Referat, gehalten anläßlich der Internationalen Tagung des KONGRESSES FÜR DIE FREIHEIT DER KULTUR in Mailand, 12. — 17. September 1955.
Der Demokratie im überlieferten Sinn ist im 20. Jahrhunder ein neuer Gegner entstanden; die volkstümliche totalitäre Diktatur.
Neu an dieser Staatsform ist nicht die Diktatur, sondern die Totalität und die Volkstümlichkeit. '
Totalität bedeutet, daß sich die Diktatoren nicht nur auf das Heer und auf den politischen Herrschaftsapparat stützen, sondern daß das ganze Volk unter Verzicht auf Privatleben mitspielt wie eine disziplinierte Armee.
Sonderbar, unbegreiflich und erschreckend ist, daß breite Massen sich dieser schrankenlosen Unterdrückung, diesem immer gegenwärtigen Terror nicht aus Furcht, sondern mit einer ekstatischen Begeisterung unterwerfen und sich an der Hasenhetze gegen Widerwillige gehässig beteiligen. Bisher ist die volkstümliche totalitäre Diktatur in zwei Erscheinungsformen aufgetreten: In der Erscheinungsform der nationalsozialistischen oder faschistischen Diktatur und in der Erscheinungsform der bolschewistischen Diktatur.
Technisch unterscheiden sich diese beiden Erscheinungsformen in nichts, abgesehen davon, daß die Totalität bei der bolschewistischen Dik-tatur noch vollkommener ist, weil bei dieser alle Produktionsmittel sozialisiert sind und die gesamte Volkswirtschaft zentral vom Staat mittels Volkswirtschaftsplänen gesteuert wird. Hier gibt es für das Individuum kein Entrinnen.
Dagegen unterscheiden sich beide Erscheinungsformen ideologisch sehr erheblich. Für die nationalsozialistische Ideologie ist die totalitäre Diktatur die vollkommenste Organisation von Gesellschaft und Staat, für die bolschewistische Ideologie nur Mittel zum Zweck. Für das nationalsozialistische Denken ist die totalitäre Diktatur End-und Dauerzustand, für das bolschewistische Denken eine notwendige, aber vorübergehende Phase. Die Nationalsozialisten huldigen aus Lebensgefühl einem brutalen Herren-und Unterdrückungsdenken und hassen die Idee der Freiheit und der Gleichheit, die Bolschewisten streben letzten Endes die vollkommene Freiheit und Gleichheit der Individuen an, halten aber die totalitäre Diktatur für notwendig, um die kapitalistische Klassengesellschaft, die in ihren Augen keine Freiheitsordnung sondern ein verkapptes Unterdrückungssystem ist, in eine sozialistische klassenlose Gesellschaft überzuleiten, in der dann echte Freiheit und Gleichheit verwirklicht sein wird.
Totalitäre Diktatur prinzipiell anstößig
Für Völker mit freien Verfassungen ist die totalitäre Diktatur prinzipiell anstößig, ganz gleichgültig, welchen Zielen sie dienen soll, und zwar wegen ihrer Vergewaltigung und Entwürdigung des Menschen. Sie bleibt auch dann anstößig, wenn die unterdrückten Mensshen mit dieser Vergewaltigung und Entwürdigung einverstanden sind.
Zur Gewaltanwendung werden sich Staaten mit freien Verfassungen freilich solange nicht entschließen können, als sich die totale Diktatur in ihren Wirkungen auf die Bevölkerung der Staaten beschränkt, die eine totalitäre Diktatur bei sich errichtet haben. Sie wird dann als eine innere Angelegenheit dieser Staaten betrachtet.
Die totalitäre Diktatur ist nun aber nicht nur ein internes Unterdrückungssystem, sondern sie bedient sich der Unterdrückung, um in den Händen der Staatsleiter Mcht zu konzentrieren, die von den Staatsleitern genutzt wird, um innenpolitische oder außenpolitische Projekte zu verwirklichen. Diesem Machtpotential haben die Regierungen freier Staaten nichts Ähnliches entgegenzusetzen, da ihnen eine solche Machtfülle und eine solche Entscheidungsfreiheit von ihren eigenen Verfassungen nicht zur Verfügung gestellt wird.
Schon dieses Machtgefälle an sich bedroht die Staaten mit'freier Verfassung. Die Bedrohung wird unerträglich, wenn die Politik totalitärer Diktaturen aggressive Ziele verfolgt. Sie hat dies bisher immer getan. Der Nationalsozialismus, weil er eine nationalstaatlich expansive Politik verfolgte und an seinen Grenzen keine unabhängigen Staaten dulden wollte. Der Bolschewismus zum Teil aus den gleichen Gründen, zum Teil, weil die kommunistische Revolution ein übernationales Anliegen ist. Der Kommunismus lehrt nicht nur den Selbstzerfall jeder Klassengesellschaft, sonaern auch die Pflicht, diesen Selbst-zerfall mit allen, auch verwerflichen Mitteln zu beschleunigen. Seitdem der Kommunismus die Staatsgewalt in mächtigen Staaten, vor allem ist Rußland erobert hat, wird auch das totalitär geballte Machtpotential dieser Staaten in den Dienst der Revolutionierung aller anderen Staaten und ihrer Völker gestellt. Damit wächst sich die totalitäre Diktatur zu einer unmittelbaren Gefahr für alle nicht totalitären Staaten aus. Die Beseitigung der totalitären Diktatur muß damit aus einem Menschheitsanliegen zum Ziel der Außenpolitik freier Staaten werden und ist es tatsächlich geworden. Tollwut ist keine interne Angelegenheit des von ihr befallenen Subjekts.
Welche Mittel besitzen nun die Staaten mit freier Verfassung, die bolschewistische Staaten-gruppe zum Verzicht auf die totalitäre Diktatur zu bewegen?
Zwei dieser möglichen Mittel scheiden aus:
der heiße Krieg, jedenfalls als Angriffsinstrument, und die Einführung der totalitären Diktatur im eigenen Lager.
Was uns bleibt, ist die Spekulation auf den inneren Schiffbruch und den Selbstzerfall der totalitären Diktatur. Wir können uns bei unserer Betrachtung auf die bolschewistische Diktatur beschränken, denn die nationalsozialistische und faschistische Diktatur sind im letzten Krieg zerschlagen worden und einstweilen von der Bühne der Geschichte abgetreten.
So bescheiden dieser Rest von Möglichkeiten ist, so bedeutet er doch keineswegs ein bloßes untätiges Abwarten. Es handelt sich um ein politisches Ziel und eine politische Strategie. Es muß angestrebt werden, die bolschewistische Staatengruppe in eine Situation hineinzumanövrieren, in der sie ihren eigenen internen Sprengungs-und Zerfallstendenzen in voller Schärfe ausgesetzt ist.
Zu diesem Behuf müssen alle politischen Anstrengungen auf das Ziel vereinigt werden, den Ausbruch eines heißen Krieges zu verhindern und den Kalten Krieg zu überstehen.
Diese Politik hat rein abwehrenden Charakter, wenn sie nichts weiteres erreichen will als eine Koexistenz auf dem Pulverfaß. Sie hat konstruktiven Charakter, wenn sie zu einer endgültigen Überwindung des bolschewistischen Experiments führt, soweit dieses Experiment auf die totalitäre Diktatur angewiesen ist.
Zwei Argumente
Da die totalitäre Diktatur in der kommunistischen Doktrin, wie schon erwähnt, nicht Endzweck sondern nur Mittel zum Zweck ist und da sich die letzten Ziele des Kommunismus, nämlich Freiheit und Gleichheit der Individuen, mit den letzten Zielen der bürgerlichen Demokratie decken, müßte sich der geistige und politische Angriff ausschließlich auf die totalitäre Diktatur konzentrieren. Hier stehen zwei Argumente zur Wahl:
Das eine Argument ist moralischer Art und lautet: Die totalitäre Diktatur ist wegen der ihr innewohnenden Unmenschlichkeit, Freiheitsvernichtung, Entwürdigung der Person und Aggressivität nach außen schlechthin verwerflich und darf als Mittel überhaupt nicht angewendet werden, auch nicht im Dienste der höchsten Menschheitsziele, auch nicht zur Lösung der sozialen Frage, auch nicht zur Verwirklichung der wahren Freiheit des Individuums.
Das andere Argument ist realistischer Natur und besagt: Die Lehre von der Notwendigkeit einer diktatorischen Überleitungsphase zur Über-windung der Klassengesellschaft und Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft ist ein Irrtum. Der Wahrheitsgehalt der kommunistischen Doktrin beschränkt sich auf Teile der Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. Alles übrige ist leichtfertige und gefährliche Utopie. Das gilt insbesondere von der Diktatur des Proletariats und in noch höherem Grad vom Sprung der klassenlosen Gesellschaft aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.
