Der Aufsatz von Professor Walter Grottian, Deutsche Hochschule für Politik, Berlin, stützt sich zum größeren Teil auf das erste Kapitel einer Arbeit, die demnächst im Carl Heymanns Verlag, Berlin, unter dem Titel erscheinen wird: „Die Grundlagen der Macht in der Sowjetunion", Bd. I: Leitfaden, Bd. II: Quellenbuch.
Weltrevolution und Koexistenz — zwei häufig gebrauchte Begriffe der Weltpolitik -sollen in ihrem Verhältnis zueinander vom sowjetischen Standpunkt aus dargestellt werden. Die unterschiedlichen Vorstellungen der Bevölkerung der westlichen Welt von dem Sinn, den die kommu-nistische Staatsführung der UdSSR diesen beiden Worten verleiht, machen es notwendig, neben der erwähnten Aufgabe die Begriffe „Weltrevolution“ und „Koexistenz“ in sowjetischer Sicht zu erläutern.
A. Die Bestandteile der proletarischen Weltrevolution
Unter den revolutionären Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts ist die kommunistische Partei der Sowjetunion zum radikalsten Umgestalter des öffentlichen Lebens geworden. In den Novemberwochen des Jahres 1917 in Rußland an die Macht gelangt, begann sie fast alle Lebensbereiche in Rußland umzugestalten. Ihre Ziele auf wirtschaftlichem, sozialem und geistigem Gebiet sind so radikal, daß die von ihr beherrschten Völker der Sojwetunion zum Teil noch nicht die Lebensform gefunden haben, die der kommunistischen Parteiführung in Moskau vorschwebt. Die dort erreichten bzw. noch zu erreichenden Ziele sollen darüber hinaus die Ausgangsbasis für eine dementsprechende Umgestaltung der übrigen Welt unter der alleinigen Führung der KPdSU und der eng mit ihr verbundenen kommunistischen Parteien der „kapitalistischen Welt“ sein.
I. Die Umgestaltung Rußlands seit 1917
1. Die wirtschaftliche Umgestaltung Auf wirtschaftlichem Gebiet kann es nach dem Sieg der Oktoberrevolution darauf an, die kapitalistische Wirtschaft durch eine sozialistische Planwirtschaft zu ersetzen. Dabei wird von der kommunistischen Parteiführung der Begriff des Kapitalismus sehr weit gefaßt. Es fallen nicht nur die Großgrundbesitzer, die Großbauern, die großen und mittleren Unternehmer im Gewerbe und Handel darunter. Handwerker, Mittel-und Kleinbauern, Kleinhändler werden auch als Kapitalisten angesehen, die m’t ihrer privatwirtschaftlichen Produktionsweise ebenso zum Untergang verurteilt sein sollen wie die Großgrundbesitzer, Großindustriellen u. a. In einem von kommunistischen Funktionären immer wieder zitierten Ausspruch Lenins aus dem Jahre 1920 wird mit der Vorstellung aufgeräumt, als wären z. B. Handwerker, Kleinbauern usw. keine Kapitalisten: „Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sekr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und int Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie. Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur des Proletariats notwendig, und ein Sieg über die Bourgeoisie ist ohne einen langen, hartnäckigen, verzweifelten Krieg auf Leben und Tod unmöglidt, einen Krieg, der Ausdauer, Disziplin, Festigkeit, Unbeugsamkeit und Einheit des Willens erfordert . . .
Es ist tausendmal leichter, über die zentralisierte Grossbourgeoisie den Sieg davonzutragen als Millionen und aber Millionen kleiner Besitzer zu , besiegens diese aber führen durch ihre tagtäglidte, alltägliche, unmerkliche, unfaßbare, zersetzende Arbeit eben jene Resultate herbei, die die Bourgeoisie braudtt, durdt die die Macht der Bourgeoisie restauriert wird.“ (Aus Lenins Schrift: „Der . linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus“, veröffentlicht im Juni 1920.)
Daraus ergab sich als wirtschaftliches Ziel die Enteignung sämtlicher Produktionsmittel zugunsten des Staates und der Aufbau eines Wirtschaftssystems, das von einer Zentrale aus im voraus die Produktion und die Verwendung von Erzeugnissen umfassend plant. Begründet wird dieses Ziel mit einer viel größeren Leistungsfähigkeit der sozialistischen Planwirtschaft im Vergleich zum System der Privatwirtschaft und mit dem zugleich dabei erreichten Zustand, der eine „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ nicht mehr kennen soll. Daß neben diesen Gründen andere, z. T. sogar wichtigere Gründe dafür maßgebend sind, dürfte auf Grund der nun jahrzehntelangen Erfahrungen kaum zweifelhaft sein. Menschen, die in ihrer wirtschaftlichen Existenz vollständig vom Staat abhängen, nehmen etwaige von der Regierung verfügte Entbehrungen mit wesentlich geringerem Widerstand auf sich, als dies z 7 B. bei Menschen mit eigenem wirtschaftlichen Rückhalt (und sei es nur in der Form einer kleinen Bauernwirtschaft oder eines handwerklichen Einmann-Betriebes) möglich wäre.
Vergleicht man das erwähnte wirtschaftliche Ziel mit dem inzwischen erreichten Zustand in der Sowjetunion, so kann man sagen, daß dieses Ziel fast erreicht ist. Ein privatwirtschaftlicher Rest ist bei den Kolchosbauern noch zu finden. Der Staat überließ im Durchschnitt einen halben Hektar Ackerfläche je Bauernfamilie zur privaten Nutzung. Dementsprechend darf die einzelne Bauernfamilie auch Vieh-wirtschaft betreiben. Alle daraus gewonnenen Erzeugnisse dürfen von den Kolchosbauern zum Teil frei verkauft werden. Die kommunistische Parteiführung läßt aber keinen Zweifel darüber, daß in Zukunft auch dieser verbliebene Rest von privatwirtschaftlicher Produktion der Vergangenheit angehören soll.
Die in Aussicht genommene Ausschaltung der privatwirtschaftlichen Reste in der Landwirtschaft der Sowjetunion hängt u. a. damit zusammen, daß die kommunistische Parteiführung den Sozialismus zwar als eine lange, aber nur vorbereitende Phase zum höchsten und letzten Ziel, dem Kommunismus, betrachtet. In der Zeit des Kommunismus soll es nicht mehr wie in der Zeit des Sozialismus ein Privateigentum an Gebrauchs-und Verbrauchsgütern geben. Dem fehlenden Privateigentum sowohl an Produktionsgütern als auch an Gebrauchs-bzw. Verbrauchsgütern soll aber ein solcher Reichtunm an Gebrauchs-und Verbrauchsgütern entsprechen, daß es keinen Menschen mehr geben soll, der sich um die Befriedigung seiner mannigfaltigen Bedürfnisse irgendwelche Sorgen zu machen braucht. Gilt nach der offiziellen Auffassung in der Sowjetunion zur Zeit des Sozialismus der Grundsatz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen“, so soll für die Zeit des Kommunismus der Grundsatz gelten: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Die kommunistische Parteiführung behauptet, daß in der Sowjetunion nun alle Wege zum Kommunismus führen. 2. Die soziale Umgestaltung Das soziale Ziel besteht in einer Beseitigung aller Klassen unter der Führung eines von der kommunistischen Partei geführten Proletariats. Um dies zu erreichen, sind nach der Auffassung der kommunistischen Parteiführung die Klassen der Großgrundbesitzer, der grö-ßeren Industriellen, der Großhändler, der Großbauern fast ausnahmslos direkt oder indirekt zu vernichten (indirekt, indem man sie körperlich sehr schweren Arbeiten bei gleichzeitig kaum ausreichenden Verhältnissen bezüglich der Wohnung, Ernährung und Bekleidung zuführt). Im Vergleich hierzu sollen die Handwerker, Klein-und Mittelbauern solchen Betriebsformen zugeführt werden, die geeignet sind, ihre individualistische Denkweise allmählich auszulöschen und aus ihnen einen neuen Menschentyp, den nur dem Staat eifrig dienenden Sowjetmenschen, zu formen. Als geeignete Betriebsform für den Handwerker gelten die Fabrik und die ebenfalls vom Staat beherrschte Handwerker-genossenschaft. Für die Klein-und Mittelbauern gibt es nur das Leben in den Kollektivwirtschaften. Wie sehr bestimmte Produktionsverhältnisse den neuen Typ des Sowjetmenschen vorbereiten sollen, sei an einem Ausspruch Stalins vom Jahre 1929 verdeutlicht: „Es wäre verfehlt zu glauben, daß wit den Kollektivwirtschaften auch schon alles für die Errichtung des Sozialismus Notwendige gegeben sei. Erst redit verfehlt wäre es zu glauben, daß die Mitglieder der Kollektivwirtschaften sdwn Sozialisten geworden seien. Nein, man wird noch viel arbeiten müssen, um den Kollektivbauern umzumodeln, um seine individualistische Mentalität auszurichten und aus ihm ein richtiges, schaffendes Mitglied der sozialistischen Gesellschaft zu machen. Und das wird um so eher geschehen, je eher die Kollektivwirtschaften maschinisiert, je eher sie traktorisiert werden." (Aus einer am 27. Dezember 1929 gehaltenen Rede Stalins: „Zu den Fragen der Agrarpolitik der UdSSR“.)
Ein Rückblick auf die vergangenen drei Jahrzehnte zeigt, daß die kommunistische Parteiführung vor keinem Mittel zurückschreckt, um alle früheren Klassen entweder zu vernichten oder „umzumodeln". Das war die eine Seite ihres sozialen Zieles; und insoweit ist das Ziel in den dreißiger Jahren erreicht worden. Die andere Seite soll in der Schaffung des nur dem Staat dienenden Sowjetmenschen liegen, der sich in einer klassenlosen Gesellschaft bewegt. Nach den offiziellen Erklärungen gibt es in der Sowjetunion seit der Mitte der dreißiger Jahre nur noch zwei Klassen: die Arbeiter und die Kolchosbauern. Sie werden als die Produkte einer planmäßig vorangetriebenen Entwicklung angesehen und haben . mit den westlichen Vorstellungen vom Proletariat und von den Bauern kaum mehr etwas gemeinsam. Beide Klassen werden als miteinander freundschaftlich verbundene Klassen dargestellt, während es nach der offiziellen Darstellung z. B. in den westlichen Industrieländern nur „antagonistische Klassen“ gibt. Es ist sehr zweifelhaft, ob bei dem planmäßig angestrebten Prozeß der gesellschaftlichen LImgestaltung sich keine anderen Klassen als die der Arbeiter und Bauern im sowjetischen Sinne gebildet haben. Doch zweifellos versucht die kommunistische Parteiführung die immer noch bestehenden Unterschiede in den Lebensgewohnheiten und Auffassungen der Arbeiter und Bauern durch eine Anpassung der Bauern an die Lebensgewohnheiten und Auffassungen der Arbeiter zu beseitigen. Das soll auf dem Wege von der gegenwärtigen sozialistischen Ordnung zur zukünftigen kommunistischen Ordnung geschehen, (zu diesem Zweck u. a. die angestrebte Beseitigung der letzten Reste einer bäuerlichen Privatwirtschaft, die Zusammenlegung der bestehenden Kollektivwirtschaften in Großkollektivwirtschaften). Stadt und Land sollen durch das sozialistische Wirtschaftssystem allmählich so miteinander verschmelzen, daß zwischen Arbeitern] und Bauern kein Unterschied mehr im Denken und Fühlen besteht. Damit wäre in sowjetischer Sicht die Schwelle von einer Gesellschaft zweier einander freundlich gesinnten Klassen zur klassenlosen Gesellschaft überschritten. 3. Die geistige Umgestaltung So wenig die kommunistische Parteiführung das wirtschaftliche und soziale Ziel in den vergangenen drei Jahrzehnten aus den Augen verloren hat, so gilt das gleiche für ihr geistiges Ziel. Dieses geistige Ziel zielt darauf ab, jeden Menschen möglichst schon von Kindheit an zum fanatischen Vertreter eines Weltbildes zu machen, das sich grundlegend von allen bisher vorherrschenden Weltbildern in Europa, Amerika und Asien unterscheidet. Hierzu gehört die Lehre, daß die Weltgeschichte nur eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Der Staat ist nach dieser Lehre nur ein Instrument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der anderen Klassen. Religion, Philosophie, Dichtung, Recht u. a. sind nicht autonom, sondern „Überbau“ zu dem „Unterbau“, der nur aus der Wirtschaft mit bestimmten Produktionsverhältnissen besteht. Demgemäß darf man in der Sowjetunion die Auffassungen eines Theologen, Philosophen, Dichters usw. nicht als allgemeingültig, unabhängig von den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen betrachten. Sie sind der Ausdruck der Klassenzuge hörigkeit des Betreffenden und können nur in ihrer relativen Bedeutung richtig verstanden werden.
