Den nachstehenden Aufsatz veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der „YALE REVIEW“ (Copyright Yale University Press 1955). Der Aufsatz erschien in deutscher Sprache bereits in der Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit „DOKUMENTE", Offenburg (Heft 4, August 1955). Mit Genehmigung des Verlages übernehmen wir die Übersetzung.
Von Zeit zu Zeit tauchen aus der verwirrenden Fülle des Alltags Ereignisse auf, die das Wesen der internationalen Probleme schlagartig beleuchten. So geschah es zwischen Juli und Oktober 1954, als die Vereinigten Staaten zum erstenmal seit Kriegsende auf einer internationalen Konferenz (Genf) isoliert dastanden und der Grundpfeiler ihrer Europapolitik (EVG) allen Drohungen und Versprechungen zum Trotz zusammenbrach. Gewiß, durch eine bemerkenswerte Änderung ihrer Taktik konnten sie seither einige der verlorenen Positionen zurückgewinnen. Aber es wäre ein tragischer Irrtum, taktische Erfolge mit einer strategischen Wandlung zu verwechseln. Die Periode der höchsten Gefahr ist noch nicht vorbei, und die Faktoren, welche die Vereinigten Staaten im vergangenen Sommer in die Sackgasse führten sind noch wirksam. Man kann sie etwa so formulieren: die Sowjetunion hat in den letzten zwei Jahren große Fortschritte in der Entwicklung ihrer Atomwaffen gemacht und ist darum in der Lage, die freien Nationen Eurasiens mit der völligen Ausschaltung zu bedrohen; und der Sowjetblock konnte unter den freien Nationen Südostasiens die diplomatische Initiative ergreifen und dort die Friedensoffensive so gründlich in die Hand nehmen, daß die Vereinigten Staaten immer mehr als ein Hindernis für die internationale Verständigung erscheinen. Es ist zu erwarten, daß jetzt auch in Westeuropa Forderungen nach mehr Konferenzen laut werden.
Die Abstimmung der französischen Nationalversammlung über die deutsche Wiederbewaffnung beweist, daß die Kräfte, die zum Zusammenbruch der EVG führten, noch immer am Werk sind. Und Westdeutschland hat alles bekommen, was der Westen ihm geben kann; es ist durchaus möglich, daß es in der Ära nach Adenauer die russischen Vorschläge immer verlockender findet.
Unter diesen Umständen erscheint es nicht überraschend, daß sich in den Vereinigten Staaten Fürsprecher radikaler Lösungen zum Wort gemeldet haben. Sie wurden zwar vorübergehend zum Schweigen gebracht, aber es ist sicher, daß sie einen verstärkten Vorstoß unternehmen werden, sobald die Schwierigkeiten sich erneuern sollten. Man bezeichnet den Krieg als die günstigere Alternative und sieht im Präventivkrieg ein Mittel, um die amerikanischen Trümpfe auszuspielen, bevor die Karten hoffnungslos gegen Amerika sind. Aber der Krieg ist eine zu ernste Sache, als daß man sich in einem Anfall von Verzweiflung auf ihn einlassen dürfte. Und bevor man den politischen Bankerott zugibt, mag es klug sein, die Ursachen der amerikanischen Schwierigkeiten, die möglichen Alternativen und die Voraussetzungen einer Sicherung zu analysieren.
Vielleicht sollten wir mit einer Warnung beginnen; die Schwierigkeiten, die den Vereinigten Staaten zu schaffen machen, mögen durch ge-wisse politische Taktiken der letzten zwei Jahre verschärft worden sein, aber sie sind nicht durch sie hervorgerufen worden. Ganz im Gegenteil. Das Suchen nach Sündenböcken und isolierten Ursachen ist nur die andere Seite einer Mentalität, die seit dem Ende des zweiten Weltkriegs die amerikanische Politik charakterisierte: jenes übergroße Vertrauen auf den diplomatischen Apparat und ein Rationalismus, der die bloße Feststellung eines Problems schon für dessen Lösung hält. Es ist allerdings verständlich, daß eine Nation, die sich in weniger als einem Jahrzehnt aus einer insularen Macht zur Weltmacht entwickelte und bei diesem Prozeß in der Geschichte einzig dastehende Verpflichtungen übernahm, von ihrem Eintritt in die Weltpolitik stärker beeindruckt war als von den ihm zugrunde liegenden Ursachen. Die Pakte, Allianzen und Hilfsprogramme erschienen als ebenso viele selbstverständliche Wegweiser für einen unabänderlichen Kurs, der wegen seiner offenbaren Nützlichkeit gegen die sowjetische Drohung keiner weiteren Rechtfertigung bedurfte. Nachdem die Vereinigten Staaten sich von ihren Isolationsträumen freigemacht haben, sehen sie die Gefahr des Sowjetkolosses in direkter und unheimlicher Proportion zu ihrer Friedenssehnsucht. So ist die sowjetische Drohung ein Grundpostulat für ihre Politik und die letzte Rechtfertigung ihres Bündnissystems geworden.
Die Erfolge der kommunistischen Friedensoffensive
Diese Ansicht mag korrekt sein, aber ihre Verfechter übersehen einen wesentlichen Punkt: die anderen Mächte lehnen es ab, an unüberbrückbare Abgründe zu glauben. Das kann man auf verschiedene Weise erklären — durch die Angst vor den Zerstörungen des Atomkrieges, durch die Erinnerungen an zwei Weltkriege mit den darauf folgenden Besetzungen —, es bleibt jedoch eine Tatsache des politischen Lebens. Der Wunsch nach Frieden ist in fast allen Ländern der Welt so stark, daß jeder Versuch, ihm entgegenzuarbeiten, das Ansehen der Regierungen bei ihren Völkern zwangsläufig untergraben muß. Die amerikanische Politik hätte unablässig die sowjetische Intransigenz entlarven und dadurch ein für gemeinsame Aktionen günstiges Meinungsklima schaffen müssen. Stattdessen hielt sie es für ihre wichtigste Aufgabe, einen gewissen Grad an militärischer Stärke zu erreichen. Und man schmeichelte sich mit dem Gedanken, die militärische Stärke hänge fast ausschließlich von der amerikanischen Politik und dem von ihr ausgeübten Druck ab.
