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Tradition, Vernunft, Freiheit | APuZ 43/1955 | bpb.de

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APuZ 43/1955 „Völker können sich nie genug schenken” Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Tradition, Vernunft, Freiheit Die Augsburger Jahrtausendfeier

Tradition, Vernunft, Freiheit

Theodor Litt

Unterschiede und Schwierigkeiten, deren Prüfung uns hier unzweckmäßig erscheint.

Jugend: Der Bundesjugendring und der Conseil Franais des Mouvements de Jeunesse haben ein gemeinsames ständiges Büro geschaffen, während keiner von beiden eine derartige Bindung mit den Jugendvertretern eines anderen Landes eingegangen ist.

Gemeinden: Zwei Vereinigungen von Bürgermeistern haben zahlreiche Städteversdhwisterungen und einen umfassenden Austausch herbeigeführt. Kultur: Universitäten, Schulen, Filmclubs, Jugendmusikkreise — die Aufzählung der Tätigkeitszweige, auf denen herzliche deutsch-französische Beziehungen gepflegt werden, ließe sich noch fortsetzen.

Wirtschaft: Es mag genügen, daran zu erinnern, daß jedes der beiden Länder der beste Lieferant und der beste Kunde des anderen ist.

Es wäre noch viel über die Methoden der Fühlungnahme und des Austausches zu sagen, die eine genaue Kenntnis der Leistungen und der Anliegen des Nachbarn ermöglichen. Wir wollen lediglich erwähnen, daß die amtlichen Stellen und die privaten Gremien, die während des letzten Jahrzehnts diese Methoden ins Werk gesetzt haben, eine sehr viel günstigere Bilanz aufweisen können als man es aus der Presse, die fast nur Sinn für die politischen Tagesneuigkeiten hat, entnehmen könnte.

Es ist lediglich auf zwei Unausgeglichenheiten hinzuweisen, die zu zahlreichen Schwierigkeiten führen: a) Das Interesse für persönliche Kontakte ist in Deutschland lebhafter als in Frankreich; b) Die französischen Veröffentlichungen, die das heutige Deutschland zum Gegenstand haben (Bücher, Zeitungen, Zeitschriftenartikel), sind viel zahlreicher als die sehr unzulänglichen deutschen Veröffentlichungen, die sich mit Frankreich beschäftigen. Man braucht nur an die Sondernummern französischer Zeitschriften über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme Deutschlands und an das Bestehen von drei französischen Zeitschriften zu denken, die ausschließlich den deutschen Fragen gewidmet sind!

Es wird Sadie des Kongresses sein, Schwierigkeiten und Erfolge gegeneinander abzuwägen. Er wird jedoch in seinen beiden Ausschüssen ein Phänomen berücksichtigen müssen, das vielleicht bedauerlich, auf jeden Fall aber wichtig ist. Nach französischer Auffassung und zweifellos auch in Wirklichkeit hat Deutschland heute eine Doppel-natur. Auf der einen Seite steht die Bundesrepublik, ein Deutschland, dessen Verhältnis zu Frankreich nahezu normalisiert ist, d. h.fruchtbare Wechselbeziehungen, aber auch Schwierigkeiten aufweist, die auf der Vergangenheit oder auf den Gegebenheiten der Gegenwart beruhen. Auf der anderen Seite steht Deutschland als Schlüsselproblem der Weltpolitik. So hängt z. B. in Frankreich die Art und Weise, die Wiedervereinigung Deutschlands ins Auge zu fassen, viel weniger von der psychischen Einstellung eines jeden zu diesem Land, als davon ab, wie man sich die möglichen oder idealen Beziehungen zwischen den beiden Blöcken vorstellt.

Diese Unterscheidung reicht unseres Erachtens aus, um den Zuständigkeitsbereich der beiden Ausschüsse, die morgen gebildet werden, ziemlich exakt abzugrenzen.

Referat, gehalten anläßlich der Internationalen Tagung des KONGRESSES FÜR DIE FREIHEIT DER KULTUR in Mailand, 12. — 17. September 1955.