Seit dem Beginn der Epoche des Imperialismus in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wird die Herrschaft in den einzelnen kapitalistischen Staaten nach sowjetischer Darstellung von in Monopolgebilden zusammengeschlossenen Personengruppen ausgeübt, denen eine ständig wachsende Mehrheit der Bevölkerung mit zunehmend sich verschlechternden Lebensbedingungen gegenübersteht. Die Profitsucht der den Staat völlig beherrschenden Monopolisten läßt keine Verbesserung der Lebensbedin-gungen der breiten Massen zu, so daß diese Monopolgebilde bald auf Absatzschwierigkeiten für ihre Produktion innerhalb des staatlichen Territoriums stoßen. Weit davon entfernt, durch eine Erhöhung der Löhne diese Absatzschwierigkeiten zu mildern, ziehen es die Monopolisten vor, sich neue Absatzgebiete außerhalb der Grenzen ihres Staates zu suchen. Sie finden diese zunächst in den kolonialen und halbkolonialen Gebieten. Doch die infolge von weiteren Kapitalinvestitionen sich vergrößernde Produktion der Monopolkapitalisten ohne die Gewährung von realen Lohnerhöhungen führt allmählich auch in den kolonialen und halbkolonialen Gebieten zu Absatzschwierigkeiten. Daraus ziehen die Monopol-kapitalisten die Folgerung, den vollkommen von ihnen beherrschten Staat zu Kriegen gegen andere Staaten zu veranlassen, -um die dringend benötigten Absatzgebiete und Rohstoffquellen auf Kosten anderer Staaten zu erhalten. Das vollzieht sich mit solcher Gesetzmäßigkeit, daß ein Krieg zwischen den „kapitalistischen Staaten“ nicht nur unvermeidlich ist, sondern sich zwischen den aus einem Krieg siegreich hervorgegangenen kapitalistischen Staaten wiederholt und danach erneut aufflammt, solange es noch wenigstens zwei kapitalistische Staaten gibt. Aber gerade diese Kriege zwischen den kapitalistischen Staaten schaffen noch erhöhte Spannungen zwischen der Masse der ausgebeuteten Arbeiter und Bauern einerseits und der kleinen herrschenden Gruppe von Monopol-kapitalisten andererseits. Sie beschleunigen die günstigen Voraussetzungen für das „Heranreifen der Revolution“ zum „Sturz der Bourgeoisie“.
Zur Erreichung dieses Zieles ist nur die von der kommunistischen Partei geleitete Arbeiterklasse im Bündnis mit den Mittel-und Kleinbauern geeignet. Die einzige Ausnahme von dieser zwangsläufigen Entwicklung stellt die Sowjetunion dar, weil es dort seit der Mitte der dreißiger Jahre keine feindlichen Klassen mehr gibt und die große Mehrheit der einst unterdrückten den Staat leitet. Dort haben die breiten Massen angeblichn zum erstenmal in der Geschichte Gelegenheit, „schöpferische Initiative“ zu entfalten und das von ihnen ersehnte Wirtschaftsund Sozialsystem zu errichten.
So stellt sich das Weltbild der Vergangenheit und Gegenwart dar, das unter Ausschaltung aller anderen Meinungen jedem sowjetischen Staatsangehörigen systematisch eingeprägt wird. Die Ausschaltung aller anderen Meinungen über das „richtige“ Weltbild in der Öffentlichkeit geschieht in der Weise, daß Meinungen dieser Art keine Zeitschrift, keine Zeitung, keine Rundfunkstation in der Sowjetunion veröffentlichen darf. Die fast hermetische Abschließung der Bevölkerung der Sowjetunion von allen geistigen Einflüssen der nichtkommunistischen Welt dient dazu, die von der KP-Führung seit Jahrzehnten« beharrlich wiederholte Lehre über den Kapitalismus nicht von den Zweifeln der Belehrten zersetzen zu lassen. Es spielt für diese auch nach Stalins Tod immer wieder vorgetragene Lehre offenbar keine Rolle, welche weitgehenden wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen gerade in den großen und kleinen Industriestaaten des Westens während der letzten vier Jahrzehnte stattgefunden haben.
Das sowjetische Weltbild von der Vergangenheit und Gegenwart wird durch ein anzustrebendes Zukunftsbild ergänzt. In diesem Bild fehlen Klassenkämpfe, Ausbeutung, Elend, Krieg. An ihre Stelle tritt die strahlende Harmonie aller Menschen und Völker mit der ersten Etappe eines Sozialismus nach sowjetischem Muster in der ganzen Welt, dem sich später die Etappe des Kommunismus anschließt. Mit dem Ende des letzten kapitalistischen Staates fällt nach sowjetischer Darstellung auch die Notwendigkeit weg, einen Sowjetstaat und eine kommunistische Partei aufrechtzuerhalten. >
II. Das Ziel der KPdSU, die Welt nach sowjetischem Vorbild umzugestalten
Die in der Sowjetunion durchgeführten Maßnahmen seit 1917 werden nur als Teil der geplanten Umgestaltung der Welt aufgefaßt. Der Begriff „Weltrevolution“ ist daher nicht in dem Sinne aufzufassen, als handelte es sich nur um eine Machtergreifung durch die Kommunistische Partei zu einem) zukünftigen bestimmten Zeitpunkt. Er'beschränkt sich auch nicht auf eine kommunistische Machtergreifung, von der nacheinander allmählich, möglicherweise in Jahrzehnten, alle nichtkommunistischen Staaten betroffen werden sollen. Vielmehr umfaßt der Begriff der Weltrevolution neben der Phase der Machtergreifung durch die von Moskau gelenkten kommunistischen Parteien in de. einzelnen Staaten auch die dann folgende, sehr lange Phase der wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Umgestaltung nach dem sowjetischen Vorbild.
Nicht wenige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in den dreißiger Jahren und dann besonders während des zweiten Weltkrieges haben die Ansicht vertreten, daß die Sowjetunion die Weltrevolution als Ziel in Wirklichkeit nicht mehr verfolge. Ein Prüfstein für diese These war das Verhalten der Sowjetunion in Besatzungsgebieten, z. B. in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn. In den ersten zwei bis drei Jahren ab 1. 945 schien es, als wären die in jenen Staaten ergriffenen Maßnahmen auf Ziele gerichtet, die sich von den in der Sowjetunion erreichten und erstrebten Zielen erheblich unterschieden. Dann aber, ab 1948, erwies sich das „Andere“ nur als ein anderer Weg zu denselben wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Zielen, wie sie in der Sowjetunion von Anfang an verfolgt wurden. Die Tschechoslowakei, seit Februar 1948 unter kommunistischer Herrschaft, versuchte, in dieser Hinsicht schnell, nachzuholen, was sich in den anderen Ostblockstaaten inzwischen vollzogen hatte. Audi in der kommunistischen Volksrepublik China deutete sich in der Politik gegenüber den Bauern und Gewerbetreibenden zunächst ein Kurs an, der auf andere als sowjetische Ziele gerichtet zu sein schien. Seit 1951 jedoch wurde es von Jahr zu Jahr deutlicher, daß es sich nur um ein anderes taktisches Verfahren zur reibungsloseren Erreichung der Ziele nach sowjetischem Vorbild handeln sollte.
Die Dringlichkeit der Weltrevolution als unmittelbarer Bestimmungsfaktor für die Innen-und Außenpolitik der Sowjetunion hat sich im Laufe der Zeit nach 1917 verändert. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution herrschte innerhalb der kommunistischen Parteiführung die Meinung vor, daß die Festigung der Macht der Kommunisten in Rußland die kommunistische Machtergreifung zumindest in den wichtigen Industrieländern Europas und Amerikas voraussetzt. Als alle dafür unternommenen Versuche in den Jahren 1917— 1921 mißlangen, setzte sich allmählich und insbesondere in den Jahren 1924/25 ein neuer Standpunkt unter dem entscheidenden Einfluß von Stalin durch. Demnach sollte in Rußland mit der zweiten Phase der Revolution, dem Aufbau des sozialistischen Wirtschaftssystems, begonnen werden, ohne auf die kommunistische Machtergreifung in den großen Industriestaaten des Westens zu warten. Während Stalins Gegner in der Partei (z. B. Trotzki, Kamenjew, Sinowjew) dies ohne die vorherige kommunistische Machtergreifung zumindest in den erwähnten Staaten für aussichtslos hielten, war Stalin gerade der gegenteiligen Ansicht. Nach ihm war der Aufbau des sozialistischen Wirtschaftssystems Hand in Hand mit einer starken Industrialisierung in Rußland ohne den vorangehenden „Sturz der Bourgeoisie“ in den westlichen Industrieländern nicht nur möglich, sondern im Hinblick auf die dann wirkungsvollere Durchführung der Weltrevolution sogar zweckmäßig.
In diesem Sinne faßte der XIV. Parteikongreß im Dezember 1925 Beschlüsse. Darin wurde das Zentralkomitee der KPdSU beauftragt, sich von „folgenden grundlegenden Leitsätzen“ leiten zu lassen, z. B.:
,, c) einen wirtsdiaftlichen Aufbau unter dein Gesichtspunkt durchzuführen, daß die UdSSR von einem Land, das Maschinen und Betriebseinrichtungen einführt, in ein Land, das Maschinen und Betriebseinrichtungen erzeugt, verwandelt wird, damit auf diese W eise die UdSSR in der Lage einer kapitalistischen Einkreisung unter keinem Umständen in ein wirtschaftliches Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaft verwandelt werden kann, sondern eine selbständige wirtschaftliche Einheit darstellt, die auf sozialistische Weise aufgebaut wird und fähig ist, dank ihrem wirtschaftlichen Wachstum, als mächtiges Mittel in der Revolutionierung der Arbeiter aller Länder und der geknechteten Völker der Kolonien und Halbkolonien zu dienen."
Dies ist ein Beispiel dafür, wie ein für den wirtschaftlichen Aufbau der Sowjetunion aufgestelltes Ziel unter dem Gesichtspunkt der Weltrevolution als Ziel zu einem Mittel wird, um die materiellen Voraussetzungen für die Weltrevolution zu verbessern.
Im folgenden werden einige sowjetische Äußerungen über die Weltrevolution aus den Jahren 1917 bis 195 5 abgedruckt. Die Klarheit der Formulierung ließ in den dreißiger Jahren nach, und an ihre Stelle traten Andeutungen, die im Inhalt zwar auf das alte Ziel hinauslaufen, ohne aber den Ausdruck „Weltrevolution“ zu benutzen. Bemerkenswert ist, daß auch nach Stalins Tod die früheren Auffassungen wiederholt werden
Lenin 1917 „Wir aber wollen die Welt umgestalten. Wir wollen Schluß machen mit dem imperialistischen Weltkrieg, in den hunderte Millionen von Menschen hineingezogen, in dem die Interessen von Hunderten und aber Hunderten Milliarden Kapital verstrickt sind, der durch einen wirklich demokratischen Frieden ohne die gewaltigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit — ohne die proletarische Revolution nicht beendet werden kann“. (W. I. Lenin:
„Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, veröffentlicht . im September 1917).