Von diesen beiden Argumenten ist das erste politisch schwach. Jede bloße Moralpredigt scheitert im Kampf zwischen politischen Mächten und Ideologien aus zwei Gründen: Einmal, weil keine politische Bewegung aus freien Stücken auf die Anwendung von Mitteln verzichtet, von denen sie glaubt, daß sie zum Erfolg führen; vor allem tut sie es dann nicht, wenn sie glaubt, daß der Erfolg nur durch diese Mittel herbeigeführt werden kann. Das Gewicht etwaiger Gewissens-bedenken verringert sich in dem Maße, in dem das angestrebte Ziel als moralisch gut empfunden wird. Ist auch das Ziel schändlich, wie es beim Nationalsozialismus der Fall war, so läßt sich das System von der moralischen Seite leichter erschüttern, weil die Zahl der in einem Volke vorhandenen Vergewaltiger von vollendeter Amoralität natürlich beschränkt und die Zahl derjenigen Individuen, denen auch im Rausch der Verblendung durch äußere Erfolge nicht wohl in ihrer Haut ist, weit überwiegt. Ist aber das Ziel ein echtes Menschheitsziel, was man dem Kommunismus redlicherweise und gerade vom demokratischen und liberalen Denken her zugestehen muß, dann beschränkt sich die Zahl der Menschen, die ihre moralischen Skrupel nicht überwinden können, auf diejenigen Individuen, die sich zu dem Satz bekennen, daß der Zweck unter keinen Umständen die Mittel heiligt. Daß diese Gruppe von Personen immer nur eine kleine Minderheit bildet, beweist die Tatsache, daß noch kein Krieg am Generalstreik der Friedliebenden gescheitert ist.
Eine zweite Schwäche des moralischen Arguments in der Politik besteht darin, daß kein Adressat solcher Predigt an die innere Aufrichtigkeit und an die moralische Legitimation der Prediger glaubt. So werden die Bolschewisten ohne Zweifel rundweg bestreiten, daß sich der Angriff tatsächlich nur gegen das Mittel, d. h. gegen die totalitäre Diktatur richtet, sondern sie werden felsenfest davon überzeugt sein, daß der eigentliche Angriff dem Sozialismus, d. h.dem berechtigten moralischen Ziel gilt. Kein überzeugter Kommunist wird daran zweifeln, daß auch die bürgerliche Gesellschaft ohne Bedenken die totalitäre Diktatur bei sich einführte, wenn sie sich davon Erfolg verspräche. Man wird darauf hinweisen, daß auch zwei am Kapitalismus festhaltende Nationen, nämlich die deutsche und die italienische, keine Hemmungen gehabt haben, sich der totalitären Diktatur zu bedienen u. zw. aus rein imperialistischen Motiven, die nichts mit Menschheitszielen oder gar Freiheit zu tun hatten.
Das zweite, realistische Argument ist politisch wesentlich stärker, vorausgesetzt, daß die Überlegungen theoretisch überzeugend sind und daß sie außerdem durch das geschichtliche Experiment bestätigt werden. Sollte es sich zeigen, daß der Kommunismus in der Phase der totalitären Diktatur stecken bleibt und nicht über sie hinweg-gelangen kann, sollte es sich ferner zeigen, daß die totalitäre Diktatur von zunehmenden Sprengungs-und Zerfallstendenzen bedroht ist, während die bürgerliche Gesellschaft den sie selbst bedrohenden Sprengungs-und Zerfallstendenzen standzuhalten vermag, und sollte es sich endlich zeigen, daß die bürgerliche Gesellschaft bei ihren Versuchen, die soziale Frage mit freiheitlichen Mitteln zu lösen, sichtbare Erfolge hat, dann werden politische Wirkungen eintreten.
Das realistische Argument hat auch den Vorzug, daß sich sein Gebrauch nicht nur in der Predigt und in einem Appell an den guten Willen des Gesprächspartners erschöpft, sondern die geistige und politische Aktivität der freien Völker weit nachhaltiger in Anspruch nimmt. So wird erstens die denkerische Intelligenz dazu herausgefordert, die Kritik am eigenen und am kommunistischeil System zu vertiefen mit dem Ziel größter transparenter Evidenz, zweitens wird die politische Phantasie aufgerufen, eine innen-und außenpolitische Strategie zu entwerfen, und drittens der Wille der Bevölkerung in allen ihren Schichten ermutigt, sich an der Aktion aus Über-zeugung zu beteiligen. So kann die Lethargie des bloßen leidvollen und furchterfüllten Erduldens fremder Aggression überwunden und erreicht werden, daß sich die Regierungen und Bürger freier Staaten als aktive Träger und Subjekte eines Vorgangs von weltgeschichtlicher Tragweite fühlen. Denn es genügt nicht, daß der Bolschewismus scheitert und die bolschewistische Ordnung zerfällt, sondern es muß gleichzeitig die freie Ordnung erstarken und eine Staaten-ordnung aufgebaut werden, die imstande und gewillt ist, die heute bolschewistisch verfaßten Staaten in sich aufzunehmen, sobald sie dazu bereit sind. Die Selbstverjüngung der Freiheitsordnung ist dann sozusagen zugleich letztes Ziel und Mittel zur Überwindung der totalitären Systeme. Dieses Programm ist also durchaus aggressiv.
Das Gelingen'einer solchen politischen Strategie setzt allerdings voraus, daß die zugrunde-liegende geistige Konzeption richtig ist, sowohl in bezug auf die Lebensfähigkeit der eigenen Ordnung, als auch in bezug auf die Irrigkeit und die Unvollziehbarkeit des kommunistischen Systems, und daß die geschichtliche Erfahrung diese Richtigkeit bestätigt. Die freie Welt muß in der Lösung der sozialen Frage mit freiheitlichen Mitteln praktischen Erfolg haben und dabei sich selbst konsolidieren, und die kommunistische Welt muß an der Lösung der sozialen Frage scheitern und einen Zerfall ihrer Einrichtungen und Methoden erleiden.
Anspannung der geistigen Energie geboten
Das setzt allerdings eine geistige Anstrengung im freien Lager voraus. Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Doktrin, mit ihrer Kritik am Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft und mit ihren Vorstellungen von der sozialistischen Zukunftsgesellschaft ist leider im 19. Jahrhundert steckengeblieben; jedenfalls hat sie viel von ihrer denkerischen Energie und Frische eingebüßt. Die politischen Praktiker der demokratischen Staaten halten nicht viel von der Theorie; die Wissenschaft hat ihren gestaltenden Einfluß auf den Gang der Dinge verloren. Im kommunistischen Lager spielt die geistige Ausfeilungsarbeit an der Doktrin eine sehr viel größere Rolle, wenn sie auch den Charakter intellektueller Inzucht angenommen hat. Das geschichtliche Anschauungsmaterial, das sich angehäuft hat, seitdem es kommunistische Staaten und eine kommunistische Staatswirklichkeit gibt, seitdem aber auch im Lager der bürgerlichen Staaten grauenhafte und beängstigende Entartumgserscheinungen aufgetreten sind, wird einfach nicht genützt. Man hat den Eindruck, daß unser Denken die furchtbaren Realitäten der letzten 40 Jahre einfach verdrängt und sich in einer vielgeschäftigen Ameisenarbeit an punktuellen Fragestellungen zersplittert. Die Anspannung der geistigen Energie ist auch um deswillen geboten, weil die freien Staaten in die bevorstehende weltweite Auseinandersetzung fürs erste unter ungünstigen Bedingungen eintreten müssen. Vor allem unter den Bedingungen des Kalten Krieges, die, solange er andauert, vom Kommunismus diktiert werden.
Die furchterregende Überlegenheit des geballten Machtpotentials in der Hand der bolschewistisch totalitären Staaten über das Machtpotential, das Staaten und Gesellschaften mit freier Verfassung zugänglich ist, eine Überlegenheit, die sich vor allem in der Bewegungsfreiheit der bolschewistischen Politik und in Aktionen der kurzen Linien kundtut, hängt wie ein Damoklesschwert über den nächsten Phasen der politischen Entwicklung. Diese Überlegenheit bedroht uns nicht nur von außen, sondern auch von innen. Von innen vor allem deshalb, weil sie uns zwingt, einen großen Teil unserer Gedanken und praktischen Aktivität auf die Herstellung mindestens-unseres militärischen Gleichgewichts zu konzentrieren und-weil diese Beschäftigung den Tendenzen zur autoritativen Konzentration auch der innerpolitischen Gewalt günstiger ist als den Tendenzen zur Freiheit, von deren Erstarkung aber der Erfolg auf der langen Linie eben letzten Endes doch allein abhängt.
Die erste Überlegung, die wir anstellen sollten, müßte der Frage gelten, ob der Kommunismus auf die totalitäre Diktatur und auf den Kalten Krieg überhaupt verzichten kann, ohne sein letztes Ziel, das, wie gesagt, ein Freiheitsund Menschheitsziel ist, preiszugeben. Von dem Ausfall dieser Untersuchung hängt es ab, mit welchem Widerstand der kommunistischen Staaten die freiheitlichen Staaten zu rechnen haben.
Sollte es sich bei dem Verzicht auf die totalitäre Diktatur und damit auf die Möglichkeit des Kalten Krieges um eine bloße Opportunitätsentscheidung handeln, um den bloßen Entschluß, vom Gewalt-und Störungskampf auf den freien Leistungs-und Bewährungswettkampf umzuschalten, dann könnten wir ohne allzugroßen Illusionismus mit einer solchen Möglichkeit rechnen, -und . zwar um so zuversichtlicher, je höhr die bolschewistischen Staatslenker die Chance bewerten, in einem gewaltlosen Leistungs-und Bewährungswettbewerb zu obsiegen. Sollte es sich aber zeigen, daß für den Kommunismus ein systemlogischer Zwang besteht, an der totalitären Diktatur festzuhalten, dann wird der Widerstand der bolschewistischen -Staaten notwendig elementar sein und erst dann erlahmen, wenn sich die bolschewistischen Staaten davon überzeugen, daß ihr Programm der Lösung der sozialen Frage zum Scheitern verurteilt ist und daß sie den bürgerlichen Weg gehen müssen, wenn sie diese Frage überhaupt lösen wollen.