So hatte, was unschwer zu vermeiden gewesen wäre, die kommunistische Strategie eine sehr leichte Aufgabe. Seit dem Tage, da die Koalitionsbemühungen der Vereinigten Staaten durch eine Drohung gerechtfertigt wurden, die von der öffentlichen Meinung ihrer Verbündeten nicht als solche empfunden wurde, fanden die sowjetischen „Friedensoffensiven“ einen geeigneten Boden für billige Siege. Man konnte den amerikanischen Druck als fast ebenso stark hinstellen wie den der Sowjetunion, und die amerikanische Intransigenz ist das Losungswort ausgerechnet des Volkes geworden, das bei dem Gedanken erbleichen würde, es könne in Eurasien mit der Sowjetunion allein gelassen werden. Die Strategie der Vereinigten Staaten hat ihre Aufgabe rein technisch aufgefaßt: sie wollte eine adäquate Verteidigungsmacht schaffen. Aber es zeigte sich, daß das Problem in der Hauptsache ein psychologisches war: man mußte ein Meinungsklima schaffen, das eine solche Macht stützen konnte. So wurde der Grund gelegt für den Zusammenbruch der EVG und für die Schwierigkeiten, die sich der deutschen Wiederbewaffnung in den Weg stellten.
Die Regierungen der mit den Vereinigten Staaten verbündeten Länder beugten sich zwar den Tatsachen und stimmten den amerikanischen Vorschlägen formell zu. Aber gerade durch diesen Akt der Zustimmung verloren sie das Vertrauen ihrer Völker. Es kann sich sehr wohl herausstellen, daß die eigentliche Gefahr für das amerikanische Bündnissystem nicht der Kommunismus ist, sondern eine Art von umgekehrtem Titoismus: nationalistische Regierungen, die sich, um ihre Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu beweisen, mehr und mehr auf die Sowjetunion stützen.
Die amerikanische Auffassung von der westlichen Allianz läßt diese Gefahr in vergrößertem Maßstab erscheinen. Ein Artikel des ehemaligen Außenministers Acheson in der Zeitschrift New York Times Magazine mag das belegen. Achesons Hauptthese — alles, was eine Allianz stärkt, ist gut und das Gegenteil schädlich — kann man nicht bestreiten. Aber wenn sie in der Praxis zu einer Konzeption der Einheit als Selbstzweck führt, dann hebt sie sich selbst wieder auf: die Politik einer Allianz, die auf der Zustimmung ihrer Mitglieder beruht, wird von der schwächsten Komponente bestimmt.
Lind wenn man für jede Aktion die Zustimmung jedes einzelnen Verbündeten einholen muß, dann wird die innenpolitische Lage von . schwachen Regierungen auf eine unerträgliche Weise belastet. Die geschickte sowjetische Diplomatie hat es verstanden, sich dieses Dilemma zunutze zu machen: durch das Mittel der Friedensoffensiven konnte sie selbst in Gebieten, wo es — wie etwa in Europa — eine Interessengemeinschaft gibt, welche die Macht hat, sich durchzusetzen, jede entscheidende Aktion lähmen oder doch wenigstens hinauszögern. Indem der chinesisch-sowjetische Block seine aggressiven Bewegungen auf Gebiete beschränkte, die für die Alliierten der Vereinigten Staaten nur peripheres Interesse besitzen, hat er das alliierte Handeln einer starken Belastung ausgesetzt. Korea ist dafür ein typisches Beispiel. Wir dürfen wohl sagen, daß die Teilnahme der europäischen Alliierten Amerikas am Koreakrieg vor allem symbolischer Natur war: sie sollte die Vereinigten Staaten lediglich in dem Prinzip der kollektiven Sicherheit bestärken. Darüber hinaus verhinderten diese Alliierten, die auf einem Schauplatz, an dem sie nur sehr vage interessiert waren, nicht die Gefahr eines Atom-krieges heraufbeschwören wollten, jede entscheidende Aktion. Das soll nicht heißen, daß die Alliierten Amerikas Unrecht hatten, sondern lediglich, daß sie den Koreakrieg aus einer Per-spektive betrachteten, die jede Aktion auf weite Sicht ausschloß.
Das Bestehen auf formaler Einheit führte schließlich dazu, daß die alliierten Beziehungen sich in einem Niemandsland formeller Überein-stimmung und mangelnder Verwirklichung abspielten, in einem Klima wechselseitigen Wider-willens gegen jede Aggression, verbunden mit einer advokatenhaften Tendenz zum Ausweichen, kurz: man opferte die Substanz der Aktion zugunsten einer Form der Einigung. Dieser Prozeß erschütterte in allen Ländern der westlichen Koalition das Vertrauen der Völker zu ihren Regierungen und bereitete den Boden für die Ereignisse der letzten zwei Jahre, in denen alle Energien mehr und mehr von dem Bemühen, die Alliierten bei der Stange zu halten, absorbiert wurden.
Außenpolitik untrennbar von Militärpolitik
Es ist paradox, daß die Vereinigten Staaten sich während der letzten zwei Jahre fast beständig in der diplomatischen Defensive befanden; und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Sowjetunion ihre Führerschaft wechseln, Revolten in Satellitenstaaten unterdrücken und ihre Wirtschaft auf eine höhere Produktion von Verbrauchsgütern umstellen mußte. Die amerikanische Politik ist dafür nicht allein verantwortlich, aber sie hat durch ihre Militärpolitik, durch ihre Unentschlossenheit während der entscheidenden achtzehn Monate nach dem Tode Stalins und durch die allgemeine Verwirrung, die durch die zahllosen, einander widersprechenden Erklärungen Washingtons entstanden war, viel dazu beigetragen.