Lenin 1922 „Ich denke, es wird keine Übertreibung sein, wenn ich noch ein-, mal sage, daß unsere Dummheiten noch nichts sind im Vergleich mit den Dummheiten, die die kapitalistischen Staaten, die kapitalistische Welt und die II. Internationale alle miteinander machen. Deshalb meine ich, daß die Perspektiven der Weltrevolution — das Thema, das ich kurz berühren soll — günstig sind. Und unter einer bestimmten Bedingung, glaube ich, werden sie noch besser werden Ich habe die Überzeugung, daß wir da nicht nur den russischen, sondern auch den ausländischen Genossen sagen müssen, daß in der jetzt anbrechenden Periode das Lernen das Wichtigste ist. Wir lernen im allgemeinen Sinne. Sie aber müssen im speziellen Sinne lernen, damit sie wirklich die Organisation, den Aufbau, die Methode und den Inhalt der revolutionären Arbeit erfassen. Wenn das geschieht, so werden, davon bin ich überzeugt, die Perspektiven der Weltrevolution nicht nur gut, sondern ausgezeichnet sein.“ (W. I. Lenin: „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution“, Bericht vor dem IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale am 13. November 1922).
Stalin 1924 „Es ist am wahrscheinlichsten, daß im Verlaufe der Entwicklung der Weltrevolution neben den Zentren des Imperialismus in Form einzelner kapitalistischer Länder und neben dem System dieser Länder in der ganzen Welt Zentren des Sozialismus in Form einzelner Sowjetländer und ein System dieser Zentren in der ganzen Welt entstehen werden, wobei der Kampf zwischen diesen beiden Systemen die Geschichte der Entfaltung der Weltrevolution ausfüllen wird..............
Die weltgeschichtliche Bedeutung der Oktoberrevolution besteht nicht nur darin, daß sie der großen Initiative eines einzelnen Landes bei der Durchbrechung des Systems des Imperialismus entsprang und die erste Heimstätte des Sozialismus im Ozean der imperialistischen Länder ist, sondern auch darin, daß sie die erste Etappe der Welt-revolution und eine mächtige Basis für ihre Weiterentfaltung bildet“. (J. W. Stalin: „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten", Aufsatz, geschrieben am 17. Dezember 1924).
Stalin 1931 „Was aber ist erforderlich zum Erfolg? Die Liquidierung unserer Rückständigkeit, die Entfaltung eines hohen bolschewistischen Aufbautempos. Wir müssen so vorwärtsschreiten, daß die Arbeiterklasse der ganzen Welt, auf uns blickend, sagen kann: Hier ist sie, meine Vorhut, hier ist sie, meine Stoßbrigade, hier ist sie, meine Arbeiter-macht, hier ist es, mein Vaterland — sie machen ihr Werk, unser Werk, gut, unterstützen wir sie gegen die Kapitalisten und entfachen wir die Sache der Weltrevolution“. (J. W. Stalin: „Über die Aufgaben der Wirtschaft", Rede, gehalten am 4. Februar 1931).
Stalin 1934 . „Die Arbeiter im Westen sagen, daß die Arbeiterklasse der Sowjetunion die Stoßbrigade des Weltproletariats ist. Das ist sehr gut. Das bedeutet, daß das Weltproletariat auch in Zukunft bereit ist, die Arbeiterklasse der Sowjetunion nach Kräften und Möglichkeiten zu unterstützen. Aber das erlegt uns große Pflichten auf. Das bedeutet, daß wir durch unsere Arbeit den Ehrennamen der Stoß-brigade der Proletarier aller Länder rechtfertigen müssen. Das verpflichtet uns dazu, besser zu arbeiten und besser zu kämpfen für den endgültigen Sieg des Sozialismus in allen Ländern“. (J. W. Stalin: „Rechenschaftsbericht an den XVII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B)“, vom 26. Januar 1934).
Stalin 1952 „Nach der Ergreifung der Macht durch unsere Partei im Jahre 1917 und nachdem unsere Partei reale Maßnahmen zur Liquidierung des Joches der Kapitalisten und Gutsbesitzer getroffen hatte, gaben ihr die Vertreter der Bruderparteien, begeistert von der Kühnheit und den Erfolgen unserer Partei, den Namen „Stoßbrigade“ der revolutionären Bewegung und der Arbeiterbewegung der Welt. Damit gaben sie der Hoffnung Ausdruck, daß die Erfolge der „Stoßbrigade“ die Lage der unter dem Joch des Kapitalismus schmachtenden Völker erleichtern würden. Ich denke, daß unsere Partei diese Hoffnungen gerechtfertigt hat, besonders in der Zeit des zweiten Weltkrieges, als die Sowjetunion die deutsche und japanische faschistische Tyrannei zerschmetterte und die Völker Europas und Asiens von der Gefahr der faschistischen Sklaverei befreite (Stürmischer Beifall).
Natürlich war es sehr schwer, diese ehrenvolle Aufgabe zu erfüllen, solange es eine einzige Stoßbrigade gab und solange sie diese Aufgabe des Voranschreitens fast in Einsamkeit erfüllen mußte. Aber das war einmal. Jetzt ist es ganz anders. Jetzt, da von China und Korea bis zur Tschechoslowakei und Ungarn neue „Stoßbrigaden" in Gestalt der volksdemokratischen Länder auf den Plan getreten sind, jetzt ist der Kampf für unsere Partei leichter geworden, und die Arbeit geht flotter voran“. (Aus J. W. Stalins Rede auf der Schlußsitzung des XIX. Parteikongresses im Oktober 1952).
Chruschtschow 1955 „Dadurch, daß sich die Völker vieler Länder Europas und Asiens von der wissenschaftlichen Theorie des . Marxismus-Leninismus leiten lassen, stürzten sie die Herrschaft der Ausbeuter, nahmen die Macht in ihre Hände und beschreiten überzeugt den Weg des Aufbaus des Sozialismus. Unter der Fahne des Marxismus-Leninismus kämpfen Hunderte von Millionen Menschen in der ganzen Welt.
In diesen Tagen gedenkt die ganze fortschrittliche Menschheit feierlich des fünfundachtzigsten Geburtstages Wladimir Iljitsch Lenins, des genialen Revolutionärs und Theoretikers des Marxismus, des großen Führers und Lehrers der Werktätigen aller Länder.......... In diesem Zusammenhang kann man nicht umhin, sich der wahrhaft prophetischen Worte Lenins zu erinnern, die von ihm in den ersten Jahren der Sowjetmacht ausgesprochen wurden: Die erste bolschewistische Revolution riß aus dem imperialistischen Krieg, aus der imperialistischen Welt das erste Hundert von Millionen Menchen der Erde heraus. Die folgenden werden aus solchen Kriegen und aus einer solchen Welt die ganze Menschheit herausreißen’." (Aus einer Rede des Ersten Sekretärs der KPdSU, N. S. Chruschtschow, in Warschau am 20. April 1955).
Molotow 1955 „Die Erfolge der Länder des neuen, volksdemokratischen Typus, die gesichert sind durch die Anstrengungen der von der Knechtschaft des Kapitals sich befreit habenden Völker, fußen sowohl auf dem Sieg der Sowjetischen Armee über die faschistischen Angreifer als auch auf der unveränderten Unterstützung durch die Sowjetunion in den von ihnen durchzuführenden politischen, ökonomischen und sozialen Umgestaltungen in Richtung zum Sozialismus..............
Kann man verneinen, daß im Vergleich zur Vorkriegszeit die Positionen des Kapitalismus, der kapitalistischen Klassen ernstlich geschwächt worden sind? Nein, man kann es nicht. Es ist auch offensichtlich, daß die Veränderungen zum Besten des Sozialismus, zum Besten der demokratischen und sozialistischen Kräfte stattfanden“. (Aus der Rede des Außenministers Molotow vor dem Obersten Sowjet der LIdSSR am 8. Februar 1955).
Die Moskauer „Prawda“ vom 14. 4. 1955 „W. I. Lenin baute von Anfang an die Kommunistische Partei als eine Partei des konsequenten proletarischen Internationalismus auf. Unsere Partei erfüllt ihre internationalen Verpflichtungen mit Ehre auf dem Wege ihrer ganzen heroischen Geschichte. Der Bol schewismus, so wies Lenin darauf hin, ist das Vorbild der Taktik für alle.
Mit dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution nahm die internationale Rolle der Kommunistischen Partei besonders zu. Die Proletarier aller Länder räumten ihr die Ehrenbezeichnung einer „Stoßbrigade“ der weltbefreienden Bewegung ein. Sie erwies und erweist Hilfe den Arbeitern und kommunistischen Parteien anderer Länder, die für den Frieden und die Freiheit der Völker, für die Demokratie und den Sozialismus kämpfen.
Zugleich genießt unsere Partei immer die Llnterstützung der Bruderparteien. Die internationalen Beziehungen der Arbeiterklasse der LIdSSR zu den Arbeitern anderer Länder, der brüderliche Bund des sowjetischen Volkes mit den Werktätigen aller Länder sind eine der Quellen der Macht unseres Landes.“
III. Die Anwendung von Gewalt
Je nachdem, mit welchen Mitteln die Führung der KPdSU die in der Sowjetunion erreichte Umgestaltung fast aller Lebensbereiche auch in der übrigen Welt erreichen will, kann die Einstellung der nichtkommunistischen Staaten zur Sowjetunion sich verschieden auswirken. Man könnte z. B.den Wunsch der Sowjetunion als berechtigt ansehen, ihre geschaffenen Einrichtungen in den anderen Staaten als nachahmenswert zu empfehlen, wenn es sich nur um ein geistiges Ringen von verschiedenen Überzeugungen handelte. Wenn dann aus wirklich freien Wahlen eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem oder jenem nichtkommunistischen Staat die Übernahme der sowjetischen Einrichtungen wünscht, so wären etwaige Vorwürfe gegen die Sowjetunion wegen ihres weltrevolutionären Zieles nicht am Platze. Es gibt auch zahlreiche sowjetische Erklärungen, die nur von einem friedlichen Wettbewerb zwischen zwei verschiedenen Systemen der Gesellschaft sprechen.
Tatsächlich aber gibt das bolschewistische Rußland schon bald nach der Oktoberrevolution von 1917 zahlreiche Beispiele für die Anwendung von Gewalt. Dies gilt sowohl für die Durchführung der planmäßigen Umgestaltung Rußlands als auch für die Versuche, die Um-
gestaltung Rußlands im Weltmaßstab zu wiederholen. Die Anwendung von Gewalt in der Form des Aufstandes, Terrors, Krieges, waren dabei keine Zufallserscheinungen. Sie waren das Ergebnis von Überlegungen z. B. Lenins und Stalins, mit allen Mitteln das Ziel der wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Umgestaltung in Rußland und den anderen Staaten zu erreichen. So heißt es z. B. in Lenins Schrift: „Der , linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (veröffentlicht im Juni 1920):
„Selbstverständlich lehnten wir den individnellen Terror nur ai..
Gründen der Zwed^vnäßigkeit ab; Leute aber, die es fertigbrächten, den Terror der grossen Französiscl-ien Revolution oder überhaupt den Terror der siegreichen und von der Bourgeoisie der ganzen Weit bedrängten revolutionären Partei , prinzipiell‘ zu verurteilen, solche Leute hat bereits Plechanow in den Jahren 1900— 1903, als er Marxist und Revolutionär war, dem Spott und der Verachtung preisgegeben ............
