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Mein Leben als Sowjetstudent | APuZ 34/1955 | bpb.de

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APuZ 34/1955 Mein Leben als Sowjetstudent

Mein Leben als Sowjetstudent

Wolfgang Leonhard

Wolfgang Leonhard, der Autor der folgenden Veröffentlichung, kam als dreizehnjähriger Junge mit seiner Mutter in die Sowjetunion. Seine Mutter wurde Ende Oktober 1936 im Verlauf der großen „Säuberung" von der NKWD verhaftet. Er selbst wuchs in einem sowjetischen Heim für Kinder deutscher und österreichischer Emigranten in Moskau auf, absolvierte die sowjetische Schule und studierte einige Semester an der Moskauer Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen. Politisch äußerst interessiert, trat er im September 1939 dem Komsomol, dem kommunistischen Jugendverband der Sowjetunion, bei. Im September 1941, wenige Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, wurde er zusammen mit vielen in Moskau lebenden Deutschen nach Karaganda zwangsumgesiedelt. Im Herbst 1942 wurde Leonhard ebenso wie eine Reihe anderer jüngerer deutscher Emigranten wieder zurückgeholt und zum politischen Studium in die Kominternschule entsandt, um für die Nachkriegsaufgaben in Deutschland geschult zu werden. Nach der Auflösung der Komintern war Leonhard im Nationalkomitee „Freies Deutschland" in Moskau tätig und kehrte im April 1945 als Mitglied der „Gruppe Ulbricht" im Sonderflugzeug nach Berlin zurück. Nach der Neugründung der KPD im Juni 1945 wurde er verantwortlicher Redakteur des parteiamtlichen Schulungsmaterials und Referent in der Abteilung „Agitprop" (Agitation und Propaganda) im Zentralkomitee der KPD, eine Funktion, die er auch nach der Gründung der SED beibehielt. Schon in Moskau, aber vor allem während seiner Tätigkeit als Mitglied der „Gruppe Ulbricht", jener ersten Gruppe kommunistischer Funktionäre, die von Moskau kommend in Berlin eintrafen, und durch seine Tätigkeit im Zentral-sekretariat der SED lernte er die heutigen Führer der „DDR“ — Pieck, Ulbricht, Matern u. a. — aus nächster Nähe kennen. Vom September 1947 bis zum Frühjahr 1949 war Wolfgang Leonhard Dozent an der SED-Parteihochschule „Karl Marx“ in Klein-Machnow bei Berlin. Im März 1949 hat er mit dem stalinistischen System gebrochen und floh nach Jugoslawien, das sich wenige Monate vorher von Moskau gelöst hatte, um einen eigenen, von der Kremlbürokratie unabhängigen sozialistischen Weg zu gehen. Seit November 1950 lebt er in der Bundesrepublik.