Jeder Versuch, Außenpolitik und Militärpolitik zu trennen, führt gewöhnlich zur Aushöhlung beider: die Außenpolitik droht dann in 'affinierten Leerlauf überzugehen, und die Militärpolitik entartet leicht zur leeren Pose. Das traf nie mehr zu als heute, da die verfügbare Macht und die Art ihrer Anwendung die möglichen Alternativen so weitgehend einschränken. Die tatsächliche Schwierigkeit des „New Look“ liegt darin, daß man nicht genau sagen kann, ob er eine Strategie des Kalten Krieges ist oder ein Mittel, einen Heißen Krieg zu gewinnen. Sofern die Doktrin der „massiven Vergeltung“ auf der Überzeugung beruht, daß im Kriegsfälle die Vereinigten Staaten sich den Schauplatz des Konflikts nach ihrem eigenen Vorteil wählen können, ist sie nicht zu beanstanden. Wenn man sie aber als ein Mittel auffaßt, um ohne einen ernsthaften Konflikt den Kalten Krieg zu gewinnen, dann läuft sie jeder Koalitionspolitik zuwider, denn sie trägt dazu bei, das Gefühl der Ohnmacht, schon heute eine der gefährlichsten Krankheiten von Amerikas Allierten, noch zu verstärken. Da die Vereinigten Staaten unter den Nationen des Westens nahezu das Monopol der Atomproduktion besitzen und da sie allein in der Lage sind, Atomwaffen zu liefern, begünstigt eine Militär
Politik, die alles oder nichts will, die Unverantwortlichkeit der amerikanischen Verbündeten: in der Innenpolitik dieser Länder, indem sie die Assoziation von Anti-Amerikanismus und Friedenssehnsucht herstellt, und weltpolitisch durch die Befürwortung der „friedlichen Koexistenz“ selbst unter Bedingungen, die einer Über-gabe sehr nahekommen. Solange die Vereinigten Staaten das Monopol der Atomwaffen besaßen, war die „sofortige Vergeltung“ ein brauchbarer strategischer Begriff. Aber angesichts der zunehmenden sowjetischen Atomproduktion wird es stets das Hauptziel der Alliierten Amerikas sein, einen Atomkrieg nicht zu gewinnen, sondern zu vermeiden.
Mehr noch: während die wachsenden Vorräte der Sowjets an Atomwaffen selbst die amerikanische Bereitschaft, die Gefahren eines Weltkrieges zu riskieren, dämpfen, stellt die kürzlich erfolgte Einschränkung der konventionellen Streitkräfte Amerikas erhöhte Anforderungen an die westliche Koalitionspolitik. Mit neunzehn Divisionen sind die Vereinigten Staaten nicht einmal in der Lage, lokale Kriege zu führen, und auf jeden Fall haben sie wiederholt verkündet, daß sie auch gar nicht geneigt sind, es zu tun. Aber es gehört zu den Hauptanliegen der Staatsmänner in jenen Teilen Eurasiens, die noch nicht unter sowjetischer Herrschaft stehen, die moralischen und physischen Verheerungen einer sowjetischen Besetzung zu vermeiden. Und sie lassen sich auch durch die Tatsache nicht beruhigen, daß man bei einer sowjetischen Aggression Moskau mit Atombomben belegen wird. Denn das Schicksal ihrer Länder hängt nicht, wie schon oft und vor allem von führenden europäischen Politikern betont wurde, von der letzten Schlacht ab, sondern von der ersten, und die augenblickliche Stärke der konventionellen Streitkräfte Amerikas läßt diese erste Schlacht nicht sehr verheißungsvoll erscheinen. Die Amerikaner können, kurz gesagt, nicht mehr verkünden, der totale Atomkrieg sei das einzige Abschreckungsmittel gegen eine sowjetische Aggression, ohne sich selbst zu isolieren. Wenn sie aus ihrer Atomüberlegenheit politische Vorteile ziehen wollen, dann müssen sie den Akzent mehr auf die taktische als auf die strategische Bedeutung der jüngsten technischen Entwicklung legen. Das heißt mit anderen Worten: sie müssen betonen, welche Bedeutung den Atomwaffen bei der Abwehr einer konventionellen Armee zukommt.
Die verpaßten Gelegenheiten
Es berührt schon merkwürdig, daß die-freie Welt in dieses Dilemma geriet, wenn man an die Chancen denkt, die sie sich in den beiden kritischen Augenblicken der maximalen sowjetischen Schwäche entgehen ließ: 1946, nachdem die Sowjetunion unerhörte Blutopfer gebracht hatte, und 19 53 nach dem Tode Stalins. Aber in beiden Fällen zog die Sowjetunion aus ihrer Schwäche nur Vorteil und ging erstarkt aus ihren Schwierigkeiten hervor: 1946, indem sie eine nichtexistierende Stärke vortäuschte, und 195 3 durch eine Friedensoffensive, die alle Chancen besitzt, die freie Welt zu zersplittern.
1946 war für die Amerikaner die Zeit der Kriegskameradschaft mit Rußland noch zu nahe, so daß sie sich nicht zu einer kühnen und geschmeidigen Politik aufraffen konnten. Auf jeden Fall sind die nach Kriegsende vorhandenen Chancen unwiderruflich verloren. Aber die Amerikaner leiden noch immer unter ihren Unterlassungssünden von 195 3. Man kann natürlich nie beweisen, daß damals eine kühnere Politik die strategische Situation hätte verändern können. Die Fürsprecher des Nichthandeins haben bei der Debatte stets den Vorteil für sich, daß man die Gefahren einer Aktion kennt, während die Vorteile Sache der Mutmaßung bleiben. Aber wenn es je einen Augenblick gab, da es möglich gewesen wäre, einen Keil zwischen die Sowjetunion und ihre Satelliten zu treiben oder die Sowjetsphäre einzuschränken, dann nach dem Tode Stalins — es sei denn, man wollte annehmen, die Vereinigten Staaten könnten unter keinen Umständen die Maßnahmen der Sowjets beeinflussen.
Der Tod Stalins stellte die Sowjetunion vor alle Schwierigkeiten der Nachfolge in einer Diktatur und in einer Gesellschaft, die seit einem Jahrzehnt in höchster Anspannung gelebt hatte. Hinzu kam, daß die Regierung während der entscheidenden Übergangsperiode in sich selbst gespalten war. Das Politbüro hatte vollauf damit zu tun, die Führerschaft zu wechseln, interne Abweichungen zu beseitigen, Revolten von Satelliten niederzuschlagen und die Produktion von Verbrauchsgütern zu steigern. Eine entschlossene Offensive der amerikanischen Diplomatie hätte sich sehr wohl die Meinungsverschiedenheiten des Kremls über die künftige Politik zunutze machen und zugleich einen Ansatzpunkt Für in den die Auswertung Unzufriedenheit der Satellitenstaaten schaffen können. Weiter hätte eine vom geforderte Westen Viermächtekonferenz Malenkow vor das Problem gestellt, ob er wagen dürfte, Rußland, in dem Berija nicht mehr existierte, zu verlassen — ganz abgesehen von den Forderungen, welche die Vorbereitung einer solchen Konferenz an den sowjetischen Regierungsapparat stellte. Und schließlich hätten konkrete amerikanische Vorschläge zur deutschen Einheit den Aufstand vom 17. Juni in den richtigen Zusammenhang gerückt.