Aber gleichzeitig sieht die Bourgeoisie fast nur die eine Seite des Bolschewismus: Aufstand, Gewalt, Terror-, die Bourgeoisie ist deshalb bemüht, sich zur Abwehr und zum Widerstand insbesondere auf diesem Gebiet vorzubereiten.“
Beispiele für die Anwendung von Gewalt in Rußland waren nach der Oktoberrevolution u. a. das Auseinanderjagen der vom Volk gewählten Nationalversammlung im Januar 1918, die weitgehende physische Vernichtung des Adels, der Großgrundbesitzer, der Großindustriellen 1918, der Großbauern 1929/1932, die Zusammenfassung der rd. 20 Millionen mittel-und kleinbäuerlichen Bauernwirtschaften in Kollektivwirtschaften 1929/36, die blutige Phase der sogenannten Säuberung der Partei und des öffentlichen Lebens nach der Ermordung des Leningrader Parteisekretärs Kirow 1935/38. Beispiele für die Anwendung von Gewalt der kommunistischen Parteien innerhalb von nicht-kommunistischen Ländern sind u. a. die kommunistischen Aufstände in Deutschland 1919, 1920, 1921, 1923, in Ungarn 1919, in Bulgarien 1944, in der Tschechoslowakei 1948.
Auch der Krieg gegen nichtkommunistische Staaten wird durchaus als erlaubtes Mittel zur Durchführung der Weltrevolution angesehen, wenn er die Existenz der Sowjetunion nicht gefährdet. In diesem Zusammenhang erhielt die sowjetische Wehrmacht eine zusätzlich wichtige Aufgabe. Sie hat nicht nur die Sowjetunion gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Sie dient gleichzeitig als Instrument, den zumeist nur von Minderheiten gestützten kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion den notwendigen Schutz für eine ungehinderte Errichtung und Festigung der Alleinherrschaft dieser Parteien nach Moskauer Richtlinien zu bringen.
Von den sowjetischen Äußerungen über die Zweckmäßigkeit von Kriegen und über die dabei sich ergebenden Aufgaben der sowjetischen Wehrmacht werden nur einige Beispiele angeführt
Lenin 1919 „Wir haben stets gesagt: , Es gibt Kriege und Kriege.'Wir verurteilten den imperialistischen Krieg, aber wir lehnten nicht den Krieg schlechthin ab. Jene Leute, die uns des Militarismus zu beschuldigen versuchten, haben sich verrannt. Und als ich den Bericht über die Berner Konferenz der Gelben las, auf der Kautsky den Ausdruck gebrauchte, daß es bei den Bolschewiki nicht Sozialismus, sondern Militarismus gebe, da lachte ich und zuckte die Achseln. Hat es denn in der Geschichte auch nur eine große Revolution gegeben, die nicht mit Krieg verbunden gewesen wäre? Natürlich nicht! Wir leben nicht nur in einem Staat, sondern in einem System von Staaten, und das Bestehen der Sowjetrepublik neben imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird der eine oder andere siegen. Und bis es zu diesem Ende kommt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das bedeutet, daß die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es nur herrschen will und herrschen wird, dies auch durch eine militärische Organisation beweisen muß.“ (W. I.
Lenin: „Bericht der Zentralkomitees der kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki)" auf dem VIII. Parteitag am 18. März 1918).
Stalin 1925 „. . . in Verbindung damit, daß die Voraussetzungen für den Krieg heranreifen und Krieg entstehen kann, natürlich nicht morgen und nicht übermorgen, aber in einigen Jahren, unvermeidlicherweise, in Verbindung damit, daß der Krieg nicht umhin kann, die innere revolutionäre Krise sowohl im Osten als auch im Westen zu verschärfen — in Verbindung damit muß sich das Problem erheben, zu allem bereit zu sein. Ich vermute, daß die Kräfte der revolutionären Bewegung im Westen groß sind. Sie wachsen, sie werden wachsen; sie können dazu führen, daß sie irgendwo die Bourgeosie stürzen. So ist es. Aber es wird ihnen schwer sein, sich zu halten. Das besagen klar die Beispiele mit den Randstaaten, z. B. mit Estland, Lettland. Die Frage unserer Armee, ihrer Macht, ihrer Bereitschaft erhebt sich verpflichtend vor uns als eine brennende Frage angesichts der Verwicklungen in den uns umgebenden Ländern.
Das bedeutet nicht, daß wir bei einer solchen Lage obligatorisch gegen irgendjemanden aktiv auftreten müssen. Das ist nicht richtig. Wenn irgendjemandem eine solche Bemerkung entschlüpft, so ist das nicht richtig. Unsere Fahne bleibt wie früher die Fahne des Friedens. Aber wenn der Krieg beginnt, so werden wir nicht die Hände in den Schoß legen müssen — wir werden auftreten müssen, aber als letzte auftreten. Und wir werden auftreten, um das entscheidende Gewicht auf die Wagschale zu werfen, das Gewicht
Daraus folgt: zu allem bereit zu sein, unsere Armee vorzubereiten, sie mit Schuhen und Kleidung zu versehen, zu unterrichten, die Technik zu verbessern, die Chemie und das Flugwesen zu verbessern und unsere Rote Armee überhaupt auf die gebührende Höhe zu heben. Das verlangt von uns die internationale Lage.
Deshalb denke ich, daß wir den Forderungen der Militärverwaltung entschieden und unwiderruflich entsprechen sollen“. (Aus einer Rede vor dem Zentralkomitee vom 19. 1. 25, zum ersten Male nach 1945 veröffentlicht).
Stalin 1930 „Übrigens sind wir nicht gegen jeden Krieg. Wir sind gegen
„Angesichts des XVII. Parteitages bekundet die Rote Armee ihre unbedingte Treue zur Sache des Sozialismus, ihre Kampfbereitschaft und ihre Bereitschaft, in jedem Augenblick und gegen jeden Feind auszuziehen, um die sozialistische Heimat siegreich zu schützen. Lenin hat der Arbeiterklasse ständig vor Augen gehalten, daß große Fragen des Massenkampfes letzten Endes nur durch Waffengewalt entschieden werden. Die ganze Geschichte der Roten Armee von dem Tage ihrer Entstehung an ist unbedingt verbunden mit dem Namen des großen revolutionären Strategen, des Organisators, des Mannes mit dem stählernen Willen, mit dem verehrten Führer Stalin.“
Die Klarheit der sowjetischen Bekenntnisse zum Krieg als ein erlaubtes Mittel zum Vorantreiben der Weltrevolution wird im Laufe der dreißiger Jahre und danach von verschwommenen, in sich oft widerspruchsvollen Andeutungen sowjetischer Vertreter abgelöst. War dies ein Zeichen für den Verzicht auf das weitere Vorantreiben der Weltrevolution mit den Mitteln der Gewalt, z. B. mit dem Einsatz der sowjetischen Wehrmacht für diese Aufgabe? Darüber klärt ein Geheimschreiben des Zentralkomitees der KPdSU an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Jugoslawiens vom 4.
„Es muß auch betont werden, daß die Verdienste der französischen und italienisclten konrntunistischen Parteien um die Revolution nicht geringer, sondern größer sind als diejenigen der KP]. Wohl haben die französischen und italienischen Parteien im Augenblick weniger Erfolg als die KP], aber dies läßt sich nicht aus dem Sondercharakter der KP] erklären, sondern daraus, daß nach d‘ er Vernichtung des Generalstabs der jugoslawischen Partisanen durch deutsche Fallschirmtruppen, als die Befreiungsbewegung des Volkes in Jugoslawien eine Krise durchmachte, die Sowjetunion den Völkern ]ugoslawiens zu Hilfe kam, den Widerstand der deutschen Besatzungsmacht brach und Belgrad befreite und damit die Voraussetzungen schuf, dank welchen die Kommunistische Partei Jugoslawiens ans Ruder kommen konnte. Unglücklicherweise konnte die Sowjetarmee den französischen und italienischen kommunistischen Parteien nicht die gleiche Hilfe angedeihen lassen.“
Das bedeutet, daß der Gedanke an einen kommunistischen Umsturz mit Hilfe der sowjetischen Wehrmacht in Westeuropa auch noch 1948 lebendig war. Wenn man ihn nicht verwirklichte, so sicher nicht aus Abscheu von der Anwendung der Gewalt. Der Brief ist eines der wenigen Dokumente nach 1940, die das Festhalten an der Weltrevolution als Ziel und den dafür vorgesehenen Einsatz der sowjetischen Wehrmacht erkennen lassen.
Zu diesen sowjetischen Erklärungen über die Zweckmäßigkeit von Kriegen für die Fortsetzung der Weltrevolution kommt ein Fülle von entsprechenden Tatsachen hinzu.
Die Anwendung von Gewalt in der Form eines Aggressionskrieges zeigte sich zuerst am Beispiel des militärischen Einmarsches in Georgien, Armenien und Aserbeidshan 1921, Gebieten, die entsprechend dem von Lenin verkündeten Lostrennungsrecht von Rußland ihre Unabhängigkeit 1918 erklärt hatten. Andere Beispiele dafür sind der Krieg der Sowjetunion gegen Polen 1939, der Krieg gegen Finnland 1939/40, der Krieg gegen Bulgarien 1944 5) der Krieg gegen Japan 1945.
