auch für meine liebe Frau, die Du doch bist. Wie ich aber nach Hause komme, wird Dir keine Freude sein. Ich bin ganz verzweifelt, wenn ich daran denke, als Krüppel vor Dir zu liegen. Aber Du mußt es doch einmal wissen, daß meine Beine abgeschossen sind.
Ich will es ganz ehrlich schreiben. Das rechte Bein ist ganz zerschmettert und unterm Knie amputiert und das linke am Oberschenkel abgenommen. Der Oberarzt meint, mit Prothesen könnte ich herumlaufen wie ein Gesunder. Der Oberarzt ist ein guter Mann, und er meint es auch gut. Ich wünschte, daß er recht bekommt. Nun weißt Du es schon vorher. Liebe Elise, ich möchte nur wissen, was Du denkst. Ich habe den ganzen Tag Zeit und denke nur daran. Und meine Gedanken beschäftigen sich viel mit Dir. Ich habe mir auch schon gewünscht, daß ich tot bin, aber es ist eine schwere Sünde, und man darf so was nicht aussprechen.
Im Zelt liegen noch über achtzig Mann, draußen aber liegen ungezählte Kameraden. Durch das Zelt hört man ihr Schreien und Stöhnen, und keiner kann ihnen helfen. Neben mir liegt ein Unteroffizier aus Bromberg mit schwerem Bauchschuß. Der Oberarzt sagte, er würde bald nach Hause kommen, aber zu dem Sanitäter sagte er: „Länger als bis heute abend macht er es nicht mehr, laß ihn so lange liegen.“ Der Oberarzt ist doch ein guter Mann. Auf der anderen Seite, neben mir an der Wand, liegt ein Landser aus Breslau, der einen Arm ab und keine Nase mehr hat, und er sagte mir, daß er jetzt keine Taschentücher mehr ge-brauchte. Als ich ihn gefragt habe, was er machte, wenn er weinen müßte, gab er mir die Antwort, alle hier, auch du und ich, kommen gar nicht mehr zum Weinen. Um uns werden andere bald weinen. 29 . .. Den Brief schreibt Axel für mich. Er heißt gar nicht Axel, sondern Lachmann und ist aus Königsberg. Aber wir nennen ihn Axel. Ich habe den Arm hoch und in dicke Binden gewickelt und kann darum nicht schreiben. Ich komme bald nach Hause, dieses sagte mir der Stabsarzt, und ich freue mich riesig. Am Arm fehlt ein kleines Stückchen, das hat der Stabsarzt auch gesagt. Es ist nur so komisch, daß ich die Finger nicht bewegen kann. Als Gärtner gebrauche ich meine Finger aber. Die Erde hier ist sehr fett und weich, wir könnten sie in Lüneburg gut gebrauchen. Draußen liegt Schnee, man kann die Erde nicht sehen. Vor vier Tagen lag ich in einem Loch, das einen Meter tief war, und ich habe den ganzen Tag die Erde beobachtet, guter Weizenboden, natürlich von Dünger keine Spur, die Steppe produziert ihren eigenen Dünger. In diesem Loch kriegte ich Angst. Heute lache ich darüber. Ich liege nicht bequem, aber wenn ich zu Hause bin, dann werde ich noch viel mehr lachen. Und ihr lacht alle mit mir. 30 . .. Ich habe Deine Antwort in Händen. Einen Dank wirst Du wohl nicht erwarten. Dieser Brief wird kurz sein. Ich hätte es mir denken können, als ich Dich bat, mir zu helfen. Du warst und bleibst ein ewig „Gerechter“. Mama und mir war das nicht unbekannt. Aber man konnte ja nicht annehmen, daß Du Deinen Sohn der „Gerechtigkeit“ zum Opfer bringen würdest. Ich bat Dich, mich herauszuholen, weil dieser strategische Unsinn nicht Wert ist, für ihn ins Gras zu beißen. Es wäre Dir ein leichtes gewesen, ein Wort für mich einzulegen, und ein entsprechender Befehl hätte mich erreicht. Du bist über die Lage nicht im klaren. In Ordnung, Vater.