Dieser Lebensweg ermöglichte dem Autor, Dinge kennenzulernen und mitzuerleben, über die bisher in der westlichen Welt kaum etwas bekannt sein dürfte: Die Rolle der Komintern nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges, die Vorgeschichte und Durchführung ihrer Auflösung, die der Autor in der Kominternschule selbst miterlebte, die Ausbildung der höheren Funktionäre und die bereits mitten im Krieg erfolgte Vorbereitung für die Aufgaben des Nachkriegsdeutschland. Auf Grund seiner eigenen Erlebnisse schildert der Autor, wie die neue im Ostblock erzogene Funktionärsgeneration denkt und fühlt, wie sie urteilt und wo ihr kritisches Denken einsetzt. In der nächsten Zukunft — vielleicht in einem Jahrzehnt, vielleicht noch früher — wird diese Generation junger Funktionäre die Geschicke der Sowjetunion und des Ostblocks entscheiden. Es sind Menschen, die erst nach der Oktoberrevolution geboren, niemals etwas anderes als das Sowjetsystem gekannt haben und Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre in das politische Leben eingetreten sind. Es werden Menschen sein, die das gleiche erlebt, gefühlt und gedacht haben wie der Autor. Bisher ist über die junge stalinistische Funktionärsgeneration des Ostens wenig bekannt. Man weiß in der nichtsowjetischen Welt kaum etwas über ihre Ausbildung und Schulung, über ihre Auffassung und Denknormen, über ihre Vorstellungswelt und ihr Verhalten. Das Buch von Wolfgang Leonhard „Die Revolution entläßt ihre Kinder", das demnächst im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, erscheint, kann dazu beitragen, diese Unkenntnis zu überwinden.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser und der folgenden Ausgabe der Beilage zwei Kapitel des Buches und zwar das 2. Kapitel: „Mein Leben als Sowjetstudent“ sowie das 5. Kapitel: „In der Kominternschule". „Wenn Sie innerhalb von fünf Tagen eine Studien-oder Arbeitsmöglichkeit mit Wohngelegenheit gefunden haben, steht Ihrer Entlassung aus dem Heim nichts im Wege. Wenn nicht, dann werden Sie hier bleiben und sich, so wie alle anderen, den Bedingungen des Heims fügen“, sagte mir der Direktor des „Spartak“ -Heims im strengen Ton. Mein Entschluß war gefaßt: Um keinen Preis wollte ich in dem mir so trostlos erscheinenden russischen Kinderheim „Spartak“ bleiben. Ich mußte einfach aus diesem Haus heraus, das mir wie eine Zwangsjacke vorkam.

So war ich auf der Suche nach einer Lehranstalt, die Absolventen der 9. Klasse aufnahm und Stipendien und Unterkunftsmöglichkeiten bot.

Der rettende Vorbereitungskursus „Wir können leider niemanden mehr aufnehmen. Wir mußten schon im August Anwärter abweisen, da der Lehrgang bereits komplett ist“, antwortete man mir im Moskauer Lehrerinstitut, das in einem alten Gebäude in der Nähe der U-Bahnstation „Kriowskaja“ untergebracht war.

Ich zeigte meine „Pochwalnaja Gramota“, die Belobigungsurkunde für ausgezeichnete Schüler. „Vielleicht können wir doch eine Ausnahme machen. Kommen Sie übermorgen wieder.“ Übermorgen — das war der letzte Tag der vom Direktor gestellten Frist.

Auf dem Rückweg vom Lehrerinstitut ging ich an unserem früheren schönen Heim in der Kalaschnij-Pereulok vorüber. Inzwischen waren dort bereits russische Kinder untergebracht worden. Da man uns doch nicht so schnell los werden konnte, waren den „übriggebliebenen“ österreichischen und deutschen Jugendlichen einstweilen zwei Zimmer zur Verfügung gestellt worden. Auch ich könnte dort vorübergehend noch wohnen, wurde mir gesagt, falls ich im Lehrerinstitut nicht sofort eine Schlaf-

gelegenheit erhalten sollte.

Inzwischen war der fünfte Tag meiner „Galgenfrist“ angebrochen. Gespannt betrat ich morgens wieder das Gebäude des Lehrerinstituts. „Wir haben Ihren Fall beraten. Wir können Sie doch noch aufnehmen.“

Schon wollte ich erfreut danken, ja ich fühlte mich bereits als Student des Lehrerinstituts und vom „Spartak“ -Heim befreit. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. „Es wird allerdings noch mindestens eine Woche dauern, bis die Formalitäten erledigt sind und Sie von uns eine offizielle Bescheinigung über Ihre Aufnahme erhalten können.“ Noch eine Woche — so lange konnte ich nicht warten. Niemals würde der Direktor darauf eingehen. Ich mußte etwas in der Hand haben. Ein Papier. Sofort! Nur das konnte mich retten.

„Vielleicht wollen Sie in den Vorbereitungskursus. Dort können wir Sie natürlich sofort aufnehmen, aber da würden Sie ein Jahr verlieren.“

In diesem Augenblick war mir alles egal! Bloß weg aus dem russischen Heim! Ich wußte gar nicht genau, wozu dieser Vorbereitungskurs diente, aber als ich „sofort aufnehmen“ hörte, war ich gleich dafür.