Wie die Entwicklung während des zweiten Weltkrieges beweist, hat die Sowjetunion auch im Falle eines erfolgreichen Verteidigungskrieges sich nicht damit begnügt, von dem geschlagenen Gegner territoriale Entschädigungen und Reparationen zu verlangen. Die Anwesenheit der sowjetischen Wehrmacht wurde benutzt, um gewaltsam die Schwierigkeiten für die Errichtung und Festigung der kommunistischen Alleinherrschaft in den besetzten Gebieten zu beseitigen und dann mit den wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Umgestaltungen nach sowjetischem Vorbild zu beginnen. Beispiele dafür sind Rumänien, Ungarn, die Sowjetzone Deutschlands. Eine dritte Form des Einsatzes der sowjetischen Wehrmacht für den kommunistischen Umsturz ergab sich aus den anderen Staaten praktisch aufgezwungenen Schutzverträgen der Sowjetunion. Darin war u. a. die Abtretung von Stützpunkten auf dem Territorium nichtkommunisti-scher Staaten für Garnisonen der sowjetischen Wehrmacht vorgesehen. In der Praxis erwiesen sich diese Stützpunkte als Ausgangspunkte für die stille Besetzung des ganzen fremden Staatsgebiets, an die sich der kommunistische Umsturz mit den erwähnten Folgen anschloß. Beispiele dafür sind die sowjetischen Schutzverträge mit Litauen, Lettland und Estland im Jahre 1939. Sie endeten im Juli 1940 mit der Bitte der unter dem Schutz der sowjetischen Wehrmacht an die Macht gelangten kommunistischen Regierungen Litauens, Lettlands unnd Estlands an die Sowjetunion, diese Gebiete dem Territorium der Sowjetunion anzuschließen. Erklärungen und Taten Lenins und Stalins lassen keinen Zweifel darüber, daß beide die Anwendung von Gewalt in jeder Form, um die Weltrevolution zu fördern, befürworteten. Wesentlich schwieriger läßt sich die Frage beantworten, ob die Nachfolger Lenins und Stalins eine ähnliche Auffassung haben. Wie wohl kaum zu bezweifeln ist, lassen sie die durch Gewalt geschaffenen inneren Verhältnisse in der Sowjetunion und den mit ihr verbundenen Ostblockstaaten im wesentlichen unverändert. Dies deutet praktisch auf ein stillschweigendes Einverständnis mit den Gewaltmaßnahmen Lenins und Stalins hin. Der 195. 3 einsetzende „Neue Kurs“ erweist sich mehr und mehr als eine taktische Pause, um nachher die von Stalin eingeleitete Entwicklung in den so-genannten Volksdemokratien Ost-und Südosteuropas mit frischen Kräften fortzusetzen. In LIngarn und in der Tschechoslowakei wurde bereits die Absicht 'der angekündigt, die Zusammenfassung von bäuerlichen Privatwirtschaften in vom Staat beherrschte Kollektivwirtschaften erneut fortzusetzen. _ Trotzdem ist es denkbar, daß die sowjetische Staatsführung auf die schärfste Form der Gewalt, den Krieg, verzichtet, falls sie nicht durch einen anderen Staat angegriffen wird. Der in der westlichen Welt stark verbreitete Gedanke einer unausweichlichen Vernichtung des Angreifers und des Angegriffenen als Folge der modernen Waffen legt es nahe, von der Sowjetunion einen echten Verzicht auf den Aggressionskrieg zu erwarten. Ein ähnlicher Gedankenschluß findet sich in sowjetischen Erklärungen durchweg nicht. Dort heißt es im Gegenteil, daß im Falle eines dritten Weltkrieges nicht die Sowjetunion, sondern der gesamte Kapitalismus vernichtet werden würde. Ist das Überzeugung, ist das eine Verhüllung der eigenen Furcht — wer außerhalb des Kreml könnte es mit Sicherheit sagen? Ein weiteres Zeichen, das zur Wachsamkeit ermahnt, sind die zahlreichen schriftlichen und mündlichen Bekenntnisse der Nachfolger Stalins zum Leninismus. Diese Lehre besteht zum großen Teil aus taktischen Grundsätzen für die Machteroberung. Darunter spielt die Gewalt einschließlich des Aggressionskrieges eine große Rolle. Daher betrachtet der Anhänger des Leninismus den Aggressionskrieg immer als ein Mittel neben anderen Mitteln und wird sich bei der Wahl der Mittel allein von der Zweckmäßigkeit bestimmen lassen. Es wäre nicht das erste Mal, daß westliche Vorstellungen von der Zweckmäßigkeit eines Mittels von sowjetischen Vorstellungen darüber abweichen. Wie dem auch sei, die erwähnten sowjetischen Erklärungen sind ein Grund mehr, nicht nur die Weltrevolution als ein nach wie vor bestehendes Ziel der kommunistischen Parteiführung, sondern auch alle dabei bisher angewandten Formen der Gewalt ernst zu nehmen.
Niemand außerhalb der kommunistischen Parteiführung in Moskau ist wohl imstande, den endgültigen Verzicht der Sowjetunion auf den Aggressionskrieg (auch in der Form des sogenannten revolutionären Befreiungskrieges) von deklamatorischen Äußerungen genau zu trennen. Wenn daher die Frage nach einem zukünftigen Agressionskrieg der Sowjetunion unter international günstigen Voraussetzungen hier keine vollständig zweifelsfreie Klärung finden kann, so bleibt die welt-revolutionäre Aufgabe der sowjetischen Wehrmacht zumindest für den Fall eines erfolgreichen Verteidigungskrieges davon unberührt. Man kann wohl kaum anders den Standpunkt Marschall Konjews deuten, der aus seiner Rede anläßlich der zehnjährigen Siegesfeier in Anwesenheit der kommunistischen Parteiführung im Moskauer Bolschoi-Theater am 8. Mai 195 5 hervorgeht:
„Die Sowjetarmee ist eine wirkliche Volksarmee, eine Armee der Brüderschaft und Freundschaft zwischen den Völkern unseres Landes, eine Armee, die durchdrungen ist von den edlen Ideen des proletarischen Internationalismus.
Besonders stark zeigten sich diese Eigenschaften der Sowjetarmee in den Jahren des Groflen Vaterländischen Krieges, als sie, ihre große Mission erfüllend, die Völker Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Rumäniens, Österreichs und das nördliche Norwegen vom faschistischen Joch befreite...................
Als Ergebnis der Siege der Sowjetarmee erfüllte sich der ewige Traum dieser Länder von der Freiheit und von einem neuen giüd? -
lichen Leben. Die Alehrheit der Länder, die von der faschistisdren Sklaverei befreit wurden, haben jetzt fest den Weg der demokratischen Entwicklung und des Aufbaus des Sozialismus besdiritten.
B. Die Koexistenz mit nichtkommunistischen Staaten
Manchem Leser der vorangehenden Ausführungen wird es als widerspruchsvoll erscheinen, daß die KPdSU bei gleichzeitigem Festhalten an der Weltrevolution als Ziel fast während der ganzen Zeit ihres Bestehens die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanderbestehens zwischen der Sowjetunion und den nichtkommunistischen Staaten behauptet. Ob ein solcher Widerspruch besteht, hängt davon ab, von welchen Absichten sich die Sowjetunion bei ihren Erklärungen über die hoffnungsvollen Aussichten einer friedlichen Koexistenz leiten läßt. Die Nachfolger Stalins unterstreichen den Friedenswillen der Sowjetunion mit Hinweisen auf Prinzipien Lenins und Stalins über die Möglichkeit eines langen Bestehens der verschiedenen Gesellschaftssysteme nebeneinander, ohne diese Prinzipien an Hand der Lehren und Handlungen Lenins und Stalins eingehend zu erläutern. Das muß an dieser Stelle nachgeholt werden. Dann erst läßt sich ein Urteil über die Beweiskräftigkeit der Prinzipien Lenins und Stalins für den sowjetischen Friedenswillen bilden.
I. Die Gründe für den Abschluß von Kompromissen mit nichtkommunistischen Staaten
So sehr auch Lenin und Stalin von der Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den „kapitalistischen Staaten“ auf längere Sicht überzeugt waren
Lenins Gedanken über die Zweckmäßigkeit von Kompromissen zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten wurden zu einem wichtigen Bestandteil seiner Theorie. Stalin hat sie später übernommen, und sie erscheinen wiederholt in seinen theoretischen Darlegungen. Beide — Lenin und Stalin — haben entsprechend ihren Theorien auf diesem Gebiet gehandelt.
In den Schriften Lenins und Stalins werden an verschiedenen Stellen immer wieder die Gründe genannt, die unter gewissen Umständen statt der Anwendung von Gewalt und der Taktik des Rückzuges gegenüber den nichtkommunistischen Gruppen bzw. Staaten den Kompromiß als Mittel empfehlet!. So würde z. B. die Taktik des Rückzuges gegenüber einem überlegenen Gegner für den Fall nicht ausreichen, daß der Gegner immer wieder nachstößt und die Gefahr besteht, daß die Kommunistische Partei bzw.der Sowjetstaat vernichtet wird. In diesem Fall ist statt des weiteren Rückzuges ein Kompromiß mit dem überlegenen und rücksichtslos nachstoßenden Gegner zu empfehlen. Dies ist ein Kompromiß zum Schutze vor der Vernichtung der eigenen Existenz. Das wichtigste Beispiel für einen solchen Kompromiß ist der Friedensvertrag von Brest-Litowsk (1918). Alle Kräfte mußte Lenin aufbieten, um seinen Genossen im Zentralkomitee und auf dem Parteitag seinen Standpunkt begreiflich zu machen, daß es besser wäre, die sehr harten Friedensbedingungen von Brest-Litowsk anzunehmen, als im revolutionären Krieg gegen die deutschen Armeen unterzugehen. Lenin hat den Wert selbst eines sehr kostspieligen Kompromisses zum Schutze vor der Vernichtung der eigenen Existenz für den Sowjetstaat mit folgendem Bild zu veranschaulichen versucht:
„Stellen Sie sich, vor, daß Ihr Automobil von bewaffneten Banditen angehalten worden ist, Sie geben ihnen Ihr Geld, Ihren Paß, Ihren Revolver, Ihr Auto. Sie werden von der unangenehmen Gesellsdtaft der Banditen erlöst. Das ist zweifellos ein Kompromiß. , Do ut des.'(Ich gebe, dir mein Geld, meine Waffe, meinen Wagen, . damit du, mir die Möglichkeit , gibst', mich wohlbehalten aus dem Staube zu machen.) Es dürfte aber schwer sein, einen Menschen aufzutreiben, der bei gesundem Versand einen soldten Kompromiß für prinzipiell unzulässig'oder aber die Person, die einen solchen Kompromiß geschlossen hat, für einen Komplicen der Banditen erklären würde (obgleich die Banditen, nadidem sie im Automobil Platz genommen hatten, den Wagen und die Waffe für weitere Raubüberfälle benutzen konnten). Linser Kompromiß mit den Banditen des deutsdien Imperialismus glidi einem solchen Kompromiß.“ (W. L Lenin: „Der , linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus“, veröffentlicht im Juni 1920.)
Auch wenn die Kommunistische Partei bzw.der Sowjetstaat sich nicht in einer so schwierigen Lage wie zur Zeit der Brest-Litowsker Verhandlungen befindet, sind für Lenin und Stalin Lagen denkbar die einen Kompromiß mit Nichtkommunisten nahelegen. Dies gilt besonders für den Kompromiß, der den Kommunisten die Ausnutzung von Gegensätzen zwischen nichtkommunistischen Gruppen bzw. Staaten erlaubt bzw. die Gegensätze zwischen ihnen verschärft. Je mehr die Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“ zunehmen, um so günstiger werden die Aussichten für ein weiteres Fortschreiten der Weltrevolution beurteilt. Der Krieg dieser Staaten untereinander erscheint unter diesem Gesichtspunkt als das wünschenswerteste Ergebnis. Lenin und Stalin kennzeichnen dieses Motiv für den Abschluß von Kompromissen mit nichtkommunistischen Organisationen u. a. wie folgt:
Lenin 1920 „Das Wesentliche in der Frage der Konzessionen vom politischen Standpunkt — und hier spielen politische als auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle —, das Wesentliche in der Frage der Konzessionen ist vom politischen Standpunkt jene Regel, die wir nicht nur theoretisch erfaßt, sondern auch praktisch angewandt haben und die für uns lange Zeit, bis zum endgültigen Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt, die Grundregel bleiben wird, nämlich: daß man die Gegensätze und Widersprüche zwischen zwei Kapitalismen, zwischen zwei Systemen kapitalistischer Staaten ausnutzen und sie gegeneinander hetzen muß . . .
Das Beispiel des Friedens von Brest-Litowsk hat uns viel gelehrt. Gegenwärtig stehen wir zwischen zwei Feinden. Wenn es unmöglich ist, sie beide zu besiegen, so müssen wir unsere Kräfte so gruppieren, daß die beiden miteinander in Streit geraten, denn wenn zwei Diebe sich in den Haaren liegen, so gewinnt der Ehrliche stets dabei. Sobald wir aber stark genug sein werden, um den gesamten Kapitalismus niederzuschlagen, werden wir ihn sofort am Kragen packen.“ (W. I. Lenin: „Rede in der Versammlung der Zellensekretäre der Moskauer Organisation der KPR (B)," vom 26. 11. 20.)
Stalin 1924 „Reserven der Revolution gibt es: direkte . . . indirekte: a) die Gegensätze und Konflikte zwischen den nichtproletarischen Klassen des eigenen Landes, die vom Proletariat ausgenutzt werden können, um den Gegner zu schwächen und die eigenen Reserven zu stärken; b) die Gegensätze, Konflikte und Kriege (z. B.der imperialistische Krieg) zwischen den dem proletarischen Staat feindlichen bürgerlichen Staaten, die vom Proletariat ausgenutzt werden können bei seiner Offensive oder beim Manövrieren im Falle eines erzwungenen Rückzuges. (J. W. Stalin: „Über die Grundlagen des Leninismus“, veröffentlicht im April 1924.)
