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Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich | APuZ 43/1955 | bpb.de

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APuZ 43/1955 „Völker können sich nie genug schenken” Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Tradition, Vernunft, Freiheit Die Augsburger Jahrtausendfeier

Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich

Alfred Grosser

Überlieferung, die Europa gemeinsam ist, in der technologischen Gegenwart zu erhalten bestrebt sind. Hinsichtlich dieses Zieles besteht kein Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich. Vielmehr tragen beide Länder eine gemeinsame Verantwortung dafür, daß auch diejenigen Völker, deren Lebensweise jetzt durch die Einführung europäischer Methoden einer materiellen Verbesserung zgeführt wird oder werden soll, diese Methoden nicht ohne jene Kritik bei sich einführen, die im Interesse der kulturellen Zukunft des Menschen und der Menschheit unerläßlich ist. Nur wenn dies geschieht, wird es möglich sein, dagegen zu wirken, daß die äußeren Mittel der Daseinsfürsorge Herr werden über die Zwecke, denen sie zu dienen berufen sind.

VIII. Auf allen diesen Gebieten ist das deutsche Volk bereit, an dem Ausgleich aller heute noch möglichen Gegensätze zwischen dem deutschen und französischen politischen Denken mitzuarbeiten. Im Sinne der europäischen Bewegung könnte die Arbeit einzelner Expertengruppen wertvoll sein, wenn sie in voller Offenheit die deutsch-französische Problematik unter dem Gesichtspunkt der Stellung beider Länder in der Weltpolitik der Gegenwart erörtern und für die Bildung einer gemeinsamen Grundauffassung nutzbar machen könnten. Die folgenden Probleme drängen sich auf:

a) Die Friedenssicherung im Zusammenhang mit den Problemen der Abrüstung und des Schiedsgerichts.

b) Die Wiedervereinigung Deutschlands im Zusammenhang mit einer solchen zwischen dem Sowjetsystem und dem Westen herbeigeführten verläßlichen Friedenssicherung.

c) Die Möglichkeit der Zusammenarbeit, die geeignet ist, die fran-

zösische Besorgnis vor einer Erneuerung . machtstaatlichen Denkens in Deutschland zu zerstreuen und das Aufkommen antifranzösischer Stimmungen in Deutschland zu verhindern.

d) Die Möglichkeit wirtschaftlicher Zusammenarbeit bei der Fort-entwicklung der wirtschaftlichren Integration Europas und der Förderung der unterentwickelten Regionen.

e) Die Beteiligung beider Länder an den internationalen Maßnahmen zur Vorbereitung eines Zusammenhandelns der westlichen Welt im Falle wirtschaftlicher Krisen.

f) Das gemeinsame Interesse an dem sozialen-Erfolg des freien Wirtschaftssystems rechtstaatlicher Demokratien und die beiderseitigen Maßnahmen zu seiner Sicherung.

g) Die beiderseitigen Maßnahmen auf dem Gebiete des Erziehungswesens und der Förderung kultureller Einrichtungen, welche geeignet sind, für die Fortbildung der kulturellen Überlieferung in der modernen technologischen Welt nützlich zu sein.

h) Die Weiterarbeit an der gemeinsamen Kritik des beiderseitigen Bildes der Geschichte beider Länder im Gesamtzusammenhang der abendländischen Kulturentwicklung, die Intensivierung der gegenseitigen Information als Grundlage eines wachsenden Verständnisses, die Förderung des Unterrichts der französischen und deutschen Sprache in beiden Ländern.

Es kann sich hier nicht um ein Essay in vergleichender Massenpsychologie handeln. Es soll lediglich versucht werden, einige der gegenwärtigen Aspekte der Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen herauszustellen.