Dieser Brief ist nicht nur kurz, sondern auch der letzte, den ich Dir schreibe. Ich werde keine Gelegenheit mehr zum Briefschreiben haben, selbst dann nicht, wenn ich wollte. Es wäre auch nicht auszudenken, daß ich Dir noch einmal gegenüberstehen sollte und Dir sagen müßte, was ich denke. Und weil weder ich noch ein weiterer Brief zu Dir sprechen werden, rufe ich Dir Deine Worte vom 26. Dezember noch einmal ins Gedächtnis zurück: „Du wurdest freiwillig Soldat, es war leicht, im Frieden unter der Fahne zu stehen, aber schwer, sie im Kriege hochzuhalten. Du wirst dieser Fahne treu bleiben und mit ihr siegen.“ Diese Worte haben klarer gesprochen als Deine Gesamthaltung der letzten Jahre. Du wirst Didi an sie noch erinnern müssen, denn es kommt für jeden einsichtigen Menschen in Deutschland die Zeit, in der er den Wahnsinn dieses Krieges verflucht, und Du wirst einsehen, wie hohl die Worte von der Fahne sind, mit der ich siegen sollte.
Es gibt keinen Sieg, Herr General, es gibt nur noch Fahnen und Männer, die fallen, und am Ende wird es weder Fahnen noch Männer geben. Stalingrad ist keine militärische Notwendigkeit, sondern ein politisches Wagnis. Und dieses Experiment macht Ihr Sohn nicht mit, Herr General! Sie versperrten ihm den Weg ins Leben, er wird den zweiten Weg in der entgegengesetzten Richtung wählen, der auch ins Leben führt, aber auf der anderen Seite der Front. Denken Sie an Ihre Worte und hoffentlich werden Sie, wenn der Kram zusammenbricht, sich der Fahne erinnern und zu ihr stehen. 31 . . . Wieviel Briefe habe ich bis jetzt geschrieben? Mit dem heutigen sind es meiner Rechnung nach 38. Sie haben mir im August geschrieben, daß Sie ein Postbuch führen, eine richtige Menschenkartei mit Adressen, Eigenarten, und wann Sie Ihren Briefpartner kennenlernten und wie die Freundschaft verlief. Idi habe mich köstlich darüber amüsiert. Haben Sie Ihrer Kartei auch das Bild hinzugestellt, das ich Ihnen sandte? Mein Briefbuch ist zu ungenau. Ihre Buchführung wird sicherlich meine Kreuzdien im Taschenkalender übertreffen. Schließlich ist es ziemlich gleich, ob ich Ihnen 36 oder 37 Briefe geschrieben habe. Ich bin Ihr Briefpartner Nummer fünf. Es muß ganz interessant sein, alle Briefe zu lesen, die Sie bekamen. Denn diese kommen doch von allen KriegsSchauplätzen. Wenn der Krieg zu Ende ist, haben Sie einen stattlichen Erinnerungsband in Form von Briefen. Diese Weihnacht wollten wir uns in Karlsruhe treffen, zum erstenmal, das ging schief. Für die Zukunft sehe idi auch sehr, sehr schwarz. Es ist fast nichts mehr zu hoffen.
Gott sei Dank, jetzt ist mir der Übergang geglückt. Es wird nichts mit unserem Treffen und auch der Termin im neuen Jahr kann nicht eingehalten werden. Mädchen, Mädchen, das ist eine Panne. Blöd ist, daß man nur zugucken kann, und das macht einen auf die Dauer verrückt. Wäre ich doch bloß im September, als der Splitter im Arm saß, nach der Heimat abgezwitschert. Aber ich wollte dabeisein, wenn wir Stalingrad nehmen, und diese verrückte Einstellung habe ich schon oft bedauert.
Es sind ganz lustige Briefe gewesen, die Sie von mir bekommen haben, und ich war immer ein Spaßvogel, das können Sie mir bestätigen, aber mit dem Spaß ist jetzt nicht weiterzukommen, jetzt wird es Ernst.
