Mit der folgenden Darstellung EUROPÄISCHE PUBLIKATION Nr. 7: „Vorgeschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler“ II. Teil von Dr. Helmut Krausnick, Referent im Institut für Zeitgeschichte, setzen wir die Veröffentlichungen der Münchener Arbeitsgemeinschaft „EUROPÄISCHE PUBLIKATION“ fort (Vgl. Ausgaben der Beilagen vom 4. /26. Mai, 2. Juni, 24. November 1954 und 9. November 1955.).
II. Teil Wehrmacht und Nationalsozialismus 1934-1939
4. Widerstandspläne im Frühjahr 1938 (Fortsetzung)
Wenn der vom „Völkischen Beobachter“ zum 4. Februar 1938 proklamierte „Verschmelzungsprozeß zwischen Wehrmacht und Partei“ bis zum 20. Juli 1944 nicht volle Realität wurde — wie Himmler einmal zuverlässig bezeugen sollte —, so war dies dem inneren Widerstand zuzuschreiben, den Geist und Handeln des Regimes in den Reihen der Armee hervorriefen. Es war nur zu begreiflich, daß Hitlers perfider Schlag gegen das Heer die verschiedenen Persönlichkeiten und Gruppen der „Opposition“ innerhalb und außerhalb der Wehrmacht enger zusammenführte. Und es war psychologisch noch weniger ein Wunder, daß diese Opposition ein Hauptzentrum in der Abwehrabteilung fand, die wiederum in die Vorgänge den (relativ) stärksten Einblick besaß. Überrascht war man hier wahrscheinlich weniger von dem Schlage Hitlers an sich, den man gegen die letzte „antitotalitäre“ Bastion wohl instinktiv kommen fühlte, als von der Art und Weise, in derHitler ihnmit gewohnt schneller Nutzung unvorhersehbarer Umstände geführt hatte. Sehr schnell jedenfalls wurde sich dieser Kreis darüber klar, worum es ging und was die „Enthauptung“ der Wehrmacht innen-wie außenpolitisch bedeuten mußte Freilich hieß es zunächst einmal, zusätzliche Nachrichten über die Aktion der Gestapo, sei es als bloßes Werkzeug Hitlers, sei es als treibende Kraft hinter ihm. gewinnen. So sieht man Canaris und neben ihm, bald über ihn hinaus, den Chef der Zentralabteilung der Abwehr, den nunmehrigen Oberst Oster, • mit allen Kräften bemüht, Klarheit für sich und andere, Gleichgesinnte oder bei einer Gegenaktion Wichtige, zu schaffen. Seit Jahren stand Oster in freundschaftlicher Beziehung mit dem Regierungsrat Gisevius, erhielt oder unterhielt durch ihn Kontakt mit zivilen Oppositionellen wie Goerdeler und Schacht, aber auch „Querverbindungen ins braune und schwarze Lager“, zu zwielichtigen Figuren wie dem Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorff und dem Direktor des Reichskriminalamts, Nebe Diese lieferten wichtige Nachrichten. Auch der an der Voruntersuchung gegen Fritsch beteiligte Kriegsgerichtsrat Dr. Sack versah die Leiter der Abwehr mit wertvollen Informationen Als persönlicher Referent des Justizministers Gürtner in das Verfahren eingeschaltet war schließlich der Schwager des Bekenntnispfarrers Dietrich Bonhoeffer Oberregierungsrat Hans von Dohnanyi, der kraft seiner Stellung längst tiefen Einblick in die verbrecherischen Handlungen des Regimes besaß. Hitlers Schlag gegen, den Oberbefehlshaber des Heeres führte ihn jetzt in unmittelbare Beziehungen zur militärischen Opposition, insbesondere zu Beck. Sack machte Dohnanyi mit Oster bekannt Canaris selbst nahm in diesen Wochen wesentlich engere Fühlung mit Beck 7B 1 edeutsam für die Zukunft aber wurde vor allem, daß die Ereignisse nun auch zwischen Beck und Oster einen persönlichen Kontakt herstellten, der sich bald sehr eng gestaltete In der Folge entstanden auch Beziehungen zwischen Oster und einer oppositionellen Gruppe im Auswärtigen Amt um den Staatssekretär Freiherrn von Weizsäcker, vor allem den Gebrüdern Kordt Oster wurde somit das wichtigste Verbindungsglied'zwischen militärischer und ziviler Opposition, seine Abteilung gleichsam beider Geschäftsstelle Gemeinsam oder getrennt unterstützten Canaris und Oster, Dohnanyi und weiter der Berliner Vizepolizeipräsident Graf Fritz von der Schulen-burg den Rechtsanwalt von der Goltz bei seinen Ermittlungen zugunsten Fritschs. Auch Beck beriet, mit aller Vorsicht, den Verteidiger und wandte sich bei Keitel — vergeblich — gegen die Paralleluntersuchung der Gestapo Der Kreis der Sachwalter Fritschs verfehlte nicht, die für den Generalobersten entlastenden Momente, die Übergriffe der Gestapo bei ihrem Sonderverfahren, sowie das Protokoll, in dem Fritsch seiner Empörung über die entwürdigende Behandlung seiner Person und der Armee Ausdruck gab, maßgebenden Persönlichkeiten der Wehrmacht zur Kenntnis zu bringen. Über Einwirkungen namentlich von Canaris, der offenbar als erster die aufgedeckte „Personenverwechslung“ Beck und Keitel mittteilte berichtet immer wieder Jodl, dessen Tagebuch die stimmungsmäßige Reaktion auf die Ereignisse innerhalb und außerhalb der Wehrmacht deutlich erkennen läßt. So schilderte der Admiral dem Chef des Wehrmachtführungsamtes, dem ihm persönlich nahestehenden General vonViebahn, „in welch unwürdiger Weise" die Vernehmung Fritschs durch die Gestapo vor sich gegangen sei.
„General von Viebahn ist entsetzt“, fügt Jodl hinzu: „Wenn das in der Truppe bekannt wird, gibt es Revolution Auch Hitlers Sekretär und einstiger Kompanieführer Wiedemann, der das verhängnisvolle Wirken des Diktators erkannt hatte, übrigens Dohnanyi nähergetreten war, sprach Jodl von den Hintergründen und Gefahren der Fritschkrise und suchte über ihn Verbindung mit Canaris aufzunehmen Oster wiederum verabredete, als es zu einer letzten Vernehmung Fritschs durch die Gestapo in einer unbewohnten. Villa in Wannsee kam, mit dem dazu kommandierten Reichskriegsgerichtsrat die nötigen Schritte, um im Falle eines Gewaltakts gegen Fritsch die in die Umgegend der Villa zu einer „Übung“ befohlene zuverlässige Truppe sogleich herbeirufen zu können Die Freunde des Generalobersten bemühten sich endlich, Brauchitsch und Raeder als Teilnehmer an der Hauptverhandlung gegen Fritsch im Interesse einer wirklichen Aufklärung des Falles mit geeigneten Fragen auszurüsten. Offenbar unterließen diese jedoch den Versuch, die Hintermänner des gemeinen . Spiels zu treffen
Neben solchen vorwiegend mit dem Verfahren selbst zusammenhängenden Bemühungen wurden von dem gleichen Kreis Einwirkungen spezifisch politischer Natur auf maßgebende Persönlichkeiten geübt, sowie Gewaltaktionen erwogen und angeregt, die wir z. T. schon kurz erwähnten. Dazu gehörte u. a.der Vorstoß Goerdelers bei den Generalen List und Olbricht im Einvernehm m mit Schacht, der Anfang Februar auch über den oppositionell eingestellten Chef des Wehrwirtschaftsamtes, General Thomas, der Wehrmachtführung seinen Eindruck von den Machenschaften der SS gegen die Armee nahebrachte Im Mittelpunkt der besagten Aktionspläne stand offenbar Gisevius’ und Osters mehrfach bezeugter Gedanke, gleichsam an Hitler als dem legalen Staatsoberhaupt zunächst vorbeigehend, die Zentrale der Gestapo durch Potsdamer Truppen zu besetzen, Himmler, Heydrich und ihre Hauptmitarbeiter zu verhaften und unter alsbaldiger Veröffentlichung des bisher schon gesammelten und dann noch vorgefundenen Belastungsmaterials den Diktator vor vollendete Tatsachen zu stellen, was praktisch auf einen Systemwechsel hinauslief Auch in dem von Canaris und Hcßbach Beck unterbreiteten Programm einer Rehabilitierung Fritschs spielte ja die Ausschaltung der bisherigen Leiter der Gestapo eine wesentliche Rolle; danach sollte sie freilich im Rahmen der vorgesehenen „Demarche“ der Generalität bei Hitler gefordert werden
Aus dem beschlagnahmten Zossener Aktenmaterial der Opposition soll hervorgehen, daß beide Pläne scheiterten, der letztere, weil Brauchitsch die Demarche verweigerte, der erstere, weil „man annahm“ Hitler werde sich nicht vor vollendete Tatsachen stellen lassen, sondern ein solches Vorgehen als Rebellion ansehen und entsprechend ahnder. -d. h., weil man vor den letzten Konsequenzen zurückschreckte Bezeugt ist immerhin, daß der Befehlshaber des Wehrkreises III (Berlin), General von Witzleben -ein aufrechter, energischer Soldat und hervorragender Truppenführer, Typ des Gardeoffiziers -schon damals zu bewaffnetem Einschreiten bereit war Auch einer der soeben ausgeschiedenen Abteilungschefs im Heerespersonalamt der ihn zusammen mit dem Kommandeur der Potsdamer Division, dem Grafen Brockdcrff-Ahlefeldt, im Frühjahr besuchte, fand Witzleben dem Gedanken einer Aktion „durchaus zugänglich“ Bekundet ist ferner, daß der am 20. Juli beteiligte General von Hase sich während der Fritsch-Krise als Kommandeur des 50. Infanterie-Regiments in Landsberg a. d. Warthe eibot, mit diesem nach Berlin zu kommen Alle Hoffnungen und Anläufe der Aktivisten endeten freilich infolge der Haltung der neuen Heeresführung nach quälendem Ringen und Warten in Enttäuschung. Im neuen Oberkommando der Wehrmacht aber, so hat der Heeresadjudant Hitlers Mitte Mai unmutig notiert, „war und ist Canaris glücklich der einzige, der sich in dieser Angelegenheit einsetzt Zu alledem wurde der Fall Fritsch bald mehr und mehr von der geflissentlichen Zuspitzung der äußeren Lage durch die Politik Hitlers überschattet. 5. Beck und die Sudetenkrise Damit wuchs, wie die Dinge sich entwickelt hatten, die staatspolitische wie die fachlich-militärische Verantwortung der Wehrmacht-führung ins Riesenhafte. Bereits in einer (flicht von ihm selbst verfaßten) Niederschrift, die Beck am 11. Januar 1937 Fritsch vorlegte, hatte es geheißen: „Auf der Armee liegt ganz ausschließlich die Verantwortung für die kommenden Dinge. Vor dieser Feststellung gibt es kein Ausweichen Noch ehe Hitler sich über seine Kriegspläne gegen die Tschechoslowakei klar ausgesprochen hatte, sah sich Beck daher veranlaßt, wiederum seine warnende Stimme zu erheben Am 5. Mai 1938 übergab er Brauchitsch umfangreiche „Betrachtungen zur gegenwärtigen militärisch-politischen Lage Deutschlands“. Sorgfältig hob er darin alle für deutsche Kriegspläne ungünstigen Momente derWeltkonstellation, namentlich die Verschlechterung der englischen Stimmung seit dem österreichischen Ereignis und die dadurch verstärkten Bindungen Frankreichs an Prag, hervor. Stark betonte er die Wahrscheinlichkeit solidarischen Handelns der Westmächte, selbst wenn sie die Tschechei erst nach einem langen Kriege wiederherstellen könnten. Sodann unterstrich er die Schwächen der militärischen und wehrwirtschaftlichen Lage Deutschlands im Vergleich mit 1914/18 und die damit gegebene Unmöglichkeit, einen langen Krieg durchzuhalten. Über die Tschechoslowakei, so fuhr Bede fort, sei eine Einigung möglich, sofern „Deutschland einer für England noch tragbaren Lösung zustimmt“. „Vom militärischen Standpunkt“ forderte er daher für den Kriegsfall, daß England nicht auf der feindlichen Seite stehe, fügte aber sogleich hinzu, dies sei nicht zu erwarten, wenn Deutschland eine Lösung „gegen England zu erzwingen“ suche. Und erkennbar ad dictatorem bemerkte er am Schluß: „Über allen anderen Faktoren wird die brutale Macht stehen. Hilfe auf Grund weltanschaulicher Verbundenheit wird gegen sie, wenn eine solche Hoffnung überhaupt berechtigt ist, nicht aufkommen
Die Ausführungen, die Hitler am 28. Mai vor Vertretern von Wehrmacht, Partei und Staat in der Reichskanzlei machte, bewogen Beck zu neuer Stellungnahme. Eine Woche zuvor hatten falsche Meldungen über deutsche Truppenbewegungen gegen die Tschechei Warnungen der Westmächte in Berlin ausgelöst. Der „Prestigeverlust“, den die Auslandspresse Hitler wegen seines vermeintlichen Zurückweichens daraufhin bescheinigte, veranlaßte diesen, seine Pläne jäh zu konkretisieren: unter den üblichen Äußerungen zum Thema „Lebensraum“ proklamierte er an dem genannten Tage die baldige Beseitigung der Tschechoslowakei; ja, er stellte einen späteren Krieg im Westen zur „Erweiterung unserer Küstenbasis“ in Aussicht Schon am 29. Mai legte Beck in einer wesentlich militärisch gehaltenen Niederschrift für Brauchitsch seinen Standpunkt hierzu dar. Zwar erkannte er, das Positive vorwegnehmend, grundsätzlich an, daß Deutschland größeren Lebensraum brauche, daß die Tschechei in ihrer Versailler Gestalt „unerträglich“ sei und ihre Ausschaltung „als Gefahrenherd für Deutschland . . . notfalls auch durch eine kriegerische Lösung“ erfolgen müsse. Wenn Beck somit „nationale“ Ziele zweifellos bejahte, so zeigen doch seine weiteren Ausführungen, daß er keineswegs einem „lohnenden“ Kriege an sich das Wort reden wollte Denn er als führender Soldat berief sich gegen Hitlers Behauptung, Deutschland sei stärker als 1914, nicht nur auf die unfertige, personell, materiell und ideell (!) geringwertigere Wehrmacht von 1938, sondern wesentlich auch auf die „Ablehnung, der ein nicht zwingend erscheinender Krieg im Volke begegnen“ werde! Im übrigen betonte er, daß Deutschland, solange Prag mit der Waffenhilfe Frankreichs und Englands (ja Amerikas) rechnen dürfe, zwar den Feldzug gegen die Tschechei gewinnen könne, den Krieg jedoch verlieren müsse. Zum Schluß aber wertete Beck — eine unmittelbare Folge der Fritsch-Krise — die Äußerungen Hitlers unter fachlichem Gesichtspunkt als einen neuen Beweis für die „völlige Unzulänglichkeit der bisherigen obersten militärischen Hierarchie“: ohne ständige fachmännische Beratung, ohne klare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten könne er, Beck, das Schicksal der Wehrmacht und damit Deutschlands in einem künftigen Kriege „nur in den schwärzesten Farben sehen“
In seiner neuen Weisung „Grün“ an die Wehrmacht vom 30. Mai verkündete Hitler bekanntlich seinen „unabänderlichen Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen“ Bereits am 3. Juni distanzierte sich Beck in einer weiteren Denkschrift an Brauchitsch für den Generalstab des Heeres entschieden von den in Hitlers Weisung vertretenen militärischen Auffassungen, die übrigens „ohne Fühlungnahme“ mit ihm, dem General-stabschef, entstanden seien. In eingehenden Ausführungen bezeichnete er eine auf solchen Grundlagen ausgebaute Aktion gegen die Tschechoslowakei als „verhängnisvoll“ und lehnte eine Mitverantwortung für den Generalstab des Heeres „ausdrücklich“ ab. Die sonst alljährlich stattfindende Generalstabsreise ersetzte Beck diesmal durch eine schriftliche Untersuchung über den Ablauf eines nicht lokalisiert bleibenden Feldzugs gegen die Tschechei, deren Ergebnisse-seine Bedenken bestätigten
Bei der Besprechung am 13. Juni in Barth, die der Erledigung des Falles Fritsch diente, teilte Brauchitsch den überraschten Befehlshabern auch mit, daß Hitler zu der Überzeugung gelangt sei, die tschechische Frage werde sich nur gewaltsam lösen lassen Zu dieser Zeit hatte die von Goebbels in einem uns heute nach Tendenz und Taktik voll erkennbaren Ausmaß gelenkte Presse in ihrem Feldzug gegen die Tschechei eine Kampfpause eingelegt Mitte Juli jedoch nahm sie weisungsgemäß den Nervenkrieg mit einer Schärfe und Beharrlichkeit wieder auf, die für jeden Einsichtigen eine bedenkliche moralische Festlegung bedeuten mußte. Eine Reihe ungewöhnlicher Maßnahmen begann Deutschland „ein kriegerisches Aussehen“ zu geben Fieberhafte Befestigungsarbeiten im Westen, Anlegung kriegswichtiger Vorräte, Einführung der zivilen Dienstpflicht (22. 6.), Gesetz über Leistungen der Bevölkerung für Wehrzwecke (13. 7.), Einreiseverbot für ausländische Militärs in Grenzgebiete, in der Folge ausgedehnte Übungen in Divisionsoder Korpsverband unter Auffüllung der beteiligten Formationen auf Kriegsstärke — all das lief nach dem Urteil fachmännischer ausländischer Beobachter auf eine Probemobilmachung hinaus, auf Grund welcher die Verbände aus ihren Übungsräumen heraus am Stichtag mit zeitlichem Vorsprung vor dem Gegner zur Aktion schr 2ei 9t 1en konnten Am 4. Juli wurde vom OKW eine Zeittafel für die erwähnten Übungen ausgestellt, wonach der neue Aufmarschplan „Grün“ mit dem 28. September in Kraft treten sollte, der damit als frühester X-Tag in Frage kam In breiten Volks-kreisen machten sich, auch den ausländischen Diplomaten unverkennbar lebhafte Kriegsbesorgnissc geltend Dies war das äußere Bild einer Entwicklung, die Bede erneut auf den Plan rief.