Auf beiden Seiten werden die Beziehungen zum anderen Land von vielen immer noch aus einer ebenso selbstgewissen wie ungenauen Auffassung seiner Geschichte heraus betrachtet. Mögen die deutschen und französischen Historiker zu differenzierten und einander sehr nahe kommenden Schlüssen über früher sehr umstrittene Epochen und Ereignisse gelangt sein — die öffentliche Meinung ist dessen ungeachtet nur zu oft davon überzeugt, daß in der Vergangenheit das unbedingte Recht auf Seiten des einen Landes, alles Unrecht dagegen auf Seiten des anderen war. Daraus ergeben sich Gefühlshaltungen, die einen politischen Faktor darstellen, weil sie erstens die Wählerschaft betreffen und zweitens weil sie sich bei einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Parlamentariern oder Journalisten finden, die in aller Ruhe Behauptungen als historische Wahrheit hinstellen können, für die kein Historiker die Verantwortung übernehmen würde (Zwei Beispiele: die Invasionen von 1813 und 1814 sollen ein Ausdruck der deutschen Aggressivität sein; die Politik Clemenceaus soll die Ausmerzung von 20 Millionen Deutschen zum Ziel gehabt haben.).

Hinsichtlich der jüngeren Vergangenheit, d. h.der mit dem Ende des Ersten Weltkrieges beginnenden Periode sind -einige besondere Bemerkungen angebracht. a) Die Zeit der Weimarer Republik und das Aufkommen des Nationalsozialismus Es bleibt auf beiden Seiten noch viel zu tun, um zu einer ungetrübten und abgewogenen Beurteilung der französischen Politik zwischen 1919 und 1932 zu gelangen. Hinsichtlich der inneren Entwicklung Deutschlands darf mit Genugtuung festgestellt werden, daß nach mehreren Jahren des Unbehagens und des Schweigens die deutsche Forschung mit einem Ernst und einer Sachlichkeit, die Beachtungverdienen, wieder eingesetzt hat. Als Beispiel braucht man nur das großangelegte Werk über den Zerfall der Weimarer Republik, das in der Schriftenreihe des Berliner Instituts für politische Wissenschaften (Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik) veröffentlicht worden ist, zu nennen. Für den gesamten Zeitraum von 1919 bis 1945 leisten das Münchener Institut für Zeitgeschichte und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte eine Arbeit, die es verdiente, weiteren Kreisen bekannt zu werden, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland (wo sie immerhin dank der Beilagen der Wochenschrift Das Parlament eine nicht geringe Verbreitung erfährt). b) Die Hitlerzeit Ein deutscher Politiker von Rang hat vor kurzem erklärt, daß die Deutschen nur dann das liecht hätten, von den Franzosen zu verlangen, die Vergangenheit zu vergessen, wenn sie selbst diese Vergangenheit nicht vergäßen. Eine ausgezeichnete Formulierung — aber man könnte auc sagen, daß es auf keinen Fall angebracht ist, die Vergangenheit zu vergessen; es kommt vielmehr darauf an, sie zu kennen und zu überwinden. Deutscherseits führt die Tendenz, sich über die Greuel des früheren Regimes auszuschweigen, zum Nichtverstehen und zur Ungerechtigkeit in der Beurteilung der psychologischen und politischen Realitäten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf französischer Seite ist noch allzu wenig bekannt, was der Nationalsozialismus für viele Deutsche war, und man darf in dieser Hinsicht bedauern, daß es auf dem französischen Büchermarkt noch fast völlig an Werken über den deutschen Widerstand gegen Hitler fehlt. Eine Übersetzung des Büchleins von Inge Scholl ist vor kurzem erschienen, und das umfangreiche Werk von Gerhard Ritter über Goerdeler soll im nächsten Jahr herauskommen, aber die nacheinander erschienenen und immer präziseren Gesamtuntersuchungen von Peschel, Rothfels und Weisenborn sind dem französischen Publikum bis auf einige Hinweise in Zeitschriften oder allgemeiner gehaltenen Werken unbekannt.

Indessen scheint es uns, daß eine Konferenz wie die von Bad Neuenahr nur einen sehr ge-ringen Teil ihrer Zeit für die Aussprache über dieses „Gewicht der Vergangenheit“ aufwenden sollte. Allzu selten findet man eine so hohe Zahl von Persönlichkeiten versammelt, die mit den Gegenwartsfragen vertraut sind, als daß man es nicht vorziehen sollte, daß sie diesen Fragen auf den Grund gehen, statt die Erörterung der Vergangenheit, so nützlich sie auch sein möge, fortzusetzen. Übrigens haben schon Zusammenkünfte stattgefunden, die gerade dieser Erörterung gewidmet waren.