Schließlich ist ein Kompromiß mit Nichtkommunisten auch dann zu empfehlen, wenn sich durch eine Zusammenarbeit beider Parteien die Aussichten verbessern, den nichtkommunistischen Partner im Endergebnis zu schwächen bzw. zu zersetzen. Lenin und Stalin äußerten sich über die Zweckmäßigkeit eines Kompromisses zur Schwächung bzw. Zersetzung des nichtkommunistischen Partners wie folgt:
Lenin 1920 „Aus alledem aber ergibt sich für die Vorhut des Proletariats, für seinen klassenbewußten Teil, für die Kommunistische Partei absolut unumgänglich die Notwendigkeit, zu lavieren, zu paktieren, Kompromisse mit verschiedenen proletarischen Gruppen, mit verschiedenen Parteien der Arbeiter und der kleinen Besitzer zu schließen. Es kommt nur darauf an, zu verstehen
Stalin 1924 „Es kommt offenbar nicht auf die Reformen oder Kompromisse und Verständigungen selbst an, sondern auf den Gebrauch, den man von den Reformen und Verständigungen macht.
Für den Reformisten ist die Reform alles, die revolutionäre Arbeit aber Nebensache, ein Unterhaltungsthema, ein Ablenkungsmittel. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer reformistischen Taktik, sofern eine bürgerliche Macht besteht, unvermeidlich in ein Werkzeug zur Festigung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Zersetzung der Revolution.
(Für den Revolutionär dagegen ist umgekehrt die revolutionäre Arbeit die Hauptsache und nicht die Reform, für ihn ist die Reform ein Nebenprodukt der Revolution. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer revolutionären Taktik, sofern eine bürgerliche Macht besteht, naturgemäß in ein Werkzeug zur Zersetzung dieser Macht, in ein Werkzeug zur Festigung der Revolution, in einen Stützpunkt zur weiteren Entwicklung der revolutionären Bewegung.
Der Revolutionär ist für die Reform, nur um sie als Anknüpfungspunkt zur Kombinierung der legalen mit der illegalen Arbeit und als Deckung zur Verstärkung der illegalen Arbeit zu benutzen zwecks revolutionärer Vorbereitung der Massen zum Sturz der Bourgeoisie. Darin besteht das Wesen der revolutionären Ausnutzung der Reformen und Kompromisse unter den Bedingungen des Imperialismus." (J. W. Stalin: „Über die Grundlagen des Leninismus“, veröffentlicht im April 1924.)
Von diesen von Lenin und Stalin mitgeteilten Gründen für den Abschluß von Kompromissen ließ sich die kommunistische Parteiführung in ihrer Politik leiten. Hierzu gehört als Beispiel die Zusammenarbeit der von Lenin geführten Partei mit anderen russischen Parteien vor und nach der Oktoberrevolution. Der Grund dafür war nach Lenins eigenen Erklärungen die planmäßige Schwächung und Zersetzung des Partners im Verlauf der weiteren Zusammenarbeit. Dasselbe gilt auch für das Motiv der Zusammenarbeit zwischen russischen und chinesischen Kommunisten einerseits und der Kuomintang andererseits in China 1923 bis 1927, wie aus zahlreichen kommunistischen Erklärungen und Handlungen hervorgeht. Die Schwächung bzw. die Zersetzung der nichtkommunistischen Organisationen war ebenfalls der Grund für den Kompromiß, der zwischen den kommunistischen und nichtkommunistischen Parteien in den südosteuropäischen Staaten und Polen 1945 geschlossen wurde. Als Ergebnis dieses Kompromisses blieben von den einst relativ selbständigen bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien in diesen Ländern nur noch die mit dem alten Namen bezeichneten leeren Hüllen übrig.
Als Beispiel für einen Kompromiß mit einem bürgerlichen Staat, um die Gegensätze zwischen den bürgerlichen Staaten zu steigern, ist Lenins Vereinbarung mit dem amerikanischen Vertreter Vanderlip von 1920 zu erwähnen. Darin war die Gewährung von Erdölkonzessionen auf der Halbinsel Kamtschatka an amerikanische Wirtschaftsunternehmungen vorgesehen. Lenin begründete dies in der Rede an die Zellensekretäre der Moskauer Parteiorganisation (26. 11. 20) mit der Hoffnung, daß durch das Festsetzen von amerikanischen Unternehmungen auf Kamtschatka der seiner Meinung nach scharfe Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und Japan sich zu einem Krieg steigern würde. Diese Zuspitzung war vom Standpunkt Moskaus aus so vorteilhaft, daß Lenin dafür die Abtretung von Konzessionsgebieten an amerikanische Unternehmungen für zweckmäßig hielt. Wenn die erwähnte Vereinbarung schließlich doch nicht rechtswirksam wurde, so lag das in diesem Fall an einem allzu hoffnungsvollen Lenin, der einem Hochstapler Vanderlip zum Opfer gefallen war.
Diesen Beispielen stehen Beispiele gegenüber, die nicht so eindeutig ein .. einziges Motiv für den Abschluß eines Kompromisses mit „kapitalistischen“ Organisationen erkennen lassen. Wohl sind die drei erwähnten Gründe immer wieder als bestimmend für kommunistische Kompromisse zu erkennen. Inwieweit aber nur einer der Gründe oder mehrere der erwähnten Gründe gleichzeitig den Abschluß eines Kompromisses der kommunistischen Parteiführung nahelegten, läßt sich in zahlreichen Fällen nicht mit Sicherheit sagen. Es unterliegt z. B. keinem Zweifel, daß der Abschluß des Rapallo-Vertrages zwischen der Sowjetunion und Deutschland (1922) einen Keil zwischen die Westmächte und Deutschland treiben sollte, d. h. in sowjetischer Sicht als ein Kompromiß zur Steigerung der Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Ländern" gedacht war. Dieser Grund wurde im folgenden Jahr — anläßlich des Einmarsches der Franzosen in das Ruhrgebiet im Januar 1923 — in den häufigen Ermutigungen Deutschlands es selbst zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung Deutschlands mit Frankreich kommen zu lassen, erneut deutlich. Gleichzeitig zeigt sich aber eine andere Absicht: den chaotischen Zustand in Deutschland zu einer kommunistischen Machtergreifung zu benutzen, dafür einen Plan auszuarbeiten und zahlreiche Agenten nach Deutschland zu entsenden, die den Zersetzungsprozeß im Innern Deutschlands fördern und auf dieser Grundlage die deutsche Oktoberrevolution vorbereiten sollten. Es ist daher durchaus nicht ausgeschlossen, daß die Sowjetunion sich beim Abschluß des Rapallo-Vertrages gleichzeitig von zwei der drei erwähnten Gründe leiten ließ: der Steigerung der Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“ und den verbesserten Aussichten, im Laufe der Zusammenarbeit den nichtkommunistischen Partner, Deutschland, zu zersetzen. Ob diese beiden Gründe von gleicher oder unterschiedlicher Bedeutung für das sowjetische Verhalten anläßlich des Rapallo-Vertrages waren, kann wohl kein Mensch, der nicht 1922 Mitglied des Politibüros in Moskau gewesen ist, mit Sicherheit sagen. Bei anderen Beispielen für das sowjetische Verhalten, wie beim Abschluß des französisch-sowjetischen Bündnisvertrages vom Mai 193 5, des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom August 1939, des japanisch-sowjetischen Neutralitätspaktes vom April 1941 war ein Grund zweifellos die damit erhoffte Verschärfung der Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“. In allen drei Fällen dürfte aber auch die sowjetische Absicht mitgewirkt haben, angesichts der ihr noch nicht ausreichend erscheinenden militärischen Kraft und der damals sehr schwierigen inneren Lage einen Schutz vor der Vernichtung der eigenen Existenz durch Deutschland und Japan zu finden.
Aus den Gedankengängen Lenins und Stalins über zweckmäßige Kompromisse mit Nichtkommunisten für die Praxis der sowjetischen Außenpolitik in Friedenszeiten dürfte abzuleiten sein, daß zwischen dem Ziel der Weltrevolution und dem Ziel der Koexistenz mit nichtkommunistischen Staaten kein Widerspruch besteht. Die Koexistenz in dieser Sicht ist als eine mehr oder weniger lange Übergangsphase aufzufassen, in der die kapitalistischen Staaten sich bis zum Ausbruch eines für unvermeidbar gehaltenen Krieges zwischen ihnen aneinander reiben oder sich auf andere Weise schwächen, während die Kraft der Sowjetunion auf jede Weise gestärkt werden soll. Die Sowjetunion hat zugleich tunlichst durch das Paktieren mit diesem oder jenem nichtkommunistischen Staat diese entgegengesetzten Entwicklungen zu fördern. Der Ausbruch des erhofften Krieges zwischen den „kapitalistischen Staaten" soll nach Lenin und Stalin eine Lage schaffen, aus der sich später direkte oder indirekte Möglichkeiten für den „Sturz des Kapitalismus" durch kommunistische Aufstände und durch andere Formen sowjetischer Interventionen ergeben. Alles dies könnte man aus Lenins und Stalins Gedanken über Kompromisse als dem eigentlichen Sinn der Koexistenz in sowjetischer Sicht folgern. Diese Folgerung würde ähnlich der sein, die Stalin selber vor dem XV. Parteikongreß am 3. Dezember 1927 zog: „Wir können nicht die Worte Lenins darüber vergessen, daß sehr vieles in der Sache unseres Aufbaus davon abhängen wird, ob es uns gelingen wird, den Krieg mit der kapitalistischen Welt zu verschieben, der unvermeidlich ist, aber den man verschieben kann entweder solange, bis die proletarische Revolution in Europa reif wird, oder solange, bis die kolonialen Revolutionen vollständig reif werden, oder, endlich, bis die Kapitalisten sich wegen der Aufteilung der Kolonien überwerfen.
Deshalb ist für uns die Wahrung friedlicher Beziehungen zu den kapitalistisd'ien Ländern eine verpflichtende Aufgabe.
Die Grundlage unserer Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern besteht in der Zulassung der Koexistenz zweier entgegengesetzter Systeme. Die Praxis hat sie vollauf gerechtfertigt.“
Nach Stalins Tod bis zur Gegenwart haben zahlreiche sowjetische hohe Funktionäre, sowjetische Zeitungen und Zeitschriften den Friedenswillen der Sowjetunion betont und wollen ihn durch Hinweise auf die Prinzipien Lenins und Stalins bezüglich der Koexistenz bekräftigen. So behauptete u. a. Chruschtschow am 5. Februar 1955 vor ausländischen Journalisten:
„Indem wir den Vermächtnissen des großen Lenin folgen, stehen wir ein für eine dauernde, friedliche Koexistenz zweier Systeme, d. h.
wir dachten und denken, daß diese beiden Systeme zusammen leben und nicht Kriege führen können.“
Die Moskauer „Prawda“ vom 5. März 1954 schrieb:
„Die friedliebende sowjetische Außenpolitik geht von der leninistisch-stalinistischen Einstellung zur Möglichkeit eines langen Bestehens und eines friedlichen Wettbewerbes zweier verschiedener Systeme aus — des kapitalistischen und des sozialistischen.