In einer dritten großen Denkschrift vom 16. Juli wiederholte der Generalstabschef zunächst, daß ein gewaltsames Vorgehen gegen die Tschechoslowakei zu einem sofortigen Eingreifen der Westmächte führen müsse. Es werde daher „nach menschlicher Voraussicht mit einer nicht nur militärischen, sondern auch allgemeinen Katastrophe für Deutschland endigen“. Nachdrücklich wies Beck sodann darauf hin, daß das Volk diesen Krieg nicht wolle, nicht nur weil es sein Ausmaß ahne, sondern auch weil es seinen Sinn und Zweck nicht begreife; auch im Heer machten sich solche Stimmungen geltend. Fehlendes Vertrauen vom Volk und. Heer zu den Spitzen der Armee aber müsse nicht nur alle kriegerischen Aussichten beeinträchtigen, sondern könne — fügte Beck hinzu — „sogar schon vor Kriegsbeginn weit schlimmere Folgen zeitigen“! Im Rahmen einer eingehenden Kritik an den politischen und militärischen Grundlagen des Hitlerschen Kriegsplans, dem vermeintlich gegebenen „Überraschungsmoment“, der angeblich gesicherten „Rückendeckung im Westen“, betonte r nochmals: mit einmal erfolgtem Kriegseintritt der Westmächte v/erde es sich „nicht mehr um Intervention im Interesse der Tschechei, sondern um einen Krieg auf Leben und Tod mit Deutschland“ handeln. — Ursprünglich wollte Beck — nach der dringenden Bitte an Brauchitsch, Hitler „zu veranlassen, die von ihm befohlenen Kriegsvorbereitungen einzustellen“ und eine gewaltsame Lösung der tschechischen Frage so lange hinauszuschieben, bis sich ihre militärischen Voraussetzungen grundlegend geändert hätten -nun mit dem Antrag auf Enthebung von seinem Posten schließen, falls eine Sinnesänderung Hitlers nicht zu erreichen sei. In der endgültigen Fassung der Denkschrift forderte er statt dessen Brauchitsch auf, die Kommandierenden Generale über Geist und Stimmung der Truppe zu hören und —vor der von Hitler geplanten Besprechung mit den Generalen -seinerseits eine einheitliche Auffassung mit diesen wie mit den Oberbefehlshabern der übrigen Wehrmachtteile herbeizuführen Es ist von hohem Interesse, festzustellen, daß es im Oberkommando der Marine Männer gegeben hat, die zur gleichen Zeit angesichts der „Weisung Grün“ — mindestens der Sache nach — ganz ähnliche Auffassungen vertraten wie Beck. So führte der Chef des Stabes der Seekriegsleitung, Vizeadmiral Guse, in einer Aufzeichnung vom 17. Juli zunächst aus, daß nach dem Bekanntwerden der deutschen Absichten ein überraschender Überfall auf die Tschechoslowakei nicht mehr möglich sei. Unter Hinweis darauf, daß vielmehr „die ständig sich steigernde Spannung ... zu ultimativen Forderungen oder präventiven Maßnahmen Englands oder Frankreichs gegen uns führen“ könne, vor denen es für Deutschland dann „kein Zurück“ mehr gäbe, fuhr er wörtlich fort: „Ich glaube, daß der Führer die Entwicklung der Dinge jetzt noch lenken kann und daß er geradezu das Schid^sal Europas in der Hand hält. Wenn er jetzt (etwa durch, eine Friedensrede vor dem Reichstag) der Welt einen deutlichen Beweis seines Friedenswillens gibt, so ist die Hoffnung auf eine allgemeine Entspannung vorhanden. Daß in einem Konflikt europäischen Ausmaßes Deutschland unterliegen müßte und daß damit das ganze bisherige Werk des Führers in Frage gestellt würde, kann nicht zweifelhaft sein. Ich habe bisher keinen höheren Offizier aller drei Wehrmachtteile gesprochen, der anderer Ansicht wäre oder der nicht die Befürchtung hätte, daß bei der augen-blid^lichen politischen Spannung aus dem Überfall auf die Tschechei ein europäischer Konflikt sich entwickeln würde-In dieser Lage haben die verantwortlichen Berater des Führers nicht nur die Pflicht des Gehorsams gegen seine Befehle, sondern zugleidi die Pflicht, sidr mit der ganzen Kraft ihrer Person bis zur letzten Konsequenz dafür einzusetzen, daß eine Entwicklung, die den Bestand des Reiches bedroht, red'itzeitig gebremst wird."
Guse bezweifelte, ob der in erster Linie zuständige Reichsaußenminister den Entschluß dazu finden werde. So plädierte er wie Beck für „gemeinsame Vorstellungen aller drei Wehrmachtchefs" oder doch, wäre Göring hierzu nicht zu bewegen, der Oberbefehlshaber von Marine und Heer — „in voller Klarheit und mit dem ganzen Gewicht, das ihre Stellung ihnen gibt“
Mit diesem Votum übereinstimmend machte der damalige Fregattenkapitän Heye in der Operationsabteilung des OKM in einer Lage-betrachtung zahlreiche, noch ausgesprochener politische, auch dem Regime gegenüber höchst ketzerische Gesichtspunkte gegen die Kriegs-pläne Hitlers geltend. So scheute er nicht den Hinweis darauf, daß die bestehende Antipathie gegen das Reich durch die Ansichten des Auslandes von den innerdeutschen Zuständen „dauernd genährt“ werde: „Die Methoden der geistigen und politischen Gleichschaltung des deutschen Volkes, die Art und Weise, wie die Kirchen-und die Judenfrage nach den zahlreichen ins Ausland gelangenden Nachrichten gelöst wird, lassen für den denkenden Ausländer Deutschland als einen Sowjetrußland sinnverwandten Staat erscheinen, der aber [so wird der Eindruck zur damaligen Zeit, namentlich im Ausland, sehr richtig charakterisiert] viel stärker als Rußland durch seinen Kampfeswillen und seine Kampfkraft über seine Grenzen hinausdrängt und in dieser
Beziehung unberechenbar ist. Der Zusammenschluß der Völker unter einer Parole wie seinerzeit gegen Napoleon dürfte deshalb die besten Voraussetzungen finden.“
Bei solcher Stimmungslage, fuhr Heye fort, müsse ein deutscher Überfall auf die Tschechei „wie ein Fanal“ wirken. Es sei daher damit zu rechnen, daß die Westmächte, womöglich auch Rußland und Amerika, die Gelegenheit ergreifen würden, „die deutsche Gefahr ein für allemal zu bannen“, namentlich wenn bei dem Überfall noch Luftangriffe auf Kulturzentren erfolgten, die den Krieg gegen Deutschland zu einem von den Massen getragenen Kreuzzug machen würden. Ein Eingreifen der Westmächte bedeute aber „den Verlust des Krieges für Deutschland mit allen Folgen“. — Voraussetzung für eine Anwendung militärischer Mittel in der tschechischen Frage, so legte Heye schließlich dar, sei „die Werbung von Sympathie im Ausland“: Deshalb müsse „das bisherige System der Gestapo, die Behandlung der Kirchen-und Judenfrage in feste, gesetzliche Formen gegossen“, die Staatsautorität gegenüber der Partei gestärkt werden Und die „Aufgabe des Soldaten“ in der einzigartigen Lage des Augenblicks erkennend, berief er sich auch auf — die „Worte des Führers in . Mein Kampf'“, wonach es Pflicht des Soldaten sei, „für eine Abhilfe von Dingen einzutreten, wenn er , eine Sache weiß, eine gegebene Gefahr erkennt, die Möglichkeit einer Abhilfe mit seinen Augen sieht'“
Zwischen den Zeilen zu lesen erfordert die rechte Deutung amtlicher Aufzeichnungen im Dritten Reich sonst nicht selten. Die klare Sprache besonders der letzten Stellungnahme enthebt solcher Mühe, wenngleich der Verfasser seinen Empfindungen über Wesenselemente des Nationalsozialismus in dieser dienstlichen Auslassung immer noch einige Zu-rückhaltung auferlegt haben dürfte, — wenngleich er, niemandem verkennbar, für seine Kritik den „denkenden Ausländer“ bemüht! Beide Offiziere aber sprachen als besorgte Patrioten, deren gesunde Vaterlandsliebe ihnen das Auge für Dämonie und Amoral der politischen Führung nicht verschloß, sondern öffnete, und deren Verantwortungsgefühl sich in dieser Lage vor den Schranken des normalen soldatischen Gehorsams nicht zufrieden gab.
Dies war es, was auch Beck auf seinem Wege jetzt noch weiter trieb.
Am 16. Juli, dem Tage, an dem er seine große Denkschrift Brauchitsch überreichte, drang er bei diesem in mündlichem Vortrage auf einen gemeinsamen Schritt der höchsten Führer der Wehrmacht, um Hitler zur Aufgabe seines Kriegsplanes zu zwingen, der ein „finis Germaniae" heraufbeschwöre Die denkwürdige Begründung, die Beck dieser Forderung gab — das entscheidende und bleibende Wort des militärischen Widerstandes gegen den gewissenlosen Diktator über-haüpt —, verdient zumal in einer geschichtlichen Darstellung der Opposition führender Soldaten einen Platz: „Es stehen hier letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem Spiel; die Geschichte wird diese Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitisdien Wissen und Gewissen handeln.
Ihr soldatischer Gehorsam ha/dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehles verbietet.........
Es ist ein Mangel an Größe und an Erkenntnis der Aufgabe, wenn ein Soldat in höchster Stellung in solchen Zeiten seine Pflichten und Aufgaben nur in dem begrenzten Rahmen seiner militärischen Auf-* träge sieht, ohne sich der höchsten Verantwortting vor dem gesamten Volke bewußt zu werden.
Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlun-gen! I « Gab Hitler dem Einspruch der militärischen Führer nicht nach, so sollten diese (forderte Beck in seinem Vortrag) geschlossen „von ihren Ämtern abtreten“, um dadurch dem Diktator kriegerische Handlungen unmöglich zu machen. Ein Diktator „kann sich nicht zwingen lassen“, so hat Manstein zwar gesagt, oder seine Diktatur sei erledigt Bede war sich jedoch keineswegs im unklaren darüber, daß ein solcher Generals-Streik zu „erheblichen innerpolitischen Spannungen“ führen würde. Offensichtlich erwartete er, selbst wenn Hitler zunächst zurückwich, einen Gegenschlag des Diktators gegen die „unfähigen Wehrmachtführer“, sei es aus eigenem Antriebe, sei es auf Drängen „radikaler“ Parteikreise. Lind Beck berief sich, was Hitlers eigene Einstellung anging, ausdrücklich auf die ihm berichtete Äußerung des Diktators: „Den Krieg gegen die Tschechei muß ich noch mit den alten Generalen führen, den Krieg gegen England und Frankreich führe ich mit einer neuen Führerschicht Man werde sich, fuhr Beck fort, „daher entschließen müssen, in unmittelbarer oder nachfolgender Verbindung mit einem Einspruch nunmehr eine klärende Auseinandersetzung zwischen Wehrmacht und SS herbeizuführen“. In den folgenden Wochen trat dieser Gedanke des Generalstabschefs immer stärker hervor. So wiederholte er am 19. Juli: Wenn man sich zu dem bewußten Einspruch „mit allen seinen Folgen“ entschließe, so werde „zu prüfen sein, ob man diesen Schritt nicht dahin aktivieren sollte, daß man es zu einer für die Wiederherstellung geordneter Rechtszustände unausbleiblichen Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie kommen lassen m u ß“. Wie es bereits in den Aufzeichnungen der beiden Marineoffiziere Ausdruck fand: als die gewissenlose Kriegspolitik des Diktators ihre fachliche und nationale Verantwortlichkeit aufrief, kam das lange aufgestaute innere Widerstreben ethisch verwurzelter Soldaten gegen die amoralische Substanz des Systems nun offen zum Durchbruch. Es lag tief in der allgemeinen Entwicklung, vor allem aber in der Stärke der militärischen Tradition begründet, wenn es jenes letzten Anstoßes HFirste. Beides wirkte jetzt in engster Verbindung, ja, kein Unvoreingenommener wird verkennen, daß erst die moralische Auflehnung die Kraft gab, den Bann überkommenen soldatischen Gehorsams und verfälschter nationaler Interessen zu brechen.
Worauf aber zielte Beck praktisch ab? Seine weiteren Notizen scheinen unterschiedliche Deutungen zuzulassen. „Wohl zum letzten Male“, bemerkte er biete das Schicksal die Gelegenheit, „das deutsche Volk und den Führer selbst zu befreien von dem Alpdruck einer Tscheka und von den Erscheinungen eines Bonzentums, die den Bestand und das Wohl des Reiches“ zerstörten. Und nach einem größeren Absatz fuhr er fort: „Hierbei", d. h. bei der Anbahnung der innerpolitischen Aktion, müßten die folgenden Gesichtspunkte „in den Vordergrund gestellt“ werden: „Es kann und darf kein Zweifel darüber aufkommen, daß dieser Kampf für den Führer geführt wird“. Im Interesse des Gelingens wollte Beck auch „aufrechte und tüchtige Männer der Parte i“, zu welchen er den Gauleiter Wagner (Schlesien) — ein Opfer des 20. Juli— und den Reichsstatthalter Bürckel in Wien rechnete, durch die örtlichen militärischen Befehlshaber für die Aktion zu gewinnen suchen. Sodann heißt es weiter: „Auch nur die leiseste Vermutung etwa eines Komplottes darf nicht aufkommen, und trotzdem muß die Geschlossenheit der militärischen Führer für alle Fälle hinter diesem Schritt stehen.“ Lind nun formulierte Beck „kurze, klare Parolen“ für die Aktion, die er in Form einer Liste folgen ließ: „Für den Führer! Gegen den Krieg! Gegen die Bonzokratie! Friede mit der Kirche! Freie Meinungsäußerung! Sdtluß mit den Tschekamethoden! Wieder Recht im Reich! Senkung aller Beiträge um die Hälfte! Kein Bau von Palästen! Wohnungsbau für Volksgenossen! Preußisdte Einfachheit und Sauberkeit!"
Es kann somit darüber kein Zweifel bestehen, daß die von Beck angestrebte innerpolitische Aktion das nationalsozialistische Regime in seiner Substanz treffen sollte. Er war sich zweifellos auch klar darüber, was dies für die Machtstellung Hitlers mindestens der Sache nach bedeuten mußte. Die Frage bleibt, ob Beck, wenn er Hitler selbst in seinem Aktionsprogramm „ausklammerte“, dennoch zu einem bewaffneten Vorgehen gegen den Diktator letztlich bereit war. Berücksichtigt man jedoch die Schlußworte seiner Vortragsnotiz vom 29. Juli, welche lauten: „Wie in der Vortragsnotiz vom 16. 7. 1938 angegeben, ist in jedem Falle mit inneren Spannungen zu rechnen; es wird hiernach notwendig sein, daß das Heer sich nicht nur auf einen möglichen Krieg, sondern auch für eine innere Auseinandersetzung, die sich nur in Berlin abzuspielen braucht, vorbereitet. Entsprechenden Auftrag er feilen. Witzleben und Helldorff zusammenbringen“ bedenkt man ferner, daß Beck während dieser Zeit in fast täglichem, oft stundenlangem Gedankenaustausch mit einem „Aktivisten“ wie Oster stand so liegt die Schlußfolgerung nahe, daß die nach seiner Meinung „in den Vordergrund zu stellenden Gesichtspunkte“ sowie die „Parolen“ seines Programms eine mit dem Eid auf Hitler zunächst vereinbare taktische Form der Aktion herausarbeiten sollten. Die Anlehnung an den Gisevius-Oster’schen Gedanken des „legalen“ Anfangsstoßes gegen die „kriminelle“ Gestapo erscheint kaum verkennbar Auch Halder gewann, als er (nach seiner Erinnerung: bereits vor seinem Amtsantritt als Generalstabschef) mit Witz-leben in nähere Verbindung trat, den bestimmten Eindruck, daß zwischen Beck und diesem „schon weitgehenden Erwägungen über eine Aktion gegen Hitler“ angestellt worden seien Im übrigen: wenn Beck den Schritt der Generalität gegen den Krieg „unmittelbar“ mit der Aktion gegen „SS und Bonzokratie“ verbinden (ja, jenen Schritt selbst schon in diesem Sinne „aktivieren“) wollte, so konnte der angedrohte Gesamt-rücktritt der Generale doch kaum mehr praktisch werden. Allerdings war Becks Plan — so, wie er schriftlich vorliegt — nicht primär auf ein Komplott gegen Hitler selbst abgestellt sondern sollte gleichsam erst im Nachzug gegen einen gewaltsam reagierenden Diktator in Funktion treten Sofern sein Plan damit Hitler noch Handlungsfreiheit ließ, sofern er gleichzeitig auf die Geschlossenheit der Generalsfront bis zum Ende basiert war, enthielt er gewisse Unsicherheitsfaktoren und entbehrte somit vielleicht des letzten Realismus. Immer mehr verstärkte Beck in diesen Wochen seine Einwirkung auf Brauchitsch im Sinne der bewußten Demarche der Generalität gegen den Krieg. Wollte er den Schritt ursprünglich sofort nach einer von ihm für August erwarteten ersten anglo-französischen Warnung getan wissen, so nahm er ihn jetzt für die zweite Septemberhälfte in Aussicht, wenn „der Rausch des Parteitages verklungen“ wäre Nach der Vortragsnotiz Becks vom 29. Juli sollte Brauchitsch dann erklären, er als Oberbefehlshaber des Heeres mit seinen höchsten Generalen bedauere, die Verantwortung für die Führung des geplanten Krieges „nicht übernehmen zu können, ohne sich vor dem Volk und der Geschichte mitschuldig zu machen". Sie träten daher von ihren Ämtern zurück, falls der Führer auf der Durchführung des Krieges bestehe. „Die Form dieser Erklärung“, fügte Beck hinzu, „kann nicht eindrucksvoll, hart und brutal genug abgefaßt werden Unverzüglich machte er sich nun auch an die Ausarbeitung einer Ansprache, die Brauchitsch bei der für den 4. August vorgesehenen internen Besprechung der Generale halten sollte. Im Rahmen einer umfassenden Betrachtung der militärpolitischen Lage unterstrich Becks Entwurf erneut alle ungünstigen Momente der politischen Konstellation, wobei der vielsagende Hinweis nicht fehlte, daß es England in einem Kriege weniger auf die Tschechei ankommen werde als auf „das Niederschlagen des neuen Deutschlands, das es als Ruhestörer empfindet und von dem es die wichtigsten Elemente englischer Staatsauffassung bedroht glaubt: Recht. Christentum und Toleranz“. Der Entwurf betonte ferner alle Schwächen des deutschen materiellen wie moralischen Kriegspotentials. Anschließend sollte Brauchitsch im Hinblick auf den geplanten Schritt sich in gehöriger Form der „vollen Übereinstimmung“ mit den versammelten Generalen versichern. Nach ausdrücklicher Feststellung dieser Übereinstimmung sollte er von ihnen verlangen, „auf Gedeih und Verderb hinter ihm zu stehen und ihm bedingungslos auf seinem Wege zu folgen
Tatsächlich befahl Brauchitsch die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und die Kommandierenden Generale zum 4. August zu einer Besprechung nach Berlin. Nach Aussage des Generalobersten Adam verlas dabei zunächst Beck, nach dem Zeugnis des Feldmarschalls Freiherrn von Weichs Brauchitsch selbst die große Juli-Denkschrift (des Generalstabschefs). Sodann gab auf Wunsch Brauchitschs der zum Ober-befehlshaber im Westen ausersehene General Adam ein Bild von dem Stand der dortigen Befestigungen und Kräfteverhältnisse — „schwarz in schwarz“, wie er selber sagte Nach voller Billigung seiner Ausführungen durch Beck wie Brauchitsch forderte dieser die Versammelten in Anbetracht der ernsten Lage auf, rückhaltlos ihre Meinung über die Einstellung des Volkes, die Haltung der Truppe und deren Ausbildungsstand im Hinblick auf einen Krieg zu äußern. Und zwar sollten sie diese ihre Meinung auch bei einem Zusammentreffen mit Hitler voll zum Ausdruck bringen. Nach dem Zeugnis des Feldmarschalls von Weichs erfolgten daraufhin nicht bloße „Gesten der Zustimmung (wie Adam bemerkt) sondern „fast einstimmig offene Antworten jedes einzelnen“, des Sinnes: „Von einigen wilden Parteigenossen abgesehen, sei die Einstellung des Volkes gegen den Krieg ablehnend; das gleiche gelte von der Truppe. Für einen Weltkrieg seien Ausbildung, Ergänzung und Ausrüstung völlig unzureichend . . . , Finis Germaniae', sagte einer der Generale. Nur zwei abweichende Antworten erfolgten , indem Reichenau und Busch den Standpunkt des soldatischen Gehorsams vertraten. Nach einer scharfen Replik Becks gegen Busch über die Pflichten eines Generalstabsoffiziers stellte Brauchitsch die Übereinstimmung der Führer des Heeres in der Ablehnung eines Krieges fest und schloß mit der Bemerkung, „daß ein neuer Weltkrieg unsere deutsche Kultur restlos zerstören würde
Hierbei ließ Brauchitsch es jedoch bekanntlich bewenden. Er hielt weder die von Beck entworfene Schlußansprache, die den Generalen eine kategorische Stellungnahme ihres Oberbefehlshabers gegen die Kriegspolitik Hitlers ankündigen und sie auf bedingungslose Unterstützung einer Gehorsamsverweigerung festlegen sollte, noch war er selbst Zu entsprechenden oder noch weitergehenden Schritten geneigt. Er beschränkte sich darauf, Becks Denkschrift über den Heeresadjutanten Hitler vorlegen zu lassen und identifizierte sich insoweit mit den Gedankengängen des Generalstabschefs. Der Diktator jedoch sprach dem Verfasser das Recht zu seinen politischen Darlegungen ab und erklärte Brauchitsch in „erregter Auseinandersetzung“, er wisse allein, was er zu tun habe. —
Der an sich so erfolgreiche Ausgang, den die Krise durch die Münchner Konferenz mit dem unblutigen Gewinn der Sudetengebiete für Deutschland nehmen sollte, hat begreiflicherweise dazu geführt, die Zeitgenossen über die ursprünglichen Positionen und Tendenzen Hitlers sowohl wie seiner Gegenspieler im In-und Ausland zu täuschen. Ja, bis heute wirkt vielfach der Eindruck fort, als habe Hitlers Ingenium damals alles Erstrebte erreicht, als sei die deutsche Opposition mit ihren Bedenken durch seinen Erfolg mindestens momentan und materiell „widerlegt“ worden Diese Täuschung ist dadurch wesentlich gefördert worden, daß Hitler — trotz seiner ungestümen, aber vagen Forderung nach „Selbstbestimmung" für die Sudetendeutschen — nach außen hin so gut wie nichts darüber verlauten ließ, auf welche „Lösung“ er insgeheim hinsteuerte. Der Rest diplomatischer Freiheit, den er sich damit wahrte, sollte für ihn aber vor allem den Weg zu seinem Maxim al ziel, d. h. zu völliger Beseitigung der Tschechoslowakei durch einen lokalisierten Blitzkrieg, offen halten. Dieser taktische Spielraum erleichterte ihm später zwar auch die (widerwillige) Annahme der Münchener „Etappenlösung“ ohne Prestigeverlust. Dies ändert jedoch nichts daran, daß Hitler nicht bluffte, sondern wirklich auf eine gewaltsame „Liquidation“ der Tschechoslowakei in ihrer Gesamtheit ausging Wohl hieß es (im Entwurf der Weisung für das neue Mobilmachungsjahr) am 18. Juni beruhigend: „Ich werde mich aber zur Aktion gegen die Tschechei nur entschließen,, wenn ich, wie bei der Besetzung der entmilitarisierten Zone und beim Einmarsch in Österreich, der festen Überzeugung bin, daß Frankreich nicht marschiert und damit auch England nicht eingreift 'Die auf westliche „Interventionsgelüste“ abschreckende Wirkung großer deutscher Anfangserfolge, ja das Eingreifen Ungarns und Polens gegen die Tschechei, schien Hitler jedoch vollends gewährleistet, „wenn durch die eindeutige Haltung Italiens an unserer Seite Frankreich sich scheut, zum mindesten aber zögert, . . . einen europäischen Krieg zu entfesseln“ Hitlers Appell an die Waffen hing also von einer mehr als gewagten subjektiven Voraussetzung ab Er hielt an ihr mit einer nur noch fanatisch zu nennenden Hartnäckigkeit mindestens bis zum 27. September fest, obwohl in der Haltung der kriegsabgeneigten Westmächte ein wesentlicher Umschwung eintrat, als der deutsche Diktator nach dem Godesberger Treffen mit Chamberlain bloße Fragen der technischen Durchführung der ihm bereits zugestande-nen Abtretung des Sudetenlandes zum Vorwand für eine blutige Zerschlagung der Tschechoslowakei machen wollte Trotz der unrealistischen und (bei allem Verantwortungsgefühl im Hinblick auf einen Weltbrand) bisweilen schwächlichen Haltung der Westmächte kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ein gewaltsames Vorgehen Hitlers in diesem Augenblick zu dem von Beck befürchteten europäischen Krieg geführt haben würde.