Wenige Minuten später hatte ich die so heiß ersehnte Bescheinigung: „Es wird hiermit bestätigt, daß Genosse W. Leonhard Kursant des Vorbereitungskurses des Moskauer Lehrer-Instituts für Fremdsprachen ist“.

Freudestrahlend verließ ich das Lehrer-Institut, und eine halbe Stunde später war ich wieder im Spartak-Heim. Kurz darauf stand ich vor dem Direktor. Er versuchte freundlich zu sein und beglückwünschte mich sogar.

Dann nahm ich Abschied von meinen deutschen und österreichischen Jugendfreunden aus dem früheren Kinderheim Nr. 6, mit denen ich so viele Jahre gemeinsam verbracht hatte und die jetzt im russischen Spartak-Kinderheim „gleichgeschaltet“ waren. Auch sie wünschten mir alles Gute, wie es der Direktor getan hatte, aber es lag mehr Wärme und Offenheit in ihren Worten.

So begann im September 1939 mein Leben als Student des Vorbereitungskurses des Moskauer Lehrer-Instituts für Fremdsprachen.

Die einjährigen Vorbereitungskurse für Hochschulen waren damals in der Sowjetunion ziemlich verbreitet. Sie hatten den Zweck, den Nachwuchs für eine bestimmte Hochschule vorzubereiten und die zukünftigen Studenten schon vor dem Eintritt in die Hochschule mit den Spezial-fächern vertraut zu machen.

Nach Abschluß dieses Jahres wird ein Examen abgelegt, das mit der Aufnahmeprüfung für die Hochschule identisch ist. Da ich nun Schüler des Vorbereitungskurses war, nahm ich mit Sicherheit an, nach einem Jahr, d. h. im September 1940, in das Moskauer Lehrerinstitut für Fremdsprachen, das sogenannte „MLIIIJA“, ausgenommen zu werden.

Der Unterricht fand nicht im Institut selbst statt, sondern nachmittags und abends in den Räumen einer Schule im Zentrum Moskaus.

Obwohl wir nun schon fast so etwas wie Studenten waren, ähnelte der Betrieb des Vorbereitungskurses weitgehend dem einer Schule. Genau wie in der Schule hatten wir einen festgelegten Unterricht mit Klassen-arbeiten und Hausaufgaben. Wir erhielten Zensuren und mußten viele Prüfungen ablegen, wie dies in allen sowjetischen Schulen üblich ist. Mehr als die Hälfte der Unterrichtszeit war der englischen Sprache gewidmet. Als Nebenfächer, die wir allerdings auch obligatorisch besuchen mußten, gab es Russisch, Russische Literatur und Geschichte. Ich war froh, von Mathematik, Physik, Chemie und „Tschertschenje" befreit zu sein, um mich auf die Fächer konzentrieren zu können, die mich interessierten.

Im Vorbereitungskursus ging man sehr systematisch, allerdings auch sehr langsam vor. Die ersten drei bis vier Monate beschäftigten wir uns ausschließlich mit Phonetik, da auf Aussprache großer Wert gelegt wurde. Alle Diktate wurden in der internationalen phonetischen Schrift geschrieben. Viel Zeit widmeten wir der Aussprache der phonetischen Zeichen, mußten diese vor Spiegeln üben und genau über die Stellung der Zunge und des Gaumens Bescheid wissen. Erst im zweiten Halbjahr kamen wir überhaupt zum englischen Alphabet und zur englischen Schriftsprache.

Diese Unterrichtsmethode mag zwar nach westeuropäischen Begriffen äußerst langweilig erscheinen, aber sie hatte den Vorteil, daß beim Über-gang zu den ersten englischen Texten die Kursanten im allgemeinen eine außerordentlich gute Aussprache hatten — und das war ja auch der einzige Weg für den fremdsprachlichen LInterricht in einem Land, wo man kaum englische Rundfunksendungen hören, englische oder amerikanische Filme sehen, nur wenig englische oder amerikanische Bücher lesen konnte und natürlich niemals die Möglichkeit hatte, sich mit englischen oder amerikanischen Besuchern zu unterhalten. Es wurde nach einer Methode gelehrt, die dem sowjetischen Leben angepaßt war.