Niemand aber wird annehmen, daß irgendein heute lebender Mensch diesen Zeitpunkt noch erleben wird.
Der Zwang zu zentraler Wirtschaftslenkung
Leider wird uns diese Überlegung zeigen, daß der kommunistische Lösungsversuch die totalitäre Diktatur voraussetzt, wenn auch aus einem ganz anderen Grund, als Karl Marx und seine Schule angenommen haben, als sie die Zwischenschaltung einer Phase der Diktatur des Proletariats zwischen den Akt der revolutionären Expropriajion der Expropriateure und die Verwirklichung der sich selbst tragenden klassenlosen Gesellschaft als notwendig angenommen haben. Der wahre Grund ist trivial und hängt mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zusammen. Wo alle Betriebe in einer einzigen Hand vereinigt sind, da muß diese einzige Hand alle diese Betriebe leiten. Der Zwang zu zentraler Wirtschaftslenkung, belastet den kommunistischen Staat mit einer Aufgabe, die so schwierig und verwickelt ist, daß nur eine mit diktatorischer Gewalt ausgestattete Regierung hoffen kann, sie zu lösen. Es ist unmöglich, eine Regierung parlamentarisch zu kontrollieren, die Herrin der gesamten Güterproduktion und Arbeitgeberin des ganzen Volkes ist. Daß sich militärische Feldzüge nicht parlamentarisch lenken oder kontrollieren lassen, glauben heute alle Menschen. Die Führung eines modernen militärischen Krieges ist aber schon rein organisatorisch ein geradezu primitives Unternehmen verglichen mit der zentralen Lenkung einer Industriewi-rtschaft. Es genügt nicht einmal eine normale Diktatur, weil der lenkende Staat von den Betrieben mehr fordern muß als bloßen Gehorsam, nämlich eine ekstatische Hingabe der Millionen von Betriebsleitern, die überaus schwer zu kontrollieren sind. Der staatliche Wirtschaftsplan beansprucht religiöse Verehrung. Deshalb muß die Diktatur totalitär und volkstümlich sein.
Solange der kommunistische Staat an der Vergesellschaftung der Produktionsmittel festhält, muß er die gesamte Volkswirtschaft zentral steuern. Verzichtet er auf die zentrale Steuerung, räumt er den Betrieben die Freiheit autonomer Planung in ihrem Bereich ein, so verwandelt sich die kommunistische Wirtschaft in eine Marktwirtschaft, bei der sich die Pläne der Betriebe in marktmäßiger Weise aufeinander einpendeln. Gleichzeitig verwandeln sich die Betriebsleiter aus weisungsgebundenen Staatsfunktionären in privatautonome Staatspächter. Sobald dies geschieht, entwickeln sich in der kommunistischen Gesellschaft soziale Klassen. Die Tatsache, daß die Betriebsleiter nicht die privaten Eigentümer der Betriebe sind, ändert daran nichts. Auch wenn die kommunistische Regierung mit einem ganzen System von Interventiqnen in die Marktabläufe regulierend eingreift, tut sie nichts anderes, als was alle Regierungen freier Staaten heute mehr oder weniger tun. Sie kann damit nur erreichen, daß die Marktwirtschaft schlecht funktioniert, aber sie kann die Klassenbildung nicht mehr verhindern.
Ob die Klasse selbständiger Staatspächter vom kommunistischen Standpunkt eine sozial ungefährlichere soziale Klasse ist als die Klasse der Privateigentümer, ist mehr als -zweifelhaft. Eine kommunistische Gesellschaft aber, > die soziale Klassen aus sich hervortreibt, ist keine kommunistische Gesellschaft mehr. Sie ist auf dem Wege zu einer freien Gesellschaft. Das kommunistische Experiment ist gescheitert.
Es bleibt bei dem circulus vitiosus: Die klassenlose Gesellschaft setzt die Vergesellschaftung der Produktionsmittel voraus und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erzwingt die zentrale Lenkung der gesamten Volkswirtschaft durch den Staat. Die zentrale Wirtschaftslenkung wieder fordert die totalitäre Diktatur, die Verwandlung aller Bürger in Staatssklaven und die Vernichtung der individuellen. Freiheit. Aus diesem Zirkel kann der Kommunismus nicht o herausspringen, ohne sein Programm preiszugeben. Der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit kann dem Kommunismus nicht gelingen. Das einzige, was dem Kommunismus bleibt, ist die Alternative zwischen einem endgültigen Verzicht, auf die individuelle Freiheit also auf das eine seiner beiden letzten Ziele, oder die reumütige Rückkehr zum bürgerlichen Lösungsversuch der sozialen Frage, d. h. zum offenen Bankrott des kommunistischen Experiments.
Damit steht fest, daß die Forderung an den bolschewistischen Staat nach Abschaffung'der totalitären Diktatur und damit auf die Möglichkeit zum kalten Krieg gleichbedeutend ist mit der Forderung, den Kommunismus zu liquidieren. So wird aus der Zumutung, um des Völker-friedens willen auf eine bestimmte Konzentration politischer Gewalt und auf die Unterdrückung von Menschen zu verzichten, die Zumutung, Hoffnungen zu begraben, die ein Jahrhundert lang die Herzen von Millionen bedrück-ter Menschen entzündet haben und die heute noch die Hoffnungen zahlloser Mühseliger und Beladener sind. Die Annahme, daß sich die Leiter der bolschewistischen Staaten hierzu in absehbarer Zeit entschließen werden, ist zweifellos unrealistisch. Es bleibt aber dabei, daß wir mit dem Fortbestand der totalitären Diktatur und der 'Fortdauer des kalten Krieges rechnen müssen und daß nur der Schiffbruch des kommunistischen Experiments uns von dieser gefahr-drohenden, freiheitsgefährdenden Nachbarschaft befreien kann.
Freiheit und Gleichheit haben etwas miteinander zu tun
Mit dieser Tatsache hat die politische Strategie der freien Staaten zu rechnen. Solange der Kommunismus an seinem Versuch der Lösung der sozialen Frage festhält, müssen die freien Staaten unter den Bedingungen des kalten Krieges existieren. Der Tag, an dem ein freier Bewährungswettkampf zwischen der kommunistischen und der liberalen Lösung der sozialen Frage möglich sein würde, ist zugleich der Tag, an dem der kommunistische Lösungsversuch endgültig Schiffbruch erlitten, hat. Das Problem der Koexistenz zwischen bolschewistischen und kapitalistischen Staaten ist in der Tat gleichbedeutend mit dem Problem der Koexistenz zwischen Staaten mit totalitärer Diktatur und Staaten freier Verfassung.
Die Überlegung, daß das kommunistische Experiment seine Ziele nicht erreichen kann, wäre allerdings ein schlechter Trost, wenn es sich herausstellen sollte, daß dies dem bürgerlichen Experiment auch nicht gelingen kann. Im Grunde sind sich die bürgerlichen und die kommunistischen Denker darüber klar, daß die Freiheit und die Gleichheit etwas miteinander zu tun haben. Aber weder das bürgerliche, noch das kommunistische System sieht sich in der Lage, beides gleichzeitig zu verwirklichen. Es ist das offenbar unmöglich. Das bürgerliche Experiment beginnt mit der Verwirklichung der individuellen Freiheit und hofft, daß die Freiheit im Laufe der Zeit eine erträgliche Gleichheit aus sich hervortreibt. Die Kommunisten verfahren umgekehrt. Sie halten die Verwirklichung sozialer Gleichheit für eine unerläßliche Vorbedingung der Freiheit, sind sich klar darüber, daß diese Gleichheit zunächst einmal mit härtestem Zwang und unter Vernichtung der individuellen Freiheit erpreßt werden muß, nehmen aber an, daß die Gleichheit, wenn sich die Individuen erst einmal an sie gewohnt und in der Atmosphäre der klassenlosen Gesellschaft ihre wahre Menschennatur zurückgewonnen haben, die individuelle Freiheit wieder aufblühen läßt. Jede der beiden Doktrinen beschäftigt sich damit, der anderen vorzurechnen, daß ihre halbe Lösung scheitern muß, daß. ihre Zukunftserwartungen reine Utopie sind und daß der bereits verwirklichte Teil des Programms, nämlich bei dem bürgerlichen Programm die individuelle Freiheit und beim kommunistischen Programm die Gleichheit wieder verloren gehen muß, weil nämlich das von der bürgerlichen Freiheit produzierte Ausmaß von sozialer Ungleichheit zu freiheitsbedrückender Macht-und Klassenbildung im Schoß der Gesellschaft und die vom Zwang zur Durchsetzung der Gleichheit diktierte Konzentration der Gewalt den Aufbau eines hierarchischen Systems erfordert, das auf eine unerträgliche Ungleichheit hinausläuft.
Die geschichtliche Erfahrung hat den Kritikern mehr Recht gegeben als den Lobrednern. Beide Systeme leiden darunter, daß sie nur einem ihrer Ziele Tatkraft angedeihen lassen, während sie von dem anderen erwarten, daß es sich von selbst verwirklicht.