Was werden Sie wohl in Spalte sechs Ihres Postbuches schreiben? Schreiben Sie auf keinen Fall für „Großdeutschland" usw., denn das stimmt nicht. Schreiben Sie meinetwegen „für Hanna am soundsovielten“. Hoffentlich finden Sie meinen Ton nicht frivol. Ich schrieb von Ihren anderen Briefpartnern. Davon werden bestimmt auch eines Tages einige ausfallen. Die Umstände sind aber andere. Die schreiben plötzlich nicht mehr. Ihre Briefe bleiben einfach weg. Ich teile es Ihnen ordnungsgemäß mit. Fräulein Hanna, dieses ist so quasi mein letzter Brief. Leben Sie wohl, die Hoffnung auf ein Wiedersehen wird diesem blödsinnigen Kampf, der ganz einseitig ist, zum Opfer fallen. Leben Sie wohl, und zum Abschied herzlichen Dank für die Zeit, die Sie mit Liebe an mich aufwandten. Erst wollte ich „verschwendeten“ schreiben, aber ich habe es mir doch überlegt, daß es keine Zeitverschwendung war, denn ich hatte viel Freude an Ihren Briefen. ... Ich habe heute mit Hermann gesprochen. Er liegt ein paar hundert Meter von mir entfernt im Süden der Front. Von seinem Regiment ist nicht mehr viel übriggeblieben. Aber der Sohn vom Bäcker B . . . ist noch mit dabei. Hermann hatte noch Deinen Brief bekommen, in dem Du uns den Tod von Vater und Mutter mitgeteilt hattest. Idi habe noch einmal mit ihm gesprochen, denn ich bin ja der Ältere, und habe auch versucht, ihn zu trösten, obwohl ich selbst am Ende bin. Es ist gut, daß es Vater und Mutter nicht mehr erfahren haben, daß wir beide, der Hermann und ich, nicht mehr nach Hause kommen können, es ist so furchtbar schwer, daß auf Dir in Deinem ferneren Leben die Last von vier toten Menschen liegt.
Ich wollte Theologe werden und Vater wollte ein Haus haben und Hermann später Springbrunnen bauen. Das ist alles nicht eingetroffen. Du weißt es ja selbst, wie es dort zu Hause aussieht, und wir wissen es ja ganz genau, wie es hier aussieht. Nein, das ist alles nicht eingetroffen, was wir uns in unseren Plänen ausgemalt haben. Die Eltern liegen unter den Trümmern ihrer Hauses und wir, so hart das auch klingen mag, mit ein paar hundert und noch mehr in einer Schlucht im Süden des Kessels. Bald werden diese Schluchten voller Schnee sein. . . . Wenn ich es mir überlege, so habe ich erst hier angefangen, über die Umgebung nachzudenken, ohne ein positives Resultat. Man müßte oft nachdenken, aber es erfordert Zeit. Grundsätzlich wäre das nicht so schlimm, denn ich habe niemals so viel Zeit gehabt wie in diesem Kriege und besonders hier in Stalingrad. Ich habe vor ein paar Tagen mit dem Pfarrer gesprochen, und wir blieben lange im Gespräch zusammen, aber konnten nicht recht zusammenkommen, weil mir das Leid größer schien als die Möglichkeit, es zu trösten. Der Pfarrer meinte, hier seien wir an einem Punkt angelangt, wo die Philosophie aufhören müßte und die Religion beginnen sollte. Einer von uns beiden hat sicherlich recht, und
33 so frage ich mich, kommt es denn darauf an? Ich überlege fortgesetzt, ich grüble und sitze stundenlang im Bunker.
Hochverehrter Herr Geheimrat! Wir haben keine privaten Angelegenheiten zu besprechen, und ich bin recht froh darüber, nicht wie meine Kameraden in Familienbindungen verstrickt zu sein. Es müssen entsetzliche und bestimmt auch quälende Sorgen sein, die einen Menschen zur Verzweiflung treiben können. Diese immerwährende Angst um Frau und Kind und was weiß ich noch alles. Ich höre doch täglich, was gesprochen wird, und es ist manchmal tragisch und manchmal lächerlich, wie wichtig doch alles genommen wird und wie besonders wichtig sich der einzelne Mann vorkommt. Da sprechen sie vom Geschäft und fragen nach, ob ihr Haus nicht beschädigt ist, und andere haben Sorgen um ihre Päckchen in beiden Richtungen. Darüber habe ich auch nachgedacht, was wohl in den Päckchen sein kann, die aus Stalingrad geschickt werden. Mit mir zusammen liegt ein Kamerad aus Lüdenscheid, der fragt in jedem Briefe an, wie es der Katze geht! Grotesk! Geld, Beruf, Position, Besitz. Vor allem aber auch ist es die Angst um das persönliche Schicksal, und diese Angst steht in vielen ihrer Briefe. Ich könnte mich vor Ekel schütteln, wie sie sich benehmen.