Drei Begriffe sind es, durch die das uns zugewiesene Thema sich bestimmt: Tradition, Vernunft, Freiheit. Diese Worte sind zwar auf aller Lippen, aber gerade deshalb ist das mit ihnen Gemeinte nichts weniger als eindeutig festgelegt. Ich versuche ihnen in möglicher Kürze einen festen Inhalt zu geben.

Da ist zunächst zu bemerken, daß zwei der genannten Begriffe im Verhältnis der untrennbaren Zusammengehörigkeit stehen: Vernunft und Freiheit. Jedes menschliche Subjekt, das in sich die Vernunft walten läßt, gibt dadurch zu erkennen, daß es frei ist. Aber frei wovon? Frei von all den seelischen Regungen, die den Menschen immer wieder von der Bahn der Vernunft abdrängen möchten: frei von den Anwandlungen der Trägheit und Unlust, die den Denkprozeß hemmen, von den Vorurteilen, die ihn mißleiten, von den Leidenschaften, die ihn verwirren.

Die Freiheit, die hier in Sicht tritt, ist die i n-

n e r e Freiheit des seiner selbst mächtigen Subjekts. Lind die „Vernunft“, die nur im Bunde mit dieser Freiheit das ihre verrichten kann, ist nichts anderes als das autonome, das nur sich selbst verpflichtete Denken.

Fragen wir aber, in welchem Verhältnis die so verstandene Vernunftfreiheit zur Tradition steht, so muß die Antwort lauten: sie konnte nur im Bunde mit der Tradition Wirklichkeit werden.

Denn das autonome Denken fällt nicht dem Menschen als fertige Himmelsgabe in den Schoß.

Zwar die Anlage zum autonomen Denken mußte ihm von Anbeginn mitgegeben sein, damit es in ihm ins Dasein treten könne. Aber die Realisierung dieser inneren Möglichkeit konnte nur geschehen, in einem über unmeßbare Zeiträume sich erstreckenden Prozeß. Die zeitliche Ausdehnung dieses Prozesses leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die unerläßliche Bedingung für das Erwachen des autonomen Denkens die Entstehung der Sprache ist. lind wer wollte sich anheischig machen, die Dauer des Vorgangs zu ermessen, in dem sich die Sprache zu dem Wunderwerk durchgebildet hat, als welches sie einen jeden von uns in ihre Zucht nimmt.

In diesem Sinne besteht also zwischen Vernunft und innerer Freiheit einerseits, Tradition andererseits das Verhältnis einer unauflösbaren Solidarität. Denn es ist einzig und allein die Überlieferung, die zwischen den einander ablösenden kurzlebigen Geschlechtern der Menschen die Verbindung herstellt und so ihre Leistungen sich zu einem Gesamtwerk zusammenschließen läßt.

Aber wenn es demgemäß keine Vernunft und keine innere Freiheit geben würde, falls es keine Tradition gäbe: dürfen wir daraus folgern, daß zwischen jenen beiden und dieser das Verhältnis der Harmonie bestehe? Ist die Tradition stets und notwendig im Einklang mit Vernunft und innerer Freiheit?

Indem wir diese Frage stellen, erweist es sich als geboten, das fragliche Verhältnis aufzugliedern, d. h. zuzusehen, von welcher Art die Beziehung von Tradition, Vernunft und innerer Freiheit ist, je nachdem auf welchem Gebiet das autonome Denken sich seine Aufgaben sucht.

Das Beispiel der mathematischen Wissenschaft

Ich gehe aus von dem schlechthin idealen Fall, den wir uns an dem Beispiel der mathematischen Wissenschaft verdeutlichen. Die mathematische Wissenschaft ist auf der einen Seite das Muster einer geistigen Schöpfung, die ihre Gestalt rein ausschließlich der Betätigung des autonomen Denkens verdankt und an der infolgedessen die Vernunft seit je ihre vollkommenste Befriedigung gefunden hat. Andererseits wissen wir aber, daß diese Wissenschaft sich zu ihrer gegenwärtigen Gestalt in einem Entwick-