Gewiß unterschätzte der Generalstabschef im Gegensatz zu Hitler die Kriegsabneigung des Westens in der Überzeugung, man wisse dort, worum es in Wahrheit ging. Höchstwahrscheinlich zog er auch die Grenze einer „für England noch tragbaren Lösung“ der tschechischen Frage zu eng. Den letzteren Irrtum teilte mit ihm jedoch — Hitler selbst, dem das Ausmaß der anglo-französischen Konzessionsbereitschaft in der Sudetenfrage mit Rücksicht auf sein eigentliches Ziel ebenso unerwartet wie unerwünscht kam. „Glauben Sie“, so fragte er im Januar 1939 den ungarischen Außenminister, „daß ich selbst es vor einem halben Jahr für möglich gehalten hätte, daß mir die Tschechoslowakei von ihren Freunden quasi serviert worden wäre? Ich habe nicht daran geglaubt, daß England und Frankreich in einen Krieg ziehen würden, aber ich war der Überzeugung, daß die Tschechoslowakei durch einen Krieg vernichtet werden müsse. Wie alles gekommen ist, ist geschichtlich einmalig Mit beispiellosem Zynismus gestand Hitler auch polnischen Diplomaten, daß Chamberlains Vermittlung ihn „in gewissem Sinne überrumpelt daß sie ihn von „einer Liquidation der Tschechoslowakei . . . abgedrängt“ habe, so daß er, „von LIngarn in keiner Weise irgendwie aktiv unterstützt..., nur die ethnographische Lösung vor der Welt vertreten“ konnte! „Seiner Auffassung nach“, so hatte er die ungarischen Minister vor dem zweiten (Godes-berger) Treffen mit Chamberlain gemahnt, „sei die einzig befriedigende Lösung ein militärisches Vorgehen Beck und seine Gesinnungsgenossen in Heer und Marine gingen also bei der Beurteilung der Politik Hitlers und ihrer mutmaßlichen Folgen für Deutschland im ganzen von völlig richtigen Voraussetzungen aus. Dies ist für eine gerechte Würdigung der Bedenken und Handlungen der militärischen Opposition von wesentlicher Bedeutung. Bede und seine Freunde hatten mit gutem Grund das unabweisbare Empfinden, daß von der Staatsführung eine Politik getrieben wurde, die allen normalen Maßstäben spottete. Sie erkannten offenbar instinktiv, daß diese Politik nicht mehr gewöhnliche „Fehler“ im Kalkül aufwies, wie sie auch dem verantwortungsbewußten Staatsmann unterlaufen, sondern schlechterdings leichtfertig in den Prämissen, bedenkenlos in den Mitteln, abenteuerlich in Wagnis und Zielsetzung war. Nach gewissenhafter Erwägung besaßen jene Männer auch hinreichend Grund zu ihrer Besorgnis, eine Politik, die unter einem propagandistischen Trommelfeuer sondergleichen allem Anschein nach hemmungslos ihrem Ziel zustrebte und wirkliche wie mögliche Gegner mit handfesten Drohungen bediente, werde „Präventivmaßnahmen“, zumindest im weiteren Sinne des Wortes, auslösen und schließlich „kein Zurück mehr“ finden Denn jenes Maß von Friedensliebe, Langmut und Entgegenkommen, mit dem die britischen Staatsmänner im Jahre 1938 die Kriegsfackel Hitler aus den Händen wanden, war, um dessen Wort zu gebrauchen, in der Tat „geschichtlich einmalig“. Es zeugt denn auch gewiß nicht von einem Mangel an patriotischer Disziplin, wenn in fast allen Gesprächen, die deutsche Offiziere damals mit dem britischen Militärattach in Berlin dienstlich führten, ihre Bedenken gegen die Politik der eigenen Staatsleitung und ihre Sorgen vor der Reaktion der Gegenseite deutlich wurden — es spricht allein für die singuläre Handlungsweise des maßgebenden Faktors. Eben darum war es Beck und seinen Gesinnungsgenossen nicht möglich, sich wie in normalen Zeiten, auf die militärische Unterrichtung und Warnung des leitenden Staatsmannes zu beschränken und die politische Verantwortung ihm ohne weiteres zu überlassen.
Auch Brauchitsch hatte sicherlich ein Gefühl für den singulären Charakter der Lage wie der Staatsverhältnisse. Schon am kritischen 21. Mai hatte er, von Canaris und Oster über die damalige britische Warnung orientiert, Ribbentrop auf die Mängel der deutschen Kriegsrüstung hingewiesen Auch in der Folgezeit hat er fraglos des öfteren vor einer Gewaltlösung dringend gewarnt. So war, wie Jodl vermerkt, Keitel schließlich „erschüttert“ darüber, daß der neue Oberbefehlshaber des Heeres im Sinne des Diktators „eine solche Enttäuschung“ bedeutete. Denn es blieb Hitler nicht verborgen, daß Brauchitsch „seine Kommandierenden Generale gebeten hat, ihn zu unterstützen, um dem Führer die Augen zu öffnen über das Abenteuer Isicl, in das zu stürzen er sich entschlossen“ habe Andererseits aber wird gerade das Gefühl für die innere Berechtigung der weitergehenden Forderungen, die Beck mit verbissener Zähigkeit vertrat, Brauchitsch die Auseinandersetzung mit seinem Stabschef zur seelischen Qual gemacht haben Es waren ganz gewiß „außergewöhnliche Handlungen“, die Beck von ihm verlangte. Man darf bezweifeln, ob Hitler, wenn wirklich die Generale geschlossen und ohne Rücksicht auf etwaige Folgen seinen unpopulären Kriegsplänen entgegengetreten wären, es in der gegebenen außenpolitischen Lage auf einen offenen Konflikt mit ihnen hätte ankommen lassen Freilich, als Oberbefehlshaber des Heeres hatte Brauchitsch zwar allein die Möglichkeit, hatte aber auch die ganze innere und äußere Last der Aufgabe zu tragen, jene Geschlossenheit herzustellen und bis zur letzten Konsequenz zu sichern. Er mag (wir können es nur vermuten), schon als Soldat unter Soldaten, die Möglichkeit bezweifelt, die gewiß vorhandenen Unsicherheitsfaktoren in der Rechnung Becks mit ihren weitführenden Folgerungen — all das einem überraschender Reaktionen und Aushilfen fähigen Hitler gegenüber — gescheut haben. Überdies rang im Heer seit der Fritsch-Krise mit der Sorge um die gefahrvolle äußere Entwicklung offenbar ein zunehmendes Gefühl der Schwäche gegenüber dem Dynamismus des Parteistaats. Im August 1938 deutete ein Offizier des OKH dem britischen Militärattache an, das Heer sei noch nicht in der Lage, der Partei offen Opposition zu machen, und werde es vielleicht niemals sein. Brauchitsch könne den Forderungen der Staatsführung nur bis zu einer gewissen Grenze Widerstand leisten, wolle er nicht Gefahr laufen, daß die Leitung der Armee am Ende einem Himmler übertragen würde. (Symptome solcher Stimmungen stellten wir auch sonst schon fest Und das Fazit des Gesprächspartners, das der Militärattache in deutscher Sprache wiedergab, lautete: „Wenn wir nicht genügend mitmachen, verlieren wir die Zügel aus den Händen Kurz, entscheidend für die Resignation Brauchitsdrs war sicherlich weniger ein Mangel an Einsicht in die Erfordernisse einer außerordentlichen Lage ais an innerer Zuversicht, ihnen einem Hitler gegenüber Genüge leisten zu können.
Um dem Geist des Widerstandes in der Generalität, namentlich wohl auch den Darlegungen Becks, wirksam zu begegnen, tat der Diktator nun bekanntlich etwas (nach der Feststellung Adams und Mansteins) „ganz Ungewöhnliches“ über den Kopf der höchsten militärischen Führer hinweg berief er deren Gehilfen — die im Kriegsfall als Stabschefs der Gruppen und Armeen vorgesehenen Generale — für den 10. August jüngere Generation" für seine Auffassung zu gewinnen, daß England und Frankreich nicht wagen würden, sich in den bewaffneten Konflikt mit der Tschechei einzumischen. Indes, auch aus diesem Kreise wurden Bedenken geäußert, insbesondere die Worte des Generals Adam zitiert, daß der Westwall ja höchstens drei Wochen gehalten werden könne: worauf Hitler bekanntlich aufbrausend entgegnete, dann würde die ganze Armee nichts mehr taugen — die Stellung werde nicht drei Wochen, sondern drei Jahre gehalten Fünf Tage später, am 15. August, befahl Hitler die höheren Generale auf den Übungsplatz Jüterbog.
Hier versuchte er zunächst durch entsprechende Vorführungen ihre (im Mai noch von ihm anerkannten 4. Bedenken hinsichtlich eines wirksamen „Angriffsverfahrens“ gegen die tschechischen Bunker zu entkräften. Die Übung, die nach dem Urteil auch anderer Zuschauer „ganz falsche Bilder" vermittelte, versetzte Bede in große Erregung Sodann entwickelte Hitler in unverkennbarem Mißtrauen gegen die Generale jedoch mit großer Selbstsicherheit die außenpolitischen Grundlagen seines Entschlusses, „die tschechische Frage noch in diesem Herbst mit Gewalt zu lösen": Mit dem Eingreifen Englands und Frankreichs sei, unter Chamberlain und Daladier, nicht zu rechnen. In Frankreich fehle jede psychologische Voraussetzung dafür, England aber sei nicht kriegsbereit. Im übrigen würde sich Ungarn Deutschland wohl anschließen, Polen sich gern „an dem Diner beteiligen“. Es gebe nur einen Mann, der ihn (Hitler) in seinem Entschluß wankend machen könnte: Mussolini. (Das stand vermeintlich nicht in Frage.) Hitlers Ausführungen blieben im Augenblick, so hat ein Teilnehmer bezeugt, keineswegs ohne Wirkung auf seine Zuhörer. „Gleich nachher aber meldeten sich die Bedenken: Was wird, wenn wider Erwarten Frankreich oder England doch marschieren?
Den Generalen für den Angriffsfall volle Klarheit über die Unvermeidlichkeit eines britischen Eingreifens zu geben, mußte für die deutsche Opposition längst von wesentlicher Bedeutung sein. Zu diesem Zweck reiste am 18. August der Gutsbesitzer Ewald von Kleist-Schmenzin nach London. Aus dem konservativen Lager stammend, erblickte er seit 1932 im Nationalsozialismus einen mit dem Christentum unvereinbaren Materialismus und einen „Schädling der Nation“, dessen Führer, wie Rienzi, das Chaos bringen müsse Bewußt nahm er die mit seiner Mission verbundene Lebensgefahr in Kauf Das Londoner Unternehmen war offenbar sein eigener Gedanke, doch ist es von Kleist, der auch mit Beck in Fühlung stand, mit Canaris, vielleicht auch mit Oster besprochen und von der Abwehr „technisch“ ermöglicht worden Der britische Botschafter in Berlin, der Kleist anmeldete, bezeichnete ihn auf Grund von Informationen des Militärattaches als „Abgesandten der Gemäßigten im Generalstab“ und umschrieb kurz den Zweck seines Besuchs. In London angekommen, sprach Kleist absichtlich nur mit drei einflußreichen Persönlichkeiten: Sir Robert Vansittart Lord Lloyd und Churchill. In seiner Unterredung mit Vansittart eröffnete er diesem zunächst unmißverständlich, daß Hitler — und zwar nicht etwa unter dem vermeintlichen Einfluß „radikaler“ Elemente, sondern aus eigenstem Antrieb — zum Kriege fest entschlossen sei und nach dem 27. September marschieren werde. Alle Generale, die er kenne, wüßten dies, doch sämtliche Generale überhaupt, auch Reichenau nicht ausgenommen, seien gegen den Krieg. Dennoch würden sie nicht die Macht haben, ihn zu verhindern, wenn sie nicht „Ermutigung und Unterstützung von draußen“ erhielten. Es gebe, so fuhr Kleist fort, nur zwei Mittel, das Äußerste noch abzuwenden: Einmal müsse England Hitler völlig klar machen, daß die Westmächte nicht lediglich blufften, wie Ribbentrop ständig behaupte. Ihre bisherigen Warnungen genügten dafür nicht. Außerdem sollte einer der führenden britischen Staatsmänner eine auf die weiten deutschen Volkskreise, die gegen das Regime eingestellt oder doch von Kriegsfurcht erfüllt seien, berechnete Rede halten, welche die unentrinnbare Katastrophe der Entfesselung eines Krieges unterstreichen würde. Könne aber, so fügte Kleist hinzu, damit der Krieg vermieden werden wie im Mai, so wäre dies der Auftakt zum Sturz des Regimes. — Churchill gegenüber wurde Kleist in diesem Punkt noch deutlicher. Nachdem er betont hatte, mindestens die Hälfte der deutschen Generale sei überzeugt, daß ein Angriff auf die Tschechoslowakei Krieg mit den Westmächten bedeute, erklärte er: Wenn die (durch Englands Festigkeit ermutigten) Generale auf Erhaltung des. Friedens beständen, so würde es innerhalb von 48 Stunden zu einem Systemwechsel, wahrscheinlich in monarchischem Sinne, kommen.
Während Vansittart sich im wesentlichen zuhörend verhalten hatte, ging Churchill in seiner freien Stellung weit mehr aus sich heraus und ermutigte die Opposition so viel wie möglich. Er erklärte die Besorgnisse der Generale für berechtigt, da trotz aller Zurückhaltung gegenüber der tschechoslowakischen Frage nur wenige in England geneigt sein würden, einem einmal entfesselten Waffengang müßig zuzusehen. Einem neuen, friedlichen und rechtlich gesinnten Deutschland, so bemerkte er nachdrücklich, würden England und Frankreich handelspolitisch und in der Kolonialfrage entgegenkommen. Auch der Erwiderung Kleists, daß seinen militärischen Freunden vor allem die Korridorfrage nahegehe, begegnete Churchill zwar für den Augenblick, aber nicht grundsätzlich abweisend. Darüber hinaus schrieb er, ausdrücklich als „Botschaft“ für die Freunde Kleists, einen Brief, in dem er mit großer Entschiedenheit die Überzeugung vertrat, ein deutscher Einfall in die Tschechoslowakei werde zu einem neuen Weltkrieg führen. Einmal begonnen, würde ein solcher Krieg — in welchem England zu Anfang natürlich mehr leiden müßte als im vorigen, sich aber auf seine Seeherrschaft und den Beistand des größten Teiles der Welt stützen könnte — „wie der letzte bis zum bitteren Ende ausgefochten" werden. Churchill hatte sich schließlich vom Außenminister Lord Halifax zu dem Hinweis ermächtigen lassen, daß die (in dem Brief nun zitierte) Unterhaus-Erklärung Chamberlains vom 24. März unverändert in Geltung stehe. In freilich etwas gewundenem Wortlaut besagte sie, daß England auch ohne förmliche Verpflichtung durch seine enge Verbindung mit Frankreich wahrscheinlich in einen ausgebrochenen Krieg hineingezogen werden würde. Kleist wollte Chur-
chills Brief „verschiedenen Generalen in den höchsten Kommandostellen, insbesondere Beck“, vorlegen. Sein sachlicher Hauptteil wurde übrigens, wohl auf Veranlassung Weizsäckers, als. „Auszug aus einem Brief Winston Churchills an einen deutschen Vertrauensmann“ in eine Zusammenstellung des Auswärtigen Amtes ausgenommen, die durchweg ungünstige Nachrichten über die Haltung der Mächte im Falle eines deutsch-tschechischen Konflikts enthielt und am 6. September nach Nürnberg ging Auch Canaris soll Churchills Brief in einem Vortrag bei Hitler verwertet haben
Kleist war mit dem Ergebnis seiner Mission zunächst wahrscheinlich nicht unzufrieden Dennoch blieb diesem mutigen Versuch eines Patrioten, in einer beispiellosen Lage die Interessen des Auslandes mit denen der eigenen Nation gegen deren offensichtlichen Verderber zu verknüpfen, der volle Erfolg versagt. Der britische Regierungschef, Neville Chamberlain, hatte sich noch nicht davon überzeugt, daß es im Hinblick auf die offenbaren hegemonischen Ziele Hitlers gerade im Interesse eines dauernden Friedens galt, ihm nunmehr grundsätzlich Halt zu gebieten. Er hoffte ihn vielmehr durch erhebliche, aber mit seinem großen Ziel der Vermeidung eines Weltbrandes allenfalls vereinbare Zugeständnisse doch noch für einen Ausgleich zu gewinnen. In Kleist erblickte der Premier wesentlich einen wütenden Hitlerfeind, der nur danach trachte, seine deutschen Freunde zu einem Umsturzversuch aufzustacheln: er gemahne ihn an die emigrierten Anhänger der Stuarts am französischen Hof zur Zeit Wilhelms III.; von dem, was er sage, müsse man sicher vieles abstreichen. Kleists Anregung einer öffentlichen Erklärung, die deutlicher wäre als jene vom 21. Mai (die Hitler so sehr gereizt hatte), verwarf Chamberlain mindestens einstweilen. Anderweitige Stimmen aus Deutschland machten ihn eher einem entscheidenden Verständigungsversuch geneigt. AIs „warnende Geste“ für den Diktator wollte er lediglich in auffälliger Form den Berliner Botschafter Henderson nach London zitierens Gerade Henderson aber wurde nicht müde, von einer Wiederholung des „ 21. Mai“ dringend abzuraten. Immer wieder betonte er, daß es bei der bekannten Disziplin des deutschen Volkes Hitler mit Goebbels'Hilfe unschwer gelingen würde, Deutschland im erwünschten Augenblick „wie einen Mann“ hinter sich zu bringen Auch die wohlmeinend-warnendeRede des Schatzkanzlers Simon vom 27. August, die unter erneuter Berufung auf Chamberlains Erklärung vom 24. März die Gefahr der Ausweitung jedes Krieges in der modernen Welt hervorhob war gewiß nicht das, was die deutsche Opposition erhoffen mußte.