Auf der anderen Seite haben beide Systeme trotz ihrer/Unvollkommenheit und Halbheit eine erstaunliche Lebenskraft bewiesen. Die Annahme, daß die halbe Lösung mit geschichtlicher Notwendigkeit zum völligen'Selbstzerfall des Systems im ganzen führen muß, hat sich bisher nicht bewahrheitet. Zwar haben sich einige bisher nicht kommunistische Staaten in kommunistische Staaten verwandelt, während sich das Gegenteil bis zum heutigen Tage noch nicht zugetragen hat. Aber keiner dieser Staaten war vorher ein vollentwickelter kapitalistischer Industriestaat mit ausgeformter demokratischer Verfassung und Tradition. Der Weizen des Kommunismus hat bisher nur in dem sogenannten unterentwickelten Teil der Staatenwelt geblüht, in Staaten mit absoluten, obrigkeitlichen oder feudalen Überlieferungen. Die Annahme, daß ein Volk erst die ganze kapitalistische Entwicklung durchlaufen haben muß, ehe es revolutionsreif wird, hat sich bisher als völlig irrig erwiesen. Auf der anderen Seite kann sich auch derjenige, der behauptet, daß die kommunistische Gesellschaft notwendig selbst zerfallen muß, nicht auf die Geschichte berufen.
Est ist also durchaus möglich, daß beide Systeme mit ihren typischen Unvollkommenheiten unbestimmte Zeiten hindurch nebeneinander existieren. Es wäre dann kein Ende des kalten Krieges abzusehen; noch viele Generationen müßten das nervenzermürbende Ungleichgewicht zwischen totalitären Diktaturen und Demokratie ertragen. Der bolschewistische Staat würde seinen Untertanen Furcht und Zwang, der demokratische Staat den seinigen ein schlechtes soziales Klima bieten. Wie können wir aus diesem Kreis herausspringen?
Der Kommunismus kann es nicht. Er kann aus der zentralen Wirtschaftslenkung nicht zur Freiheit vorstoßen und nicht einmal Gleichheit bieten. Wie aber steht es mit der bürgerlichen Staats-und Wirtschaftsordnung? Kann sie mit ihrem so ungleich verteilten Freiheitssegen zu einem erträglichen Grad von sozialer Gleichheit . gelangen?
Wette gegen Wette
In dieser Frage stehen sich die Meinungen schroff gegenüber. Die bürgerliche Wissenschaft behauptet, daß die marktwirtschaftliche Ordnung mehr als irgendeine andere den Wohlstand der breiten Massen vermehre, den größten Ertrag mit dem geringsten Aufwand erziele und dahin tendiere, alle vorhandenen produktiven Kräfte zu beschäftigen. Je mehr sich die ökonomische Lage der breiten Schichten verbessere, desto höhere Löhne müßten die Reichen den gehobenen Armen zahlen und zu desto niedrigeren Preisen müßten sie die steigenden Bedürfnisse der gehobenen Armen befriedigen. Dem Zwang zu verdienen, unterliegen in der Marktgesellschaft alle, die Reichen und die Armen. Dieser Zwang geht aber weder von der Regierung, noch von einzelnen Gruppen oder Menschen, sondern vom System aus. Das Vorhandensein müssiger, parasitäres Herrenschichten ist kein Kennzeichen des marktwirtschaftlichen Systems. Die Reichen verdienen mit interessanter, den Menschen vielseitig in Anspruch nehmender Tätigkeit sehr viel mehr als die Ärmeren mit eintöniger, anstrengender, einseitiger Arbeit. Diese Lingleichheit in der Verteilung der Glücksgüter kann das marktwirtschaftliche System nicht Überwindern Aber das marktwirtschaftliche System kann verhindern, daß sich diese Ungleichheit in soziale Abhängigkeit der Ärmeren von den Reicheren verwandelt. Je länger dem marktwirtschaftlichen System die Gelegenheit gegeben wird, sich im Frieden gemäß der ihm innewohnenden Ordnung zu entfalten, desto mehr müssen die Reichen für die Zunahme des Wohlstandes und der individuellen Planungsfreiheit der einkommensschwächeren Schichten arbeiten, d. h. also an der Mehrung der Gleichheit. Ihr Reichtum hängt davon ab, daß ihnen das gelingt. Die Lingleichheit der Vermögen und Einkommen bedeutet dann nicht mehr Ungleichheit der Tauschposition; der Reiche wird immer mehr abhängig von dem, was ihm die einkommens-schwächeren Partner der Arbeits-und Kaufverträge bieten, während das Angewiesensein der kleinen Leute auf die Leistungen der Reichen mit dem Nachlassen bitterer Not geringer wird.
Mögen die Vermögen und Einkommen ungleich bleiben, innerhalb ihrer Vermögens-und Einkommensverhältnisse ist jeder gleich frei, und zwar nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der sozialen Wirklichkeit. Das ist die Gleichheit, die das marktwirtschaftliche System zu bieten vermag; dies ist der Weg, auf dem dieses System von der formalen Freiheit her zur Gleichheit vorstößt; es hat in sich die Tendenz, diesen Weg bis zu dem überhaupt erreichbaren Ende zu gehen.
Die kommunistische Kritik erklärt diese ganzen Annahmen für ein unseriöses, utopistisches Spiel der Phantasie ohne jeden Realitätsgehalt, für ein kindisches oder unaufrichtiges Idyll. Sie behauptet, daß die Ungleichheit der Vermögen und Einkommen Macht produziert, und zwar sowohl unmittelbare ökonomische Ausbeutungsmacht, als auch mittelbaren politischen Einfluß. Die Reichen unterwerfen die Armen und bemächtigen sich der Herrschaft im Staat. Alle diejenigen Momente und Einrichtungen, von denen sich die Liberalen eine Mehrung der Gleichheit und damit auch der Freiheit versprechen, tragen umgekehrt dazu bei, die Gleichheit mitsamt der Freiheit progressiv zu vernichten und die nackte Gewalt auf den Thron zu setzen. So erzwingt der wirtschaftliche Fortschritt immer gewaltigere Betriebsgrößen. Das Privateigentum verschafft dem, der es hat, gegenüber den Arbeitern, einen Vorsprung im Tauschverhältnis, der schlechterdings nicht eliminiert werden kann. Das individuelle Gewinnstreben nötigt den Privateigentümer, diesen Vorsprung, den Mehrwert voll in Anspruch zu nehmen. Und die Konkurrenz veranlaßt die Privateigentümer, sich gegenseitig das Eigentum abzujagen; der größere Eigentümer akkumuliert immer mehr Kapital in seiner Hand, bis schließlich nur noch eine Handvoll Industrieherzöge mit geballten Monumental-konzernen übrig bleibt und die Zahl möglicher Konkurrenten so zusammengeschmolzen ist, daß es keine Konkurrenz mehr gibt. Schließlich werden Millionen von eigentumslosen Arbeitern und enteigneten ehemaligen Kleineigentümern von wenigen Rieseneigentümern vollständig und diktatorisch beherrscht. Das Freiheitssystem hat sich in ein einziges diktatorisch geleitetes Arbeitshaus verwandelt. Das ist dann der Augenblick, in dem die Millionen die wenigen Oligarchen vom Thron stoßen und sich selbst auf den Sack mit dem akkumulierten Kapital setzen.
Es steht also sozusagen Wette gegen Wette.
Zieht man die geschichtliche Erfahrung zu Rate, so nimmt man wahr, daß beide Entwicklungen stattfinden. Auf der einen Seite mehrt sich der Wohlstand der Massen und verschiebt sich die soziale Machtverteilung zwischen Reich und Arm ganz offenkundig und dauernd zu Gunsten der Llnbemittelten. Dieser Prozeß ist bereits sichtbar in Gang gekommen, bevor es noch eine entfaltete Sozialpolitik im heutigen Sinne gegeben hat. Auf der anderen Seite aber beobachten wir unablässig innerhalb der Wirtschaft Konzentrationsprozesse, die nach Art und Ablauf dem von Karl Marx beschriebenen Konzentrationsprozeß sehr ähnlich sehen. Aber diese beschränken sich doch immer nur auf einzelne Industrien und Industriekombinationen, entwikkeln sich zu einer gewissen Größe und bleiben dann stecken, ja, zerfallen nicht selten wieder.