lungsprozeß durchgearbeitet hat, der bereits bei den Griechen, ja im Grunde schon in den Groß-reichen des antiken Orients anhebt. Sie ist also nur wirklich geworden im Zuge einer die Jahrtausende übergreifenden Überlieferung. Ein jeder der an ihrer Ausbildung Beteiligten steht im Strom dieser Überlieferung und ist ihr mit jedem Denkschritt verpflichtet. Warum aber besteht in dieser Provinz des autonomen Denkens ein so vollkommenes Einvernehmen zwischen Tradition, Vernunft und Freiheit? Zwar werden von einem jeden der einander ablösenden Geschlechter die Errungenschaf-ten der Vergangenheit als Tradition übernommen. Aber übernommen werden sie nicht schon deshalb, weil sie überliefert sind, weil sie den Nimbus des Herkömmlichen und Altehrwürdigen tragen. Übernommen werden sie nur auf Grund einer bis aufs letzte gehenden Nachprüfung, deren Organ — das autonome Denken — die Vernunft ist. Was diese Prüfung nicht besteht, wird ohne Rücksicht auf sein Alter und seine Herkunft aus dem fortschreitenden Prozeß der Forschung ausgeschieden. In Wahrheit verhält es sich also so, daß immer von neuem die denkende Vernunft sich an die Stelle der Über-lieferung setzt. Sie wiederholt je und je in abgekürzter Form den Prozeß der Wahrheitsfindung, in dem ihr die Jahrtausende vorausgegangen sind. An jedem Punkte ihrer Entwicklung wird der Schatz der überlieferten Erkenntnis gewissermaßen neu geboren, im Kopf des lebenden Geschlechts abermals hervorgebracht.

Glücklicher könnte das Verhältnis zwischen Vernunft und Tradition nicht geregelt sein, als es in dieser Sphäre des Denkens der Fall ist. Kein Wunder also, daß man vielfach in ihr das Paradigma hat erblicken wollen, nach dem sich allenthalben die Regelung des fraglichen Verhältnisses zu richten habe. Überall sei es, so meinte man, die autonome Vernunft, die auf der einen Seite den Schatz des ihr durch die Über-lieferung Zugetragenen dankbar aufnehme, aber von ihm nur dasjenige adoptiere, was in der durch sie vorzunehmenden Prüfung Stich halte, dagegen mitleidlos ausscheide, was in ihr versage.

Wo immer diese Auffassung die Herrschaft führt, da haben wir jenen Typus des Denkens vor uns, den man als „A u f k 1 ä r u n g“ bezeichnet.

Allein es ist die Frage zu stellen, ob es statthaft ist, diejenige Gestaltung des Verhältnisses von Tradition, Vernunft und Freiheit, die uns die mathematische Wissenschaft vor Augen stellt, so ins Schrankenlose zu erweitern, wie es dem aufklärerischen Denken geboten scheint. Es läßt sich zeigen, daß die genannte Gestaltung gebunden ist an die besondere logische Struktur des Wissensgebietes, in dem wir sie vorfanden. Die Mathematik ist die Wissenschaft der „idealen Gegenstände“. Sie ist die Wissenschaft von Gegenständen, die der denkende Geist nicht fertig vorfindet, sondern durch einen Akt der Konstruktion selbst hervorbringt. Aber diese Welt von idealen Gegenständen heraufzubeschwören ist das denkende Subjekt nur unter der Bedingung imstande, daß es sich zum Subjekt des „reinen“, des allgemeinen Denkens emporläutert.

Das bedeutet: es hat in sich alles dasjenige zum Schweigen zu verurteilen, wodurch es sich als dieses bestimmte, einmalige, räumlich und zeitlich fixierte, qualitativ besonderte Einzelwesen kennzeichnet. Der Aufschwung zur Höhe des mathematischen Denkens bedeutet, so gesehen, den Akt einer großartigen Selbstüberwindung, Selbstausschaltung. Zu den Räumen der mathematischen Idee kann nur der Zugang gewinnen. wer die Tat dieser Selbstausschaltung zu vollbringen gewillt und fähig ist, und die fast religiöse Verehrung, die den Gebilden der methematischen Vernunft so oft gezollt worden ist, beruht gerade darauf, daß im Umgang mit'ihnen der Mensch jene Läuterung erfährt, die durch das Absinken der individuellen Beschränkungen, Vorurteile und Leidenschaften bewirkt wird. Kein Wunder, daß ein geistiges Tun, dessen Ausübung das Verstummen alles Allzumenschlichen automatisch mit sich bringt, der Freiheit der Vernunft zur vollkommensten Verwirklichung verhilft!