Gerade in den Tagen der Londoner Gespräche Kleists hatte sich Bede am 18. August genötigt gesehen, seine Entlassung als Generalstabschef einzureichen. Drei Tage zuvor, unmittelbar nach der Jüterboger Ansprache Hitlers, soll er eine letzte Einwirkung auf Brauchitsch beabsichtigt haben, der sich dieser jedoch entzog Beck fühlte sich von seinem Oberbefehlshaber im Stich gelassen und sah damit seine Bestrebungen als gescheitert an. Er hatte sich mit dem Gedanken des Rücktritts seit längerer Zeit vertraut gemacht, ja ihn wohl schon im Hinblick auf die neue Spitzengliederung (mit dem Vorrang des OKW) ins Auge gefaßt Die Möglichkeit, in seinem Amt als Generalstabschef zu bleiben, um von dieser Position aus den Widerstand weiterzuführen und, je nach Gelegenheit, auch weiterzuentwickeln, sah Bede trotz dringender Bitten, seinen Entschluß zu überprüfen, sachlich oder menschlich nicht gegeben Einmal scheint er es nicht für vertretbar gehalten zu haben, als Generalstabschef mit seinem Rücktritt so lange zu warten, bis Hitler die inzwischen vorzubereitenden Kriegspläne in die Tat umsetzen wollte Sodann hatte er sich auf dem von ihm gewählten Wege im Grunde zu weit exponiert, um noch „taktisch“ zurückweidien zu können.
Vor allem aber mochte Beck eine weitere Zusammenarbeit mit Brauchitsch nach stärksten Spannungen nicht mehr für möglich halten, Spannungen, die ihn selbst seelisch und körperlich zermürbten Das Bedenken liegt nahe, ob Becks Widerstandsplan, abgesehen von anderen Unsicherheitsfaktoren nicht von vornherein zu stark auf der Persön-
lichkeit Brauchitschs basierte, wenngleich dieser Weg der Denkschriften und der Generalsopposition ohne direktes Komplott bis zu gewissem Grade durch die Entwicklung, sowohl der Haltung des Offizierkorps wie seiner eigenen, psychologisch bedingt war. Was Hitler angeht, so erklärte er sich alsbald (am 21. 8.) mit dem Rüdetritt Becks einverstanden, .den er bereits während der Fritsch-Krise als seinen einzigen gefähr-liehen Gegner im Heer bezeichnet haben soll Er ließ ihn jedoch durch Brauchitsch ersuchen, seinen Rücktritt „aus außenpolitischen Gründen" vorerst nicht öffentlich bekannt werden zu lassen. Beck fügte sich, anscheinend immer noch mit Rücksicht auf die formale Loyalität, diesem Wunsch so daß das deutsche Volk in seiner Gesamtheit von dem Kampf des Generalstabschefs gegen Hitlers Kriegspläne nichts erfuhr. (Allerdings erhielt die britische Regierung von der bedeutsamen Tatsache seines Rücktritts spätestens am 5. September über den Danziger Völkerbundskommissar Professor Burckhardt streng vertraulich durch Weizsäcker Kenntnis, der gleichzeitig Chamberlain dringend nahelegen ließ, Hitler in einem persönlichen Schreiben noch vor dem Nürnberger Parteitag unumwunden zu erklären, daß ein deutscher Angriff auf die Tschechoslowakei zum Krieg mit England führen würde Beck wurde, auf Brauchitschs Verwendung hin, zunächst mit der „mobilen“ Stellung des Oberbefehlshabers der 1. Armee im Westen betraut und für später als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe 3 vorgesehen. Wenn Beck sich demgegenüber nicht ablehnend verhielt und sich dadurch nach dem Münch'ner Ereignis dem kaum überraschenden Ersuchen Hitlers aussetzte, „die Folgerungen aus seinem Schritt vom Juli zu ziehen“ d. h.den Abschied zu nehmen, so muß nach dem Stande unseres Wissens die Frage offen bleiben, ob er aus naheliegenden Gründen eine aktive Position im Heer zu behaupten wünschte oder vor allem im Kriegsfall, trotz des Diktators, einer soldatischen Aufgabe genügen wollte. Daß der Münch-ner Erfolg an seiner Grundhaltung nichts änderte, beweist schon seine Abhandlung vom November 1938, in der er die Gefahr eines Angriffskrieges gegen Deutschland bestritt, einen von diesem entfesselten Krieg jedoch für verhängnisvoll erklärte 6. Der Aktionsplan Halder — Witzleben — Oster Neuer Generalstabschef wurde der bisherige Oberquartiermeister I, General Franz Halder, der in der Beurteilung der Kriegsabsichten Hitlers mit seinem Vorgänger völlig übereinstimmte. Daß er dennoch die Nachfolge antrat, lag um so mehr im Sinne Becks, der gerade Oppositionellen gegenüber seiner Hochschätzung Halders Ausdruck gegeben hat als Hitler notfalls eine personell oder gar organisatorisch sehr viel unerwünschtere Lösung ohne Zweifel hätte finden können. Überdies war der Ernannte, wie wir sehen werden, keineswegs gewillt, nach dem Scheitern der spezifischen Bestrebungen Becks den Kampf überhaupt aufzugeben. Humanistisch gebildet, Generalstabsoffizier bester alter Schule meisterte Halder die ihm jeweils übertragenen Aufgaben mit eisernem Fleiß, unbestechlicher Gründlichkeit und strengem kritischem Sinn. Wenngleich den Dienstgeschäften mit einer außerordentlichen Arbeitskraft zugewandt, die sich auch der Details annahm, blieben seine geistigen Interessen nicht auf das Fachliche beschränkt: sie galten darüber hinaus, bei weitgehender Aufgeschlossenheit für historisch politische Probleme, vor allem medizinischen und naturwissenschaftlichen Fragen. Im ganzen ein Mann mathematisch-systematischen Denkens, war Halder in gewissem Sinne nüchterner angelegt als Beck. Wenn er, ebenso wie dieser, seiner Gesundheit im Dienste ein Übermaß abforderte, so half ihm dabei eine stärkere physische Konstitution und sicherte ihm die größere Vitalität. Bei aller Nüchternheit, Beherrschung und Formen-strenge aber blieb Halder eine sensible Natur, lebhafter Gemütsbewegungen fähig, zumal er von den widerstreitenden Tendenzen der Zeit innerlich aufs stärkste angerührt war. Gläubiger Christ, Abkömmling einer Offiziersfamilie, wurzelte er tief in der Überlieferung des soldatischen Gehorsams und rang darum, sie in der Sache wie in der Form zu wahren und doch sich der für ihn unabweisbaren Herausforderung durch die Kräfte des Bösen zu stellen. Als er sein verantwortungsvolles Amt übernahm, hatte der Kampf zwischen Tradition und Revolution bereits ein vorgerücktes Stadium erreicht. Man mag über die Grenzen, die Halders Handeln an persönlichen und sachlichen Fakten gefunden hat, denken wie man will: nichts charakterisiert die unerbittliche Ausweglosigkeit der über den patriotisch und sittlich bestimmten Soldaten . verhängten Gewissenslage stärker, als daß ein Offizier von solch typischer Korrektheit, zu allem anderen eher prädestiniert, nun der poli-tischen Verschwörung die Hand bot.
Seit langem erfüllte das Wirken des Nationalsozialismus Halder mit schweren Bedenken. Der 30. Juni 1934 war auch für ihn eine Demaskierung des Regimes. Die vermeintlichen „Nebenerscheinungen" dieses Ereignisses hat der damalige Stabschef der 6. Division in Münster in ihrer wahren Bedeutung offenbar nicht verkannt. In einem erhalten gebliebenen Brief an Beck vom 6. August 1934 welcher eine der von Boehm-Tettelbach gesammelten englischen Pressestimmen übermittelte bemerkt er ausdrücklich, daß „im besonderen die Gewalt-taten, die mit der Abwehr der Röhm-Revolte sachlich in keinem Zusammenhang standen, einen für Deutschland vernichtenden Eindruck hervorgerufen zu haben“ schienen. Halders „sehr energisches Einschreiten“ bewahrte in den Tagen der Mordaktion einen ihm nachgeordneten Offizier, der Schleicher bei dessen Besuch in Münster (im Mai 19 34) auf allen Fahrten begleitet hatte, vor dem unmittelbar drohenden Zugriff der Gestapo Für Halder stand es im übrigen fest, „daß die Röhm-Revolte nur eine, und vielleicht nicht die gefährlichste, Eiterbeule war, die Deutschlands kranker Körper trägt“. Seine (von Beck angeregte Aussprache mit dem Industriellen und Stahlhelmführer Boehm über die örtliche innerpolitische Lage sowie den Eindruck des 30. Juni im Ausland bestätigte ihm nur „das Bild, das wir uns seit langem machen“. Zwar trennte Halder in seinem damaligen Brief noch zwischen dem „reinen Wollen des Kanzlers“ und dem „in der Praxis“ dominierenden Treiben „wahrhaft minderwertiger Ausführungsorgane“, welcher die wertvollen Teile der Bevölkerung „immer mehr in die Negation“ dränge. Doch gaben ihm die „englischen Urteile, daß heute die Reichswehrführung die innere Entwicklung Deutschlands bestimmt, weil der Führer auf sie angewiesen ist“ Anlaß zu dem vielsagenden Hinweis: „Eine die Kräfte richtig wertende, vorausschauende und ihr Schwergewicht geschickt geltend machende Vertretung der Armee wird vorbeugend viel tun können, was uns später die schreckliche Rolle des bewaffneten Friedensstifters im eigenen Volke ersparen kann
In der Folge sprach Halder auch über Hitler selbst mit wachsender Schärfe und oftmals in tiefer Erregung Er war ihm ein amoralischer Mensch, der den Nutzen zur alleinigen Maxime seines Handelns erhob, dem jedes positive Verhältnis zur Wahrheit fehlte und diese nur ein Instrument bedeutete Im Grunde besaß Halders Natur für den egozentrischen Dämon ausschweifender politischer Phantasie, hemmungslosen Machtstrebens und suggestiver Schlagworte in Hitler kein Organ Nicht daß er ihn deshalb unangemessen simplifizierte, seine ungeheueren taktischen Fähigkeiten übersah, die Gabe, sich selbst und die Dinge zu zeigen, wie beide gesehen werden sollten. Doch er erkannte in ihm auch den absoluten Revolutionär, der alles, was er bei Beginn seiner Laufbahn vorgefunden, für reif gehalten habe, zerschlagen zu werden 381) . So kam Halder zu der für die Wertung des Hitlerregimes so wesentlichen Einsicht, daß sein Träger „trotz äußerlicher Legitimität im inneren und eigentlichen Sinne . illegitim'war, weil er nicht in der Überlieferung stand“ So erblickte er in Hitler nicht nur den Verderber des Vaterlandes — das dieser dennoch an seine Person gefesselt hatte —, sondern den Vertreter des bösen Prinzips überhaupt Im Verhältnis von Staatsführung und Armee aber wurde ihm der Mann, welchem Mißtrauen Stärke schlechthin bedeutete der Zerstörer seiner gesunden Basis, des Vertrauens. Gerade Halders Weg zum Widerstand war wesentlich der Weg des „alten“ Soldaten, den der Besitz echter Werte und fester sittlicher Kategorien ihre verführerische Perversion und skrupellose Ausbeutung im Dienste eines Machtidols erkennen ließ und so in Gewissenskonflikt und Auflehnung trieb. Schon während der Herbstmanöver des Jahres 1937 hatte er Fritsch ein gewaltsames Vorgehen gegen Hitler nahegelegt, doch die resignierte Antwort erhalten:
„Dieser Mann ist Deutschlands Schicksal, und dieses Schicksal muß seinen Weg zu Ende gehen Vollends nach der „infamen Beseitigung“ des Generalobersten drängte er auf Übergang zu „praktischer Opposition“ Das Scheitern der Bestrebungen Becks, die ihm ohnehin einem Hitler gegenüber wie angesichts der konservativen Mentalität der Generale wenig aussichtsvoll erschienen waren, befestigte Halder in der Überzeugung, daß handgreiflichere Mittel gewählt werden müßten. Als er, von Beck bestärkt, das Amt des Generalstabschefs annahm, ließ er Brauchitsch keinen Zweifel darüber, daß er dies nur in der Absicht tue, alle damit gebotenen Möglichkeiten zum Kampf gegen Hitler und sein Regime auszunutzen. Brauchitsch streckte ihm darauf beide Hände entgegen — er erhob mindestens keinen grundsätzlichen Einwand Bei alledem bleibt freilich zu bedenken, daß Halder keine eigene Kommandogewalt besaß und daß das von Beck hartnäckig angestrebte Mitspracherecht des Generalstabschefs bei strategischen Planungen und Entscheidungen, die das politische Gebiet berührten, von Hitler endgültig beseitigt wurde.
Es kam nun nochmals zur Entsendung eines Vertrauensmannes nach London. AIs geeignete Persönlichkeit dafür wurde auf Grund seiner eng-
lischen Verbindungen der erwähnte Major a. D. Boehm-Tettelbach gewählt. Nicht nur mit Beck und Halder, sondern auch mit Oster seit langem bekannt, hatte er mit diesem schon des öfteren die innere Lage und die Möglichkeiten einer Abhilfe besprochen Der Plan seiner Entsendung ist offenbar noch vor der Reise Kleist-Schmenzins und jedenfalls in der Amtszeit Becks gefaßt worden, dessen Rücktritt freilich bereits in Aussicht stand. Wie es nämlich scheint, hatte Boehm, von Oster nach Berlin gerufen am oder um den 15. August eine Besprechung mit diesem und Halder, bei welcher den Gedanke erörtert wurde, England zu einer klaren Stellungnahme zu veranlassen und es von den Bestrebungen der Opposition zu unterrichten Unmittelbar nach der am 1. September erfolgten Amtsübernahme Halders suchte Oster den neuen Generalstabschef auf und bat ihn, im Hinblick auf den Rücktritt Becks, nunmehr seinerseits die Verantwortung für den geplanten Schritt zu übernehmen. Halder erklärte sich dazu in vollem Umfange bereit so daß Boehm schon am 2. September seine Reise nach London antreten konnte. Hier sprach er den ihm aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg bekannten ehemaligen britischen Rheinlandkommissar Mr. Piggott sowie einen Major der Intelligence Service, dessen Namen er vergessen hat. Im Sinne seines Auftrages erklärte er ihnen eindringlich, England möge Hitler gegenüber eine klare und feste Haltung einnehmen. Sollte dieser Schwierigkeiten machen, so würden deutsche Militärs handeln und den Diktator stürzen. Nach einer späteren Mitteilung des britischen Majors an Boehm wurde der Inhalt seiner Weisung Sir Robert Vansittart zur Kenntnis gebracht, der sich daran jedoch nach Kriegsende — wie auch an andere Widerstandshandlungen — nicht mehr erinnerte. Mit dem zurückkehrenden Boehm traf sich Oster sogleich in Elberfeld, um seinen Bericht entgegenzunehmen und an Halder zu übermitteln Im Gegensatz zu Kleist hatte Boehm keinen unmittelbaren Kontakt mit maßgebenden Persönlichkeiten gefunden. Diesen Mangel konnte jedoch jene Botschaft voll ausgleichen, die wenige Tage später durch die Gebrüder Kordt an Lord Halifax selbst gelangte und die ebenso ein bewaffnetes Vorgehen der Opposition ankündigte, „falls ihr durch eine feste Haltung und Sprache der britischen Regierung eine unter den vorherrschenden Bedingungen allerdings unerläßliche Hilfestellung gewährt werde“
Offenbar hat Halder weder von der Mission Kleist-Schmenzin noch von der Londoner Aktion der Brüder Kordt Kenntnis erlangt Gleichwohl ist zwischen der Oppositionsgruppe im Auswärtigen Amt und dem neuen Generalstabschef schnell eine Verbindung entstanden. An sich war beiden Dienststellen ein unmittelbarer Verkehr ausdrücklich verboten Beck, mit dem Weizsäcker seit seiner Ernennung (April 1938) vertrauliche Fühlung unterhielt, hatte jedoch Beziehungen des Staatssekretärs auch zu Halder vorbereitet Es kam zwischen diesen zu einem Familienverkehr, der auf Weizsäckers Wunsch in den späten Abendstunden stattfand Weizsäcker zufolge erklärte Halder ihm bald als seine Ansicht, statt selbst zu weichen, müsse „der andere, d. h. Hitler“, gehen oder vielmehr unschädlich gemacht werden, und besprach in der ersten Septemberhälfte mit ihm wiederholt die'Mittel und Wege dazu. Der geringeren Auffälligkeit halber leiteten sie ihren Verkehr jedoch weitgehend über Canaris als Chef der Abwehr, der Weizsäcker (als ehemaligem Seeoffizier) unter den Militärs am nächsten stand und mit diesem schon als Gesandten in Bern „den Marinefaden wieder ausgenommen“ hatte Ohnehin entwickelten sich jetzt enge Beziehungen zwischen Halder und Canaris, der auch Brauchitsch, Keitel und Raeder die Gefahren der Kriegspläne Hitlers darlegte, überhaupt zu dieser Zeit eine weit größere persönliche Aktivität in der Opposition entfaltet haben dürfte als später Was Halder (so hat dieser selbst bezeugt) bei Canaris suchte, war politische Orientierung; was Canaris ihm brachte, war vor allem stetes Drängen zum Handeln. Ständiger Mittler zwischen allen Gruppen, gerade auch zwischen Militär und Auswärtigem Amt, kurz, die Seele des Widerstandes, blieb jedoch Oster, der leidenschaftliche, aber letzten Endes ethisch bestimmte Gegner Hitlers. Geistig höchst beweglich und einfallsreich, mag freilich sein verwegenes Temperament die nüchterne Überlegung nicht selten dominiert haben. Schon Ende August hatte Oster einen Besuch Erich Kordts, Chefs des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, bei Brauchitsch vermittelt, um die von Hitler gerade gegenüber den Generalen vertretene These, England denke an keine Intervention, an Hand entsprechender Unterlagen zu entkräften Zur Zeit der Amtsführung Halders als Stabschef im Wehrkreis VI in Münster war Oster bis 193 3 einer seiner Generalstabs-offiziere gewesen. Als 1937 das neugeschaffene Amt eines Oberquartiermeisters II im Generalstab Halder übertragen wurde, waren Canaris (den jener gleichfalls aus seiner Münsterer Zeit gut kannte) und Oster die ersten, die Halder mit Fragen des Widerstandes in Anspruch nahmen. Es ging ihnen dabei wesentlich um ein Einwirken auf den noch zögernden Beck. Nach Amtsantritt Halders als Generalstabschef suchte Oster die Beziehungen zu diesem mit der gleichen Intensität zu pflegen, wie er sie schließlich zu Beck gestalten konnte, den er manchmal für Stunden in seinem Amtszimmer blockiert hatte. Doch beschränkte der Nachfolger den Verkehr mit Oster auf das sachlich gebotene Maß wozu die Verschiedenheit ihrer Naturen beigetragen haben mag.