In breiten Bereichen der Produktion und des Handels ereignet sich überhaupt nichts dergleichen oder doch nur in sehr bescheidenem Umfang. Die Riesenbetriebe und die großen Konzerne bleiben mit den vom Wettbewerb gekennzeichneten Märkten tauschwirtschaftlich verflochten, ihre Macht bleibt, aufs Ganze gesehen, relativ bescheiden, ihre Abhängigkeit von Märkten und Menschenmassen, auf die sie keinen Einfluß haben, groß. Des Konzentrationsprozeß scheint im Rahmen einer freien Marktwirtschaft erstens einmal auf bestimmte Bereiche, auf denen besondere, ihn begünstigende Vorbedingungen vorliegen, lokalisiert und im übrigen völlig außerstande zu sein, aus einer lokalen zu einer universalen, übergreifenden Erscheinung zu werden. Außerdem scheint er geradezu davon zu leben, daß er in ein Meer der Freiheit eingebettet ist. Soweit solche Gebilde Monopolstellungen besitzen, sind diese Monopolstellungen beschränkt und bedroht, und soweit sie keine Monopolstellungen besitzen, müssen sie sich'wie alle reichen Leute durch angestrengten Dienst an anderen Leuten, die nicht reich sind, behaupten. Anders ausgedrückt: Das marktwirtschaftliche System arbeitet zwar nicht so, wie die liberale Theorie angibt, sondern es arbeitet mit sehr erheblichen Fehlerquellen und erreicht deshalb auch die Ziele, die ihm von der liberalen Politik gesetzt sind, nur sehr unvollkommen, mit mehr oder weniger schweren Rückschlägen und Komplikationen. Es hat aber im ganzen gesehen, eine bemerkenswerte, ja unverwüstliche Kraft bewiesen, sich als Freiheitsordnung zu behaupten und alle Ansätze zu Machtkonzenrationen bis zu einem gewissen Grade zu neutralisieren und abzufangen, und dies trotz schwerer Wirtschaftskrisen und anstößiger sozialer Mißstände. Per saldo haben sich der Massenwohlstand und die Reallöhne in allen Industrienationen mit marktwirtschaftli-eher Ordnung sichtbar gehoben und diese Anhebung des Wohlstandes und der Reallöhne haben die von der liberalen Lehre behaupteten Folgen gehabt, nämlich eine Zunahme der Freiheit und der effektiven sozialen Gleichheit der Tauschbedingungen mit sich gebracht. Was nun die Natur der Störungs-und Zerfallskräfte betrifft, so sind sie von der kommunistischen Kritik nur zu einem Teil richtig beschrieben und zu einem nur sehr kleinen Teil richtig erklärt worden. Die kommunistische Kritik hat zwar eine gefährliche geistige und politische Vertrauenskrise für die marktwirtschaftliche Ordnung heraufbeschworen und vor allem das Selbstbewußtsein und das soziale Gewissen der Anhänger dieser Ordnung stark erschüttert. Zugleich hat sie aber auch entscheidend dazu beigetragen, die theoretischen Einsichten der bürgerlichen Nationalökonomen zu vertiefen, den Kreis ihrer Fragestellungen und die Aspekte der Betrachtung zu erweitern, ihr soziales Gewissen zu schärfen und ihre Selbstkritik zu intensivieren.
Schwächen und Grenzen der marktwirtschaftlichen Freiheitsordnung
Wir sehen heute die Schwächen und Grenzen der marktwirtschaftlichen Freiheitsordnung viel klarer, damit zugleich aber auch den Umkreis der Möglichkeiten, diese Ordnung zu verbessern und zu verfeinern. Wir haben sozusagen das Tief überwunden und befinden uns in einer aufsteigenden Linie. Der Sieg der kommunistischen Revolution in Rußland und neuerdings in China hat ebenfalls die bürgerliche Ordnung zugleich aufs neue gefährdet und aufs neue gefördert. Gefährdet durch den gewaltigen Besitz an politischem Machtpotential, der seitdem dem Kommunismus zur Verfügung steht, um die bürgerlichen Staaten von außen zu bedrohen und einzuschüchtern und von innen durch Untergrabung von Staatsautorität, Anzettelung und Finanzierung von Revolten und fünfte Kolonnen auszuhöhlen. Dazu kommt noch die Verblendung, die von der geballten Macht und von dem großen historischen Erfolg auf die Menschen ausgeht, besonders auf die Intellektuellen. Gefördert hat dieses Ereignis die bürgerliche Ordnung, weil seither die Kommunisten selbst in die Verlegenheit geraten sind, die Leistungsfähigkeit ihres eigenen Systems politisch nachzuweisen, und weil die Ereignisse, die sich seither im bolschewistischen Machtbereich zugetragen haben, und die Schwierigkeiten, in die sich die bolschewistische Innen-und Wirtschaftspolitik unablässig versetzt sieht, dazu angetan sind, die moralische und intellektuelle Achtung vor diesem System zu untergraben.
Vor allem aber hat die geschichtliche Erfahrung eines gezeigt: Die marktwirtschaftliche Ordnung hat sich bisher noch nirgends von innen heraus zu einem konzentrierten Macht-system entwickelt, ja eine solche Entwicklung auch nicht einmal vorzubereiten vermocht, wenn man von sehr bescheidenen Ansätzen absieht. Noch niemals hat eine marktwirtschaftliche Ordnung der kommunistischen Revolution den Gefallen getan, die Akkumulation des Kapitals so weit vorzutreiben, daß es nur eines leichten revolutionären Ellenbogendruckes der Millionen von Expropriierten bedurft hätte, um die paar Inhaber der gesamten Produktionsmittel beiseite zu schieben und den gesamten, wohlassortierten Nibelungenhort im Namen des Proletariats zu okkupieren. Nicht einmal Wirtschaftskrisen der schwersten Art haben bisher eine revolutionäre Situation im Sinne der kommunistischen Doktrin zu erzeugen vermocht. Als die Kommunisten im Jahre 1917 ihre Revolution in Ruß-land machten und als sie nach 1945 ihren Siegeszug aufs neue antraten, da gab es in den Ländern, derer sie sich bemächtigten, weder eine kapitalistische Kapitalsakkumulation, noch eine kapitalistische Wirtschaftskrise, und als in den Jahren 1929 bis 1934 alle kapitalistischen Industriestaaten von einer beispiellos schweren Wirtschaftskrise heimgesucht wurden, da gab es bei keinem dieser Staaten eine kommunistische Revolution, ja nicht einmal ernst zu nehmende Ansätze zu einer solchen Revolution, und der außenpolitische Einfluß des bolschewistischen russischen Riesenreiches befand sich auf seinem Tiefpunkt.
Es ist auch durchaus unwahrscheinlich und widerspricht aller geschichtlichen Erfahrung seit den Urzeiten, daß Völker ohne Tyrannei die Tyrannis sozusagen aus sich selbst hervortreiben. Keines dieser Völker ist über relativ bescheidene Machtballungen hinausgelangt; es blieb immer bei irgendeiner temperierten Form von labilem Gleichgewicht zwischen Kräften gemäßigten Stärkegrades. Alle über diese Grade hinausgehende Machtkonzentration und Unterwerfung ist durch Anwendung militanter, massierter, brutaler Gewalt gestiftet worden, sei es durch kriegerische Eroberung und Unterwerfung von außen, sei es durch militante und gewalt-same Überlagerung von Volksschichten durch energisch geführte und disziplinierte Schichten des gleichen Volks in Bürgerkriegen. Die Dialektik des Selbstzerfalls freier Systeme führt niemals unmittelbar zur Konzentration zentraler Gewalt, sondern in Anarchie und Libertätenrivalitäten, und auch dieser Art des Selbstzerfalls sind zerfallende Autoritätssysteme in höherem Grade ausgesetzt als echte Freiheitsordnungen.
Drei Gegenmittel
Gegen den Angriff des Gewaltprinzips besitzen freie Ordnungen drei Gegenmittel. Das erste ist die Abwehr des Angriffs ebenfalls mit Mitteln der Gewalt oder des politischen Verhandlungsgeschicks. Mit dieser ersten Möglichkeit beschäftigt sich die sogenannte freie Welt von heute fast ausschließlich. Je stabiler aber die einander gegenüberstehenden freiheitlichen und totalitären Fronten sind, je mehr sich die beiderseitigen Machtmittel und Rüstungen die Waage halten, je länger sich beide Lager im Zustand der Hochrüstung gegenüberstehen, desto weniger vermag dieses Gegenmittel eine Lösung zu bringen und der Drohung ein Ende zu setzen. Es kommt dazu, daß das beiderseitige Gegenüberstehen in einer dauernden überdramatisierten Spannung, wie sie von der stets paraten Drohung mit Gewalt und List ausgeht, der Entfaltung freiheitlichen sozialen Lebens Abbruch tut und der Konsolidierung einer überhitzten Machtkonzentration bei den totalitären Staaten Vorschub leistet. Die Totalitären sind bei solcher Konfrontation in ihrem Element, die freiheitlichen Staaten sind es nicht.
Aus diesem Grunde werden die beiden anderen Gegenmittel immer wichtiger. Das zweite ist die Sorge für einen erfolgreichen Ausbau der eigenen Freiheitsordnung im Sinne eines wahrhaft sozialen Systems. Seine Anwendung stärkt die freie Gesellschaft und richtet vor den Augen der Leiter und der Bevölkerung der totalitären Gesellschaft ein werbendes Vorbild auf. Das dritte Gegenmittel besteht in den Zerfalls-und Sprengungstendenzen im Gefüge der totalitären Staaten. Diese Tendenzen zutreffend zu erken-neu und sorgfältig zu beobachten, gehört, wie gerade das Beispiel der kommunistischen Revolutionsstrategie gezeigt hat, zu den wichtigsten Mitteln der geistigen Kriegsführung. Das Ziel muß sein, die Bedingungen zu erkennen, unter denen sich die Zerfalls-und Sprengungstendenzen eines totalitären Gewaltsystems am stärksten durchsetzen, und zu versuchen, diese Bedingungen herbeizuführen. Um es vorwegzunehmen: es sind die Bedingungen des Friedens, der internationalen Beruhigung, der Entdramatisierung der Politik.