Gegenwärtige Schwierigkeiten

Wir fassen sie in drei Gruppen zusammen: Schwierigkeiten der allgemeinen Politik, deutsch-französische Streitfragen, Schwierigkeiten, die von Bedeutung, aber ohne Schärfe sind. 1. Schwierigkeiten der allgemeinen Politik Sie werden zweifellos in dem anderen Bericht behandelt werden: deutsche Furcht vor einer französisch-russischen Einigung auf Kosten Deutschlands, französische Furcht vor einem neuen Rapallo, wirtschaftliche Organisation Europas und Frage der deutschen Absatzmärkte, Problem der Grenzen Deutschlands, Bedeutung und Folgen der deutschen Wiederbewaffnung usw. Im ganzen gesehen glauben wir, daß sich aus den Debatten des Plenums und des Zweiten Ausschusses klar ergeben wird, daß die deutsch-französischen Divergenzen eher in den Bereich der Befürchtungen und der unterschobenen Absichten gehören und daß die wirklichen politischen Trennungslinien durch jede der beiden nationalen Gruppen hindurchgehen und daß beiderseits dieser Linien Deutsche und Franzosen anderen Deutschen und anderen Franzosen gegenüberstehen. 2. Deutsch-französische Streitfragen An erster Stelle steht natürlich die Saarfrage. Es erübrigt sich hier, ihre Grundlagen darzustellen. Wir wollen lediglich einem doppelten Wunsch Ausdruck geben; wir möchten, daß der Ausschuß sie nicht unter dem Vorwand, das gute Einvernehmen wahren zu wollen, mit Schweigen übergeht, denn dies wäre ein Ausweichen, das aus unserem Kongreß eine akademische Versammlung machte; wir wünschen aber zugleich, daß die Teilnehmer sich bewußt bleiben, daß mit der Saarfrage das Problem der deutsch-französischen Beziehungen nicht erschöpft ist und daß es bedauerlich wäre, ihr den größten Teil unserer Zeit zu widmen, um so mehr, als sie unseres Erachtens mehr ein Thermometer als ein wesentliches Phänomen ist: weil die deutsch-französischen Beziehungen nicht so sind wie sie sein sollten, hat der Streit um die Saar einen so scharfen Ton angenommen; nicht weil die Saar das grundlegende politische Problem wäre, haben die Beziehungen sich verschlechtert.

Eine andere Frage hat vor kurzem die deutsche öffentliche Meinung lebhaft beschäftigt.

Man könnte in der Aussprache kurz auf sie eingehen: es handelt sich um die Anwerbung von Deutschen für die Fremdenlegion.

Zwei weitere Quellen von Schwierigkeiten lassen sich hinzufügen: der auf deutscher Seite herrschende Mangel an Verständnis für die Fragen der Französischen Union und die Frage des „Neonazismus“. In diesem letzteren Punkt sollte man unseres Erachtens in eine Aussprache eintreten, um zu ermitteln, — ob die Empfindlichkeit der französischen'

öffentlichen Meinung nicht die französische Presse dazu verleitet, Erscheinungen, die zwar wenig ermutigend, aber von begrenzter Bedeutung sind, zuviel Platz einzuräumen und viele positive Aspekte von großer Tragweite mit Schweigen zu übergehen, — ob deutscherseits diese wenig ermutigenden Erscheinungen nicht unterschätzt werden und ob man sich darüber klar ist, wie schokierend es wirkt, wenn gesagt wird: „Es muß diese Maßnahme getroffen, jene Kundgebung verhindert werden, um die öffentliche Meinung des Auslandes nicht zu beunruhigen“ — und nicht etwa deswegen, weil diese Maßnahme gerecht oder jene Kundgebung ungehörig ist. 3. Tiefer gehende Unterschiede Sie sind zahlreich und wahrscheinlich von zäherem Bestand als die meisten politischen Streitfragen. Wir wollen nur die wichtigsten von ihnen aufzählen. a) Zwei Antikommunismen?