Die nunmehr geplante Aktion gegen Hitler war für den Soldaten be-
greiflicherweise von mehreren Voraussetzungen grundsätzlicher und praktischer Art abhängig. Seine erste Sorge ging darum, für das beispiellose Unternehmen vor sich selbst, vor der Truppe und vor dem Volk die innere und äußere Rechtfertigung zu finden. Sie war gegeben, die erforderliche Resonanz einer Aktion in den kriegsabgeneigten Massen einigermaßen gewährleistet, wenn Hitler allen entgegenstehenden Bedenken, allen Warnungen Einsichtiger zum Trotz hemmungslos zur Entfesselung eines unabsehbaren Krieges schritt. In diesem Falle konnte er als frivoler Abenteurer, ja als Verderber des Reiches entlarvt werden. Halder war daher entschlossen, den Putsch dann, aber erst dann auszulösen, wenn Hitler den endgültigen Befehl zum Angriff auf die Tschechoslowakei gegeben hatte. Der Generalstabschef tat das Seine, um sich eine Minimalfrist von 48 Stunden zwischen Aktionsbefehl und Marsch-termin zur Auslösung des Putsches zu sichern
Ferner mußte im Hinblick auf die politische Seite des Unternehmens und die Entwicklung nach einem Sturz Hitlers eine Verbindung mit zivilen Oppositionskreisen erwünscht sein. Es kam zu zwei Begegnungen Halders mit Schacht, dessen Zusammenarbeit mit Witzleben dem Generalstabschef bekannt war, dessen formale Zugehörigkeit zum Reichs-kabinett andererseits taktische Vorteile bot. Halder hatte Schacht im Winter 1937/38 durch Vermittlung des späteren Generalquartiermeisters Wagner kennengelernt. Ihre erste „politische“ Begegnung (in der Privatwohnung Schachts) wurde offenbar durch Wagner angebahnt, die zweite (in der Privatwohnung Halders) im Beisein von Gisevius, zweifellos durch Oster in die Wege geleitet Nach seiner eigenen Aussage war Schacht bereit, sich für eine neue Regierung zur Verfügung zu stellen, und förderte in Verbindung mit Gisevius und Oster nach Möglichkeit das geplante Unternehmen
Schließlich und vor allem bedurfte es zur praktischen Durchführung der Aktion eines Trägers militärischer Befehlsgewalt. Dieser war seit längerer Zeit in der Person des Berliner Wehrkreiskommandeurs, General von Witzleben, eines ebenso populären Truppenführers wie ent-schiedenen Hitlerfeindes, gefunden worden Für seine „ganz in den alten soldatischen Ehr-und Pflichtbegriffen“ wurzelnde Natur hat sich das große Problem des Kampfes gegen ein amoralisches Staatsoberhaupt offenbar in glücklicher Weise vereinfacht: „Ich verstehe nichts von Politik“, so soll er gesagt haben, „aber das brauche ich ja nicht, um zu wissen, was da zu machen ist Als Halder mit Witzleben Verbindung aufnahm, fand er diesen (wie schon gesagt) „über die Möglichkeiten, die sich boten, völlig im Bilde“. Auch die Prüfung der mutmaßlichen Haltung von militärischen Persönlichkeiten, die bei der Vorbereitung der Aktion und bei der Aktion selbst schwer umgangen werden konnten, war, unter Erwägung möglicher Aushilfen, weit gediehen Von besonderer Bedeutung war, daß der Kommandeur der Potsdamer (23.) Division, Generalmajor Graf Brockdorff-Ahlefeldt, der spätere Verteidiger von Demjansk, aus voller Überzeugung Witzleben für die Aktion, und zwar für den Einmarsch in Berlin zur Verfügung stand 407a). Schacht, der durch Gisevius'Vermittlung von Witzleben und Brockdorff auf seinem märkischen Landsitz Gühlen besucht wurde, bestärkte die beiden Generale nachdrücklich darin, daß ein deutscher Angriff auf die Tschechoslowakei, entgegen den Behauptungen Hitlers vor den Militärs, eine Intervention der Westmächte zur Folge haben würde Graf Helldorff, der Berliner Polizeipräsident, sollte seine Polizei den Verschwörern zuführen. Eng mit diesen verbunden war Graf Fritz von der Schulenburg, der Vizepräsident, während Gisevius, den Witzleben in seinem Wehrkreiskommando „privat“ für sich beschäftigte, die praktischen polizeilichen Maßnahmen entwarf Die einzelnen militärischen Vorbereitungen wurden von Halder nach gegenseitiger Vereinbarung von vornherein Witzleben überlassen, nicht zuletzt weil dessen Erwägungen und Planungen schon weit gediehen waren. Der Generalstabschef seinerseits behielt sich vor, das Startzeichen zu geben und die unmittelbar nach gelungenem Putsch zu ergreifenden
Schritte in die Wege zu leiten, bei denen Brauchitsch in den Vordergrund treten sollte. Er übernahm ferner die Verpflichtung, Witzleben im Rahmen des Aufmarschs gegen die Tschechei diejenigen Truppenteile zu belassen oder zuzuschieben, die dieser für den Schlag gegen Hitler benötigte Brauchitsch selbst wurde, für den Fall des Scheiterns, von Halder in die Aufstandspläne nie unmittelbar eingeweiht. Er kannte jedoch nicht nur Halders Einstellung, sondern „mußte ahnen, . worum es ging", und aus gelegentlichen Äußerungen Witzlebens, als dieser den Generalstabschef besuchte, seine Schlüsse ziehen Mit Adam hingegen, dem Oberbefehlshaber im Westen, hatte Halder offen gesprochen. Bei einer Unterredung in Berlin, spätestens im August, war man sich in der schweren Sorge über die zum Kriege treibende Politik Hitlers ebenso einig gewesen wie darüber, daß allein dessen Sturz die Katastrophe verhüten könne. „Unvermittelt“, so berichtet Adam, habe Halder hierauf erklärt: „Wenn Witzleben losschlägt, müssen eben die Oberbefehlshaber im Reiche mitmachen.“ Adam hat nach eigener Aussage erwidert: „Nur los, ich bin bereit.“ Halder rechnete auch auf General von Bock sowie auf Rundstedt, der freilich den auf Wunsch des General-stabschefs bei ihm sondierenden Adam nach dessen Zeugnis vorerst kühl abwies Auch ein von Halder unmittelbar nach seinem Amtsantritt unternommener Versuch, Fritsch in führender Stellung an der Aktion zu beteiligen, scheiterte, indem dieser von Putschplänen mit der gleichen Begründung abriet wie im Herbst 1937 Witzleben jedoch erklärte im September 1938 Hoßbach, daß seine Maßnahmen beendet seien und es nur noch „des Druckes auf den Knopf bedürfe“
Was aber sollte dann geschehen? Die Einzelheiten des Aktionsplans lassen sich auf Grund der vorhandenen Quellen nur mehr annähernd skizzieren. In Verbindung mit einem Handstreich auf die Reichskanzlei sollten sich militärische Kräfte der zentralen Nachrichtenanlagen Berlins bemächtigen, um den Verschwörern ihre alleinige Benutzung zu wahren und Gegenbefehle der Staatsführung zu verhindern. Sie sollten ferner die wichtigsten Gebäude und Plätze der Stadt, namentlich aber die Hauptstützpunkte von SS und Gestapo besetzen. Zu diesem Zweck hatte Brockdorff mit seinen Helfern offenbar an Ort und Stelle die nötigen Erkundungen vorgenommen. Selbstverständlich war die Verhaftung der maßgebenden Funktionäre beabsichtigt. Griff die in Süddeutschland befindliche Leibstandarte zugunsten Hitlers ein, so sollte ihr die Division des mit den Verschwörern sympathisierenden Generals Hoepner mit ihren Panzern im thüringischen Raum entgegentreten. Im übrigen wollte man die Bevölkerung in geeigneter Weise über Gründe und Ziele der Aktion, sowie an Hand dokumentarischen Materials über die Ver-brechen des nationalsozialistischen Regimes aufklären Unter Verhängung des Ausnahmezustandes kam nach gelungenem Putsch zunächst nur eine Militärdiktatur in Frage. Sobald, wie möglich wollte man jedoch eine zivile Übergangsregierung einsetzen, an der Halder Neurath, Noske oder Geßler zu beteiligen gedachte, und allgemeine Wahlen ausschreiben, um eine verfassungsmäßige parlamentarische Staatsführung anzubahnen und geordnete Rechtsverhältnisse wiederherzustellen Die Bildung eines Schattenkabinetts ist offenbar vorerst völlig unterblieben, um den Kreis der Mitwisser nicht in unnötiger und gefährlicher Weise zu erweitern Halder und Witzleben aber haben einander gelobt, nach gelungenem Putsch ihren Abschied einzu-reichen um den grundsätzlich auch für sie unantastbaren Gesetzen soldatischen Handelns ihre Achtung zu bezeugen.
Viel, wenn nicht alles, hing natürlich davon ab, ob es den Verschwörern gelang, sich alsbald der Person Hitlers zu bemächtigen. Im Hinblick hierauf kam es gegen Mitte September in der Wohnung Osters zu einer Besprechung, an der außer Witzleben u. a.der frühere Stahlhelm-führer und einstige Angehörige der Freikorpsbrigade Ehrhardt, Oberstleutnant Friedrich Wilhem Heinz, sowie der ehemalige Kapitänleutnant Liedig teilnahmen. Sie führte zu dem Auftrag Witzlebens an Heinz, mit Hilfe seiner Beziehungen zum ehemaligen Jungstahlhelm und zum Stahlhelm-Studentenring Langemarck einen Stoßtrupp von 20— 30 Mann zu bilden. Diese sollten nach Heinz'Aussage Witzleben in die Reichskanzlei „Begleiten", wo der General angeblich Hitler zu erklären gedachte, daß seine Politik gescheitert und daß das Heer nicht gewillt sei, den Weg ins Verderben zu gehen — um hierauf den Diktator zu verhaften. Tatsächlich wurde der Stoßtrupp, wie es heißt, aus jungen Offizieren, Studenten und Arbeitern alsbald aufgestellt, nach dem Godes-berget Besuch Chamberlains auf Osters Anordnung „eingezogen" und, auf einige Wohnungen in Berlin verteilt, bereitgehalten Die Frage, was mit Hitler nach seiner Festnahme geschehen sollte, ist anscheinend nicht eindeutig entschieden worden. Klarheit bestand jedenfalls darüber, daß man Hitler im Trubel des Putsches verschwinden lassen müsse, um ihn nicht zum Kristallisationspunkt von Gegenmaßnahmen seiner Anhänger zu machen. Für später war geplant, ihn gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen und abzuurteilen Daneben ist erwogen worden, Hitler auf Grund ärztlicher Gutachten, etwa des Berliner Psychiaters Professor Bonhoeffer, als Geisteskranken zu verwahren Ein Attentat lehnte Halder und offenbar auch Witzleben grundsätzlich ab. Nur für den sehr unwahrscheinlichen Fall, daß Hitler vor der Entfesselung des Krieges gar nicht mehr nach Berlin kam, wurde von Halder der Gedanke erörtert, ihn mit seinem Salonzug in die Luft zu sprengen und einen solchen Vorgang als Ergebnis feindlicher, Einwirkung darzustellen
Anders Heinz und seine Schar. Nachdem Witzleben die erwähnte Besprechung bei Oster verlassen hatte, stellte Heinz nach seinem Zeugnis diesem vor, daß Hitler, solange er lebe, eine Macht bedeute, die stärker sei als alle gegen ihn Verschworenen, stärker selbst als Witzlebens III. Armeekorps. Heinz gab daher seinen Leuten unter Hinweis auf ihr eigenes Risiko, anscheinend mit Einverständnis Osters, die Parole, es gar nicht erst zur Verhaftung kommen zu lassen, sondern Hitler sogleich niederzuschießen und damit eine klare Situation zu schaffen. Beck soll freilich (gleichfalls nach Angabe Heinz') einige Tage später Oster gewarnt haben: Die Widerstandsbewegung dürfe nicht die deutsche Geschichte durch ein Attentat gegen ein Staatsoberhaupt beflecken
Doch ist es offenbar bei der ursprünglichen Parole geblieben. Nach der Beseitigung des Diktators gedachte der Kreis um Heinz, wie neuerdings berichtet wird den Prinzen Wilhelm, den ältesten Sohn des Kronprinzen, zum „Reichsregenten''auszurufen — mit dem merkwürdigen Endziel eines „deutschen Königtums“. Eine unter Mitwirkung von Oster und Schulenburg entstandene „Verfassungsdenkschrift“ war bereits mit dem Prinzen beraten worden. Heinz selbst will im Jahre 1938 durch den früheren Geschäftsführer des Reichsausschusses der deutschen Jugendverbände, Hermann Maaß, mit den sozialistischen Widerstandskämpfern Dr. Leber und Leuschner in Verbindung gekommen sein und im Herbst Maaß und Leuschner für seine Ideen gewonnen haben.
Es liegt auf der Hand, und eine spätere Erfahrung hat es bestätigt, wie viel für das Gelingen des Umsturzversuchs von Zufällen abhing; dies um so mehr als die Schwächen des Aktionsplans leicht erkennbar sind. War es (ganz abgesehen von den Schwierigkeiten des Handstreichs auf die Reichskanzlei) möglich, schnell militärisch genügend stark in Berlin aufzutreten, um wesentliche Gegenmaßnahmen des Regimes auszuschließen? Würden die jungen Offiziere und Mannschaften dem bloßen Befehl (lange genug) Folge leisten ohne eine plausible „Parole"? Dieses Bedenken hat vielleicht zu der Erwägung veranlaßt/zunächst mit der Fiktion eines „Komplotts der SS gegen den ahnungslosen Führer“ zu arbeiten ein Gedanke, der, so spitzfindig er heute erscheinen mag, doch die Problematik der damaligen psychologischen Lage beleuchtet. Machten die Verschwörer sich ferner nicht Illusionen über die Verwendbarkeit der Polizei in der Hand Helldorffs gegen das Regime und sogar über die Möglichkeit ihrer Neutralisierung? Halder selbst ist von dem Maß der technischen Vorbereitung des Putsches offenbar nicht befriedigt gewesen Dennoch waren, im ganzen gesehen, die Voraussetzungen für einen Umsturzversuch psychologisch wie praktisch niemals in höherem Grade gegeben als im Herbst 1938, und zweifellos fehlte es den Verschworenen nicht an der nötigen Zuversicht — wenn die Situation eintrat, auf der ihr Vorhaben beruhte.
Darin lag ja die grundsätzliche Schwäche des Aktionsplanes, daß seine Ausführung von politischen Faktoren abhing, die sich dem entscheidenden Einfluß der deutschen Opposition entzogen. Lag nicht schon ein innerer Widerspruch darin, daß diese einerseits eine entschiedene britische Stellungnahme anstrebte und um der Generale willen anstreben mußte, andererseits aber selbst annahm, Hitler werde dann im letzten Augenblick vor einem Krieg zurückschrecken? Allerdings erwarteten einige der Verschworenen hiervon einen derartigen Prestigeverlust des Diktators, daß dessen Regime aufs schwerste erschüttert wurde, „vor allem, wenn eine innerdeutsche Opposition im Bewußtsein ihrer wachsenden Stärke und populärer Sympathien energisch nachgestoßen hätte“ Dies entsprach jedoch nicht dem eigentlichen Sinn des Aktionsplanes der Militärs, dessen Auslösung vielmehr die drohende frivole Entfesselung des Krieges durch Hitler zur psychologischen Voraussetzung hatte. Eine entschiedene britische Stellungnahme schließlich, wie die Opposition sie erwartete und wünschen mußte, hing letzten Endes davon ab, ob man in London klar genug erkannt hatte, daß keine mögliche Konzession den deutschen Diktator auf die Dauer zu saturieren vermochte.
Eben an dieser Erkenntnis fehlte es noch den maßgebenden britischen Staatsmännern. Erst ein näherer Einblick in ihren Schriftwechsel ermöglicht ein volles Bild der Schwierigkeiten, die einer Aktivierung Englands im Sinne der Opposition entgegenstanden. Wohl war Halifax ständig darauf bedacht, „in der psychologischen Behandlung dieses seltsamen Mannes [Hitler] keinen Fehler zu machen“ wohl sagte sich Henderson bisweilen, daß man es bei Hitler mit einem „Mystiker, Psychopathen oder Wahnsinnigen“ zu tun habe; wohl bekam der Botschafter im Juli von Schacht zu hören, Deutschland sei „in den Händen pathologischer Individuen“ Dennoch beurteilte der Engländer den Diktator vorwiegend nach den Kategorien des gesunden Menschenverstandes. Konnte Hitler denn auch verkennen, welche Gefahr ein Krieg für Deutschland, besonders für sein Regime bedeutete? Übersah er wirklich, daß er damit das Spiel seiner geschworenen Feinde spielte So merkwürdig es scheint, gerade die gewissenlose Leichtfertigkeit der Politik Hitlers war ihr bester Schutz vor Entlarvung durch den „normalen“ und gewissenhaften Gegenspieler. Henderson wertete es schon als gutes Zeichen, daß der Diktator sich öffentlich noch nicht auf eine „bestimmte“ Lösung der Sudetenfrage festgelegt hatte Seine militärischen Vorkehrungen enthielten (so meinte auch Halifax) doch wohl ein gut Teil Bluff Mußte man nicht andererseits als Deutscher sich für den äußersten Fall rüsten und nach den Erfahrungen mit Benesch dem anglo-französischen Druck auf Prag zugunsten einer Befriedigung der Sudetendeutschen demonstrativ nachhelfen Im Grunde hielt Henderson Hitler bis in den September hinein für friedensgeneigt, sofern die Sudetendeutschen im Rahmen des tschechoslowakischen Gesamtstaates wenigstens volle Autonomie erlangten Galt es nicht alo, Hitlers Vertrauen auf England zu stärken und daher ihm selber Vertrauen, zu zeigen, ihm die Chance zu geben, „ein guter Junge zu sein“ War aber der „Führer“ noch grundsätzlich gutwillig, so konnten öffentliche Warnungen ihn nur unnötig reizen, seine Prestige verletzen und „den Extremisten“ hinter ihm in die Karten spielen Bei alledem wollte Henderson — und damit kam er zum Kernproblem — nicht einmal bezweifeln, daß Hitler sich mit der bloßen Autonomie des Sudetenlandes abfinden würde, wenn England ihm andernfalls kategorisch den Krieg-androhte. Aber das wäre in den Augen des Botschafters der schlimmste „Pyrrhussieg“ gewesen, der den Krieg nur verschob und am Ende um so gewisser machte wohingegen eine von Deutschland willig angenommene Lösung der Sudetenfrage den Weg zu einer deutsch-englischen Generalverständigung öffnen würde, die „den Weltfrieden für mindestens eine Generation“ bedeutete! Dies entsprach im Grunde auch der Denkweise von Chamberlain und Halifax Natürlich, so räumte der letztere ein, gebe es noch „die größere Frage“ des Widerstandes gegen jede Aggressionspolitik überhaupt. Müsse man nicht aber auch dann „die Tatsachen, sehen, wie sie seien“? Nämlich, daß die Tschechoslowakei schnell überrannt und selbst nach einem Siege über Deutschland in ihrer gegenwärtigen Form kaum wiederhergestellt werden könnte Und wenn nun Hitler — das war wohl der Gipfelpunkt seiner Verkennung — gar darauf ausgehe, nach siegreichem Einfall in die Tschechei auf der Basis einer Abtretung des Sudetenlandes Frieden anzubieten: könne unter solcher Voraussetzung — da die Westmächte dann sicher nicht mehr kämpfen wollten — ihre Kriegsdrohung überhaupt einen Effekt auf Hitler erzielen Den Gesichtspunkt aber, daß ein geduldeter Angriff Hitlers wahrscheinlich den nächsten (etwa gegen Frankreich) im Gefolge haben würde, lehnte Halifax, als Argument zugunsten eines Präventivkrieges, grundsätzlich ab Hinter all diesen Erwägungen stand nicht nur die prekäre Rüstungslage Englands, die Furcht vor der deutschen Luftwaffe, sondern auch ein waches Bewußtsein für die Auswirkung eines neuen Krieges zum Verderben der abendländischen Welt und zum Nutzen des Bolschewismus Allenfalls gedachte man daher Hitler noch einmal zu warnen, wenn der Nürnberger Parteitag begann, wo er „sprechen“ mußte (ein Alpdruck für jeden Friedensfreund), und wo man ihm hoffentlich schon eine annehmbare Lösung der Sudetenfrage zu bieten vermochte
Vergegenwärtigt man sich diese politisch-psychologische Einstellung der leitenden Männer des angeblich „perfiden“ Albion, so begreift sich, warum die Sendboten der deutschen Opposition in London vergeblich rangen. Vergeblich, o b w o h 1 die Wirklichkeit sich immer stärker aufdrängte, sei es in deutlichen Vorzeichen, sei es in warnenden Hinweisen, die gewiß nicht nur ungezügeltem Haß gegen Hitler zugeschrieben werden konnten. Schon jene verhaltene Sorge, mit der sich deutsche Offiziere immer wieder über die befohlenen militärischen Vorbereitungen äußerten, mußte zu denken geben Die zunehmenden Kriegsbefürchtungen zahlreicher „Verantwortlicher“ in Deutschland konnten den britischen Diplomaten trotz ihrer unrealistischen Skepsis nicht entgehen.