Alle drei Gegenmittel müssen gleichzeitig und kombiniert angewendet werden: Rüstung, Reform der Freiheitsordnung und Beförderung des Zerfalls der Gewaltkonzentration. Das erste gehört der Außenpolitik, die beiden letzten der Innenpolitik an. Das Gewicht liegt bei der innerpolitischen Potenz; sie ist nicht nur daseinserhaltend, wie die Außenpolitik, sondern daseinserhaltend und daseinserzeugend zugleich. Für einen Kampf, wie es derjenige ist, in dem wir uns heute befinden, gilt daher der Satz vom Primat der Außenpolitik nicht; das Primat gebührt der Innenpolitik und dem Geist, der auf die Entfaltung der gesellschaftlichen Ordnung und die Lösung der sozialen Frage gerichtet ist. Nur so gewinnen wir ein strategisches Aktionsprogramm, das die Politik aller beteiligten Staaten bestimmt, auf lange Dauer berechnet und allen Phasen der künftigen Entwicklung gewachsen ist, soweit man das von einem Programm sagen kann, d. h. solange die derzeitige Fronten-konstellation andauert.
Zerfalls-und Sprengungstendenzen der kommunistisch-totalitären Gesellschaft
Über das zweite Gegenmittel, über die Pflege der Freiheitsordnung und insbesondere über den Ausbau des marktwirtschaftlichen Systems will ich mich hier nicht verbreiten, obwohl die Versuchung für mich aus einem dreifachen Grunde besonders verlockend ist. Erstens ist es das Wichigste der drei Gegenmittel. Zweitens ist vieles darüber zu sagen, was sozusagen im Zentrum meines Forschungszweiges und meines Nachdenkens liegt. Und drittens empfiehlt es sich immer, mit dem Kehren zunächst vor der eigenen Tür zu beginnen, bevor man sich kritisch mit den Schwächen der Gegenseite, besonders einer, wie ich gestehe, so ungeliebten Gegenseite beschäftigt. Aber ich sehe die Unmöglichkeit ein, im Rahmen dieses Referats über diese wichtige Frage auch nur das Notdürftigste zu sagen, ohne Ihre Geduld zu mißbrauchen und alle Proportionen zu sprengen.
Ich wende mich also der Betrachtung der Zerfalls-und Sprengungstendenzen der kommunistisch-totalitären Gesellschaft zu.
Die meisten Einwohner freier Staaten glauben, der totalitäre Diktaturstaat müsse daran zerschellen, daß er die Freiheit unterdrücke. Man meint, die Menschen ertrügen das nicht lange. Der totalitären Diktatur droht aber Gefahr noch von einer anderen Seite, nämlich deshalb, weil sie den Staat überfordert. Hier lautet die Frage nicht: wie lange ertragen die Untertanen, was ihnen ihre Herrscher zumuten? sondern sie lautet: wie lange können die Herrscher leisten, was ihr System von ihnen verlangt?
Ich muß bei dieser Gelegenheit noch einmal auf den Unterschied zwischen Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft zurückkommen. Es ist der große Vorzug des marktwirtschaftlichen Systems, daß es innerhalb seiner Bedingungen automatisch arbeitet. Das bedeutet für den bürgerlichen Staat, daß sich seine Aufgabe auf die Sorge beschränkt, diese Bedingungen bereitzustellen und über den Spielregeln zu wachen. Der Staat ist nur Hüter und Pfleger des Systems, nicht Planer der Volkswirtschaft. Diese Aufgabe, mag sie auch erheblich schwerer und verwickelter sein, als die ökonomischen Klassiker des 18. Jahrhunderts geglaubt haben, ist immerhin begrenzt und übersehbar. Sie kann deshalb von einem Staat bewältigt werden, dessen Macht nach demokratischen und rechtsstaat-liehen Grundsätzen beschränkt ist. Es bedarf keines exorbitanten Verwaltungs-und Justizapparates. Die Tätigkeit der Regierung kann vom Volke, von der öffentlichen Meinung, von der Presse, von freigewählten Parlamenten und von politischen Parteien kontrolliert werden. Der in Freiheit organisierte Wirtschaftsprozeß erlaubt ein freiheitliches Regierungssystem. Der alte Satz des Aristoteles: Gesetze sollen herrschen, nicht Menschen, kann wenigstens annäherungsweise befolgt werden.
Das alles wird unmöglich, sobald sich ein Staat die Aufgabe aufbürdet, die Wirtschaft zentral zu lenken. Damit wird der Schwerpunkt der Staatstätigkeit vom Gesetz in die verwaltungsmäßige Zweckmäßigkeits-und Ermessensentscheidung verlegt. Die Freiheit der Bürger unter dem Gesetz verwandelt sich in den Gehorsam der Untertanen unter den Befehl. Der Staat, nicht ein sozialer Einpendelungsprozeß, bestimmt den sozialen Alltag. Dieser Vorgang ist so immens, so verwickelt, so unanschaulich, daß er sich jeder politisch wirksamen Kontrolle entzieht. Er kann sachlich zufriedenstellend überhaupt nicht und technisch zufriedenstellend nur in einer totalitären Diktatur gemeistert werden.
Damit aber belasten sich die Regierenden mit zwei Geschäften, die zu den schwierigsten Geschäften überhaupt gehören, nämlich einmal mit dem Geschäft des totalitär-diktatorischen Regie-rens und zum anderen mit dem Geschäft der zentralen Wirtschaftslenkung. Das eine ist ein spezifisch machtpolitisches, das andere ein spezifisch fachmännisch-technisches Geschäft, das eine erfordert Willen, Härte, Brutalität, Beherrschung von Menschen und Massen, Mißtrauen, Vitalität, Phantasie, das andere Weisheit, Kraft des theoretischen Denkens, Interdependenzgefühl, Überblick über einen ganzen Kosmos von Daten und Voraussicht der Zukunft.
Welches sind nun die Bedingungen, die für diese beiden Unterfangen günstig und ungünstig sind und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die günstigen Bedingungen durch lange Zeiträume hindurch verwirklicht und die ungünstigen ferngehalten werden können?
Betrachten wir zunächst das Geschäft des totalitären Regierens.
Das Geschäft des totalitären Regierens
Eine Herrschaftsgewalt, die Millionen von nicht kasernierten, mit ihren Familien zusammenlebenden, schwer zu beaufsichtigenden Menschen aller Berufe dauernd in ihrem Alltag kontrollieren, kommandieren und zu einer wohldisziplinierten Armee politischer und wirtschaftlicher Soldaten, zu einer Staatsbelegschaft sozusagen, zusammenschweißen will, die muß mit diesem ganzen Volk unablässig exerzieren, darf es keinen Augenblick zur Ruhe kommen lassen, muß es in einem Aggregatzustand der will fähigen Unterordnung, ja weit darüber hinaus, in einen Aggregatzustand der äußersten ekstatischen Hingabe, Selbstentäußerung und über-militanten Selbstdisziplinierung versetzen. Sie muß die Staatsideologie in der Gestalt einer revolutionären Ideologie unermüdlich in die Gehirne und Herzen einhämmern, muß sie durch eine ganze Armee von spezialisierten Predigern und Berufsrevolutionären verbreiten und fortentwickeln lassen, darf keine Häresie, keine störenden ideologischen Einflüsse dulden, muß die Privat-und Kollegengespräche, die Gesinnung in den Familien überwachen. Sie muß die Staatsmaschine in eine atemberaubende Umdrehungsgeschwindigkeit versetzen, muß die Innen-und Außenpolitik dramatisieren, muß das Volk mit einer nie abreißenden Kette von Probemobilmachungen wie Kundgebungen, Staatsfeiern, Protestmärschen, Schauprozessen, Sammel-und Briefaktionen usw. in Atem halten, kurz mit allen Mitteln für eine Dynamik sorgen, der sich kein Individuum entziehen kann, ohne aus dem fieberhaften Blutkreislauf der totalitären Gesellschaft abgedrängt und dadurch in eine Vereinzelung, Vereinsamung und soziale Luftleere hineingezwungen zu werden, die der Durchschnittsmensch mit seinen geselligen Bedürfnissen einfach nicht erträgt.
Diese Notwendigkeit, die Gesellschaft sozusagen rauschhaft zu disziplinieren, ist es auch, die ihrerseits die Tendenz zur politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Autarkie, zu eisernen Vorhängen, zur Unterbindung der Freizügigkeit, zur Zensur des geistigen Lebens, zur Fern-haltung von Auslandseinflüssen erzwingt. Darin eben unterscheidet sich die totalitäre Diktatur von der normalen Diktatur, die sich bloß auf das Heer und auf politische Prätorianergarden stützt, aber, was das Volk und seinen Alltag betrifft, sich damit begnügt, daß die Leute ihre Steuern und Abgaben bezahlen, sich jede Willkür gefallen lassen und keine Aufstände anzetteln.
Die totalitäre Diktatur aber muß das Volk unmittelbar in den Staatsvollzug einspannen, sie muß populär sein, sie darf den lebendigen Kontakt mit den Massen nicht verlieren, sie muß die Leute beschäftigen. Der leidende Gehorsam genügt nicht, was erreicht werden muß, ist der fanatische Gehorsam.