Vor einer Stunde fragte mich ein Bunkerkamerad, ein Hauptmann, ob ich nicht gehört hätte, daß der Russe im Norden durchgebrochen wäre. Als ob das etwas an der Situation ändern könnte! Überall kriechen sie jetzt nach der Mitte zusammen, aber die Hast, mit der das geschieht, läßt die Vermutung aufkommen, sie suchten nach einem Ausweg. Es gibt aber keinen Ausweg, der ihren Wünschen entspricht. Die Angst nimmt ihnen die Überlegung, den klaren Verstand, soweit sie ihn überhaupt besitzen. Und sie merken nicht einmal, wie unmännlich, ja lächerlich sie sich benehmen.
Mein Blickfeld ist nur hundert Meter weit, und ich übersehe ungefähr hundert Menschen. Die sind alle einer wie der andere. Nämlich feige. Verschiedentlich kommt einer von der Höhe herabgeschliddert oder gehumpelt von der Front. Der schüttelt verwundert den Kopf, wenn er hier hineinriecht. Mit diesen Leuten hier können wir keinen Krieg gewinnen und diesen Krieg schon gar nicht. Es ist nur gut, daß sich die Front anders benimmt als dieser trostlose Haufen zusammengewürfelter Reststäbe mit den verschiedensten Funktionen. Ich frage mich, was für eine Rolle mir eigentlich zukommt. Bin ich nun tapfer, oder wie soll man es nennen. Bin ich es darum, weil ich nicht wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her laufe und gackernd von Nest zu Nest eile; bin ich es, weil ich keine Parolen auffange und verbreite, des Nachts ruhig schlafen kann und keine Reden halte, was ich an dem oder jenem Tage tun werde?
Herr Geheimrat! Stalingrad ist eine gute Erziehung für das deutsche Volk, es ist nur schade, daß diejenigen, denen der Anschauungsunterricht zuteil wird, ihn schwerlich später noch verwerten können. Man müßte das Ergebnis konservieren. Ich bin Fatalist, meine persönlichen Bedürfnisse sind so gering, daß ich jeden Augenblick, wenn der erste Russe zur Tür hereinkommt, meinen Rucksack nehmen und ihm entgegengehen kann. Ich werde nicht schießen, wozu auch? Um einen oder zwei zu töten, die ich nicht kenne? Ich werde mich auch nicht erschießen, warum auch? Erweise ich damit irgend jemand einen Dienst, vielleicht Herrn Hitler? Ich habe so viel in den vier Monaten, die ich im Kriege bin, hier gelernt, wie ich in einem hundertjährigen Leben bestimmt nicht lernen könnte. Ich bedauere eins nur, den Umstand, der mich zwingt, in einer so jämmerlichen Gemeinschaft das Ende meiner Tage zu vollbringen. 34 .. . Was jetzt mit uns geschehen wird, weiß niemand, ich jedenfalls glaube, daß es zu Ende ist. Das sind harte Worte, aber Ihr müßt sie verstehen, wie sie gemeint sind. Es ist anders geworden seit dem Tage, an dem ich Abschied nahm und Soldat wurde. Damals lebten wir noch in der Vorstellung, die von tausend Hoffnungen und Erwartungen gespeist wurde, daß sicherlich einmal alles gut würde. Und doch verbarg sich schon eine lähmende Sorge hinter den Abschiedsworten, die unser zwei Monate langes Glück als Mann und Frau trösten sollten.
Ich erinnere mich noch eines Briefes von Dir, in dem Du schriebst, daß Du am liebsten das Gesicht in die Hände nehmen möchtest, um zu vergessen. Und ich schrieb Dir dann, daß es nötig sei und daß die Nächte im Osten viel dunkler und schwerer seien als daheim.