Daß diese glückliche Situation an die Bedingungen gebunden ist, die dieser Sphäre des Denkens eigentümlich sind, lehrt folgende Überlegung. Wer, um sich zum Subjekt des reinen Denkens emporzuläutern, alles das in sich unterdrückt, was ihn als dieses bestimmte Individuum kennzeichnet, der unterdrückt mehr als ein ihm einzig und allein Zugehöriges. Er unterdrückt zusammen mit diesen persönlichen Regungen alles das, was auf Grund seiner Stellung im Gesamtprozeß der Kultur in ihn hineingewachsen ist und in einer jeden seiner Wesensäußerungen sein gewichtiges Wort mit spricht. Kann ich doch keinen Gedanken denken, keiner Neigung oder Abneigung Raum geben, keine Wertschätzung entwickeln und keine Willenshaltung einnehmen, ohne mich in diesem meinem Tun so zu benehmen, wie es nur einem Glied dieser bestimmten Gemeinschaft und einem Sohn dieser bestimmten Epoche möglich ist. Als Individuum bin ich stets mehr als bloßes Individuum. Und das heißt: auch in den Regungen, die das „reine“ Denken zum Schweigen verurteilt, stehe ich im Strome der — Tradition. Indem ich in den Zusammenhang der mathematischen Tradition eintrete, kehre ich nicht bloß meinem individuellen Sein — ich kehre auch den Bereichen der Tradition den Rücken, die in dies individuelle Sein eingeschmolzen sind, die in ihm gleichsam indivduelle Gestalt angenommen haben.

Weltanschauungen

Wir verdeutlichen uns das Gemeinte an einem Grundphänomen des geistigen Lebens, das bereits in den Gesichtskreis unserer Betrachtung eingetreten ist: an der Sprache. Die Sprach-philosophie hat uns darüber belehrt, daß die Sprache weit mehr ist als ein Instrumentarium, das uns in den Stand setzt, bereits vorhandene und durchgebildete seelische Gehalte „auszudrücken“.

Sie wirkt von Anfang an in die Bildung dieser Gehalte hinein: sie leistet bei jeder Gedankenschöpfung Geburtshelferdienste. Sie ist das allgegenwärtige Medium und das mächtigste Vehikel jedweder Tradition. Wir hörten, daß es ohne ihre Vorarbeit und Nachhilfe auch keine reine denkende Vernunft geben würde. Allein, wenn die Sprache, indem und solange sie der mathematischen Vernunft zu Diensten ist, im Bunde mit einer Tradition steht, die das Vernunftwidrige mit unfehlbarer Sicherheit wieder und wieder ausscheidet, so kann ihr die gleiche selektive Wirkung nicht nadigerühmt werden, sobald sie in der Selbstoffenbarung des individuell-persönlichen Lebens am Werke ist. Im Gegenteil:

allen Abwandlungen persönlicher Artung, von den beifallswürdigsten bis zu den verwerflichsten, stellt sie sich mit der gleichen Bereitwilligkeit zur Verfügung. In der Sprache hören wir das ganze Register menschlicher Über-zeugungen, Leidenschaften, Bestrebungen wider-klingen.

In ihr gestalten sich jene Gesamtdeutungen menschlichen Daseins, die man als „W e 11 -

an schauungen“ bezeichnet. Und wie bunt, wie ungleich im Rang, wie reich an Widersprüchen ist das, was sich im Kaleidoskop der Weltanschauungen zu sprachlicher Formulierung durchringt!