Die Vereinigten Staaten konnten damals die Inkonsequenz der Sowjets aufzeigen und sie daran hindern, zwei Pferde zugleich zu reiten: das nationalistische, das mjt seiner Friedens-offensive die Neutralisierung Europas herbeiführen und das ideologische, das China in Asien stützen wollte. Stattdessen verfolgten die Amerikaner eine Politik der halben Maßnahmen: ihr Ton war intransigent genug, um der sowjetischen Friedensoffensive einen Hintergrund zu geben, aber ihre Aktionen reichten nicht aus, um die Sowjets unsicher zu machen. So gelangte die Sowjetunion in die vorteilhafte Position eines Fürsprechers der friedlichen Koexistenz. Sie brauchte sich auf die Gefahren einer solchen Koexistenz nicht einzulassen und konnte dabei das wichtigste Ziel erreichen: Zeit zu gewinnen und das Bündnissystem der Vereinigten Staaten zu sprengen. Als die Sowjetunion auf der diplomatischen Bühne wieder auftauchte, ließen es die Amerikaner zu, daß eine europäische Konferenz, bei der sie die meisten Trümpfe in der Hand hatten, in eine asiatische umgewandelt wurde, bei der sie überhaupt keine besaßen.
Und dabei erhielten sie nicht ein einziges Äquivalent für die Sicherung der Ratifizierung eines Verteidigungssystems, dessen Ableben durch Genf noch beschleunigt wurde. Tatsächlich dürfte die Sowjetunion durch den Tod Stalins erstarkt sein. Ihre Politik ist geschmeidiger geworden und selbst die satellitischen Revolten sind für sie zum Vorteil ausgeschlagen, denn sie führten zur Aufdeckung von antikommunistischen Untergrundbewegungen. Und die amerikanische Politik des Containment, die man noch vor zwei Jahren als phantasielos und beschränkt hinstellte, scheint inzwischen fast unerreichbar geworden zu sein.
So bleibt die Situation trotz der unbestreitbaren Fortschritte der letzten sechs Monate ernst. Trotz des Südostasienpakts (SEATO) befindet sich dieses Gebiet in einer üblen Lage, und damit ist das gesamte Kräftegleichgewicht gefährdet. Ein Block, der sich von der Elbe bis nach Malaia erstreckt, könnte, wenn man ihm nur genügend Zeit zur Entwicklung seiner Möglichkeiten läßt, sehr wohl das Handeln'der freien Welt auf die äußerste Probe stellen — und für die freien Nationen Eurasiens wird er stets eine überwältigende Drohung-bilden. Es erscheint nicht überraschend, daß unter diesen Umständen die Verfechter radikaler Lösungen auf den Plan treten: sie schlagen vor, den gordischen Knoten mit einem Hieb durch einen Präventivkrieg zu durchtrennen. Aber obwohl dieser Vorschlag einem „hartgesottenen Realismus“ entsprechen soll, dürfte er eher geeignet sein, eine Abdankung der Politik herbeizuführen, als ihre Schwierigkeiten zu lösen. Indem er unmögliche Alternativen setzt und sie als die einzig verfügbaren bezeichnet, sichert er die Fortsetzung eben des Kurses, den er anzugreifen scheint.
Die Sicherheit der Vereinigten Staaten
Di: Forderung eines Präventivkrieges ist also von einer Aura der Irrealität umgeben. Ihre Befürworter übersehen das Schlüsselproblem der Politik als der Kunst des Möglichen, indem sie annehmen, man sei völlig frei in der Wahl der Mittel, und weder der Kongreß noch die öffentliche Meinung könne das Handeln Washingtons einschränken. Außerdem kann Amerika gegenwärtig auch vom rein militärischen Gesichtspunkt aus keinen Präventivkrieg ins Auge fassen. Wer wollte mit neunzehn Divisionen und ohne Verbündete einen Weltkrieg beginnen? Unter den gegebenen Umständen wäre der Präventivkrieg ein Akt der Frivolität, dessen Folgen sich sehr wohl als viel schrecklicher erweisen könnten als die Zustände, die er beseitigen will. Er wäre nicht ein Akt der Politik, sondern ein Akt der Verzweiflung. Alle verantwortungsbewußten Politiker in Amerika sollten sich deshalb bemühen, ein Zwischenprogramm zu finden, das die Gefahren des augenblicklichen Kurses vermeidet, ohne einen Atomkrieg heraufzubeschwören. Denn selbst eine Politik der maximalen Risiken müßte gewisse Übergangsphasen berücksichtigen: um die öffentliche Meinung vorzubereiten, um die amerikanischen Streitkräfte zu verstärken und, wenn möglich, die Alliierten unter einen Hut zu bringen. Zunächst ergeben sich also vor allem zwei Fragen: wie sollen die Zwischenlösungen aussehen, und welches sind die minimalen Voraussetzungen für die Sicherheit der Vereinigten Staaten?
Man sollte von vornherein betonen, daß die Alternative zum Präventivkrieg nicht der Friede als solcher ist. Nichts war so gefährlich wie die Vorstellung, der Friede könne unmittelbar und als ein Ziel in sich erstrebt werden, wobei dann alle Spannungen plötzlich verschwinden und die Menschen von nun an in Harmonie leben würden. Dieser Gedanke ist ein Überbleibsel des amerikanischen Optimismus, der den Krieg nur als vorübergehende Verirrung betrachtete eine und die Sicherheit, die zwei große Ozeane gaben, für den Normalfall der internationalen Beziehungen hielt. Aber der Friede wird nur erreicht, wenn man ihn nicht als das unmittel-bare Ziel der Politik anstrebt. Wenn immer der Friede — konzipiert als Vermeidung des Krieges — das einzige Ziel einer Macht oder einer Mächtegruppe ist, dann bleibt das internationale System dem erbarmungslosesten seiner Mitglieder auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Bei einer derart beschränkten Zielsetzung ist eine Politik des appeasewent die unausweichliche Folge. Wenn ein Staatsmann seine weitere Tätigkeit ausschließlich dem fortgesetzten guten Willen einer anderen souveränen Macht anheim-stellt, dann bedeutet das nur den Aufschub der unvermeidlichen Kraftprobe. Und mit dem zunehmenden Mißverhältnis der Kräfte pflegt dann auch die Selbstbeherrschung zu verschwinden. Eine Einigung, die nicht ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte einbegreift, dürfte darum nur von kurzer Dauer sein — wenigstens bietet die Geschichte kein Beispiel für das Gegenteil. Aber in einer Welt von zwei Supermächten ist ein solches Gleichgewicht besonders schwer zu erreichen. Das klassische Gleichgewicht der Kräfte würde voraussetzen, daß keine Macht oder Mächtegruppe imstande wäre, die gegnerische Gruppe total auszuschalten. Aber je geringer die Zahl der ausgleichenden Faktoren ist, desto mehr rächt sich jede falsche Berechnung und desto unnachgiebiger sind die miteinander Streitenden. Die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wären darum auch im günstigsten Falle schwierig. Aber sie bekommen ihre besondere Härte durch die Dynamik einer revolutionären Ideologie, welche die gesamte nichtkommunistische Welt als einen potentiellen Feind betrachtet.