Aus diesem Grund trifft es auch nicht zu, daß die Untertanen einer totalitären Diktatur keinen Anteil an der Staatsgewalt haben. Gewiß, sie haben keinen Einfluß auf die Staatslenkung, auf den Inhalt der Wirtschaftspläne, auf die Gesetze, Verordnungen und Befehle. Aber sie werden sehr nachhaltig und aktiv für die Durchführung der großen und kleinen Staatsaktionen herangezogen. Was in den Demokratien die Bürokratie und die Polizei allein besorgt, das wird in totalitären Diktaturen zu einem Teil von unbeamteten Volksgenossen bewältigt, denen zu diesem Behuf mitunter recht weitreichende Vollmachten erteilt und Verantwortlichkeiten aufgebürdet werden. So bekommen wir in der Bundesrepublik nicht selten von Besuchern oder Flüchtlingen aus der Sowjetzone zu hören: Ja gewiß, bei Euch leben die breiten Massen viel besser als bei uns und man muß hier nicht in dieser entwürdigenden Angst leben, dafür hat aber bei Euch das Volk nichts mitzureden. Und wenn wir dann auf unsere demokratischen Verfassungseinrichturigen, die freie Presse und die freien Wahlen hinweisen, dann sagen sie: Ja, bei Euch dürfen die Leute allerdings mitreden, aber nur über Dinge, die sie nicht verstehen und nicht überblicken können, aber bei uns können wir z. B. im Betrieb Einfluß in Fragen nehmen, die wir verstehen. Das gilt in besonders hohem Grade natürlich für die große Schicht der Berufsrevolutionäre und der kleineren Parteifunktionäre. Das totalitäre Regime nimmt hier den Tätigkeitsdrang aktiver Naturen, die sich unter den Bedingungen bürgerlicher Demokratien in untergeordneten Alltagsbeschäftigungen fernab vom öffentlichen Leben vernutzen würden, in einem LImfang für Macht-, überwachungs-und Organisationsaufgaben in Anspruch, der es verständlich macht, wie groß die Anziehungskraft des totalitären Daseinsrythmus gerade auf junge Menschen ist, die überall dabei sein wollen, wo energisch und rücksichtslos durchgegriffen und ohne bürokratische Hemmungen gehandelt wird. Als ich im nationalsozialistischen Deutschland die Scharen von SA-und SS-Männern, von Studentenschafts-, Dozentenschafts-, Ärzte-und Juristenführern, von Blockwarten, Ortsgruppenleitern und dergleichen Leuten sah, da beschlich mich eine Ahnung, als habe die Revolution unserer Tage schon lange nichts mehr mit der Arbeiterfrage, mit der materiellen Elendslage verarmter Schichten oder mit dem elementaren Bedürfnis Unter-drückter nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu tun, um so mehr aber mit dem niedergehaltenen Aktivitätsdrang, Macht-und Geltungsbedürfnis der kleinen Leute vor allem in den unteren Schnichten des Mittelstandes, aber auch der Intelligenz. Diese Leute gingen im Dritten Reida auf wie Pfannkuchen und schwelgten in dem, was sie die Bewegung nannten. Die Demokratie kann dieses Bedürfnis schlechterdings nicht in vergleichbarer Weise befriedigen. Man mag mit ihm verständnisvolles Mitgefühl haben, die Tatsache menschlich und soziologisch bedauern, und den latenten Expansionsdruck fürchten, der von diesem unterdrückten Trieb in der friedlichen Gesellschaft gut regierter oder gar mäßig regierter demokratischer Staaten ausgeübt wird; wer aber erlebt hat, in wie furchtbarer Weise sich das Dasein unter der Fuchtel dieser Gruppen verwandelt und welche mörderische Waffe diese Gefolgschaft in der Hand rücksichtsloser Diktatoren sein kann, dessen Bedauern vermindert sich bei dem Gedanken um die viele Tatkraft, die in unserer Gesellschaft verbanden ist und keine Nahrung findet.
Das totalitäre Regiment ist also gemäß seinem eigenen Gesetz auf übernormale Körpertemperatur und übernormalen Blutdruck angewiesen; es bedarf der übersteigerten Dynamik und kann sich das Absinken in den Alltag einfach nicht leisten. Wer also die Bedingungen für totalitäres Regieren und totalitäre Systeme verschlechtern oder erschweren will, der muß eine konsequente Entdramatisierung der Außenpolitik und der politischen Atmosphäre wünschen.
Gerüstetsein in Verbindung mit nie nachlassender intelligenter Geduld bei der Behandlung aller vorkommenden Konfliktfragen, freilich aber auch in Verbindung mit stets gegenwärtiger realistischer Einsicht in die latente Gefährlichkeit der Koexistenz neben totalitären Systemen ist hier die einzige erfolgversprechende Strategie. Aggressivität in Zeiten der Spannung oder auch der günstigen Gelegenheit und euphorische Vertrauenseligkeit in Zeiten nachlassenden Druckes sind gleichermaßen von Übel.
So viel zum Geschäft des totalitären Regierens. j
Das Geschäft der zentralen Wirtschaftslenkung
Es bleibt das Geschäft der zentralen Wirtschaftslenkung. Selbst wenn man den zu befriedigenden Bedarf als gegeben und konstant annimmt, so bereitet die Koordinierung aller Teilvert ichtungen und komplementären Produktionen die allergrößten Schwierigkeiten, besonders wenn sich nachträglich irgendwelche Daten ändern und improvisierte Anpassungen notwendig werden. Da nun aber auch der zu befriedigende Bedarf eine sich stets ändernde und schwer feststellbare Größe ist, vervielfachen sich die Schwierigkeiten ins Immense. Die Koordinierung kann um so weniger gelingen, je differenzierter der Produktionsapparat, die Arbeitsteilung und die Bedürfnisse sind.
Die kommunistische Staatsleitung kann sich diese Koordinierungsaufgabe allerdings dadurch erleichtern, daß sie die Bedarfswünsche der Bevölkerung ignoriert, d. h. daß sie nicht produziert, was die Leute konsumieren wollen, sondern die Leute auf dasjenige verweist, was gemäß den Mehrjahrsplänen produziert worden ist. Das ist aber nur so lange möglich, als die Leitung den Bedarf bewußt unterversorgt, so daß dieser mit allem vorlieb nimmt, was zur Verteilung freigegeben wird. Und wenn man schließlich auch jedes-beliebige Sortiment von Konsumgütern unterbringen kann, wofern man nur die Kaufkraft entsprechend manipuliert, so erzeugt doch das primitive Mittel der Geldvermehrung in Verbindung mit künstlich niedrig gehaltenen Preisen beim Volk immer den Eindruck des Mangels, weil der Vorrat ständig ausverkauft und die Ware rationiert ist.
Es empfiehlt sich also für die Zentrale, den Konsum so knapp wie möglich zu nalten und die Produktion auf den Aufbau von Investitionsgüterindustrien und auf die Versorgung des Staats mit Gütern des militärischen und politischen Machtbedarfs zu konzentrieren, der sich inerhalb gewisser Grenzen zentral vorausplanen läßt. Dadurch primitiviert sich das Geschäft der zentralen Planung; gleichzeitig nehmen die Leistungen des Produktionsapparates einen monumentalen und imposanten Charakter an: Bergwerke, Schwerindustrien, Atombomben, militäre Großrüstung, repräsentative Staats-bauten, Kollektivpracht jeder Art: das läßt sich sehen, damit kann man prunken.
Aber schließlich tritt an einen Staat, der für sich in Anspruch nimmt, die soziale Frage lösen zu wollen, auch einmal die Nötigung heran, etwas für den Lebensstandard der breiten Massen zu tun und die Konsumgüterproduktion zu forcieren. Sobald aber dies geschieht, sieht sich die Leitung einem sich rasch differenzierenden Bedarf gegenüber, und dann zeigt sich schon bald die geringe Leistungsfähigkeit der zentralen Lenkungstechnik.
In dieser Situation hat sich die Regierung bisher noch jedesmal bald genötigt gesehen, die Technik der zentralen Planung zu lockern, den Betriebsleitern einen erweiterten Handlungsund Planungsspielraum zuzugestehen, eine Art von zwischenbetrieblichem Wettbewerb zuzulassen und für einen beschränkten Kreis von Gütern so etwas wie eine freie Marktpreisbildung in Vollzug zu setzen.
Politische und soziale Konsequenzen
Es soll hier nicht von den ökonomischen Problemen die Rede sein, die in einem solchen Falle auftauchen, statt dessen aber von den politischen und sozialen Konsequenzen, die sich an ein solches Herum-werfen des wirtschaftspolitischen Steuers anknüpfen und die bisher jedesmal auch tatsächlich aufgetreten sind.
Hier ist zunächst die Tatsache zu beachten, daß an zwei Stellen ein völlig ungewohntes Plus von Freiheit eintritt. Nämlich einmal in der Sphäre der Verbraucher, die plötzlich wieder in den effektiven Genuß einer Art von freier Konsumwahl gelangen und etwas von der Macht zu ahnen beginnen, die in einer freien Wirtschaftsordnung die Konsumenten haben. Sodann in der Sphäre der Betriebsleiter, die einen Teil privatwirtschaftlicher Initiative zurückgewinnen und sich nicht mehr ausschließlich an den Plandirektiven der Zentrale zu orientieren brauchen, sondern sich stattdessen am Markt und seinen spontanen Preis-und Nachfragebewegungen ausrichten können. Sehr stark empfunden wird ein solcher Wechsel vor allem jedesmal von den Leitern landwirtschaftlicher Betriebe, in denen sich dann halbvergessene Bauern-und Pächterinstinkte regen.