Mich interessierte besonders der Geschichtsunterricht, der sich nach dem Abschluß des Nichtangriffspakts mit Deutschland in vieler Hinsicht geändert hatte. Noch ein Jahr zuvor war der Sieg Alexander Newskis über den deutschen Ritterorden bei der Schlacht am Peipus-See im April 1242 als das wichtigste Ereignis der russischen Geschichte bezeichnet worden. Nun, nach Abschluß des Paktes mit Deutschland, wurde diese Schlacht nur noch in einem Nebensatz erwähnt. Stattdessen wurde auf die historische Bedeutung der Außenpolitik Peters des Großen besonders aufmerksam gemacht, der die Schaffung des preußischen Staates im Jahre 1701 unterstützt und damit den Grundstein gelegt hätte für die enge Zusammenarbeit zwischen Preußen-Deutschland und Rußland, die auch heute wieder . . . und dann folgte die bereits bekannte Darstellung der historischen Bedeutung des Paktes zwischen der Sowjetunion und Deutschland.

Die Veränderungen nach dem Paktabschluß waren auch auf anderen Gebieten nicht zu übersehen. In der Bibliothek für ausländische Literatur lagen nun statt der Emigrantenzeitungen häufig Nazi-Zeitungen aus, und manche antifaschistischen Romane deutscher Emigranten waren aus der Bibliothek entfernt worden. Das Wort „Faschismus“ kam in der Sowjet-presse überhaupt nicht mehr vor. Es war, als hätte es nie einen Faschismus gegeben.

Die innenpolitischen Veränderungen waren schlagartig nach dem Abschluß des Paktes eingetreten. Schon am Abend des 23. August 1939 waren in allen Lichtspielhäusern der Sowjetunion die damals bekannten antifaschistischen Sowjetfilme „Professor Mamlock" (nach einem Theaterstück von Friedrich Wolf) und „Familie Oppenheim“ (nach einem Roman von Lion Feuchtwanger) abgesetzt worden. Auch alle Theaterstücke mit antifaschistischem Inhalt verschwanden am gleichen Abend, darunter auch das Schauspiel „Die Matrosen von Catarro", obwohl es sich um ein Stück handelte, das einen Matrosenaufstand im Jahre 1918 behandelte, der sich gegen die österreich-ungarische Monarchie richtete. Aber wahrscheinlich dachte sich die Theaterzensurstelle, daß man in dieser Hinsicht gar nicht vorsichtig genug sein könne.

Nachdem am 1. September mit Hitlers Angriff auf Polen der zweite Weltkrieg begonnen hatte, lautete die offizielle These, es handelte sich um einen imperialistischen Krieg von beiden Seiten, und der Sowjetunion sei es durch ihre geniale Außenpolitik gelungen, in diesem Kriege neutral zu bleiben. Wenige Tage später wurde die erste pro-sowjetische Anekdote verbreitet: „Hast du schon von unserem neuen Aufschwung in der Flugzeug-produktion gehört?“ „Nein, wieso?“ „Gestern wurden in Luftkämpfen über Westeuropa 12 englische und 8 deutsche Flugzeuge abgeschossen.“ „Aber was hat das mit unserer Flugzeugproduktion zu tun?“ „Ist doch klar. Damit haben wir 20 Flugzeuge mehr.“

Am 17. September 1939, nachdem Polen bereits fast völlig durch die Hitler-Armeen zerschlagen war, wurde der Einmarsch der sowjetischen Truppen in Polen bekanntgegeben. Überall — natürlich auch in unserem Institut — fanden an diesem Tage Massenversammlungen statt, auf denen die Maßnahme der sowjetischen Regierung „erklärt“ wurde. „Zum Schutz von Leben und Eigentum der blutsverwandten Völker der Westukraine und des westlichen Teils von Bjelo-Rußland" — lautete die offizielle Begründung für den Einmarsch der Sowjettruppen in Polen.