Welche Macht kann man dem Sowjetkoloß entgegenstellen, um die Ausschaltung der Ver-einigten Staaten zu verhindern? Alle Überlegungen hierzu müssen von der geopolitischen Tatsache ausgehen, daß die Vereinigten Staaten im Verhältnis zu Eurasien eine Inselmacht mit unterlegenen Hilfsquellen sind — heute nur im Hinblick auf die Einwohnerzahl, aber mit der Zeit auch im Hinblick auf die industrielle Kapazität. Wenn Eurasien der Kontrolle einer einzigen Macht oder Mächtegruppe anheimfiele und wenn diese Gruppe genügend Zeit fände, ihre Möglichkeiten zu entwickeln, dann sähen sich die Vereinigten Staaten zu einer militärischen Anstrengung gezwungen, die mit dem american way of life, wie man heute zu sagen pflegt, nicht in Einklang zu bringen wäre. Und selbst um diesen Preis wäre die Existenz der Vereinigten Staaten, denen drei Viertel der Weltbevölkerung und ein kaum geringerer Prozentsatz der Hilfsquellen der Welt gegenüberstehen würden, sehr gefährdet. Die Amerikaner dürfen es darum nie zulassen, daß die Hilfsquellen Eurasiens von einer einzigen Macht — oder gar von einer ihnen offenbar feindselig gesinnten Macht — organisiert werden. Und da die Vereinigten Staaten eine Inselmacht sind, sollte ihr Einfluß auf den für eine Seemacht zugänglichen Halbinsel besonders stark sein: in Korea, in Südostasien, auf dem indischen Subkontinent, in der Türkei, in Griechenland und in Westeuropa. Die entscheidenden Fragen sind darum: erstens, ob man Westeuropa und die Halbinseln Eurasiens gegen die sowjetische Drohung sichern kann; und zweitens, ob unter der Voraussetzung, daß diese Sicherung möglich sei, die Sicherheit dieser Gebiete die Ausschaltung der Vereinigten Staaten verhindern wird.
Einschränkung der Sowjetsphäre?
Man darf freilich die Bedeutung des Problems nicht überschätzen. Es handelt sich nicht nur um eine Krise der Macht, sondern auch um eine Krise des Willens. Die industrielle Kapazität der freien Welt übersteigt heute und für absehbare Zeit noch erheblich die des Sowjet-blocks. Das strategische Problem kann man daher folgendermaßen zusammenfassen: die Gefahr einer moralischen Isolierung der Vereinigten Staaten ist größer als die ihrer tatsächlichen Ausschaltung. Die freie Welt müßte selbst in ihrer heutigen Ausdehnung genug Kräfte mobilisieren können, um eine sowjetische Aggression in ihre Schranken zu weisen. Aber die Bereitschaft der Alliierten Amerikas, diese Kräfte einzusetzen, ist nicht sehr groß, weil die Erinnerung an die Besetzung bei ihnen ein gewisses Gefühl der Impotenz hervorbrachte und weil sie die Überlegenheit der Sowjets in der konventionellen Bewaffnung kennen. Die Lage verschärft sich noch durch die Tatsache, daß die Sowjets Atomwaffen besitzen. Denn wenn beide Seiten diese Waffen haben, dann wird das Risiko ihrer Anwendung so unübersehbar, daß sie sich fast von selbst verbietet. Daraus folgt jedoch, daß die Überlegenheit der Sowjets in konventionellen Waffen und die heutige Ausdehnung des Sowjetblocks eine beständige Gefahr bleiben. Solange die sowjetischen Armeen an der Elbe stehen, ist Westeuropa ungesichert; und solange China unbehindert durch Asien marschiert, suchen die nicht den beiden Blocks zugehörigen Mächte ihre Sicherheit in der Neutralität. Die amerikanische Strategie sollte deshalb zwei Ziele haben: auf kurze Sicht die Verhinderung einer weiteren Expansion der Sowjet-sphäre; auf lange Sicht eine Reduzierung des Sowjetblocks, die es ihm unmöglich macht, einen Krieg mit den konventionellen Waffen zu gewinnen, während ihn die technische Überlegenheit der Amerikaner vor der Führung eines Atomkrieges abschrecken wird.