Die dunklen Nächte im Osten sind geblieben, und sie sind viel dunkler geworden, als ich jemals angenommen habe. In solchen Nächten lauscht man sehr oft nach dem tieferen Sinn des Lebens, und gelegentlich bekommt man Antwort. Nun stehen Raum und Zeit zwischen uns, und ich bin im Begriff, über die Schwelle zu treten, die uns für ewig von unserer eigenen kleinen Welt trennt und in jene führt, die größer, gefahrvoller, ja vernichtend ist. Wenn ich die Tage des Krieges gut hinter mich gebracht hätte, dann würde ich erst verstanden haben, was das bedeutet, Mann und Frau im rechten und tiefen Sinn zu sein. Nun, da diese letzten Zeilen an Dich gehen, weiß ich es auch. 35 ... Ich habe so viel in den letzten Nächten geweint, daß es mir selbst unerträglich scheint. Ich sah auch einen Kameraden weinen, aber aus einem anderen Grund. Er weinte um seine verlorenen Panzer, die sein ganzer Stolz waren. Lind so unbegreiflich wie meine eigene Schwäche ist, so begreiflich ist es mir, daß ein Mann um totes Kriegsmaterial trauern kann. Ich bin Soldat und möchte glauben, daß die Panzer für ihn eben kein totes Material sind. Bemerkenswert in der Gesamtheit ist der Umstand, daß zwei Männer überhaupt weinen. Ich neigte immer leicht zu Tränen, ein erschütterndes Erlebnis, eine edle Tat ließ mich weinen. Im Kino war das ebenso der Fall oder wenn ich in einem Buch las oder ein Tier leiden sah. Ich trennte mich von der Umwelt und nahm an Gesehenem und Empfundenem Anteil. Verlorene materielle Werte habe ich dagegen nicht als Verlust empfunden. Also könnte ich auch nicht um Panzer weinen, die ohne Sprit in der offenen Steppe als Artillerie verwendet wurden und so mühelos zusammengeschossen sind. Daß dagegen ein untadeliger Mensch und tapferer Soldat, hart und unbeugsam, wie ein Kind weinte, darüber flossen nun in der Nacht meine Tränen.
Am Dienstag schoß ich mit meinem Wagen zwei T 34 zusammen. Die Neugier hatte sie hinter unsere Linien getrieben. Es war prächtig und eindrucksvoll. Nachher fuhr ich an den qualmenden Trümmern vorbei. Aus der Luke hing ein Körper, der Kopf nach unten, seine Füße waren festgeklemmt und brannten bis zum Knie. Der Körper lebte, der Mund stöhnte. Es müssen entsetzliche Schmerzen gewesen sein. Und es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien. Selbst wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, wäre er doch nach Stunden qualvoll gestorben. Ich habe ihn erschossen, und dabei liefen mir die Tränen über die Backen. Nun weine ich schon seit drei Nächten über den toten russischen Panzer-fahrer, dessen Mörder ich bin. Die Kreuze vor Gumrak erschüttertn mich und vieles, über das die Kameraden mit geschlossenem Mund hinwegsehen. Ich fürchte, nie mehr ruhig schlafen zu können, wenn ich heimkommen sollte zu Euch, Ihr Lieben. Mein Leben ist ein entsetzlicher Widerspruch. Ein psychologisches Unikum.
Ich habe jetzt eine schwere Pak übernommen und mir acht Mann, darunter vier Russen, organisiert. Wir neun schleppen die Kanone von einer Stelle zur anderen. Jedesmal, wenn sich der Wechsel vollzieht, bleibt ein brennender Panzer auf der Strecke. Es sind schon acht Stück geworden, und das Dutzend soll voll werden. Ich habe allerdings nur noch drei Schuß, und Panzerschießen ist nicht wie Billardspielen. In der Nacht aber weine ich haltlos wie ein Kind. Was soll das bloß noch werden? 36 . . . An einen Unbekannten, der allein auf der Welt war, ging vor einem Jahr Ihr Brief. Ich fing ihn auf und lauschte in langen Winter-tagen dem Herzschlag, der aus dem Brief zu mir sprach. Dem Herzschlag der Bauern und Tiere, der Pflanzen und Gipfel und dem Donnern des Föhns und der Lawinen.
Sie schrieben immer, der unbekannte Soldat sollte aus den Briefen Anregung, Kraft, Glauben, Mut schöpfen. Und ich muß Ihnen heute sagen, daß ich die Anregung, die Kraft und auch den Mut aus den Zeilen in mich gesogen habe. Aber der Glaube an die gute Sache ist tot. So tot, wie hunderttausend mit mir das in 30 Tagen sein werden.
Der Brief von heute geht aus zwei Gründen an Sie. Einmal, weil sich der unbekannte Soldat, an den Sie sich damals wandten, wie das unter den Soldaten üblich ist, bei Ihnen abzumelden hat, was hiermit geschieht, und dann in der Annahme, daß Sie jetzt einem anderen Unbekannten erneut schreiben werden, um ihm mit Ihren Briefen Kraft, Anregung und Mut geben zu wollen. Und den Glauben.