Indem auf solche Weise Verbraucher und Betriebsleiter der Zucht, Disziplin und Kontrolle der zentralen Leitung wenigstens zu einem Teil entgleiten und Menschen, die bisher als Funktionäre in ein von ben gesteuertes System eingespannt waren, das Erlebnis ihrer individuellen Autonomiefähigkeit machen, bahnt sich notwendig ein politischer Emanzipationsvorgang an, der auf die Dauer einem totalitären System — schon von der Seite des Lebensgefühls her — gefährlich werden muß, jedenfalls gefährlich werden kann.
Dabei ist für den kommunistischen Staat die politisch-soziale Emanzipation der Betriebsleiter zweifellos gefährlicher als die Emanzipation der Verbrauchei. Denn einmal sitzen die Betriebsleiter auf einer höheren Stufe der bolschewistischen Sozialhierarchie und sind deshalb politisch ernster zu nehmen. Zum anderen aber verändern sie, sobald sie aus der Subordination des zentralen Lenkungssystems in die Autonomie des marktwirtschaftlichen Produzierens entlassen werden, ihren sozialen Standort innerhalb der Gesellschaft. Sie verwandeln sich aus weisungsgebenden Executivorganen des Staats in autonom wirtschaftende Staatspächter, d. h. aber nicht mehr und nicht weniger, als daß aus einer Beamtenkaste eine soziale Klasse im Sinne der kommunistischen Doktrin wird und zwar eine herrsche n d e Klasse. Daß sie nicht die Eigentümer ihrer Betriebe sind, sondern mit fremden und zwar staatseigenen Produktionsmitteln arbeiten, tut nichts zur Sache, ebenso-wenig, daß sie vielleicht nicht am Gewinn beteiligt sind. Entscheidend ist, daß sie befugt sind, mit den ihnen anvertrauten Produktionsmitteln in der gleichen autonomen und marktorientierten Weise zu verfahren wie Privatunternehmer in einer bürgerlichen Marktwirtschaft. Es kommt dazu, daß sie nunmehr das natürliche Interesse haben, -ihre Emanzipation weitervorzutreiben und die volle Rechtstellung eines Privatunternehmers anzustreben, möglichst verknüpft mit gewissen politischen Prärogativen, die ihrer bisherigen Position ankleben und die dann einen feudalen Charakter annehmen. Es leuchtet ein, daß ein kommunistischer Staat, der das Wiedererstehen sozialer Klassen duldet, den Kommunismus preisgibt.
Zwar mag es nicht leicht sein, eine solche Entwicklung, wenn sie sich einmal angebahnt und eingespielt hat, wieder zu kassieren. Vor allem deshalb nicht, weil sich die Leistungsüberlegenheit des marktwirtschaftlichen Systems in solchen Auflockerungsperioden sehr eindrucksvoll zu zeigen pflegt und die Rückkehr zur straffen Zentralsteuerung für die breiten Massen der Verbraucher eine herbe Enttäuschung bedeutet.
Trotzdem hat sich die bolschewistische Regierung bisher noch jedesmal dazu entschlossen, den liberalen Kurs nach einiger Zeit brutal zu kassieren, zuweilen unter dramatischen Begleiterscheinungen. Die angedeuteten Emanzipationsgefahren scheinen sich also hinreichend beängstigend abgezeichnet zu haben. Die Produktion wurde aufs Neue vom Konsumsektor auf den Investions-und Staatsbedarfssektor umgestellt, die Gewalt aufs neue in den Händen der Zentralplaninstanz konzentriert, und der Traum von Millionen von der Mehrung des Lebensstandards war wieder einmal für eine Reihe von Jahren ausgeträumt.
Aber schließlich läßt sich das Dasein von Millionen dürftig lebender Staatssklaven, die sich unter der Fuchtel der Akkordpeitsche, des Planungs-und Ablieferungssolls im Dienst des kommunistischen Zukunftsstaats abrackern, ohne Freiheit, ohne Freizügigkeit, ohne politische Rechte, nicht auf die Dauer absichtlich und künstlich auf ein freudloses Elendsniveau festschrauben. Man darf auch nicht vergessen, daß diesen Massen an Schulbildung einiges geboten und an Intelligenz einiges zugemutet wird. Es ist unabwendbar, daß sich diese Million fragen, wie lange denn ihre Kraft für die Erzeugung von Atombomben, von leichten und schweren Waffen, für die Besoldung eines riesenhaften Apparats von Staats-und Parteifunktionären usw.
vernutzt werden soll, bis endlich der Schweiß ihrer Arbeit ihnen selbst und ihren Familien zugute kommen darf. Keine Ideologie, keine Propaganda, kein Terror, keine Vorhänge können auf die Dauer verhindern, daß sich diese elementare Frage in den Köpfen intelligenter und nach Daseinsmöglichkeiten verlangender Menschen meldet. Selbst der einzige Vorteil, den das kommunistische System, abgesehen von der Integrationskraft hoher Temperaturgrade des sozialen und politischen Lebens wenigstens den Arbeitern darzubieten vermag, nämlich ein zusagendes Betriebsklima im volkseigenen Betrieb, mit, wie es scheint, bemerkenswerter Freiheit der Diskussion und Kritik in Fragen der Betriebsleitung, dürfte, wenn er der einzige bleibt, auf die Dauer den Unmut nicht beschwichtigen. Dieser Unmut kann sich auch ohne Aufsässigkeit geltend machen und zwar in Gestalt eines Nachlassens der Arbeitsintensität. Dann wird neuerdings eine konsumorientierte Wirtschaftspolitik eingeleitet werden müssen, und das geschilderte Spiel mit allen-seinen Folgen beginnt von vorne.
Auch hier gebietet uns die politische Vernunft, durch eine beharrlich auf Frieden und Entdramatisierung der politischen Atmosphäre abzielende Außenpolitik dahin zu wirken, daß für die bolschewistische Politik der Anlaß, die Investitionsgüter-und Waffenproduktion zu forcieren, zunehmend wegfällt oder an Dringlichkeit einbüßt, und damit zugleich die Nötigung, für die Hebung des Lebensstandards der breiten Massen zu sorgen, immer elementarer und unausweichlicher wird.
Der bolschewistische Staat wird dann, wenn er es nicht zu einem nicht mehr beherrschbaren Emanzipationsprozeß und einem mehr oder weniger anarchischen Zerfall seiner Ordnungkommen lassen will, dem Gedanken nähertreten müssen, die Rückkehr zu einem freiheitlicheren Wirtschaftssystem bewußt und planmäßig einzuleiten. Was das bedeutet, welcher Ära der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen dem beklagenswerten Regime bevorsteht, wobei man noch gar nicht an die Auswirkungen auf die Satellitenstaaten zu denken braucht, kann sich jeder aufmerksame Beobachter selbst vorstellen.
Atmosphäre des Vertrauens
Audi hier sollten wir durch eine Politik unentwegten Stillhaltens versuchen, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen, durch die sich die bolschewistische Politik ermutigt sieht, das Wagnis eines so weltbedeutsamen Kurswechsels auf sich zu nehmen. In dieser, wahrscheinlich leider fernen Phase des Geschehens wird dann allerdings besonders wichtig, welchen Erfolg die freien Staaten bis dahin mit der Lösung der sozialen trage erzielt haben. Je vorbildhafter die Ergebnisse unserer eigenen Bemühungen sein werden, desto leichter kann sich ein von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Zentralverwaltungswirtschaft herkommendes, aber durch Auflockerungen liberalisiertes ökonomisches System samt seinem politischen Überbau an die demokratische Staaten-und Wirtschaftswelt angleichen, ohne den Verzicht auf ein ehemals revolutionäres Programm von großer geschichtlicher Tradition mit einer schwer erträglichen Einbuße an Prestige oder gar mit Selbstvorwürfen erkaufen zu müssen.
Die Frage nach der Zukunft der Freiheit unter den Bedingungen des Kalten Krieges hat sich als eine schwierige und verfängliche Frage erwiesen. Wenn ich versucht habe, eine Reihe von Problemen herauszugreifen, die sich hier andrängen, ja, wenn ich sogar gewisse Antworten und Prognosen gewagt habe, so bin ich mir klar darüber, daß sowohl die Problemstellung, als auch die Problembehandlung dieses Referats in vielen und wichtigen Punkten damit rechnen muß, von einer besser gerüsteten Kritik richtig gestellt zu werden. Ich möchte aber glauben, daß Sie alle mit mir wenigstens in einem Punkte übereinstimmen werden, nämlich darin, daß es für die Freunde der Freiheit, für die Regierungen, die Politiker und die öffentliche Meinung in den demokratischen Staaten wichtig ist, über diese Dinge nachzudenken, und vor allem wichtig, unsere Aufmerksamkeit und Zukunftssorge nicht so ausschließlich der militärischen und machtpolitischen Seite des Koexistenz-Problems zuzuwenden, die zwar gewiß wichtig genug ist, die sich aber, wie ich glaube, doch allzu ausschließlich in den Vordergrund unseres Denkens gedrängt hat.