Die Sphäre der Tradition, die wir uns an der Sprache veranschaulichen, ist also dadurch gekennzeichnet, daß in ihr dasjenige was die denkende Vernunft hinter sich läßt, um den idealen Gehalt in seiner Reinheit und Wahrheit heraus-gestalten zu können, nicht nur nicht verstummt, sondern umgekehrt sich umso unüberhörbarer zum Worte meldet, je unerbittlicher es dort zum Schweigen verurteilt wurde. Kein Wunder also, daß diese Sphäre nichts weiß von der strengen Eindeutigkeit, mit der dort der Vernunftgehalt sich herausarbeitet, vielmehr im Zeichen jeder Zweideutigkeit, jener „Ambivalenz“

steht, durch die der Mensch sich aus der Welt des Lebendigen heraushebt. In dieser Sphäre können Weisheit und Torheit, Güte und Bosheit, Liebe und Haß, Wahrhaftigkeit und Hinterlist sich mit gleicher Rückhaltlosigkeit aussprechen und ausleben.

Nun wird man erwidern: dies eben sei der Auftrag der mit der Freiheit verbündeten Vernunft, im Angesicht dieses widerspruchsvollen Getriebes das Richteramt auszuüben, durch dessen Spruch das Billigenswerte von dem Verwerflichen geschieden werde. Auf diese Weise scheint sich dann der Parallelismus mit dem Vorgehen der mathematischen Vernunft doch wieder herzustellen.

Allein daß diese Entsprechung nicht vorliegt, lehrt schon die Überlegung, daß die Vernunft, solange sie als mathematisches Denken fungiert, es nur mit Gegenständen zu tun hat, die ihrer eigenen konstruierenden Tätigkeit ihr Dasein verdanken und ihr deshalb vollkommen konform sind, während sie sich hier einer Wirklichkeit gegenüber findet, die ohne ihr Zutun das geworden ist, als was sie sich darbietet, von der also zumindest fraglich ist, ob sie ihrer Zuständigkeit untersteht. Lind in Wahrheit heißt es doch der reinen denkenden Vernunft zu viel abfordern, wenn man ihr zumutet, dasjenige, was sie aus ihrer Werkstatt verbannen mußte, um als mathematische Vernunft das Ihre verrichten zu können, hinterher auch noch aus dem jenseits dieser Werkstatt pulsierenden Leben auszutreiben. Wer so viel von ihr erwartet, der verkennt das Verhältnis der Komplementarität, das hier vorliegt. Was aus den Räumen der reinen Vernunft verbannt ist, das ist damit nicht aus der Welt. Es besteht auf seinem Recht und dieses Recht wird ihm auf dem Boden jener Tradition, die nicht das Werk der Vernunft, sondern Ausströmung des ganzen Menschen in der Fülle seiner inneren Möglichkeiten ist. Nicht als ob dieser Tradition gegenüber das scheidende und richtende Urteil zu verstummen hätte! Nirgendwo ist es nötiger als im Angesicht dieses Meeres von widerstreitenden Wertungen, Weisungen und Wollungen! Aber dieses Urteil ist nicht Sache der abstrakten theoretischen Vernunft. Wo über den ganzen Menschen ein Urteil ergehen soll, da erlischt die Vollmacht des abstrakten Vernunftsubjekts — da muß der ganze Mensch Partei nehmen, der ganze Mensch für sein Ja und Nein einstehen. Kein System von Regeln nimmt ihm die Verantwortung für seinen Spruch ab, keine allgemeine Norm schützt ihn vor der Möglichkeit des fehlenden Urteils. Auch seine Entscheidung steht im Zeichen jener Zweideutigkeit, die diese ganze Sphäre der Tradition überschattet.