Lim den 20. August legte der Privatsekretär des Moskauer deutschen Botschafters Graf Schulenburg einem britischen Kollegen eindringlich dar, kein Bericht seiner Diplomaten vermöge Hitler zu überzeugen, daß England bei einem deutschen Angriff auf die Tschechei intervenieren würde; nur eine ganz kategorische Erklärung Englands gegenüber Hitler selbst könnte den nötigen Effekt erzielen Am 24. August meldete der britische Militärattache in Berlin, in Deutschland herrsche große Mißstimmung sowie die wachsende Befürchtung, daß alle getroffenen Maßnahmen auf den Krieg hinausliefen und daß Hitler noch dieses Jahr eine Lösung des tschechischen Problems erzwingen wolle. Er riskiere bereits sein Prestige. Rechneten Hitler und die „Extremisten“
der Partei auf englische Passivität, so verabscheute die Armee, insbesondere der Wehrwirtschaftsstab (unter General Thomas'), aus gegenteiliger Überzeugung heraus den Krieg: in den Augen der Gemäßigten hänge nun „fast alles“ von der Haltung Englands ab Tags darauf hielt der französische Geschäftsträger in London Halifax die „ominöse“
Sprachregelung Ribbentrops gegenüber den Regierungen der Kleinen Entente vor, wonach Deutschland spätestens Ende September von sich aus zur Lösung der Sudetenfrage schreiten werde Nach weiteren fünf Tagen erklärte der Leiter des französischen Geheimdienstes, Deutschland sei für einen Krieg gegen die Tschechei (mit einer „Dekkung“ im Westen) bereit, und die deutsche Regierung glaube nach wie vor, daß weder Frankreich noch England fechten würden Unter Hinweis hierauf drängten Daladier und Bonnet von Ende August an immer wieder auf eine „offene Sprache“ Englands in Berlin. AIs einziger der leitenden Staatsmänner Westeuropas hatte Daladier längst ein Gefühl dafür, daß Hitler nicht saturiert werden konnte Am 8. September erklärte auch der deutsche Militärattadie in Belgrad seinem Prager britischen Kollegen unumwunden, die Sudetenfrage kümmere die Naziführer im Grunde wenig; was sie wirklich wollten, sei die Tschechoslowakei selbst
Indes, alle diese und manche anderen aus Gewissensnot und Patriotismus entspringenden Warnungen deutscher Politiker und Soldaten konnten an der britischen Gesamthaltung kaum etwas ändern. Freilich war Halifax denn doch „betroffen“, als Weizsäcker am 31. August viel-sagend bemerkte, daß eine rechtzeitige klare Sprache Englands im Jahre 1914 vielleicht den Krieg verhütet hätte . . . Die britischen Staatsmänner ließen jetzt immerhin die Möglichkeit zu, daß Hitler auf die Vernichtung der Tschechoslowakei überhaupt abziele Im übrigen ’ äußerte Halifax die recht beachtenswerte Ansicht, „die innere Lage in Deutschland sei derart“, daß eine erfolgreiche Lösung der Sudetenfrage „für das Regime von vitaler Bedeutung werden könnte“ Dies trieb ihn aber erst recht dazu an, auf ausreichende Zugeständnisse Prags zu dringen, in der Hoffnung, dadurch die „Gemäßigten“ in Deutschland zu stärken AIs ob jene Zugeständnisse des Auslandes, die Hitler sejt Jahren gegen die Stimme der Gemäßigten erzwang, schon jemals deren Stellung ihm gegenüber gestärkt hätten! Nach den dringenden Anregungen Weizsäckers und den Zwischenfällen im Sudetenland beschloß das Londoner Kabinett nun doch eine warnende Botschaft für Hitler Als Henderson aber eindringlich darlegte, daß dies bei der augenblicklichen Stimmung des Diktators gerade das Gegenteil des Gewünschten bewirken und den „Extremisten“ in die Hände spielen könnte, zog man die ihm erteilte Weisung wieder zurück Es kam zwar am 9. September zu ersten Mobilmachungsmaßnahmen der britischen Flotte und zwei Tage später zu einer vorsichtigen, wortreichen Warnung durch Chamberlain selbst vor der Presse Andererseits ging Lord Halifax so weit, dem französischen Botschafter erneut zu erklären, daß England lediglich eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei halber noch nicht zum Kriege schreiten würde. Das war selbst Henderson zuviel, und Halifax korrigierte auf französische Vorstellung hin seine Formel in etwa Der Botschafter war in diesen Tagen von dem „tiefen Pessimismus“ aller in Nürnberg anwesenden Mitglieder des Auswärtigen Amtes außer Ribbentrop stark beeindruckt. Einige von ihnen äußerten sich über ihren Herrn und Meister „bis zu einem Grade eigener Gefährdung“ Hitler selbst aber hatte in Hendersons Augen vielleicht schon „die Grenze des Wahnsinns" überschritten. Offenbar verstopfte er absichtlich seine Ohren. Jedenfalls meinte der Botschafter, wenn alle seine bisherigen Warnungen noch nicht gewirkt hätten, so werde auch keine weitere mehr etwas fruchten (Für Politiker normaler Schule und Geistesverfassung mochte das zutreffen. In allem Wechsel der Stimmungen, allem Ringen um Möglichkeiten der Erhaltung des Friedens aber sah kein britischer Staatsmann einen geeigneten Ausweg in den Anregungen und Anerbietungen der deutschen Opposition Nicht einmal jetzt, auf ihrem Höhepunkt, konnte diese Opposition England zum Kampf gegen das Reich „ermutigen“, wie eine grob-tendenziöse Lesart es gar für die Folgezeit behauptet. Ein Bericht des britischen Botschafters in Berlin vom'11. September 19 38 enthält die beachtenswerte Feststellung: „Die Stimmung geht entschieden gegen den Krieg, aber die Nation befindet sich hilflos im Griff des Nazi-Systems. . . . Die Menschen sind wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden. Wenn Krieg ausbricht, werden sie marschieren und ihre Pflicht tun, mindestens für einige Zeit
Wir haben die Grundeinstellung der britischen Staatsmänner, ihre praktische Politik und nicht zuletzt eine Reihe gewichtiger Nachrichten über Deutschland skizziert, die ihrer Lagebeurteilung zu Gebote standen. Soviel ist unbestreitbar: an zutreffenden Informationen über Auffassung und Zielsetzung Hitlers, über die schweren Bedenken der deutschen militärischen Fachleute gegen einen größeren Krieg, zumal über die starke Mißstimmung gegen das Hitlerregime, hat es in London nicht gefehlt. Und mußte sich nicht schon aus der von Halifax angestellten Erwägung, daß dieses Regime zu seiner Befestigung dringend eines diplomatischen Erfolges in der Sudetenfrage bedüife, die Konsequenz für das britische Interesse von selbst ergeben? Wenn Chamberlain und Halifax sich dennoch für eine Politik der Zugeständnisse entschieden, so beruht dies wesentlich auf ihrer Verkennung Hitlers. Lind man ist fast zu der Frage versucht, ob man von deutschen Offizieren mehr Einsicht und Erkenntnis verlangen kann als von Berufspolitikern des Auslandes, die über unvergleichlich größere Möglichkeiten der Information verfügten, von Hause aus den inneren Abstand besaßen und auch schon einige Erfahrungen mit dem Diktator gemacht hatten. Man darf im übrigen bezweifeln, ob so konservativen Naturen wie Chamberlain und Halifax ein Zusammenspiel mit den deutschen Verschwörern überhaupt möglich war Sofern ein so ungewöhnliches LInternehmen ihren überkommenen Auffassungen und ihrem spezifischen „Realismus“ nicht von vornherein widersprach, erblickten sie in einem Sturz Hitlers doch jedenfalls jetzt noch nicht die einzige Aussicht auf Erhaltung des Friedens. Lind hätten sie es getan, so würden sie die praktischen Chancen einer innerdeutschen Revolte aus, wie wir sahen, gewichtigen Gründen bezweifelt haben. Sie hätten vielleicht auch befürchtet, durch eine direkte Mitwirkung des Auslandes eher das Gegenteil des Erwünschten zu erzielen. Man tritt der Einsicht der britischen Staatsmänner aber sicherlich zu nahe, wenn man annimmt, für ihre Entscheidung habe die Erwägung eine Rolle gespielt, auch ein „reaktionäres“
deutsches Regime werde im Grunde keine andere Politik treiben als Hitler! Nichts spricht dafür, daß „solche Überlegungen zu den politischen Entscheidungen in London und Paris beigetragen haben“ Waren es doch (neben der einstweilen vermutbaren Maßlosigkeit seiner Ziele)
vor allem die mit dem Charakter des Hitlersystems untrennbar verbundenen Methoden, die dieses System zum geborenen Feind jeder internationalen Friedensordnung von einiger Dauer stempelten Die Zweifel der britischen Staatsmänner an der Möglichkeit und Durchführbarkeit eines deutschen Putsches dagegen wird niemand von der Hand weisen können Berechtigt bleibt jedoch die Frage, ob nicht das höhere Interesse eines dauernden Friedens von den britischen Staatsmännern schon jetzt jene Politik der Festigkeit gegen Hitler forderte, wie sie die deutsche Opposition aus entsprechender Überzeugung heraus von ihnen erwartete. Mit Bedacht hat der britische Kritiker der deutschen Opposition, der sich als solcher vom schärfsten Gegner der Politik Chamberlains fast zu ihrem Verteidiger wandeln mußte, jener Opposition zum Vorwurf gemacht, sie habe aus Mangel an Wirklichkeitssinn die „unmittelbar e“ Kriegsgefahr unterschätzt, die mit ihrer Zumutung einer Politik der Festigkeit für Chamberlain und Daladier verknüpft gewesen sei Denn: daß die nach München führende Politik des Ausweichens vor der „unmittelbaren“ Gefahr die mittelbare und künftige Kriegsgefahr verhängnisvoll steigerte, hat der Ge-
schichtsverlauf erwiesen und war schon damals die Überzeugung hervorragender Staatsmänner des Westens, nicht zuletzt Daladiers.
Allen Einreden und bedrohlichen Vorzeichen zum Trotz steuerte Hitler inzwischen seinem Kriegstermin zu. Als gegen Ende August der ungarische Reichsverweser Horthy zum Staatsbesuch erschien, bestärkten Weizsäcker und Canaris die Gäste in ihren Bedenken gegen die deut schert Pläne und veranlaßten sie zu Warnungen ihrer höchsten Gastgeber (Konnte man denn auch, statt jeder weiteren Bemühung um Erhaltung des Friedens, alles auf die Karte des Staatsstreichs setzen? Bei Hitler und Ribbentrop begegneten die Ungarn jedoch, sooft sie die Interventionsgefahr erwähnten, tauben Ohren -Anders die Stimmung des Militärs. Auf einem Festabend zu Ehren Horthys in der Reichskanzlei (24. 8.) war, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab, die geplante Kriegsaktion das Gesprächsthema der geladenen deutschen Generale, und Brauchitsch blieb die Frage nicht erspart, ob er sich der Verantwortung bewußt sei, die er mit einer Zustimmung zu den Absichten der obersten Führung auf sich nehme Als einige Tage später jedoch General Adam bei der Besichtigung der Westbefestigungen (26. -29. 8.) die dortige Lage pflichtgemäß unter dem Gesichtspunkt eines Eingreifens der Westmächte erörterte, entgegnete Hitler ihm mit einem Schwall von Zahlen und „Tatsachen“ Engländer und Franzosen würden „sich hüten, mit uns anzubinden". Im übrigen: „Ein Hundsfott, wer diese Stellung nicht hält!“ Er, Hitler, bedauere nur, daß er der Führer und Reichskanzler sei und nicht Oberbefehlshaber der Westfront sein könne. AIs Adam indes die vorgesehenen Führer der drei Westarmeen, zu denen auch Beck gehörte, am 2. September in Frankfurt zu einer Besprechung versammelte, gab es über die politischen und militärischen Aussichten nur eine Meinung. Einer der beteiligten Generale, als bereits Verabschiedeter unvermittelt vor die neue Situation gestellt, äußerte entsetzt: „Ja, sind denn diese Leute wahnsinnig geworden?“ Selbst Jodl kamen Sorgen, „ob nicht die frühere Grundlage der Aktion“ (Passivität der Westmächte) von Hitler verlassen worden sei, unterdrückte sie aber in dem Gedanken, daß der Nervenkrieg des Auslandes bestanden werden müsse Aus der Rüdeschau schien freilich auch ihm bei französisch-britischem Eingreifen „unser sofortiger Zusammenbruch“ sicher, denn es sei „ganz ausgeschlossen“ gewesen, „mit fünf aktiven Divisionen in einer Westbefestigung, die nur eine große Baustelle war, 100 französischen Divisionen standzuhalten“
Die Gefahren, der Situation und die abenteuerlichen Tendenzen der Staatsführung zeichneten sich denn auch zum mindesten für das höhere Offizierskorps immer deutlicher ab. Hatten die Beruhigungsversuche Hitlers auf dem Obersalzberg und in Jüterbog überhaupt eine tiefere Wirkung auf die Generalität erzielt, so war sie jetzt offensichtlich verflogen. Selbst die forcierte Stimmungsmadie des Nürnberger Parteitages konnte hieran kaum etwas ändern. Die Tagebuchnotizen Jodls sind das sprechendste Zeugnis dafür. Hatte er schon vor Wochen verzeichnen müssen, daß man Hitler mit dem Schwedenkönig Karl XII. vergleiche, so konstatierte er nun ganz allgemein die „mangelnde Seelenstärke , die „Überheblichkeit“, ja den „Ungehorsam“ der Generale Demgegenüber suchten die Getreuen des Regimes mit ihren Argumenten und Methoden Wandel zu schaffen. Bereits in einem Vortrage im Kriegsministerium hatte Göring (obwohl selber nicht ohne Bedenken) den Vorwurf gewagt, in diesem Hause herrsche der Geist der Zaghaftigkeit, und dieser Geist müsse beseitigt werden Jetzt, bei der Besichtigung des Wehrmachtlagers in Nürnberg verstieg er sich, in seiner Tischrede -zu der Äußerung: „Ich weiß, Ihr habt nur Angst vor den tschechischen Bunkern. Aber werft nur das Herz hinüber, und Ihr seid durch!“ Die angesprochenen Offiziere (des II. A. K.), zumal die jüngeren, waren über diesen „Vorwurf der Feigheit“ empört und veranlaßten ihren Kommandierenden General Freiherrn von Weichs zu einer Beschwerde bei Brauchitsch, der sich (im großen Kreise auf der Tribüne) bemühte, den Ton des Beschwerdeführers zu dämpfen. Waren doch seine eigenen kritisch-bedenklichen Äußerungen zu den Generalen, ja seine Bitte um deren Unterstützung bei Hitler, diesem zu Ohren gekommen Und so wie der General Liebmann -weil er seine Aufassung von der Schwäche der Westfront offen vertreten hatte — Göring gegenüber als einer 'der „miesmachenden Generale des Heeres“ bezeichnet wurde ist zweifellos noch mancher andere in diesen Wochen an hoher und höchster Stelle „qualifiziert“ worden. Spricht doch Jodl von „Anklagen beim Führer wegen Miesmachens“, die „man“ zum Entsetzen Keitels schon begann, „auch auf das OKW auszudehnen“. Berichte der Abwehr über ein Gespräch von Canaris mit dem italienischen Generalstabschef Pariani sowie eine Denkschrift des Wehrwirtschaftsstabes über die Stärke und Unverletzbarkeit der englischen Rüstungsindustrie gaben den Anlaß dazu. Auf Grund seiner „trüben Erfahrungen“ auf dem Parteitag hielt Keitel daher „eine sehr erregte Ansprache an seine Amtsgruppen-und Abteilungschefs“ und betonte, er werde keinen Offizier im OKW dulden, „der sich in Kritik, Bedenken und Miesmachen ergeht". All dies Beweise für die Erschütterung des Vertrauens zwischen großen Teilen des Heeres und der Staatsführung, für die fortschreitende Spaltung im Offizierskorps der Wehrmacht selbst, ja für das Vordringen des Denunziantentums, und zugleich für die Unterdrückung verantwortlicher Bedenken durch die drohend gestellte Forderung des „Glaubens“ — ominöse Vorzeichen späterer Zeiten! „So herrschte denn in Nürnberg“, wie Jodl schließt, „eine kalte und frostige Atmosphäre“ Dies der spezifisch militärische Aspekt im Rahmen einer auf allen Gemütern lastenden Sorge, die selbst alte Parteigenossen ergriff und sie, wie Halder bezeugt hat, sich hilfe-suchend der Heeresführung nähern ließ
Mit dem Ende des Parteitages aber trat die Krise in ihr entscheidendes Stadium. Hatte die ursprüngliche Weisung Berlins an die Sudetendeutschen in klassischer Formulierung gelautet, „nach -außen hin ernstlich zu verhandeln“ so war diese Taktik durch das schließliche weite Entgegenkommen Beneschs unmöglich geworden. Vor allem aber war sie im Rahmen der Zeittafel Hitlers jetzt überholt. So griff man zu revolutionären Mitteln, brach die Verhandlungen mit den Tschechen ab und proklamierte — „als kurze Etappenlösung“, wie Henlein Hitler schrieb — den Anschluß des Sudetenlandes an das Reich In den Augen der Berliner Verschwörer rückte nun die Entscheidung heran. Schon hatte am 8. September der Oberquartiermeister I, General Heinrich von Stülpnagel, Jodl um eine schriftliche Zusicherung gebeten, daß das Oberkommando des Heeres fünf Tage vorher von dem Auslösungstermin der Aktion Bescheid erhalten würde Da trat bekanntlich ein völlig unerwartetes Ereignis ein. Angesichts der Zuspitzung der Lage entschloß sich Chamberlain zu einem (seit Ende August geplanten) äußersten Schritt, nämlich in eigener Person Hitler in Berchtesgaden aufzusuchen, natürlich um weitestgehende Verhandlungen zu führen! In Gegensatz zu der Demarche vom 21. Mai könnte dieser Weg, so meinte Halifax, es dem Diktator erleichtern, seine etwaigen Aktionspläne fallen zu lassen. Ja, auch die deutsche Opposition haben die britischen Staatsmänner dabei — freilich wiederum auf ihre Art — als Faktor in Rechnung gestellt; denn Halifax fuhr fort: „Überdies erhalten wir laufend Beweise für eine wachsende Unzufriedenheit mit dem Regime in Deutschland und mit Herrn Hitlers Führung der > auswärtigen Politik. Der Plan, den wir jetzt ins Auge fassen, ja schon sein bloßer Vorschlag, dürfte die Gemäßigten in Deutschland stärken In Wahrheit verschaffte man Hitler damit den größten diplomatischen Erfolg seiner bisherigen Laufbahn. Für die Masse zuerst noch bestürzend, aber dann erleichternd, für manche als sichtbare Bestätigung der wieder-errungenen Machtstellung des Reiches auch befriedigend, wirkte das ungeahnte Ereignis mit seinen nächsten Folgen auf die Verschwörer zugleich verwirrend, ja teilweise niederschmetternd
Vorübergehend mochte es ihnen scheinen, als ob ihr ganzer Plan überholt sei und eine friedliche Lösung sich anbahne. Indes, die Hoffnung auf Entspannung trog. In Berchtesgaden (15. 9.) verlangte Hitler zunächst allgemein die Abtretung des Sudetenlandes, für die Chamberlain sich einzusetzen erbot. Der Diktator mochte hoffen, er habe den britischen Premier durch die grundsätzliche Annahme dieser weitgehenden Forderung „in die Ecke manövriert“, da er offenbar glaubte, Chamberlain werde das verabredete Programm nicht zur Ausführung bringen können Inzwischen förderte er nach Kräften die weitere Zuspitzung der Lage. Schon am 20. September erklärte er den ungarischen Ministern, „es wäre das beste, die Tschechoslowakei zu zerschlagen“, und drängte sie, „aktiver zu sein“ Und als Chamberlain ihm in Godesberg (22. -23. 9.) die Erfüllung seiner (offiziellen) Forderung bot, scheute Hitler sich nicht, die bisherige Verhandlungsbasis kurzerhand zu zerstören und die Frage Krieg oder Frieden in ultimativer Form von geflissentlich überspannten Bedingungen der technischen Durchführung seines anerkannten Anspruchs abhängig zu machen: „In der Sprache eines Eroberers . . ., der seinen Willen einem Besiegten diktiert“, wie Chamberlain sagte verlangte er (neben der Berücksichtigung der polnischen und ungarischen Forderungen) die Besetzung des Sudetenlandes bis zum 1. Oktober ohne vorherige Festlegung seiner Grenze und wirklich vereinbarte Regelung seiner Übergabe. Nicht weniger frivol als das Ziel der gewaltsamen Lösung zur Vernichtung der Tsche-chei, das Hitler mit der Überspannung seiner Bedingungen verfolgte, waren auch die Mittel, mit denen er es, über das Hindernis der Konzessionsbereitschaft der Gegenseite hinweg, zu erreichen suchte: nämlich unter Vorwänden und Drohungen selbst eine Frist zur Übertragung des Sudetenlandes zu verweigern, die den Westmächten ein Minimum von Recht, Ordnung und Abmachung — zur Wahrung des Gesichts — gewährte! Nur zu begreiflich, daß daraufhin ein weitgehender Umschwung in der öffentlichen Meinung des Westens eintrat und die Bereitschaft wuchs, dem offenbaren Willen des Diktators zur Gewaltanwendung zu begegnen