Fräulein Adi, das ist der wichtigste Grund. Den Glauben kann man wohl auf dem Papier demonstrieren, aber wenn er, wie hier, in dieser verwüsteten Stadt an der Wolga, feilgeboten und ausgehandelt wird, wenn man, wie hier, erkennt, daß der Glaube an die gute Sache eine nutzlos vergeudete Zeit war, dann muß man jedermann warnen, ihn zu diesem Glauben zu überreden! 37 . .. Am Morgen wurde gesagt, daß wir schreiben können. Nur noch einmal, sage ich, denn ich weiß es genau, daß es das letzte Mal sein wird. Du weißt, daß ich immer an zwei Menschen, an zwei Frauen geschrieben habe, an die „Andere“ und Dich. Am wenigsten aber an Dich. Ich war weit entfernt von Dir, und Carola stand mir näher als Du in den letzten Jahren. Wir wollen das nicht alles wiederholen, wie es kam und warum es so kommen mußte. Heute jedoch, wo ich vom Schicksal vor die Wahl gestellt werde, nur noch an einen Menschen schreiben zu dürfen, geht mein Brief an Dich, die seit sechs Jahren meine Frau ist.
Es wird Dir wohltun, wenn Du erfährst, daß der letzte Brief des Mannes, den Du liebtest, an Dich gerichtet ist, und ich habe es nicht fertiggebracht an Carola zu schreiben und sie zu bitten, Dir Grüße von mir auszurichten. So bitte ich Dich denn, liebe Erna, in dieser Stunde, die meinen letzten Willen enthält, sei großmütig und verzeih, was ich Dir im Leben Unrechtes tat, und gehe zu ihr (sie wohnt bei ihren Eltern) und sage ihr, daß ich ihr viel verdanke und sie durch Dich, also durch meine Frau, grüßen lasse. Sage ihr, daß sie mir viel in dieser letzten Zeit gewesen, und ich hätte oft daran gedacht, was einmal werden sollte, wenn ich heimkehrte. Aber sage ihr auch, daß Du mir mehr gewesen seiest und daß ich eigentlich, obwohl tieftraurig, daß es nun keine Heimkehr mehr geben wird, froh bin, diesen Weg diktiert bekommen zu haben, der uns zu dreien eine entsetzliche Quälerei erspart hat.
Ob Gott wohl größer als das Schicksal ist? Ich bin ganz ruhig, aber Du weißt nicht, wie schwer das ist, in einer Stunde alles, was man noch zu sagen hat, auszusprechen. So viel wäre noch zu schreiben, so unendlich viel, aber weil es so viel ist, darum muß man verstehen, die Feder nicht zu lange auf dem Papier zu lassen und den richtigen Zeitpunkt zu finden, sie aus der Hand zu legen. So wie ich mein Leben jetzt aus der Hand lege.
Von meiner Kompanie sind noch fünf Mann dabei. Wilmsen auch noch. Die anderen sind schon alle . . ., alle zu müde geworden. Ist das nicht ein schöner Ausdruck für das Grauen? Aber was interessiert das alles jetzt und was nützt es, wenn Du es weißt! So behalte mich denn als den Menschen in der Erinnerung, der sich fast ganz am Ende darauf besonnen hat, Dein Mann zu sein und Dich um Verzeihung zu bitten, und noch mehr, Dich zu bitten, allen, die Du kennst, auch Carola, zu sagen, daß ich zu Dir in dem Augenblick zurückgefunden habe, der Dich mir für immer nimmt. 38 ... Ich wollte Dir einen langen Brief schreiben, doch immer zerschlagen sich meine Gedanken wie die Häuser, die im Artilleriefeuer zusammenbrechen. Ich habe noch zehn Stunden Zeit, dann muß dieser Brief abgegeben sein. Zehn Stunden sind eine lange Zeit, wenn man wartet; aber sie sind kurz, wenn man liebt. Ich bin gar nicht nervös. Eigentlich bin ich im Osten erst richtig gesund geworden, Erkältungen, Schnupfen kenne ich nicht mehr; das ist das einzig Gute, das der Krieg mir schenkte. Er schenkte mir noch etwas, die Erkenntnis, daß ich Dich liebe. Es ist merkwürdig, daß man die Dinge erst dann achtet, wenn man im Begriff ist, sie zu verlieren. Über den Raum der Entfernung hinweg geht die Brücke von Herz zu Herz. Über diese Brücke schrieb ich Dir vom Alltag und von der Welt, in der wir hier leben. Wenn ich heimkehrte, wollte ich Dir die Wahrheit sagen, und dann hätten wir nie wieder vom Krieg gesprochen. Nun wirst Du die Wahrheit schon vorher erfahren, die letzte Wahrheit. Lind nun kann ich nicht mehr schreiben.