Der Geist der weltoffenen Duldsamkeit

Wir sehen: sobald wir das Reich der rein theoretischen Abstraktion verlassen, ist es aus mit der Harmonie, als welche sich innerhalb dieses Reichs das Verhältnis von Tradition, Vernunft und Freiheit kennzeichnet. Soll das nun heißen, daß beim Verlassen dieser Sphäre das autonome Denken zugunsten der „weltanschaulichen“ Traditionen außer Kraft gesetzt wurde? Wie wenig davon die Rede sein kann und soll, das bezeugen — unsere eigenen Darlegungen. Denn sie dürfen nur dann für sich Gehör fordern, wenn sie ihrerseits wieder Hervorbringung des autonomen Denkens sind. Alles das, was wir zur Charakteristik der „weltanschaulichen“ Traditionen, ihrer Herkunft, ihrer Durchschlagskraft, ihrer Unverdrängbarkeit ausgeführt haben, kann ja nur dann den Anspruch erheben, al? wahr und gültig anerkannt zu werden, wenn es seinerseits nicht wieder Ausgeburt eines weltanschaulich—befangenen, eingeengten und vereinseitigten Geistes, sondern Gabe eines Denkens ist, daß es sich dieser Befangenheit zu entziehen und zur Höhe der reinen, vorurteilsfreien Betrachtung zu erheben vermag. Das Denken über die weltanschauliche Tradition darf nicht seinerseit wieder weltanschaulich gebundenes Denken sein, wenn es uns über Wesen und Wirkung weltanschaulichen Denkens Aufschluß geben soll. Nur daß dann freilich das autonome Denken, indem es auf den Boden dieser Wirklichkeit hinübertritt, sich in die veränderte Lage versetzt findet, deren unterscheidende Eigenart schon oben bezeichnet wurde: nicht mehr hat es die Aufgabe, aus eigener Kraft und Verantwortung eine Welt von gültigen Formen aufzubauen, d. h.der betreffenden Sphäre überhaupt erst ihren Inhalt zu geben; vielmehr bewegt es sich jetzt auf einem Felde, das bereits mit geistigen Gebilden besetzt ist — Gebilden, die es weder verdrängen noch ersetzen kann, sondern die es nur nach Herkunft, Wesen und Wirkung zu begreifen die Möglichkeit und den Auftrag hat.

Aber wenn mit diesem Übergang der denkenden Vernunft ihre Möglichkeiten und Vollmachten scheinbar beschnitten werden, so hört sie darum nicht auf, auch in dieser Funktion die Segenswirkungen auszustrahlen, die der Begriff der „Freiheit“ zum Inhalt hat. Zwar ist es ihr weder gegeben noch aufgetragen, sich an die Stelle der Weltanschauung zu setzen. Denn keine geschichtlich gewordene Gemeinschäft kann die konkrete Weltanschauung, die, entwickelt und getragen durch die Tradition, ihre Seele ausmacht, in allgemein menschliche Vernunft auslösen. Aber ebensowenig läßt die denkende Vernunft die Weltanschauung als das, was sie ist, unbefragt und unangetastet stehen. Jede konkrete Weltanschauung trägt vom Ursprung her die Tendenz in sich, sich als die einzig gültige, einzig pflegenswürdige anzusehen. Ein naiver Dogmatismus ist ihr, wie das Beispiel der Weltreligionen zeigt, selbstverständlich. Aus ihm entspringt der Hang, allem, was sich sonst noch an weltanschaulichen Ansätzen finden sollte, das Daseinsrecht abzusprechen, wo nicht den Krieg zu machen. Diese Unduldsamkeit muß den Rückzug antreten, wenn das autonome Denken, zu einer höheren Warte aufgestiegen, zu der Einsicht durchdringt und für die Einsicht Raum schafft, daß es im Wesen des weltanschaulichen Denkens liegt, in einer Vielzahl von Deutungen, Bekenntnissen, Geboten und Normen auszuprägen, die nicht nur voneinander abweichen, sondern einander unter Umständen schroff widersprechen. Wo diese Einsicht Fuß faßt, da hört die besondere Weltanschauung auf, sich das Monopol der rechten Daseinsdeutung und -gestaltung beizulegen. Ohne sich aufzugeben oder zu widerrufen, ist sie bereit, neben sich anderen Daseinsauslegungen Raum zu gönnen, ja ihnen den Eigenwert zuzuerkennen, der dem aus eigener Wurzel Gewachsenen und zu kräftiger Gestaltung Gediehenen zukommt.