Auch Chamberlain stand vor der Frage, ob Hitlers Auftreten nicht jenes Mindestmaß von gutem Willen vermissen ließ, das jede Fortsetzung seiner Befriedungspolitik zur Voraussetzung hatte, ob nunmehr nicht Hitlers Absicht erwiesen war, „die Welt durch die Furcht vor Gewalt zu beherrschen“. Denn erst dieser Beweis entschied für den Premier darüber, ob es „wirklich um die großen Fragen“ des Miteinanderlebens in Frieden und Freiheit gehe die trotz der militärischen Schwäche des Westens „Widerstand“ erforderten und rechtfertigen. Mußte man aber nicht Hitlers Verzicht auf ebenso unnötige wie unehrenhafte Zumutungen zum Probefall seines guten Willens machen? Im Gedanken an „sein großes Ziel“ der Befriedung jedoch, in der Erwägung und Hoffnung, ein jetzt verhinderter Krieg könne die Verhütung des Krieges überhaupt bedeuten, wollte Chamberlain noch nicht die Möglichkeit ausschließen, daß es Hitler vor allem um die praktische Sicherung und Erfüllung seines Anspruchs gehe. In dieser Einstellung bestärkten den Premier die bekannten Erklärungen des Diktators, es handle sich um seine letzte territoriale Forderung in Europa, ihre Regelung werde „einen Wendepunkt in den deutsch-englischen Beziehungen“ bedeuten, ja, er sei (nach Befriedigung der Ansprüche Ungarns und Polens!) zu einer Garantie des „Restbestandes des Tschechoslowakei“ bereit — Erklärungen, die im Lichte der späteren Handlungen Hitlers (und seines derzeitigen Verhaltens gegenüber den Ungarn) von dem Bestreben diktiert erscheinen, für die gewaltsame Lösung seine moralische Position gegenüber den Westmächten zu verbessern und diese von der Tschechei zu trennen. Schier unermüdlich, konnte Chamberlain, um den Preis einer moralischen Demütigung, den Abstand zwischen dem von Hitler (offiziell) Geforderten und dem ihm Angebotenen schließlich so weit verringern, daß fast jeder Vorwand zu einem Kriege um des Sudetenlandes willen entfiel. Es bedurfte aber offenbar noch ganz anderer Fakten und Maßnahmen, um Hitler zum Einlenken zu bringen. Nach der bekannten Presseerklärung des britischen'Außenamtes vom 26. September ließ tags darauf Chamberlain endlich Hitler selbst die Warnung ausrichten, England würde, da Frankreich der Tschechei gegen einen deutschen Angriff aktiven Beistand zu leisten gewillt sei, ebenfalls in den Krieg hineingezogen werden. Vielleicht hat schon diese Botschaft, trotz mancher Abmilderung durch den Überbringer, den Diktator aufhorchen lassen Gleichwohl befahl er kurz darauf „das Einrücken der Sturm-abteilungen aus ihren Übungsräumen in die Ausgangsstellungen Andererseits unterzeichnete er am Nachmittag des 27. September eine in der Form entgegenkommende — freilich von Weizsäcker entworfene — Antwort auf Chamberlains beschwörenden Brief vom Tage zuvor Am Abend lieferte die Haltung der Menge bei dem bekannten „Propagandamarsch“ motorisierter Einheiten durch die Wilhelmstraße Hitler für die allgemeine Abneigung gegen den Krieg den deutlichsten Beweis. Dennoch fand Weizsäcker „um Mitternacht Hitler mit Ribbentrop wieder ganz entschlossen, die Tschechoslowakei nunmehr zu vernichten“ Vielleicht aber unterdrückte jener aufsteigende Bedenken bereits mit Gewalt. Da kam am Vormittag des 28. September die Nachricht von der Mobilisierung der britischen Flotte, die den Diktator offenbar erheblich beeindruckt hat Immer zahlreicher wurden die Warner, zu denen selbst Göring und Goebbels gehörten Noch hatte der französische Botschafter Francois-Poncet zunächst Mühe, mit seinen Mahnungen zum Frieden, gegenüber den Quertreibereien Ribbentrops, bei Hitler die erwünschte Resonanz zu finden Da riet auch Mussolini zum Entgegenkommen, dessen „eindeutige Haltung" in Hitlers Kalkül einer Lokalisierung des Krieges größtes Gewicht besaß. Offenbar bewog erst dieses Eingreifen den Diktator endgültig, sich mit einer „Etappenlösung“ der tschechischen Frage — höchst widerwillig — abzufinden. j
Der britische Kritiker der deutschen Opposition hat vielleicht darin recht, daß Hitler ohne die weitgehende Annahme auch seiner Godesberger Forderungen (nachdem er sich öffentlich auf sie festgelegt hatte) zum Kriege geschritten wäre. In einer Verkennung dieser Tatsache dokumentiert sich für ihn der angeblich erschütternde Mangel an Realismus auf Seiten der Opposition Die entscheidende Frage aber bleibt doch, warum Hitler von der gewaltsamen Lösung Abstand nahm, obwohl er nicht nur auf die restlose Erfüllung seiner Godesberger Forderungen, sondern vor allem auf sein eigentliches Ziel der völligen Vernichtung der Tschechoslowakei verzichten mußte. Es erscheint unzweifelhaft, daß die schließlich sehr ernste britische Haltung, die sich, direkt und indirekt, ja auch in der Stimmung des deutschen Volkes, in der von Hitler bitter vermerkten Passivität Lingams und in dem beschwichtigenden Rat Mussolinis auswirkte, hieran entscheidenden Anteil hat. Dies spricht gewiß nicht gegen die Denkweise der Opposition, und man darf wohl die Frage aufwerfen, ob eine rechtzeitige entschiedene Haltung Englands die Kriegsgefahr überhaupt so groß hätte werden lassen.
Wider Erwarten trieb diese Gefahr nach Chamberlains Berchtesgadener Besuch ja erst ihrem Höhepunkt zu. Wohl machte sich sehr bald nach diesem Ereignis die amtliche Propaganda zum Vorkämpfer der polnischen und ungarischen Ansprüche und forderte die Zerschlagung der Tschechoslowakei Doch überwog zunächst noch der Glaube an eine friedliche Lösung. Als sich nun, trotz der Zustimmung Prags zur Abtretung des Sudetenlandes, die Lage mit Godesberg vollends verschärfte, war die stimmungsmäßige Reaktion um so stärker, nicht zuletzt bei den Militärs und im Kreise der Verschwörer. Ihre Gruppe im Auswärtigen Amt hatte schon kurz nach Berchtesgaden vertraulich erfahren, Hitler denke weiterhin an die Eroberung der ganzen Tschechen Jetzt, am Nachmittag des 23. September, konnte Erich Kordt Oster von den Godesberger Briefen an Chamberlain unterrichten, die Hitlers neue beispiellose Forderungen enthielten. Oster wertete sie als den ersehnten „klaren Beweis, daß Hitler unter allen Umständen zum Kriege treiben“ wolle. Nun könne es, so erklärte er Kordt, für die Verschwörer kein Zurück mehr geben; doch müsse Hitler unbedingt veranlaßt werden, wieder nach Berlin zu kommen. Oster erhielt zur Antwort, daß der Diktator schon für den folgenden Tag erwartet werde. Man verabredete die laufende außen-politische Information des Polizeivizepräsidenten Fritz von der Schulen-bürg durch Kordt, und Oster erbat einen Grundriß der Reichskanzlei, den Kordt beschaffen konnte
So schien die Stunde der Aktion ganz nahe gerückt; denn am 28. September um 2 Uhr nachmittags wollte Hitler die allgemeine Mobilmachung verkünden. Witzleben, so wird berichtet, äußerte nach dem ange506 ordneten Propagandamarsch seiner Truppen durch das Regierungsviertel vom Abend zuvor entrüstet, am liebsten hätte er gleich vor der Reichskanzlei abprotzen fassen Am Morgen des folgenden Tages gab Erich Kordt Oster den letzten Brief Chamberlains und Hitlers Antwortschreiben zur Kenntnis. Oster machte von dem Inhalt sogleich Witzleben Mitteilung. Dieser begab sich alsbald zu Halder, der wiederum Brauchitsch informierte und mit diesen Schriftstücken auf ihn „seltsamerweise“ einen besonders nachhaltigen Eindruck erzielte, ja, im Zusammenwirken mit Witzleben, nun offenbar auch den Oberbefehlshaber für die Aktion gegen Hitler gewinnen konnte. Brauchitsch wollte sich freilich in der Reichskanzlei noch persönlich von dem Charakter der Lage überzeugen und begab sich dorthin. Kurz nach 11 Uhr wurde Erich Kordt von seinem Bruder aus London telefonisch noch einmal mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß England im Falle eines Angriffs auf die Tschechei zweifellos gegen Deutschland zum Kriege schreiten werde. Er verständigte Schulenburg, der die letzten Informationen bei ihm einholte und von Brauchitschs angeblicher Geneigtheit zu einer Aktion bereits Kenntnis hatte, über die unmittelbar drohende Kriegsgefahr und forderte ihn dringend auf, unverzüglich zu handeln. Noch schien man in der Reichskanzlei keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen getroffen zu haben. Kordt hoffte daher, es werde seinen mit Aufträgen in die Reichskanzlei entsandten Freunden bei der dort herrschenden Aufregung gelingen, unbemerkt „die große Doppeltüre hinter dem Posten zu öffnen“, um dem bereitgestellten Stoßtrupp den Weg freizumachen. Schulenburg eilte sofort zu Witzleben und Halder und unterrichtete sie. Der Generalstabschef war im Begriff, das Startzeichen zu geben — da kam die Nachricht von dem erfolgreichen Eingreifen Mussolinis und der bevorstehenden Münchner Konferenz der leitenden Staatsmänner. Damit war dem Aktionsplan gegen Hitler, so wie die Verschwörer ihn angelegt hatten, mit einem Schlage die Basis genommen Von München bis zum Kriegsbeginn Der Tag von München, den eine Welt als Erlösung von drückender Kriegsgefahr empfand, als Beginn einer Epoche ruhigerer Entwicklung und friedlicher Regelung noch ungelöster Streitfragen, wurde zum dies ater der deutschen Widerstandsbewegung gegen Hitler, vor allem ihres militärischen Zweiges.
Infolge der Konzessionsbereitschaft der Westmächte war nicht lediglich eine relativ günstige Gelegenheit zum Schlage gegen den Diktator ungenutzt geblieben, der Staatsstreich mehr oder weniger verzögert worden. Vielmehr machte die unerwartete Wendung der Dinge auch wichtigste innere Voraussetzungen einer Aktion überhaupt zunichte. Hitlers „unblutiger Erfolg“ bedeutete für die Opposition nicht nur eine verlorene Schlacht, sondern einen verlorenen Feldzug. Zwei Wirkungen der Ereignisse waren hierfür maßgebend.
Alle diejenigen, die den Nationalsozialismus noch nicht aus gefestigter innerer Überzeugung als Ganzes ablehnten, sondern sich mehr an „Einzelerscheinungen“ stießen und zuletzt der abenteuerlichen Politik Hitlers widerstrebt hatten, gingen nunmehr der Opposition verloren Ihrer Auffassung und ihren unzulänglichen Maßstäben nach hatte Hitler die Lage richtig beurteilt und daraus zwar äußerst kühne, aber durch den Erfolg gerechtfertigte Konsequenzen gezogen. Sie betrachteten „mit wachsender Verblüffung das unglaubhafte politische Glück, mit dem Hitler alle seine durchsichtigen und undurchsichtigen Ziele bisher ohne Griff nach den Waffen erreichte“, lind angesichts des „beinahe untrüglichen Instinkts" mit dem dieser Mann im deutschen Interesse zu handeln schien, überkam sie wohl gar das peinliche Empfinden, durch ihre Kritik oder ihre Sympathie für ein Unternehmen gegen den Diktator die Rolle von Kleingläubigen von einem begnadeten Meister gedrängt, und dieses Bewußtsein führte nicht nur dazu, daß sie sich ihrer bisherigen Einstellung nur ungern erinnerten, es mußte auch bei einer ähnlichen Situation in der Zukunft alle Versuche, sie der Opposition zurüdezugewinnen, erheblich erschweren.
Aber auch manche grundsätzlichen und innerlich entschiedenen Gegner Hitlers sahen keine rechte Möglichkeit mehr, dem so sichtlich vom Erfolg Begünstigten in den Arm zu fallen. Sie waren durchaus nicht bekehrt, doch flüchteten sie in einen achselzuckenden Quietismus und ihre Haltung („Laßt die Finger von solchen Sachen“ trug dazu bei, die nach wie vor zur Aktion Bereiten unsicher zu machen. Es kam hinzu, daß (außer Beck) ein so überzeugter Gegner des Regimes, wie der Generaloberst Adam, bald darauf von Hitler verabschiedet wurde, daß andere oppositionell gestimmte Generale, wie Geyer, Liebmann und LIlex, sein Schicksal teilten
Die Opposition als Ganzes, zumal die militärische, verlor somit die relativ breite Basis, die bis München dem Staatsstreich seine Erfolgschance gesichert hatte. Sie wurde, wie Halder mit Recht festgestellt hat, „dezimiert“ Der Generalstabschef äußerte damals im Gespräch mit einem vertrauten Freunde: das Ziel bleibe unverändert. Aber das fast märdienhafte Glück, das Hitler auf außenpolitischem Gebiet bisher entfaltet habe, lasse irgendwelche Aktionen zur Zeit nicht möglich erscheinen. Offiziere und Soldaten seien vollkommen im Banne der bisherigen Erfolgspsychose. Daß das Ausland keine Konsequenzen gezogen habe, sondern im Gegenteil alles hinnehme, habe die persönliche Stellung Hitlers in der Wehrmacht ungeheuer gestärkt; man sei in starkem Maße davon überzeugt, daß die Dinge weiterhin im Guten verlaufen würden Daß auch der überwiegende Teil des Volkes unter dem Eindruck der Erfolge stand — „nationaler Erfolge“, um derentwillen man „Uner-freuliches" hinzunehmen hatte —, mußte nicht minder bei allen künftigen Planungen in Rechnung gestellt werden
Den verbleibenden entschiedenen Gegnern Hitlers waren somit entscheidende Voraussetzungen für einen Putsch entzogen. Es konnte aber nicht ausbleiben — und das war die zweite schwerwiegende Folge Münchens —, daß auch sie selber zunächst die unbedingte Sicherheit ihrer Haltung verloren. Ohne Zweifel war ihr Widerstand gegen den Diktator ethisch begründet, und nur diese Verwurzelung hatte die Soldaten unter ihnen die traditionellen Gehorsamsschranken überwinden lassen. Aber den letzten Entschluß zum Handeln hatten sie zu sehr an das nach politischem und militärischem Sachverstand scheinbar unausweichliche Scheitern der Politik Hitlers gebunden, um jetzt von deren Erfolg nicht außer Tritt gebracht zu werden. Sie sahen sich mit ihren gewissenhaften Erwägungen widerlegt, ja „blamiert“ Man hatte die Westmächte als natürliche Verbündete einer deutschen Befreiungsaktion gegen den Diktator betrachtet und fühlte sich im Stich gelassen. „Wie die Dinge liegen, haben wir durch die Erhaltung des Friedens Hitler und sein Regime gerettet“, schrieb selbst Henderson am 6. Oktober 1938 (wenn auch nicht im Hinblick auf die vergeblichen Mahnungen der Widerstandsbewegung). Zur Resignation über die verlorene Gelegenheit gesellte sich Unsicherheit und naheliegende Besorgnis hinsichtlich der weiteren praktischen Möglichkeit aktiver Opposition im totalen Regime des Nationalsozialismus. Nachdem man sich (ohne zum Zuge gekommen zu sein) so weit exponiert und so manchen ins Vertrauen gezogen hatte, machte sich die Auffassung geltend, man müsse zunächst einmal Gras über die ganze Sache wachsen lassen, „alles bemänteln und verbergen“
In der Folgezeit sind denn auch die Äußerungen des Widerstands-kreises gekennzeichnet von bitterer Skepsis und erschütternder Direktionslosigkeit. Die Verbindung zwischen den Militärs und Zivilisten lockerte sich, die verschiedenen Gruppen vereinsamten, sie fanden noch weniger als zuvor eine klare Richtung ihres Handelns, eine einheitliche Spitze, die einer Aktion Ziel und Weg hätte weisen können. München hatte die Opposition nicht allein dezimiert, schwerer wogen noch der Verlust der Unbefangenheit, Zuversicht und Entschlossenheit und das Zerbröckeln der kaum erreichten gemeinsamen Front.
Alle diese Momente wirkten am stärksten in der Armee. Hier kam noch hinzu, daß das frühere Ansehen und damit das politische Gewicht des Heeres weitere bedenkliche Einbußen erlitten hatte und weiterhin erleiden sollte Auch das eine Folge Münchens, eine Auswirkung des Prestigeverlustes der „widerlegten“ Fachleute gegenüber dem intuitiv handelnden Diktator. Die in Becks Denkschrift niedergelegte „offizielle“ Auffassung der Armee war, so mochte es damals erscheinen, falsch gewesen. So konnte Hitler auch und gerade die führenden Soldaten jetzt mit dem Anschein der Berechtigung noch schärfer in die Grenzen militärischer Fachfragen verweisen, sie aus der einstigen Stellung verantwortlicher Mitberater bei militärisch-politischen Unternehmungen vollends auf die Position bloßer ausführender Organe herabdrücken. Er benutzte das für die Armee so ungünstige Klima, um das Zentrum der Opposition gegen seine bisherige Politik, den Generalstab, entscheidend zu treffen. Neben dem Prinzip der Mitverantwortung des Generalstabsoffiziers und dem Sonderdienstweg, beseitigte er auch das von Moltke geschaffene Recht höherer Offiziere, abweichende Ansichten aktenkundig zu machen. 1939 bestimmte das neue Handbuch für den Generalstabsdienst im Kriege, der Generalstabsoffizier habe nur mehr Gehilfe zu sein und nicht mehr verantwortlicher Teilhaber der Entschlüsse des Befehlshabers. Was damit für den rein militärischen Bereich festgelegt war, mußte in politischen Fragen erst recht gelten
Die Absperrung des Generalstabs von der Außenpolitik wurde auch durch Hitlers Weisung vom Dezember 1938 gefördert, welche etwa feststellte, daß bei der gegebenen politischen Lage militärische Spannungen für absehbare Zeit unwahrscheinlich seien, und daher der Armee befahl, sich bis zum Jahre 1945 nur ihrem inneren Aufbau, ihrer Organisation und Ausbildung zu widmen und operative Planungen, selbst die routinemäßige Neubearbeitung der Sicherungsaufmärsche, zu unterlassen Nach der Haltung der Westmächte im Herbst 1938 glaubte Hitler es sich bei geschickter Gestaltung der Umstände leisten zu können, die Beseitigung der Resttschechei ohne größere operative Vorbereitungen mit mehr oder weniger improvisiertem Einsatz zahlenmäßig begrenzter Kräfte durchzuführen. Es kostete ihn demnach, zumal die Aufrüstung in unvermindertem Tempo fortgesetzt wurde, gar nichts, einen Befehl zu geben, der dem Heer eine Periode außenpolitischer Ruhe vorspiegelte und damit der Opposition der Generale einigen Wind aus den Segeln nahm.