Noch wenige Wochen zuvor hatte sich die Sowjetunion bereit erklärt, Polen vor einem Angriff Hitlers zu schützen und zu verteidigen.

Der Feldzug in Polen war bald zu Ende, und am 28. September wurde bekanntgegeben, daß über den Nichtangriffspakt mit Deutschland hinaus nun noch ein Freundschaftsvertrag und ein Abkommen über die neuen Grenzen in dem früher polnischen Gebiet abgeschlossen worden sei.

Auch nach dem Abschluß des Freundschaftsvertrages blieb die offizielle Parteilinie bei ihrer Erklärung, daß es sich um einen imperialistischen Krieg von beiden Seiten handele.

Wir hatten jedoch längst gelernt, selbst die kleinsten Hinweise in der Zeitung und im Rundfunk genau zu beachten, und es konnte uns daher nicht entgehen, daß sowohl im Rundfunk als auch in der Presse der deutsche Wehrmachtsbericht immer an erster Stelle, die entsprechenden Kommuniques aus England und Frankreich dagegen an zweiter gebracht wurden. Auch gab die „Prawda“ den Auszügen aus Hitlers Reden mehr Raum als den Auszügen aus Churchill-Reden. Es war für uns also nicht schwer zu erkennen, daß die offizielle Propaganda in ihrer Tendenz etwas mehr auf Seiten Hitler-Deutschlands als auf der Seite der Westmächte stand. Mit guten Vorsätzen in den Komsomol Die jüngste außenpolitische Entwicklung hatte zwar meine Zweifel an manchen Erscheinungen in der Sowjetunion verstärkt, aber meine grundsätzliche Haltung noch nicht erschüttert. Es lag daher kein Widerspruch darin, daß ich mich gerade um diese Zeit bemühte, in den Komsomol, -den Kommunistischen Jugendverband der Sowjetunion, einzutreten. Ich wünschte aufrichtig, ein guter Komsomolze zu werden. Ich hatte schon sehr viel über Komsomolzen gelesen, von ihren heroischen Taten in der Revolution und im Bürgerkrieg und im ersten Fünfjahresplan, vor allem hatte mich das Buch von Nikolai Ostrowski „Wie der Stahl gehärtet wurde“ tief beeindruckt, jener Komsomolzen-Roman, der so viele sowjetische Jugendliche beeinflußte, an dem sie sich aufrichteten, wenn sie Zweifel hatten und aus dem sie neue Zuversicht schöpften, neue Kräfte und neue Energien.

Der Komsomol stand damals kurz vor der Feier seines 21jährigen Bestehens. Am 29. November 1918 hatte der „Erste Allrussische Kongreß der Arbeiter-und Bauernjugend“ sich mit der Kommunistischen Partei solidarisch erklärt und den Namen „Kommunistischer Jugendverband Rußlands“ angenommen. Ausgehend von dieser Bezeichnung bürgerte sich bald die Abkürzung „Komsomol“ (Komunistitschesky Sojus Molodjeshi) ein.

Die Jahre des Bürgerkrieges waren die heroische Zeit des Komsomol und gleichzeitig auch eine Periode stürmischen Wachstums. Die Mitglieds-ziffer stieg von 22 000 bei der Gründung im November 1918 auf 400 000 Mitglieder zu Beginn des Jahres 1920. Der Komsomol war zu jener Zeit noch keineswegs eine politisch einheitlich ausgerichtete Organisation, in der alle Mitglieder einer von oben befohlenen „Linie“ folgten, sondern ein lebendiger revolutionärer Jugendverband, in dem es noch verschiedene oppositionelle Strömungen gab.