Wenn und soweit es dem autonomen Denken gelingt, demGeist einerso weltoffenen Duldsamkeit zum Siege zu verhelfen, verrichtet es das Werk der Befreiung in der besonderen Form, die im Bereich der geschichtlich gewordenen Traditionen die einzig mögliche ist. Statt sich mit der Hartnäckigkeit verbohrten Auf-klärertums um die Verdrängung von Daseins-auslegungen zu bemühen, die keinem „vernünftigen“ Zureden weichen, gibt es dem Menschen die innere Überlegenheit, die ihn in den Stand setzt, den Überzeugungen des eigenen Lebenskreises treu zu bleiben, ohne in ihrem Namen und zu ihren Gunsten alles Abweichende in Acht und Bann zu tun. Es bedarf keiner Ausführung, wie sehr unsere durch tausend Gegensätze zerrissene Welt nach den Heilkräften verlangt, die nur von dem zu dieser Freiheit Durchgedrungenen entbunden werden können.

Der gefährlichste Feind der Freiheit

Vielleicht ruft es Verwunderung hervor, daß ich solange bei den Voraussetzungen und Gestaltungen der inneren Freiheit verweilt habe in einem Zeitalter, dem vor allem die von außen kommenden Bedrohungen der Freiheit Sorgen bereiten und Abwehrmaßnahmen nahe-legen. Der Grund ist unschwer einzusehen. Es mag noch so viel zur Sicherung der äußeren Freiheit geschehen, so liegt darin nicht die mindeste Garantie, daß die Menschen, denen diese Sicherungen zugute kommen sollen, innerlich freie Menschen sind. Aber es kann um die äußere Freiheit So schlimm bestellt sein wie es will, so schließt das nicht aus, daß die Menschen, deren äußere Freiheit beschränkt ist, innerlich freie Menschen sind. Allzusehr ist unser Zeitalter dem Glauben zugeneigt, daß für die Verwirklichung der Freiheit die Gestalt der äußeren Einrichtungen das Entscheidende sei. Die Menschen, die unter dem Despotismus als Blutzeugen für die Freiheit gelitten haben und leiden, sind der Beweis des Gegenteils.

Natürlich spll das nicht heißen, daß die äußeren Hemmungen der Freiheit leicht genommen werden dürften. Ein Geschlecht, das unter ihnen so sehr geseufzt hat und seufzt wie das unsrige, ist nicht in Gefahr, ihre Unerträglich-keit und Verderblichkeit zu verkennen. Wohl aber wird auch von diesen äußeren Freiheitssich Beschränkungen gesagt werden dürfen, daß sie ihren letzten Ursprung in der inneren Unfreiheit haben. Lind zwar nicht nur, nicht einmal in erster Linie in der inneren Unfreiheit derjenigen, die nicht die moralische Energie aufbringen, sich wider die Anmaßungen der Tyrannei zur Wehr zu setzen. Sondern vor allem in der inneren Unfreiheit derjenigen die diese Tyrannei durch die von ihnen vollbrachten Handlungen und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen ins Werk setzen. Denn jene Freiheit, die sich in der weitherzigen Duldung und williger Anerkennung menschlicher Vielgestalt dokumentiert — wem wäre sie ferner als der Despotengesinnung, die, nicht zufrieden mit der äußeren Unterwerfung der Beherrschten, sogar ihr Denken und Fühlen zu reglementieren sich zum Ziele setzt. Niemand ist innerlich unfreier als der Gewaltherrscher, dessen Leidenschaft sich in der seelischen Versklavung seiner menschlichen Mitgeschöpfe befriedigt. Und hüten wir uns vor der Meinung, daß seelische Regungen von dieser Art nur in den totalitären Systemen aufkommen könnten und Nahrung fänden! Der äußeren Beschränkungen der Freiheit ledig werden wird nur eine Menschheit, die sich nicht durch das Hinstarren auf äußere Freiheitsgarantien abhalten läßt, den gefährlichsten Feind der Freiheit im Menschenherzen selber zu suchen.

Fussnoten

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