Es wird immer Brücken geben, solange es Ufer gibt; wir sollten nur den Mut haben, diese Brücken zu betreten. Die eine Brücke geht jetzt zu Dir, die andere geht in die Ewigkeit, das ist für mich ganz zuletzt das gleiche.
Ich betrete morgen die letzte Brücke, das ist der literarische Ausdruck für den Tod, aber du weißt, daß ich immer die Dinge gern umschrieb, aus Freude am Wort und am Klang. Reich mir Deine Hand, damit der Weg nicht so schwer wird. 39 . . . Liebster Vater! Die Division ist ausgeschlackt für den Groß-kampf, aber der Großkampf wird nicht stattfinden. Du wirst Dich wundern, daß ich an Dich schreibe und an Deine Adresse im Amt, aber was ich in diesem Brief zu sagen habe, ist nur unter Männer zu sagen. Du wirst es in der Dir eigenen Form an Mutter weitergeben. Wir dürfen heute schreiben, heißt es bei uns. Das bedeutet für einen, der die Lage kennt, wir können es nur noch einmal.
Du bist Oberst, lieber Vater, und Generalstäbler. Du weißt, was das bedeutet, und mir ersparst Du damit Erklärungen, die sentimental klingen könnten. Es ist Schluß. Ich denke, es wird noch ungefähr acht Tage lang gehen, dann ist der Kragen zu. Ich will nicht nach Gründen suchen, die man für oder gegen unsere Situation ins Feld führen könnte. Diese Gründe sind jetzt gänzlich unwichtig, und außerdem ohne Nutzen, aber wenn ich dazu etwas zu sagen habe, dann das eine: sucht nicht nach Erklärungen für die Situation bei uns, sondern bei Euch und bei dem, der dieses zu verantworten hat. Haltet den Nacken steif. Du, Vater, und die mit Dir der gleichen Ansicht sind. Seid auf der Hut, damit nicht größeres Unheil über unser Vaterland kommt. Die Hölle an der Wolga soll Euch Warnung sein. Ich bitte Euch, schlagt diese Erkenntnis nicht in den Wind.
Und nun noch zum Gegenwärtigen. Von der Division sind noch 69 Mann verwendungsfähig. Bleyer lebt noch und Hartlieb auch. Der kleine Degen hat beide Arme verloren, er wird wohl bald in Deutschland sein. Für ihn ist auch Schluß. Fragt ihn dann nach Einzelheiten, die für Euch wissenswert sind. D. hat keine Hoffnung mehr. Ich möchte wissen, was er manchmal über die Lage und ihre Folgen denkt. Wir haben noch zwei MG und vierhundert Schuß. Einen Granatwerfer und 10 Granaten. Sonst nur noch Kohldampf und Müdigkeit. Berg ist mit 20 Mann ausgebrochen, ohne Befehl. Besser, in drei Tagen wissen, wie es ausgeht, als in drei Wochen. Kann es ihm nicht verdenken.
Zum Schluß das Persönliche. Du kannst Dich darauf verlassen, daß alles anständig zu Ende gehen wird. Ist ein bißchen früh mit dreißig Jahren, ich weiß. Keine Sentiments. Händedruck für Lydia und Helene. Kuß für die Mama (vorsichtig sein, alter Herr, Herzfehler bedenken), Kuß für Gerda. Grundsätzlich Gruß an alle übrigen. Hand an den Helm, Vater, Oberleutnant.. . meldet sich bei Dir ab. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Walter A. Berendsohn: „Thomas Mann und das Dritte Reich" „Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich'1
J. M. Bochenski: „Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit des Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949"
Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!"
Helmut Krausnick: „Deutscher Widerstand und die englische Kriegserklärung"
Edgar Kupfer: „Strafkompagnie Dachau"
Ernest J. Salter: „Politik, Taktik und Abwehr des Kommunismus in Deutschland"
Joseph H. Spiegelmann: „Die Wandlung zur Initiative"
Hans Wenke: „Die Erziehung im Kreuzfeuer der öffentlichen Meinung"
Richard Wolff: „Der Reichstagsbrand 1933, ein Forschungsbericht" „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"