So entstand 1920/21 im Komsomol der Ukraine eine Opposition, die für die Gründung eines eigenen unabhängigen ukrainischen Jugendverbandes eintrat. Es war eine Strömung, die sich an die sogenannten „Borotbisten"

anlehnte, eine damals recht starke Gruppierung innerhalb der Bolschewistischen Partei der Ukraine. Die Borotbisten befürworteten eine von Moskau unabhängige eigenständige sozialistische Entwicklung der Ukraine.

Noch interessanter war die Strömung der sogenannten „Jungen Syndikalisten“ im Komsomol, die sich an die „Arbeiteropposition“ Schljapnikows anlehnten. Diese Opposition wandte sich gegen die zunehmende Zentralisierung der Wirtschaft und des Staatsapparates, gegen die Leitung der sozialisierten Betriebe durch staatlich eingesetzte Direktoren und forderten eine Arbeiterselbstverwaltung. Die Verwaltung der sozialistischen Betriebe sollte durch gewählte Arbeiterräte erfolgen, deren Tätigkeit auf höherer Ebene durch gewählte Produzentenräte koordiniert werden sollte — eine Konzeption, die in vielem dem System der Arbeiterräte ähnelte, wie sie ein Vierteljahrhundert später in Jugoslawien, nach dem Bruch mit Moskau, eingeführt wurden.

Diese interessanten oppositionellen Strömungen und die Auseinandersetzungen zwischen ihnen wurden 1939, als ich dem Komsomol beitrat, natürlich als „gefährliche Abweichungen“ bezeichnet, die vom Komsomol „zerschlagen“ worden seien. Heute werden sie überhaupt nicht mehr erwähnt.

Nach Lenins Tod, im Januar 1924, wuchs die Organisation zwar zahlenmäßig schnell — im Oktober 1924 war die Mitgliederzahl auf 700 000, im Mai 1928 auf 2 Millionen gestiegen —, gleichzeitig aber verlor sie an revolutionärem Elan. Selbständige Regungen, Strömungen und Auffassungen wurden von oben zerschlagen, die Abhängigkeit von der Partei verstärkt, besonders nachdem Stalin erklärt hatte: „Der Verband ist ein Instrument der Partei, ein Hilfswerkzeug der Partei“.

Noch einmal schien der Komsomol einen mächtigen Aufschwung zu nehmen, als 1928 der erste Fünfjahresplan anlief. Die Komsomolzen — ähnlich wie im Bürgerkrieg — überboten sich an Eifer, Tatkraft und Einsatzbereitschaft. Zehntausende von ihnen nahmen teil am Aufbau der gigantischen Industriewerke in Stalingrad und am Dnejpr, im Ural und in Sibirien. Im Fernen Osten entstand eine ganze Stadt, die nur von Komsomolzen aufgebaut war und die ihnen zu Ehren den Namen „Komsomolsk“ erhielt. Mitte der 30er Jahre — der Komsomol zählte, etwa 4 Millionen Mitglieder — kam, wie auf vielen anderen Gebieten, ein Wendepunkt.

Das Programm, nach Inhalt und Form eine Widerspiegelung der revolutionären Zeiten Lenins, wurde durch ein anderes ersetzt. Die Gedanken der Revolution, des Internationalismus und des Kampfes für die Unterdrückten aller Länder wurden in den Hintergrund gedängt. An ihre Stelle traten nun mehr und mehr die Begriffe „Sowjetpatriotismus“, „Staatsbewußtsein“ und „Wachsamkeit“.

Die soziale Herkunft, die bisher stark unterstrichen wurde, spielte nun bei der Aufnahme in den Komsomol keine nennenswerte Rolle mehr — entscheidend war die Loyalität gegenüber dem System. Die erzieherischen Aufgaben des Komsomol wurden besonders hervorgehoben: politische Schulung, Sport und militärische Ausbildung, daneben Literatur-zirkel, musikalische Aufführungen und Tanzabende. Die neue Losung des „fröhlichen Lebens der Sowjetjugend“ sollte jedoch nicht allzulange gültig sein, denn kurz darauf begannen die großen Säuberungen von 1936 bis 193 8, die sich auch im Komsomol verheerend auswirkten.