Im Licht der dargelegten Prinzipien Lenins und Stalins wirken sowjetische Bekräftigungen des Friedenswillens unter der Berufung auf die Prinzipien Lenins und Stalins alles andere als beruhigend. Man darf nur die propagandistischen Erklärungen Lenins und Stalins gegenüber ausländischen Journalisten und sonst nichts von ihren Lehren und Handlungen wissen, um sich bei den obigen Begründungen für den s. owje-tischen Willen zur friedlichen Koexistenz zu beruhigen. In Wirklichkeit handelt es sich um schillernde Begründungen, die alles für die Zukunft offen lassen. Ebenso schillernd ist der oft gebrauchte Begriff einer „langen" oder „dauernden“ Koexistenz. Wie „lange“ die Koexistenz dauert — das bleibt praktisch völlig frei von jedem objektiven Zeitmaß. In der Sicht Chruschtschows hat auch die Bezeichnung „dauernd“ eine relative Bedeutung. In dem erwähnten Gespräch mit ausländischen Journalisten fährt er wie folgt fort: „Wenn man fragt, wie dauernd diese Koexistenz sein kann, so muß man sagen, daß dies von den kistoriscken Bedingungen, von der kistoriscken Entwicklung abhängen wird,“
Gerade diese „historischen Bedingungen" werden in der Praxis der sowjetischen Außenpolitik, wie es besonders die Jahre seit 1939 beweisen, stark mitgestaltet. So schafft Chruschtschows nähere Bestimmung des Ausdruckes „dauernd“ für den aufmerksamen Beobachter eher ein Mißtrauen als das wohl beabsichtigte Gegenteil davon.
II. Der Sinn und die Entwicklung der sowjetischen „Friedensoffensive" nach 1945
Während der letzten acht bis zehn Jahre haben zahlreiche von der Sowjetunion geförderte internationale Friedenskongresse in den „kapitalistischen Staaten" stattgefunden. Auf ihnen traten regelmäßig Vertreter aus der Sowjetunion, den übrigen Ostblockstaaten und aus dem kommunistischen China auf. Diese Vertreter bekleiden gewöhnlich keine hohen Posten in den kommunistischen Parteien jener Staaten. Sie gehören z. T.den kommunistischen Parteien als Mitglieder überhaupt nicht an. Es sind vielmehr Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Sportler usw., die sich in den kommunistischen Ländern Ansehen erworben haben. Alle diese Vertreter machen aber nur einen Teil der Teilnehmer an diesen Friedenskongressen aus. Der andere Teil der Teilnehmer besteht aus Schriftstellern, Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern usw., die in den „kapitalistischen Staaten" tätig sind, und oft keinen Wert darauf legen, als Kommunisten angesehen zu werden. Nur Kämpfer für den Frieden wollen sie sein. In den Reihen dieser wohl vielfach parteilosen Schriftsteller usw. aus der bürgerlichen Welt wird die Möglichkeit eines friedlichen Nebeneinanderbestehens der kommunistischen und nichtkommunistischen Staaten betont. Man verweist dabei auf die zahlreichen sowjetischen Friedenserklärungen, auf die sowjetische Bereitwilligkeit zu umfassenden Handelsbeziehungen mit den „kapitalistischen Staaten", auf die sowjetischen Abrüstungsvorschläge zur Vernichtung von Atombomben u. a. In dieser Sicht soll sowohl politisch als auch wirtschaftlich alles dafür sprechen, eng miteinander zusammenzuarbeiten. Nach der Darstellung nicht nur der kommunistischen, sondern auch der bürgerlichen Redner auf jenen Kongressen liegt es nur an der Böswilligkeit von kleinen einflußreichen Gruppen in den „kapitalistischen Staaten", daß sich bisher die Hindernisse gegen eine ruhige Entwicklung der Welt auf dem Weg zu einem dauernden Frieden nicht beseitigen ließen.
Inwieweit diese Darstellungen der internationalen Friedenskongresse die Millionenmassen von Menschen in den „kapitalistischen Staaten“
beeindrucken, hängt u. a. davon ab, ob der Einzelne unter ihnen das Ziel der Weltrevolution (gewaltsame Machtergreifung durch die von Moskau gelenkten kommunistischen Parteien in allen nichtkommunistischen Staaten und dann die radikale Umgestaltung des wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Lebens) ernst nimmt oder nicht. Wer die Weltrevolution als Ziel nicht ernst nimmt, dürfte geneigt sein, den Inhalt der obigen Darlegungen ernst zu nehmen. Eine solche Neigung wird noch dadurch gefördert, daß die abgeänderten Parteiprogramme der kommunistischen Parteien in den „kapitalistischen Staaten den Eindruck eines gemäßigten Reformprogramms erwecken, also von den radikalen Zielen und Handlungen der kommunistischen Parteien in der Sowjetunion, den anderen Ostblockstaaten und in Rot-China nichts ahnen lassen.
An dem Erfolg einer solchen Friedensbewegung liegt der Sowjetunion um so mehr, als das sowjetische Verhalten in Gebieten wie in Polen und Südosteuropa, Ost-und Mitteldeutschland, der Mandschurei und Nord-
Korea während der ersten Jahre nach 1945 die ganze übrige Welt außerordentlich beunruhigte. Alle früheren Vorstellungen im Auslande z. B.
von einer angegriffenen Sowjetunion, die im Kampf gegen den nationalsozioalistischen Aggressor nur ihren Heimatboden verteidigt und der uneigennützige Befreier der von Hitler unterdrückten Völker ist, traten durch diese Handlungen in den Hintergrund.
Seit 1945 werden sowjetische Friedensbeteuerungen in der westlichen Welt überwiegend nur noch mit starkem Mißtrauen ausgenommen. Die Reaktion zahlreicher nichtkommunistischer Staaten auf die sowjetischen Expansionen führte darüber hinaus zu der Aufrechterhaltung einer militärischen Bereitschaft und einer Rüstungsproduktion, auf die sie am Ausgang des Krieges gegen Hitler verzichten wollten. Es entstand ein Gemeinschaftsgefühl dieser Staaten zum großen Teil aus der gemeinsamen Furcht vor weiteren Expansionsversuchen der Sowjetunion. Der Ausdruck dafür war die Entstehung eines westlichen Verteidigungsbündnisses, das es in der internationalen Ausdehnung und in der Festigkeit seiner Organisation in früheren Zeiten des Friedens bei den westlichen Demokratien nie gegeben hatte.
Diese von der Sowjetunion unerwünschte Entwicklung im „Westen“ soll möglichst wieder rückgängig gemacht werden, ohne daß die Sowjetunion ihre gewaltsam eroberten Positionen seit 1945 aufzugeben braucht. Im Gewand einer parteilich scheinbar nicht gebundenen internationalen Friedensbewegung unter möglichst weitgehender Heranziehung von bürgerlichen Kreisen in allen „kapitalistischen Staaten“ versucht die Sowjetunion ihren Friedenswillen überzeugender darzustellen. Sie will die Bevölkerung jn den „kapitalistischen Staaten“ über ihre territorialen Eroberungen beruhigen. Das Fehlen weltrevolutionärer Absichten der Sowjetunion soll möglichst durch nichtkommunistische, möglichst angesehene und politisch „nicht belastete“ bürgerliche Vertreter auf solchen Friedenskongressen in Reden und Manifesten unterstrichen werden. Daran liegt der Sowjetunion besonders während einer Zeit, da eine kommunistische Machtergreifung in den „kapitalistischen Staaten“ nach der Praxis in den südosteuropäischen Staaten, in Polen und Nordkorea von gefährlichen Rückwirkungen für den Bestand der Sowjetunion begleitet sein könnte. Daher empfiehlt sich ein Abwarten. In dieser Zeit erklärt das zentrale Presseorgan der KPdSU, die „Prawda“, am 27. Juli 1954 den „Export der Revolution“ als „unvereinbar mit der marxistischen Theorie“ und als eine „Erfindung der bürgerlichen Propaganda“. In dieser Zeit werden den Unternehmern der „kapitalistischen Staaten“ phantastische Zukunftsbilder über die ungeheueren Möglichkeiten eines Warenaustausches zwischen der Sowjetunion und den „kapitalistischen Staaten“ geschildert. Dabei werden Erinnerungen an den bedeutenden Import der Sowjetunion während des ersten Fünfjahresplanes (1928 32) geweckt, ohne zu erwähnen, daß nach den eigenen sowjetischen Erklärungen von damals der große Import von Produktionsmitteln nicht auf eine engere wirtschaftliche Verflechtung der Sowjetunion mit den „kapitalistischen Staaten“ abzielte, sondern umgekehrt die technischen Voraussetzungen für eine möglichst vollständige Herausnahme der Sowjetunion aus der Weltwirtschaft schaffen sollte. Das ist seit dem Ende der dreißiger Jahre praktisch vollständig erreicht worden; und es wird dementsprechend nach wie vor gehandelt.
Was aus der erwähnten internationalen Friedensbewegung mit ihren überwiegend bürgerlichen Vertretern einst werden soll, hat Stalin in seiner Schrift „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR .
vom Oktober 1952 angedeutet. Dort hält er es für „möglich, daß bei der bekannten Verquickung von Umständen der Kampf für den Frieden sich irgendwo zu einem Kampf für den Sozialismus entwickeln wird, aber das wird schon nicht die gegenwärtige Bewegung für den Frieden, sondern die Bewegung zum Sturz des Kapitalismus sein“. Das ist eine vorsichtige Formulierung für das, was weiter oben als Kompromiß zur Schwächung bzw. Zersetzung des nicht kommunistischen Partners gekennzeichnet wurde. Ein Rückblick auf die Zeit seit Stalins Tod zeigt, daß sich das Bild der „Friedensoffensive“ der Sowjetunion zum Teil verändert hat. Der krasse Gegensatz, der zwischen der Darstellung der Sowjetunion als Friedensfreund und der aggressiven Außenpolitik Stalins in Europa und Asien bestand, hat sich gemildert. Die sowjetische Staatsführung nach Stalins Tod bemüht sich allgemein um eine größere Verbindlichkeit in den formalen Beziehungen zu nichtkommunistischen Staaten. Sie verschickt im Vergleich zu Stalins düsterer Starrheit großzügig Einladungen an nichtkommunistische Personen und Personengruppen, die Sowjetunion zu besuchen. Ausländische Diplomatenvertretungen in der Sowjetunion erhalten eine Bewegungsfreiheit im Lande, die es für sie seit den dreißiger Jahren nicht mehr gegeben hatte. Die höchsten Vertreter der Sowjetunion zeigen sich mit einer im Vergleich zu Stalin erstaunlichen Bereitwilligkeit im öffentlichen Leben der Sowjetunion und auf internationalen Konferenzen. Über diese scheinbar unwichtigen Erscheinungen hinaus haben sich die Nachfolger Stalins erfolgreich bemüht, die internationalen Spannungen an verschiedenen Punkten der Welt zu mildern (z. B. das Zustandekommen des Waffenstillstandes in Korea, die Entspannung zu Jugoslawien, das Verhältnis der Sowjetunion zu Persien und der Türkei, der Abschluß des österreichischen Staatsvertrages). Alle diese wohl unbestreitbaren Tatsachen geben auch der internationalen Friedensbewegung, soweit sie sowjetfreundlich ist, eine verbesserte Grundlage für ihre Arbeit in den „kapitalistischen Staaten .
Es fragt sich, was für sowjetische Absichten der so veränderten „Friedensoffensive“ zu Grunde liegen. Man wird diese Frage vielleicht überzeugender beantworten können, wenn man von den weltpolitischen Erwartungen Stalins nach dem Kriegsende von 1945 ausgeht. In sowjetischer Sicht gab der Ausbruch des zweiten Weltkrieges der These Lenins Recht, daß der Krieg zwischen „kapitalistischen Staaten“ wegen des unaufhaltsamen Suchens der die „kapitalistischen Staaten“ beherrschenden Monopolisten nach neuen Absatzmärkten mit der Sicherheit eines Naturgesetzes ausbrechen muß. In sowjetischer Sicht wird dabei kein Unterschied z. B. zwischen dem nationalsozialistischen Staat und einem Staat der westlichen Demokratie gemacht. Alle werden sie in sowjetischer Sicht von privaten Monopolbetrieben beherrscht, deren Profitwünsche in der Form des Jagens nach ausländischen Absatzmärkten zwangsläufig immer wieder zu Kriegen zwischen den kapitalistischen Staaten führen.