Gegen diese strategische Konzeption kann man einwenden, eine Reduzierung der Sowjet-sphäre sei mit einer Ausschaltung der Sowjetunion gleichbedeutend und darum ohne einen Atomkrieg nicht zu erreichen. Es mag sein, daß diese Reduktion ohne einen Atomkrieg nicht möglich ist; aber nicht deshalb, weil ein Atom-angriff die Sowjetunion auf Gnade und Ungnade den Vereinigten Staaten ausliefem würde. Denn selbst die auf die Grenzen ihres heutigen 1 Bestands reduzierte Sowjetunion bliebe noch immer ein zu fürchtender Gegner, wenn er auch nicht mehr imstande sein sollte, einen Angriffskrieg zu gewinnen. Allein schon ihre gewaltige Ausdehnung würde einen Angriff behindern und ihre Atomkapazität für Verteidigungszwecke noch immer ausreichen. Ein Rußland, das außerstande wäre, einen Angriffskrieg zu gewinnen, aber innerhalb seines eigenen Gebiets unangreifbar bliebe, würde lediglich zu seiner traditionellen Position gegenüber Europa zurückkehren. Aber daraus ergibt sich, wenn der Atomkrieg vermieden werden soll, eine Folgerung. Man darf die Sowjetunion nicht nur auf ihr Mutterland reduzieren: sie muß sich darin auch sicher fühlen. Gewiß, es ist nicht wahrscheinlich, daß die Sowjetunion sich, um welchen Preis auch immer, freiwillig zurückzieht. Ihre Unsicherheit ergibt sich, alles in allem genommen, aus der Existenz der Vereinigten Staaten als einer nichtkommunistischen Macht und nicht aus deren Politik. Trotzdem könnte eine geschmeidigere amerikanische Diplomatie, verbunden mit einer Steigerung der militärischen Stärke, das Geflecht der internationalen Beziehungen wesentlich ändern. Mindestens würde sie die freie Welt zusammenschließen. Im besten Falle gelänge es ihr, die „Friedensparteien“ innerhalb des Sowjetblocks zu stärken: jene Gruppen, die nicht gewillt sind, wegen peripherer Ziele alles aufs Spiel zu setzen. So könnte man die Sowjet-sphäre durch innere Spaltung vielleicht doch noch reduzieren. Aber welche Diplomatie vermag beides in Einklang zu bringen: das minimale Ziel des Zusammenschlusses der freien Welt und das maximale Ziel einer Reduzierung der Sowjetsphäre? Zunächst muß man eines klar sehen: in einer Welt, die eine revolutionäre Macht einbegreift, wandelt sich die Natur der internationalen Beziehungen; nicht etwa, weil die revolutionäre Macht sich bedroht fühlt — das gehört zur Natur der auf souveränen Staaten basierenden internationalen Beziehungen —, sondern weil nichts ihr das Gefühl der Sicherheit geben kann. Nur die absolute Sicherheit, das heißt die Ausschaltung des Gegners, wird als ausreichende Garantie betrachtet! Und absolute Sicherheit für eine Macht bedeutet absolute Unsicherheit für alle anderen. Die Diplomatie, jene Kunst, die Machtausübung zu bändigen und die Macht im Hintergrund zu halten, kann bei solchem Risiko nicht funktionieren. Darum ist es irreführend zu behaupten, die Diplomatie könne internationale Konflikte beseitigen, wenn nur „guter Glaube“ und „Verständigungswillen“ vorhanden seien. Gerade daran scheint es in einer „revolutionären“ internationalen Ordnung zu fehlen. Die Diplomaten mögen noch immer zusammenkommen, aber sie überzeugen einander nicht mehr, denn sie haben aufgehört, die gleiche Sprache zu sprechen. Diplomatische Konferenzen dienen den streitenden Parteien nicht mehr zur Aussprache, sondern nur als Bühne, auf der sie denen, die sich noch keiner der streitenden Parteien angeschlossen haben, sorgfältig vorbereitete Stücke vorführen.
Deshalb sind die Konferenzen nicht nutzlos, aber ihr Zweck hat sich gewandelt: in einer „legitimen“ internationalen Ordnung kann man über einmal gestellte Forderungen verhandeln, in einer „revolutionären“ Ordnung sind sie programmatisch. Wenn man in einer stabilen Ordnung minimale Forderungen formuliert, verzichtet man auf den Vorteil der Geschmeidigkeit bei Verhandlungen. Stellt man jedoch maximale Forderungen an einen revolutionären Gegner, der sie auf jeden Fall zurückweisen-wird, dann verschärft man noch die eigentliche Schwierigkeit einer revolutionären Periode: die Nicht-Engagierten davon zu überzeugen, daß der Revolutionär wirklich ein Revolutionär ist und daß seine Ziele unbegrenzt sind. Gerade weil die Alliierten Amerikas vor dem Dilemma stehen, daß ihre Regierungen das Ausmaß der sowjetischen Macht kennen, während ihre Völker sich weigern, an die Realität dieser Gefahr zu glauben, sollte man es nicht zulassen, daß der Sowjetblock das fundamentalste Faktum des politischen Lebens in der ganzen Welt sich zunutze macht: die Sehnsucht nach Frieden. Ganz im Gegenteil: nur wenn man den Sowjetblock zwingt, die „Friedensoffensive" auf konkrete Ziele zu reduzieren, kann man ihre Hohlheit entlarven; nur so läßt sich die freie Welt vereinigen. Amerika sollte sich nicht vor Konferenzen fürchten, vor allem, wenn sie sorgfältig vorbereitet sind; denn eine Konferenz, die scheitert, bringt die Dinge keineswegs zu ihrem Ausgangspunkt zurück: sie kann als” Sprungbrett für eine entschlossenere Aktion dienen.
Deutschlands Wiederbewaffnung kein Selbstzweck
Das Deutschlandproblem bildet hier ein aufschlußreiches Beispiel. Natürlich hat die Sowjetunion das größte Interesse, die Wiederbewaffnung Deutschlands zu hintertreiben. Aber trotzdem sollten die Vereinigten Staaten die Möglichkeit nicht übersehen, daß die augenblickliche Besorgnis der Sowjets zum Teil von dem Bemühen, die Satelliten bei der Stange zu halten und an den französischen Nationalismus zu appellieren, motiviert ist. Auf keinen Fall dürfen sie das neuerliche Angebot der Sowjets gegenüber Westdeutschland durch bloße Verdächtigung der Motive abtun. Es fehlt Amerika noch immer an einem politischen Rahmen für seine militärischen Maßnahmen. Die Verteidigung der Elbe mag eine Voraussetzung der Politik sein, aber sie ist selbst noch keine Politik — und schon gar nicht, wenn sie die Teilung Deutschlands verewigt. Die Vereinigten Staaten dürfen es nicht zulassen, daß die Sowjetunion als der Vorkämpfer der deutschen Einheit auftritt.