Selbst der langjährige Generalsekretär des Komsomol, Kossarew, blieb nicht verschont. Alexander Kossarew, damals 35 Jahre alt, war 1918 unmittelbar nach der Gründung dem Komsomol beigetreten. Als 16jähri-ger Komsomolze nahm er an der Verteidigung von Petrograd teil und hatte anschließend den ganzen Bürgerkrieg an den Fronten miterlebt. Nach seiner Rückkehr wurde er zunächst zum Sekretär des Baumann-Bezirks von Moskau gewählt, 1926 war er Sekretär des Moskauer Verbandes, und seit März 1929 stand er als Generalsekretär an der Spitze des Komsomol.

Kurz vor Ende der Säuberung traf ihn der vernichtende Schlag der Jeshowschen Geheimpolizei. Kossarew und seine engsten Mitarbeiter in der Komsomolführung wurden beschuldigt, „Doppelzüngler“ und „moralisch verkommene Personen“ zu sein, die „als Feinde des Volkes“ den Versuch gemacht haben sollten, „die Arbeit des Komsomol zu untergraben“. Als ich im Herbst 1939 dem Komsomol beitrat — er zählte zu jener Zeit 9 Millionen Mitglieder — lag die Säuberung jedoch schon weit zurück.

Über ein Jahr hatte ich mich für den Eintritt in den Komsomol politisch vorbereitet. Ich hatte das Programm und das Statut studiert, die wichtigsten Schriften Lenins und Stalins gelesen und natürlich die Geschichte der KPdSU „durchgearbeitet“.

Nun fühlte ich mich reif für die Aufnahme, schrieb eine Erklärung an die betreffende Grundorganisation des Komsomol, in der ich, wie es üblich war, meinen Wunsch zum Eintritt in den Komsomol darlegte und politisch begründete.

Wenige Tage später saß ich in einem nüchternen Zimmer, umgeben von russischen Komsomolzen, die mich aufmerksam musterten.

„Wir haben hier noch den Aufnahmeantrag vom Genossen Leonhard, den wir jetzt behandeln wollen“, sagte der Sekretär und las meinen Aufnahmeantrag vor. Es herrschte Stille, und ich fühlte mich fast wie in einem Examen.

„Wie üblich, wird es wohl das beste sein, wenn uns Genosse Leonhard zunächst seinen Lebenslauf schildert. Ich bitte die Genossen, genau zuzuhören und anschließend Fragen zu stellen.“

In der feierlichen, offiziellen Stimmung mußte ich jetzt meinen für russische Komsomolzen etwas ungewöhnlichen Lebenslauf erzählen.

Ein oder zwei Jahre vorher, zur Zeit der Säuberungen, wäre ich sicher niemals ausgenommen worden. Kein Komsomolze hätte den Mut gefunden, den Antrag eines jungen Menschen zu befürworten, der seine Kindheit in Deutschland verbracht hatte und dessen Mutter von der NKWD verhaftet worden war. Jetzt, im Herbst 1939, war die Situation jedoch völlig anders. Ich konnte ungehindert meinen Lebensbericht zu Ende führen.

„Gibt es irgendwelche Fragen an den Genossen Leonhard?“, fragte der Sekretär.

„Was für gesellschaftliche Arbeiten hast du bisher geleistet?“

„Ich war ein Jahr lang Redakteur der Wandzeitung in der Schule und zwei Jahre Mitglied der Wandzeitungsredaktion im Kinderheim.“ „Wie steht es mit dem Lernen?“

„Im Schuljahr 1935— 36, in der 6. Klasse und in der 9. Klasse war ich Otlitschnik. In der 7. und 8. Klasse bestand ich die meisten Fächer mit gut’.“ Meine schwächeren Zeugnisse 1937— 38 wurden mir nicht verübelt. Bei den anderen sah es gewiß ähnlich aus. In den Jahren der Säuberungen waren die Leistungen allgemein gesunken.