Wenn man die Schrift Stalins über die „Ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ studiert, so kann man daraus unschwer entnehmen, welche Folgerungen er aus der internationalen Lage von 1945 zog. Nicht nur, daß. er an der Gültigkeit der erwähnten These Lenins festhielt und dementsprechend einen neuen Kriegsausbruch zwischen den kapitalistischen Staaten erwartete. Er nahm sogar an, daß der angeblich gesetzliche Zusammenhang zwischen der Sicherung der Profite der Monopolisten einzelner kapitalistischer Staaten gegenüber denen anderer Staaten und dem daraus folgenden Kriegsausbruch zwischen ihnen sich wesentlich schneller als bisher zeigen würde. Der Grund dafür liegt nach Stalin in einem wesentlich verkleinerten Weltmarkt, in den sich die Monopolistengruppen zu teilen haben. Wenn aber nach Stalin nur ein im Vergleich zu früher wesentlich verkleinerter Weltmarkt für die Befriedigung der Exportbedürfnisse der kapitalistischen Monopolisten zur Verfügung steht, so ist daraus eine Beschleunigung der Reibungen zwischen den Monopolisten der einzelnen Staaten mit dem Endergebnis eines früher eintretenden neuen Krieges zwischen ihnen zu folgern. Nicht ohne Genugtuung berichtet Stalin in seiner Schrift, wie die Sowjetunion selber dazu beiträgt, den wesentlich verkleinerten Weltmarkt als Voraussetzung für die beschleunigte „Vertiefung der allgemeinen Krise des weltkapi-
talistischen Systems“ zu schaffen. Dank den Ergebnissen des zweiten Weltkrieges war es der Sowjetunion möglich, einen Teil der.früheren Absatzmärkte der „kapitalistischen Staaten“ wie China, die südosteuropäischen Staaten u. a. aus dem „kapitalistischen Weltmarkt“ herauszunehmen und ihn in der Form eines „sozialistischen Weltmarktes“ von dem anderen Weltmarkt abzuschließen. Daraus folgt für Stalin, „daß das Kraftfeld, mit dem die Itanptsächlichen kapitalistischen Länder (USA, England, Frankreich) auf die Hilfsquellen der Welt einwirken, sich nicht erweitern, sondern schrumpfen wird, daß sich für diese Länder die Absatzbedingungen verschlechtern werden und die ungenügende Auslastung der Betriebe in diesen Ländern zunehmen wird. Darin besonders besteht die Vertiefung der allgemeinen Krise des weltkapitalistischen Systems in Verbindung mit dem Auseinander-fallen des Weltmarktes.
Das fühlen die Kapitalisten selber, denn es ist schwer, den Verlust solcher Märkte wie die UdSSR, China nicht zu fühlen. Sie bemühen sich, diese Schwierigkeiten durch einen „Marschall-Plan“, den Krieg in Korea, eine fieberhafte Rüstung und eine Militarisierung der Wirtschaft zu überdedten. Aber das ist dem sehr ähnlich, wie Ertrinkende nach dem Strohhalm greifen.“
Die von Stalin erwartete Beschleunigung in der Entstehung von Gegensätzen zwischen den „kapitalistischen Staaten“ nach 1945 hat sich aber in der Wirklichkeit bisher ganz und gar nicht bestätigt. Die erwartete „Vertiefung“ der Krise blieb aus. Statt dessen kräftigten sich die „kapitalistischen Staaten“ im allgemeinen trotz einem eingeschränkten Weltmarkt im Vergleich zur Zeit vor 1939. Dafür gibt es in sowjetischer Sicht die zunächst befriedigende Erklärung, daß die Rüstungen und der „Marshall-Plan“ die Krise hinauszögern. Was aber „falsch abläuft" das ist die politisch und militärisch enge Zusammenarbeit gerade zwischen den „kapitalistischen Staaten“, zwischen denen hauptsächlich der aus der „Gesetzlichkeit“ des „Kapitalismus“ entstehende Krieg ausbrechen soll. Mit Sicherheit kann man annehmen, daß sich die Nachfolger Stalins eingehend mit den Ursachen dafür beschäftigt haben. Hier folgen wegen des erklärlichen Fehlens von Dokumenten nur die Vermutungen des Verfassers. Doch glaubt der Verfasser die sowjetische Sicht im großen ganzen richtig wiederzugeben:
Die Hauptursache für-die politisch und militärisch enge Zusammenarbeit „kapitalistischer Staaten“ nach 1945 im Gegensatz zu der erwarteten raschen Verschärfung der Spannungen zwischen ihnen liegt in der Furcht vor weiteren Expansionsabsichten der Sowjetunion. Die Verschärfung der Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“ mit dem Endergebnis eines neuen Krieges zwischen ihnen wird aber nicht erreicht, wenn die aggressive Außenpolitik der Sowjetunion eine weit verbreitete Furcht in den „kapitalistischen Staaten“ schafft. Daraus wiederum entwickelte sich ein starkes Bedürfnis der „kapitalistischen Staaten“ nach einer engen Gemeinschaft zur Verteidigung ihres Besitstandes, verbunden mit einer dementsprechenden Aufrüstung, eine Folge der rauhen Politik Stalins nach 1945, die sich als der stärkste Anstoß für die Einigungsbestrebungen der nichtkommunistischen Staaten erwiesen haben dürfte.
In der Sicht der im Leninismus erzogenen Nachfolger und engsten Mitarbeiter Stalins bis zu seinem Tode ergeben sich daraus folgende Nachteile für die Sowjetunion:
Die Furcht in den „kapitalistischen Staaten“ vor weiteren Expansionen der Sowjetunion hemmt bzw. verhindert die Entfaltung der an und für s di vorhandenen Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“. In dieselbe Richtung, d. h. im Sinne einer Verzögerung der Krise im Kapitalismus mit einem Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten als Höhepunkt, geht die Aufrüstung der „kapitalistischen Staaten“ aus Furcht vor der Sowjetunion. Davon abgesehen, ergibt sich als Nachteil für die Sowjetunion, daß diese Rüstungen den Rüstungsvorsprung der Sowjetunion inverschiedenen Waffengattungen gefährden. Alle diese Nachteile rücken die Verwirklichung der Absicht, die Welt nach sowjetischem Vorbild umzugestalten, in weite Ferne.
Daraus folgt für die Nachfolger Stalins, daß etwas getan werden muß, um den Automatismus in der Entwicklung der Krisen des „kapitalistischen Systems“ wieder in Gang zu setzen, den die Furcht vor der Politik der Faust Stalins lahmgelegt hat. Eine Beruhigung in den „kapitalistischen Staaten“ ist nur zu erreichen, wenn die Sowjetunion bei möglichster Wahrung ihres bisherigen Herrschaftsund Einflußgebietes alles außen-politisch unterläßt, was die Furcht vor einem gewalttätigen Vorgehen der Sowjetunion erneut beleben könnte. Der klaffende Gegensatz zwischen Stalins Friedensbeteuerungen und seinen Handlungen seit 1945 muß verschwinden. In diesem Sinne wurde von Stalins Nachfolgern eine andere Außenpolitik eingeleitet. Sie hat es dadurch verstanden, in einem Teil der Bevölkerung der „kapitalistischen Staaten“ bereits Beruhigung über die sowjetischen Absichten zu schaffen. Sie hofft darauf, daß es ihrer Politik des Samthandschuhs anstelle der Stalinschen Politik der Faust allmählich gelingen wird, die Furcht vor der Sowjetunion den Völkern der „kapitalistischen Staaten“ ganz zu nehmen.
Die Befreiung dieser Völkei von einer solchen Furcht mit den neuen Methoden würde in sowjetischer Sicht endlich wieder den Raum für eine natürliche Entfaltung der im „kapitalistischen System“ liegenden Gegensätze frei machen. Die „kapitalistischen Staaten“ können sich in einer Atmosphäre des Vertrauens zu dem echten Friedenswillen der Sowjetunion wieder ihren eigenen Gegensätzen zuwenden. Der Automatismus in der Entwicklung der Krisen des „kapitalistischen Systems“ kommt in Gang. Die erhoffte Atmosphäre des Vertrauens zum echten Friedenswillen der Sowjetunion soll auch die Abneigung gegen kostspielige Rüstungen und andere militärische Ausgaben in den „kapitalistischen Staaten“ verstärken. Die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen schaffen die erhofften Absatzschwierigkeiten für die kapitalistischen Unternehmungen auf dem Binnen-und Außenmarkt, während die bisherigen Rüstungen der „kapitalistischen Staaten“ das Eintreten einer solchen Lage verzögern. Das Zusammenwirken dieser Faktoren wird in sowjetischer Sicht die Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“ Schritt für Schritt verschärfen, die sich am Ende zu einem neuen Krieg steigern. Eine unverdächtig gewordene Sowjetunion würde es auch leichter schaffen, die Gegensätze zwischen den „kapitalistischen Staaten“, z. B. zwischen Frankreich und Deutschland, zu schüren und größeren Einfluß auf innenpolitische Organisationen des Auslandes zu gewinnen. Hand in Hand damit rücken die Aussichten für eine weitere Etappe der Weltrevolution wieder näher. Der Krieg zwischen den „kapitalistischen Staaten“ schafft dafür die besten Voraussetzungen, wenn es der Sowjetunion gelingt, nach dem Ausbruch eines solchen Krieges zunächst eine abwartende Haltung einzunehmen.
Das sind vermutlich die Perspektiven auf lange Sicht, die die gegenwärtige sowjetische Staatsführung als zukünftiges Ergebnis ihrer besänftigenden Außenpolitik sieht. Demgegenüber dürfen die von westlicher Seite hervorgehobenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten als Bestimmungsgrund für den neuen Kurs nur eine sekundäre Rolle spielen. Damit soll gesagt werden, daß die weiter oben geschilderten sowjetischen Erwägungen den neuen außenpolitischen Kurs auch ohne das Vorhandensein von wirtschaftlichen Schwierigkeiten nahegelegt hätten. Sie erscheinen dem nur in westlichen Vorstellungen denkenden Betrachter befremdlich, ja wahrscheinlich weltfremd. Daran wird sich in absehbarer Zeit um so weniger ändern, als die sowjetische Sicht der Vorgänge in den „kapitalistischen Staaten“ durch den Ausbruch des zweiten Weltkrieges eine scheinbare Bestätigung ihrer Richtigkeit erhalten hat. Die Erfassung der sowjetischen Motive durch einen westlichen Betrachter kann nie gelingen, wenn er sich nicht in die vielfach irrigen Vorstellungen der systematisch im Leninismus erzogenen Nachfolger Stalins versenkt. Bezieht er diese irrigen Vorstellungen als Daten für das sowjetische Verhalten ein, dann kann er den daraus gezogene', sowjetischen Konsequenzen logisch folgen. Die „furchtbaren Vereinfacher“ unter den politischen Führern haben ihre verzerrte Sicht von den Zusammenhängen in der Welt nicht immer mit dem Verlust ihrer Machtstellung bezahlen müssen. Man erleichtert ihnen ihre erfolgreiche Laufbahn, wenn man ihnen letzten Endes dieselben Gedanken über Frieden und Fortschritt zuschreibt, die der westliche „Mann auf der Straße“ hat. Gerade dies zu erreichen ist das unveränderte Ziel der sowjetischen „Friedensoffensive“.
Anmerkung:
Walter Grottian, geboren am 15. Februar 1909 in Frankfurt am Main, studierte Nationalökonomie und Geschichte, war langjähriger wissenschaftlicher Referent im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin. Gegenwärtig ist er Professor und stellvertretender Leiter der Abteilung Außenpolitik an der Deutschen Hochschule für Politik, Berlin. Sein besonderes Lehrgebiet ist „Ostpolitik".