Noch ehe neue internationale Spannungen entstanden, zeigte ein innerpolitisches Ereignis, daß Hitler nicht gewillt war, seinen Weg durch den „Geist von. München“ im geringsten beirren zu lassen. Erweckten die Vorgänge der sog. „Kristallnacht“ am 9. und 10. November 1938 schon in Deutschland in weiten Kreisen Abscheu, so bewirkten sie im Ausland, vor allem in England, den gleichsam inoffiziellen Beginn jenes Stimmungsumschlags, der nach der Besetzung von Prag sich endgültig und offiziell vollziehen sollte. Freilich kam die Entrüstung in Deutschland noch weniger als in den westlichen Ländern praktisch zur Geltung, nicht zuletzt deshalb, weil Hitler bereits zu stark war und München noch zu nahe lag. Auch wußte die Staatsführung ihre weitgehende Veranlassung der schändlichen Ausschreitungen einigermaßen zu tarnen. Vor allem aber kam es zu keinem gemeinschaftlichen Auftreten Verantwortlicher, die sich dem Diktator gegenüber zum Organ der weitreichenden Entrüstung gemacht hätten Als Raeder, wie berichtet wird, bei Hitler Vorstellungen erhob, wurde er von diesem mit der kümmerlichen Ausrede abgefunden, die Gauleiter seien ihm aus dem Ruder gelaufen Brauchitsch seinerseits begegnete der bei einer Befehlshaberbesprechung laut geäußerten Empörung einiger Generale mit Achselzucken. Diese Empörung fand ihren stärksten Ausdruck in der ebenso erbitterten wie im Grunde resignierenden Bemerkung des Generalobersten von Bode:
„Kann man dieses Schwein, den Goebbels, nicht aufhängen?“
Der durch die „Kristallnacht“ eingeleiteten Radikalisierung der Innenpolitik folgten bald erste Anzeichen, daß Hitler auch nach außen wieder aktiv werden wollte. Wann die Opposition von seiner Absicht einer Besetzung der Resttschechei Zuverlässiges erfuhr, bleibt jedoch eine offene Frage. Sicher scheint, daß ihre Gruppen es für wenig aussichtsvoll hielten, aus diesem Anlaß einen Staatsstreich ins Werk zu setzen, sofern nicht eine deutlich spürbare Kriegsgefahr die Voraussetzung dafür lieferte. Offenbar glaubten sie jedoch, im Gegensatz zum August 1938, nicht mehr an eine Entschlossenheit des Westens, auf einen solchen Übergriff Hitlers mit den Waffen zu reagieren Diese Beurteilung der Lage erwies sich als richtig. Hitler zog am 15. März in Prag ein, ohne aus den westlichen Hauptstädten mehr als papierene Proteste zu ernten, und feierte einen weiteren „unblutigen Erfolg" -Prag hatte nicht nur keine Chance für einen Putsch geboten, die allgemeine Atmosphäre, in der dieser neue Gewaltstreich des Diktators vor sich ging, und seine völlig überraschende Durchführung verhinderten sogar, daß die Opposition die Folgen Münchens überwand, sich von ihrer Erstarrung befreite und ihre Reihen wieder schloß. Deutlich zeigten sich Lähmung und Zersplitterung des Widerstandskreises, Tatsachen, die sich im weiteren Verlauf des Jahres 1939 verhängnisvoll auswirken sollten.
Bald nach der Beseitigung der Resttschechei nämlich ließ Hitler die Absicht erkennen, eine Frage zu lösen, die er diplomatisch zum ersten-malim Oktober 19 38 aufgeworfen hatte: Danzig und das Korridor-problem. In der letzten Märzwoche erklärte er zunächst Brauchitsch, sodann allen drei Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile, die Lösung der Polenfrage erscheine ihm in absehbarer Zeit unvermeidlich. Er befehle daher, eine etwaige Auseinandersetzung mit Polen bis zum 1. September vorzubereiten Am 3. April gab das Oberkommando der Wehrmacht die mündliche Anordnung Hitlers in einer kurzen schriftlichen Weisung aus, deren politischer Teil Gedanken enthielt, die sowohl die Denkweise und Argumentation Hitlers wie die Auffassung vieler Generale bis zum Kriegsbeginn wesentlich bestimmen sollten.
Hitler bekundete zunächst nicht einfach den Entschluß zum Kriege, sondern kennzeichnete nur eine Lage, die ihn zum Kriege veranlassen könnte, eine friedliche Regelung aber nicht unbedingt auszuschließen brauchte. Jedenfalls stellte er für eine gewaltsame Lösung erhebliche politische Vorbedingungen und erklärte es ausdrücklich als Aufgabe der Staatsführung, den möglichen Krieg mit Polen zu lokalisieren. Sein Konzept enthielt somit eine Reihe von Momenten, welche die militärischen Führer in der Neigung bestärken konnten, sich dem vollen, äußersten Ernst der eingeleiteten Entwicklung zu verschließen. Dabei wird mangels unmittelbarer zeitgenössischer Zeugnisse die Frage offen bleiben müssen, inwieweit Manstein sich mit Recht dagegen verwahrt, daß die Armee in traditioneller Fortsetzung der politischen Linie Seeckts von Anfang an mit Hitlers Maximalziel der Vernichtung Polens sympathisiert habe Eine Revision der deutsch-polnischen Grenzen hielten jedenfalls weitaus die meisten Soldaten — wie auch wohl die meisten Angehörigen der Opposition — für berechtigt und notwendig, und es bedurfte schwerlich besonderer Überredungskunst, sie für die Politik Hitlers innerhalb der Grenzen, die diese in ihrem Wunschbild besaß, grundsätzlich zu gewinnen
Dennoch haben sich offenbar nicht wenige der führenden Generale, zumal die Angehörigen der Opposition, weder über die eigentlichen Absichten Hitlers, noch über den wahren Ernst der Lage getäuscht. Halder sagte am 30. April zu General Liebmann, als dieser sich bei ihm abmeldete und dabei darauf hinwies, daß der Gewaltstreich von Prag den Geduldsfaden in England und Frankreich offensichtlich zum Zerreißen gebracht habe: „Ich verstehe Ihre Sorgen. Wenn Sie aber wüßten, was wirklich gespielt wird, würden Ihre Sorgen noch viel größer sein .“ Anders als bei dem Einmarsch in die Resttschechei drängte sich damit erneut der Gedanke an einen Staatsstreich auf. Diesem stellten sich jedoch, neben der zwar bangen, aber dem Regime gegenüber resignierten Stimmung in Volk und Truppe, sowie den für die Opposition verhängnisvollen Nachwirkungen Münchens selbst, schwerwiegende äußere Hindernisse in den Weg.
Was eine etwaige Aktion in der Reichshauptstadt anging, so hatte Halder hier gewissermaßen seinen Arm verloren, da Witzleben nicht mehr in Berlin war. Dieser hatte im Herbst 1938 die Heeresgruppe West übernommen, so daß der populäre, die Truppe mitreißende Führer an der entscheidenden Stelle fehlte. Brockdorff traute sich allein diese Aufgabe nicht zu, Witzlebens Nachfolger, General Haase, galt als „nicht verschwörungsfähig“. Generaloberst Adam war, wie erwähnt, entlassen worden. Fromm, der Chef des Heeresamtes, versagte sich Halder, und auch auf den Berliner Polizeipräsidenten Graf Helldorff durfte kaum mehr im gleichen Maße wie 1938 gerechnet werden. Hinzu kam, daß auch die Bereitstellung besonderer Truppenteile für einen Staatsstreich erheblich erschwert war. Noch 1938 hatte Hitler die sogenannten Zeit-tafeln eingeführt, die es ermöglichten, den Standort der einzelnen Divisionen jederzeit zu kontrollieren Halder zog hieraus die für seine nüchterne, ungewissen Abenteuern abgeneigte Auffassung der Lage naheliegenden Konsequenzen. Als ihn Liebmann nach der erwähnten Bemerkung fragte, warum denn nichts dagegen geschehe, zuckte er resigniert die Achseln Schon am 12. April hatte er sich in einer Unterredung mit dem amerikanischen Geschäftsträger dahin ausgesprochen, die deutsche Armee sei von dem Gedanken an einen europäischen Krieg zwar entsetzt; wenn es ihr aber von Hitler befohlen würde, werde sie sicher (most certainly) marschieren. Es gebe keine Alternative . . . Dies sollte wohl ein Hinweis sein, daß womöglich noch mehr als im Jahre zuvor der Verlauf der Dinge von der Haltung des Auslandes abhänge.
Hitler war durch den Ausgang der Sudentenkrise und die Entwicklung nach München offenbar in seiner Überzeugung bestärkt worden, daß England und Frankreich im Falle einer deutschen Aktion im Osten nicht marschieren würden, daß es also nur darauf ankomme, die Nervenprobe diesmal bis zuletzt durchzustehen. Einem unmißverständlichen, selbst für den Diktator eindrucksvollen Auftreten der Westmächte, um dadurch den Frieden zu bewahren, galt daher Halders Aktivität jetzt in erster Linie. So drängte er den französischen Botschafter Coulondre, Hitler den vollen Ernst der Lage zu zeigen, und bei einem gesellschaftlichen Zusammentreffen mit dem britischen Botschafter Henderson beschwor er diesen, Hitler so deutlich wie nur irgend möglich zu sagen, daß England diesmal nicht mehr-zurückweichen werde, sondern einen deutschen Einmarsch in Polen unweigerlich mit Krieg beantworten werde: „Man muß dem Mann mit der Axt auf die Hand hauen.“ Im Anschluß hieran besuchte Halder den Staatssekretär v. Weizsäcker, mit dem er in ständiger Verbindung geblieben war, und bat ihn, im gleichen Sinne auf Henderson einzuwirken: er selbst könne als Generalstabschef dem Engländer nicht gut sagen, daß England seine Home Fleet auslaufen lassen und daß Frankreich mobilisieren möge; aber nur diese Sprache werde Hitler verstehen Daß Brauchitsch oder er selbst durch eingehende Darlegungen nach dem Beispiel Becks Hitler von der Gefährlichkeit seiner Politik überzeugen könnten, bezweifelte der Generalstabschef, wenn er auch seinen Oberbefehlshaber immer wieder antrieb, Hitler vor Augen zu stellen, daß ein deutsch-polnischer Konflikt unvermeidlich zum Zweifrontenkriege führen würde
Die höheren Militärs beobachteten unterdessen die sich verschärfende Lage offenbar in einer eigentümlichen Stimmung. Die Auseinandersetzung mit Polen rückte augenscheinlich näher, und für alle einsichtigen, der Politik nicht gänzlich fremden Offiziere, stellte sich die große Frage, was England tun werde. Eine völlig beruhigende Antwort darauf vermochten sich gewiß nur wenige zu geben Soweit die übrigen jedoch erwogen, was unter den gegebenen innerpolitischen Verhältnissen gegen die gefährliche Politik Hitlers unternommen werden könne, stießen sie letzten Endes immer auf die einzige Möglichkeit: den Staatsstreich. Davor schreckten mit Ausnahme weniger Aktivisten alle zurück. Die Gründe hierfür reichen von der willigen oder widerwilligen Anerkennung Hitlers als des erfolgreichen politischen „Führers“, über den trotz aller Vorbehalte gegen Persönlichkeit und Politik des Diktators zwingenden Bann des Eides bis zur Überzeugung von der bloßen praktischen Unmöglichkeit einer Aktion. Angesichts der Alternative: Gehorsam oder Putsch, zogen viele es vor, in die durch Vernunftgründe kaum gerechtfertigte, jedoch durch den Gewissenszwiespalt geförderte Hoffnung zu flüchten, es werde vielleicht auch diesmal nicht zum Äußersten kommen oder alles werde irgendwie gut gehen. Das Ergebnis war ein mit gemischten Gefühlen durchgeführter Rückzug auf den soldatischen Gehorsam
Dies gilt offenbar in besonderem Maße für den Oberbefehlshaber des Heeres. Zwar hat Brauchitsch nach Halders Aussage es an Warnungen Hitlers vor dein Eingreifen der Westmächte nicht fehlen lassen und nach eigenem Zeugnis dem Diktator im Juli sogar zu bedenken gegeben, daß man in solchem Fall alle bisherigen friedlichen Errungenschaften aufs Spiel setzen würde Später vertraute er entweder selbst in wachsendem Maße auf die von Hitler versprochene Vermeidung des Zweifrontenkrieges, oder betrachtete die Auseinandersetzung mit diesem Problem als Sache der politischen Führung. In der auch diesmal gegebenen „außergewöhnlichen“ nationalen Lage nach dem Vorbild Becks die Kabinetts-frage zu stellen, unterließ Brauchitsch jedenfalls. Einwirkungsversuchen ziviler Oppositioneller wich er aus oder nahm deren Warnungen mit betroffenem Schweigen hin Ja, er hat Schacht, der ihn in seinem Hauptquartier Zossen aufsuchen wollte, nach dessen Zeugnis mit Verhaftung gedroht Und schon am 10. August hatte sich Brauchitsch zu dem für einen militärischen Führer ungewöhnlichen und unter den gegebenen inneren und äußeren Verhältnissen erst recht unmotivierten Schritt bereitgefunden, vor den Rüstungsarbeitern der Rheinmetall-Borsigwerke eine ausgesprochen politische Rede von betonter Zuversicht und mit vielsagenden Andeutungen zu halten: Die Geschlossenheit der Nation, so führte er aus, werde ihre Probe erfolgreich bestehen, „auch wenn schwere Tage'kommen sollten“. Eine Versicherung jedoch könne er als Oberbefehlshaber des Heeres und einer der engeren Mitarbeiter der Führers geben: „Niemals“ werde dieser „das Leben der deutschen Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen. Wenn aber der Führer einmal den letzten und höchsten Einsatz von uns fordert, dann können wir sicher sein, daß es keinen anderen Weg gibt, sondern daß dies zur «Erhaltung unseres Volkes eine unabänderliche Notwendigkeit ist
Am 22. August berief Hitler die höheren Befehlshaber aller Wehrmachtteile und ihre Stabschefs, sowie die Amtschefs des OKW auf den Berghof. In einer selbst für ihn ungewöhnlich scharfen Sprache bekundete er seinen Entschluß, gegen Polen nunmehr zur Aktion zu schreiten, und in einer großangelegten Übersicht über die politische Lage versuchte er noch einmal den Soldaten, vielleicht auch sich selbst, die Überzeugung einzuhämmern, daß sein Marsch nach Osten von England und Frankreich ungestört bleiben würde. Sein stärkstes Argument dafür war der unmittelbar bevorstehende Abschluß des Paktes mit Sowjetrußland. Dieser'sensationelle diplomatische Erfolg Hitlers verfehlte seinen Eindruck auf die Generale gewiß nicht. Tatsächlich war Polen damit militärisch isoliert, die unmittelbare Gefahr des Angriffsunternehmens verringert worden, was den von Hitler so kräftig genährten Illusionen über die Haltung der Westmächte bei manchen Teilnehmern der Besprechung erneut Vorschub leisten mochte Trotzdem gelang es Hitler keineswegs, die Bedenken aller zu zerstreuen Selbst Reichenau tat zu einem hohen Offizier des OKW die bedeutsame Äußerung: „Der Mann irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, daß dieser Krieg in wenigen Wochen beendet sein wird. Das wird kein Krieg von sechs Wochen, das wird ein Krieg von sechs. Jahren.“ Im Gegensatz zu den Besprechungen Hitlers mit den Generalen während der Sudetenkrise. wurde diesmal jedoch keinerlei Widerspruch laut. Die viel schwächer gewordene Position der Soldaten gegenüber der ‘politischen Führung verhinderte dies ebenso, wie das bereits mangelnde Vertrauen untereinander es kaum zu einem gegenseitigen Gedankenaustausch kommen ließ die Besprechung fand, wie ein Teilnehmer bezeugt, in einer „eisigen Atmosphäre“ statt
Gedrückt und „betrübt“, wie der Reichspressechef Dr. Dietrich feststellte saßen die Generale an der Mittagstafel — das weitere Handeln lag bei Hitler. Nach ihrer Rückkehr auf ihre Posten erreichte sie am 25. August der Angriffsbefehl
Auch in diesen letzten Wochen fehlte es nicht an Aktionen klarblik-kender Soldaten, das Verhängnis durch Warnungen Hitlers aufzuhalten. Canaris, der seit der „Kristallnacht“ Keitel immer wieder Material über Gestapoverbrechen vorgelegt hatte, versuchte diesem am 17. August klarzumachen, daß England mit allen Mitteln gegen uns kämpfen werde, wenn wir gewaltsam gegen Polen vorgingen, daß Deutschlands Verbündeter Italien hingegen neutral bleiben werde. Er wollte diese Warnung natürlich Hitler zuleiten. Sie blieb jedoch schon bei Keitel ohne jede Wirkung Zur gleichen Zeit unterbreitete General Thomas, der Chef des Wehrwirtschaftsamtes, Keitel eine von ihm selbst mit Unterstützung von Popitz, Bede, Goerdeler, Hassell, Planck, Oster und Schacht ausgearbeitete Denkschrift, in der die Gefahren des Krieges dargelegt waren. Der Chef des OKW aber speiste Thomas mit oberflächlichen Gegenargumenten ab
Da traten Ereignisse ein, die Hitler auf seinem Wege noch einmal innehalten ließen. Wenige Stunden nach der Ausgabe des Angriffsbefehls an die Heeresgruppen am 25. August wurde der Abschluß des britisch-polnischen Bündnisvertrages bekannt; unmittelbar darauf ließ Mussolini in Berlin sagen, daß Italien zu seinem Bedauern nicht kriegsbereit sei. Jetzt stand auch Hitler die Gefahr der Lage deutlich vor Augen. Er widerrief den Angriffsbefehl, und es gelang tatsächlich, die schon in vollem Gange befindliche Vormarschbewegung anzuhalten. Zum letzten Male lebte der Optimismus kräftig auf: hatte Hitler doch nur geblufft und wagte nun nicht mehr, es zum Äußersten zu treiben? Selbst Canaris und Oster glaubten, Hitler sei vor der drohenden Haltung der West-
mächte endlich zurückgewichen und der Friede sei gesichert. Lind mußte diese „Absage eines Krieges mitten in den anlaufenden Operationen“
nicht auch einen großen Prestigeverlust des Diktators bedeuten, konnte er einen so schicksalsschweren Befehl einmal zurückziehen und kurz darauf wiederholen? Brauchitsch stimmte mit dem Bewußtsein, im Grunde gegen die militärischen Erfordernisse zu verstoßen, der Verschiebung des Angriffstermins zu, in der Hoffnung auf die Verhandlungen und auf ein Einlenken Hitlers Halder faßte den Gedanken, Hitler klarzumachen, daß eine so große Truppenkonzentration an der Grenze unmöglich längere Zeit ausrechterhalten bleiben könne Zu einer entscheidenden Einwirkung auf Hitler von militärischer Seite ist es jedoch offenbar nicht mehr gekommen. Schon wenige Tage später erwies sich, daß Hitler nicht ernstlich eingelenkt hatte, sondern nur eine Frist gewinnen wollte, um England doch noch von Polen zu trennen und dieses durch ein Scheinangebot vor dem deutschen Volke ins Unrecht zu setzen. Am 27. August ging General Thomas mit einer zweiten Denkschrift zu Keitel. Dieser legte sie Hitler vor und sagte Thomas am Tage darauf, der „Führer“ teile seine Bedenken nicht Und am 31. August gab Hitler den endgültigen Befehl zum Angriff. ,
So wurde die Armeeführung von Hitler in einen Krieg hineingezogen, der nicht der ihre war, dessen Ausmaß und dessen Ende sie dunkel ahnte und den sie daher im Grunde fürchtete. Da sie aber den einzigen Aus-weg, den Staatsstreich, nicht als gangbar ansah oder ansehen wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als resigniert zu gehorchen und zu kämpfen.
Bis zuletzt hatten Hoffnungen und Befürchtungen einander abgelöst; doch eine Lähmung der Geister war das eigentliche Kennzeichen dieser Schlußphase. Der Nachmittag des 31. August brachte für die Eingeweihten Gewißheit: der Krieg war beschlossen. Letzte Bemühungen ziviler Oppositioneller stießen ins Leere „Jetzt ist es zu spät“, mußte Canaris feststellen und fügte hinzu: „Das ist das Ende Deutschlands.“ Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
A -Walter A. Berendsohn:
„Thomas Mann und das Dritte Reich" „Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich"
J. M. Bochenski:
„Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit des Menschen im Sinnedes Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949"
David J. Dallin: „Sowjetspionage"
Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!"
Edgar Kupfer: „Strafkompagnie Dachau"
Jürgen Rühle: „Die Kulturpolitik der SBZ"
Hans Wenke: „Die Erziehung im Kreuzfeuer der öffentlichen Meinung"
Richard Wolff: „Der Reichstagsbrand 1933, ein Forschungsbericht" . Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"