Wenn sie weiterhin die deutsche Wiederbewaffnung durch eine Zuteilung von zwölf Divisionen für die Verteidigung des Westens rechtfertigen, werden sie mehr und mehr auf den Widerstand der Nationalisten und Sozialisten stoßen, und der Ruf nach unmittelbaren Verhandlungen mit Rußland wird immer lauter werden. Sie brauchen sich nicht davor zu scheuen, selbst kühne Vorschläge zur deutschen Einheit zu machen. Ein Rückzug der Sowjets aus Ostdeutschland würde viel mehr bedeuten als eine Verlegung der sowjetischen Grenze um hundert Meilen nach Osten. Er wäre vor allem die Preisgabe einer Satellitenregierung und die Warnung für die osteuropäischen Staaten, daß ihnen ähnliches droht. Die Sowjetunion weiß genau, daß das den Titoismus fördern würde. Deshalb kann Amerika sich noch viel stärker für die deutsche Einheit einsetzen als bisher. Vor allem aber sollte es sich davor hüten, die sowjetischen Vorschläge mit gereizter Empfindlichkeit zurück-zuweisen, nur weil sie für das unmittelbare Ziel der deutschen Wiederbewaffnung einen Aufschub bedeuten. Die Verleihung der Souveränität an Westdeutschland war ein nützlicher erster Schritt, aber es hätten ihm konkrete Vorschläge für eine mögliche Wiedervereinigung folgen müssen. Wenn man die Aufrüstung Deutschlands mit einem detaillierten Plan für die Abrüstung auf dem Kontinent verbinden würde (in dem Sinne etwa, daß Deutschlands Armee nicht größer sein solle als die Frankreichs und Polens), dann hätte man die französischen Ängste beruhigt und zugleich auf den Sowjet-block einen Druck ausgeübt. Mit einem Wort:
die deutsche Wiederbewaffnung ist kein Selbstzweck. Sie sollte als ein Aspekt der Forderung nach der Einigung Deutschlands dargestellt und durch einen Vorschlag zur allgemeinen Abrüstung legitimiert werden. Damit ist nicht gesagt, Amerika dürfe in seiner Anstrengung, Verteidigungswälle zu schaffen, nachlassen, sondern nur, daß diese Wälle wirkungsvoller wären, wenn sie in einem größeren Zusammenhang stehen würden. Militärische Stärke ist wesentlich, aber sie kann sich nicht selbst legitimieren.
Es obliegt den Vereinigten Staaten, für ihre militärischen Ziele einen entsprechenden politischen Rahmen zu finden.
Aber damit stellt sich ein neues Problem: das der amerikanischen Führerschaft. Auch hier müssen wir uns vor Alternativen hüten, die sich bei näherem Zusehen mehr als Wunschbilder denn als Realitäten erweisen. Als die stärkste Macht auf der Welt haben die Vereinigten Staaten nicht die Wahl zwischen Engagement und Isolierung, sondern nur zwischen Führerschaft und Schaffung eines Vakuums. Man sagt, Genf 1954 und das Schicksal der EVG hätten die Grenzen der amerikanischen Führung gezeigt und die Illusion der amerikanischen Omnipotenz sei gefährlicher gewesen als die Anerkennung von Grenzen. Aber Genf und die EVG beweisen lediglich die Grenzen einer schwankenden und formalistischen Führung. Die Genfer Konferenz geriet in eine Sackgasse, weil sie schlecht vorbereitet war, weil die Vereinigten Staaten sich über ihre eigenen Ziele nicht im klaren waren und in der aufgeregten Unentschlossenheit der letzten Minute die Verantwortung der Aktion auf Alliierte abwälzten, die kaum in ihrer eigenen Interessensphäre eine Entscheidung treffen konnten. Und der EVG hätte man von vorne-herein keine so große Bedeutung beimessen sollen. Die Vereinigten Staaten können in der Formulierung gemeinsamer Ziele sehr weit gehen, aber sie können nicht alle zu ihrer Erreichung notwendigen Mittel vorschreiben. Die EVG war eines der politischen Mittel zur Herbeiführung der deutschen Wiederbewaffnung, zu jenem Zeitpunkt das einzig wirklich wesentliche Ziel der amerikanischen Führung, und ein Ziel, das erreichbar schien. Der spätere Verlauf der Ereignisse hat bewiesen, daß die Führerschaft zuweilen unter der Form der Selbstbeschränkung am wirksamsten ist.
Es kann nie die Aufgabe einer Führerschaft sein, eine Übereinstimmung zu erzwingen, sondern nur, die Bedingungen dafür zu schaffen. Eine Führungsmacht, die ihre wahre Funktion erfüllt, muß sich damit abfinden, eine Zeitlang — mindestens solange sie den Weg absteckt — abseits zu stehen. Daß es im alliierten Lager vor geplanten Aktionen Meinungsverschiedenheiten gibt, ist weniger wichtig, als daß sie hinterher auftreten. Entschlossene amerikanische Führung und einseitige Einmischung in Indochina hätten zu zeigen vermocht, daß auch die andere Seite dem Atomkrieg nicht mit Gleichmut entgegensieht und daß die Neutralisten nicht dadurch, daß sie die Aktion Amerikas behindern, ihrem Dilemma entrinnen können. Und wäre diese einseitige Aktion von einem politischen Vorschlag begleitet gewesen — etwa eines politischen Kuratoriums für Indochina unter asiatischem Vorsitz und einer Garantie für Chinas Südgrenze —, dann hätte man damit die amerikanische Entschlossenheit und Mäßigung besser bewiesen als mit allen formalistischen Erklärungen zusammen. Eine — wie man annehmen darf — erfolgreiche Aktion hätte, ohne einen Weltkrieg herbeizuführen, das amerikanische Bündnissystem ebensosehr gestärkt wie Genf es demoralisiert hat. Und im Falle eines Weltkriegs — obwohl die Vereinigten Staaten ihr Eintreten für beschränkte Ziele ausreichend garantiert hätten — wäre die moralische Basis nicht eben schlecht vorbereitet gewesen. Es sollte, mit einem Wort, die Aufgabe der amerikanischen Führung sein, die Voraussetzungen dafür zu schaffen — einseitig, wenn nötig —, daß die gemeinsame Aktion mehr ist als eine bloße Belastung der amerikanischen Handlungsfreiheit. Durch Unnachgiebigkeit gegen jeden Druck und durch Mäßigung im Falle der eigenen Überlegenheit können die Amerikaner ihren Alliierten Mut machen und im besten Falle sogar eine Spaltung des von der Sowjetunion beherrschten Machtblocks herbeiführen. Wenn die Vereinigten Staaten sich das Recht