In Deutschland gelten die Kommunisten heute als die „Kollaborateure“ einer verabscheuten Besatzungsmacht, die mit Hilfe einer Marionetten-regierung 18 Millionen Deutsche unterdrückt.

Wenn in Frankreich die Lage nicht mehr genau derjenigen von 1944 gleicht (die Kommunisten waren Kameraden in der Widerstandsbewegung gewesen und verlangten die Pflege der Freundschaft mit einem Lande, mit dem Frankreich verbündet war), so stellt sich das Problem des Kommunismus für einen sehr großen Teil der Bevölkerung nichtsdestoweniger weiterhin unter wirtschaftlichem und sozialem Aspekt und nicht unter dem Gesichtspunkt der Ost-West-Bezie-. hungen dar. b) Zwei Gewerkschaftsbewegungen?

Selbst wenn man von den Schwierigkeiten absieht, die durch das Fehlen der gewerkschaftlichen Einheit in Frankreich verursacht sind (der DGB gehört zur gleichen Internationale wie FO, hat ziemlich komplizierte Beziehungen zur CFTC und hat keinerlei Kontakt zur CGT), stellt man fest, daß die Ziele und Methoden der Gewerkschaftsbewegungen in beiden Ländern ziemlich verschieden sind, zum großen Teil deswegen, weil noch heute Unterschiede der sozialen Atmosphäre, insbesondere im Rahmen des Betriebes bestehen. Man müßte ein regelrechtes vergleichendes Wörterbuch ausarbeiten, das Worte wie „Klassenkampf“, „Produktivität“, ,, Paternalismus“, „Mitbestimmung“ usw. umfaßte. c) Zwei Katholizismen?

Es muß unseres Erachtens festgestellt werden, daß ein Teil der französischen Katholiken dem Europa der Sechs gegenüber mehr und mehr feindlich gesinnt ist, da er fürchtet, daß der erneuernde Aspekt des katholischen Lebens in Frankreich unter dem doppelten Druck des italienischen Katholizismus und eines deutschen Katholizismus, innerhalb dessen die konservative Tendenz gegenüber der sozial gerichteten und „antiklerikalen“ Tendenz, die den Bochumer Katholikentag von 1949 beherrscht hatte, die Oberhand gewinnt, erstickt wird. Möge es um die Ost-West-Beziehungen, die sozialen Verhältnisse, die Beziehungen zwischen Hierarchie und Laien, zwischen Kirche und Staat oder die Kontakte zwischen Katholiken und Nicht-Katholiken gehen, so muß festgestellt werden, daß zwischen dem deutschen und dem französischen Katholizismus Unterschiede bestehen, selbst wenn es innerhalb jedes von ihnen verschiedene Strömungen gibt. d) Zweierlei Auffassungen von staatsbürgerlicher Gesinnung? Über diesen Punkt ist so viel gesprochen worden, daß es genügt, auf ihn hinzuweisen: Sinn für den Dienst am Staat, aber zu viel Ergebenheit gegenüber der „Obrigkeit“ auf der einen, Verteidigung der Rechte des Einzelnen, aber „Anarchismus“ auf der anderen Seite. Es bleibt festzustellen, was an dieser Gegenüberstellung Wirklichkeit und was bloßes Klischee ist.

Bestehende Bindungen Diese Schwierigkeiten dürfen jedoch den Blick für eine weit erfreulichere Realität nicht trüben: die außerordentliche Vielfalt der ständigen Kontakte zwischen einander entsprechenden Kreisen der beiden Länder. Einige Beispiele:

Konfessionelle Gruppen: Auf katholischer Seite, insbesondere durch Vermittlung von Organisationen wie „Pax Christi“, sind die Kontakte häufig und erfassen weite Kreise. Auf protestantischer Seite gibt es einen deutsch-französischen Bruderrat, der einzig in seiner Art ist.

Gewerkschaften: Studienreisen und Gespräche aktiver Gewerkschaftler und Gewerkschaftsführer machen rasche Fortschritte.

Politische Parteien: Durch unmittelbare Fühlungnahmen, durch die Internationalen und die europäischen Versammlungen haben sich die Unkenntnis und die Spannungen beträchtlich vermindern lassen. Zweifellos bestehen weiterhin

Fussnoten

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