vorbehalten, einseitig vorzugehen, indem sie gewisse Bedingungen stellen, dann müssen sie auch gewillt sein, in bestimmten Zeiten und um besonderer Ziele willen allein zu stehen. Sie dürfen nicht, vor allem nicht auf Gebieten, die außerhalb der Hauptinteressensphäre unstabiler Regierungen liegen, auf vollkommene Einmütigkeit drängen. Auf eine französische Regierung, die alle Mühe hat, ihre europäische Rolle zu spielen, die Verantwortung für die amerikanischen Maßnahmen in Asien abwälzen zu wollen, heißt jede entscheidende Aktion behindern und das Vertrauen dieser Regierung im eigenen Lande untergraben. Eine maßvolle Uneinigkeit kann sogar die verbündeten Regierungen innenpolitisch festigen; ihre Unterstützung wird dann, wenn sie sich auf wesentliche Ziele richtet, um so wertvoller sein. Schließlich sind die Vereinigten Staaten nicht an der Schaffung von Satelliten, sondern von Regierungen, die Selbstvertrauen haben, interessiert. Solche Regierungen haben natürlich ihre eigenen Ideen. Starke nichtkommunistische Regierungen — selbst wenn sie gelegentlich eine andere Meinung vertreten als die Vereinigten Staaten — sind nützlicher als unsichere, schwache und viel eher imstande, in lebenswichtigen Fragen entscheidend zu han-deln. Die amerikanische Regierung muß darum aufhören, für die bloße Vortäuschung gemeinsamen Handelns schon einen Preis zu bezahlen, sie muß sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen gemeinsames Handeln möglich ist. Wenn es nicht zustande kommt, dann liegt es an ihr zu entscheiden, ob die amerikanischen Interessen oder die strategische Gesamtposition ein einseitiges Vorgehen erfordern. Die Alliierten sollten sich in den Bereichen, die sie am meisten angehen, einer ähnlichen Freiheit erfreuen dürfen. Mit andern Worten: wenn Amerika sich fremder Regierungen bedient, darf es ihnen nicht vorschreiben, wie sie sein sollen, sondern muß sie so nehmen, wie sie sind. Wenn Indien sich weigert, dem Südostasienpakt beizutreten, kann die amerikanische Diplomatie es noch immer als einen Kanal zu den anderen Nationen dieses Raumes — selbst zu Rotchina — benutzen. Indien mag gegen den Südostasienpakt opponieren; aber trotzdem sollten die Vereinigten Staaten das Prestige dieses Landes verwenden, ihre politischen Ziele zu legimitieren oder um das Stigma des Kolonialismus zu beseitigen, indem sie Indien auffordern, gemeinsam mit ihnen die wirtschaftliche Entwicklung Südostasiens zu betreiben.
Die psychologische Grundlage der Bündnisse
Ein solches Vorgehen könnte die freie Welt zusammenschließen und gleichzeitig ein Mittel sein, um einen Keil zwischen die Sowjetunion und ihre Satelliten zu treiben. Vielleicht wird die Sowjetunion auf ihre Macht über ihre Satelliten verzichten, wenn sie entdeckt, daß es zu viel Kraft kostet, sie bei der Stange zu halten. Das wird umso schwieriger, je mehr die Satelliten dahinterkommen, daß sie nicht nur die „Bauern“ im Schachspiel, sondern eine marktfähige Ware sind, und daß sie, wenn sie den Sowjets folgen, der Katastrophe entgegengehen, ohne auf eine wirksame oder gar totale Hilfe Rußlands rechnen zu können. Das westliche Bündnissystem wurde durch Aktionen der Sowjets in Bereichen, die für die Alliierten Amerikas nur von peripherem Interesse sind, auf eine harte Probe gestellt. Die Vereinigten Staaten sollten ebenfalls den Versuch machen, Bedingungen zu schaffen, welche die latenten Interessenunterschiede innerhalb des Sowjetsblocks verschärfen würden. Es war für Großbritannien nicht leicht, einen Atomangriff auf Nord-Indochina zu riskieren, aber es ist fraglich, ob die Sowjetunion alles aufs Spiel gesetzt hätte, nur um die Macht Chinas zu stärken. Und wie viel würde China riskieren, um die Wiedervereinigung Deutschlands zu verhindern? Wir müssen den Mythos zerstören, daß der Sowjetblock vollkommen geschmeidig, vollkommen frei in seinen Entscheidungen und gewillt ist, alle Risiken auf sich zu nehmen. Jede Unsicherheit innerhalb des Sowjet-blocks kommt der Entschlußkraft der westlichen Alliierten zugute; und das gilt erst recht für den Fall einer wirklichen Spaltung.
So sind wir wieder zum Grundproblem zurückgekehrt: zur psychologischen Haltung der Vereinigten Staaten und ihrem militärischen Potential. Das hier umrissene Programm ist nicht durchführbar ohne Opfer, und das amerikanische Volk muß sich darüber klar sein, daß ihm kritische Jahre bevorstehen. Es handelt sich wesentlich um ein Führungsproblem, und im amerikanischen Regierungssystem kann nur der Präsident dieses Problem lösen. Er muß die Innen-und Außenpolitik besser koordinieren; vor allem muß er entscheiden, ob ein ausgeglichenes Budget und weltweite Engagements miteinander vereinbar sind. Das amerikanische Volk hat einem entschlossenen Präsidenten nur selten Hindernisse in den Weg gelegt. Es bleibt jedoch alles — sogar die unbestreitbar größere Geschmeidigkeit der Diplomatie — umsonst, wenn die Vereinigten Staaten nicht ihre militärische Stärke vergrößern. Mit neunzehn Divisionen verdammen sie sich selbst zur Ohnmacht, außer im Falle eines allgemeinen Krieges; und den zu entfesseln, werden die Vereinigten Staaten immer weniger Neigung verspüren, je mehr die Atomkapazität der Sowjets zunimmt. Es bleibt somit eine gebieterische Forderung, daß Amerika seine Armee, seine Luftverteidigung, seine taktische Atomkapazität und seine militärischen Ausgaben vergrößert — aus dem einfachen Grunde, weil keine Diplomatie stärker ist als die Macht, die hinter ihr steht.
Das sind die Grundprinzipien für die amerikanische Strategie und für die Maßnahmen, durch die man die Alternative zwischen totaler Selbstaufgabe und totalem Atomkrieg vermeiden könnte; denn zwischen diesen beiden Extremen müssen die Vereinigten Staaten, soweit ihre menschlichen und materiellen Mittel es zulassen, den Kurs steuern.