„Hast du die Geschichte der KPdSU (B) durchgearbeitet?“

„Ja, ich bin bereit, auf diesem Gebiet Fragen zu beantworten.“

Aber es fragte keiner. Offenbar hatten sie wenig Lust, auf dieses Thema einzugehen, das ihnen schon überdrüssig geworden war. Statt dessen folgten die üblichen Fragen über den Komsomol.

„Was sind die wichtigsten Pflichten eines Komsomolzen?“

Idi antwortete getreu nach dem Statut: „Die wichtigsten Pflichten eines jeden Komsomolzen sind:

die Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin zu studieren, sein politisches Wissen ständig zu vermehren und die marxistisch-

leninistische Lehre den breiten Massen der Jugend nahezubringen, die Beschlüsse der Partei der Bolschewiki und des Komsomols auszuführen und aktiv am politischen Leben des Landes teilzunehmen;

in der sozialistischen Einstellung zur Arbeit vorbildlich zu sein, das sozialistische Eigentum zu hüten und gegen Verletzungen der Ordnung des sozialistischen Staates aufzutreten;

sich wissenschaftliche und technische Kenntnisse anzueignen und am kulturellen Leben teilzunehmen, sich körperlich auszubilden, Sport zu betreiben und stets bereit zu sein, seine ganze Kraft und wenn notwendig sein Leben, für die Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes einzusetzen;

aktiv an der Arbeit der Komsomolorganisationen teilzunehmen, die Komsomolversammlungen regelmäßig zu besuchen, die Aufträge der Organisation unverzüglich, schnell und genau zu erfüllen und alles Begonnene auch konsequent zu Ende zu führen.“

„Wer kann in den Komsomol ausgenommen werden?“

„In den Komsomol können Jugendliche im Alter von 15 bis 26 Jahren ausgenommen werden, die sich zum Statut und zum Programm des Verbandes bekennen, die in einer seiner Organisationen tätig sind, sich allen Vorschriften des Verbandes unterwerfen und regelmäßig die Mitgliedsbeiträge entrichten.“

„Nach welchem organisatorischen Prinzip ist der Komsomol aufgebaut?“

„Der Komsomol ist nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut. Das bedeutet, daß alle leitenden Organe gewählt werden, die unteren Organe den oberen unterstellt sind, die Minderheit sich der Mehrheit zu fügen hat, die Komsomolorgane ihren Organisationen gegenüber Rechenschaft ablegen müssen.“

„Gut, das genügt", meinte der Sekretär-. „Gibt es noch irgendwelche Fragen?“

Einen Augenblick herrschte Stille.

„Wenn keine Fragen mehr zu stellen sind, kommen wir zur Abstimmung.

Wer dafür ist, die Aufnahme Leonhards in den Komsomol von unserer Gruppe aus zu befürworten, den bitte ich, die Hand zu heben.“

Alle Anwesenden hoben die Hand.

Damit war meine Aufnahme jedoch noch nicht vollzogen.

„Unser Antrag geht jetzt an das Rayonkomitee des Komsomol. Du wirst von dort Nachricht erhalten und dich beim Rayonkomitee zur angegebenen Zeit melden.“

Etwa zwei Wochen später wurde ich dann zum Rayonkomitee des Komsomol bestellt. Der Rayonsekretär stellte einige Fragen und sprach über die Ehre, die mit dem Eintritt in den Komsomol verbunden sei, über das Vertrauen, das man damit in mich setze und über meine Verpflichtung, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Ernst, fast feierlich, überreichte er mir das kleine dunkelgraue Büchlein mit der/Aufschrift „Wsesojusnij Leninskij Sojus Kommunististscheskoj Molodjoshi (WLKSM)“.

Als ich ihm zur Antwort gab, daß ich all meine Kräfte einsetzen würde, um das Vertrauen zu rechtfertigen, benutzte auch ich die vorgeschriebenen Formulierungen — aber ich sprach sie ergriffen, mit ehrlicher Überzeugung.

Einem westlichen Leser mag das vielleicht eigentümlich erscheinen: Meine Mutter war verhaftet worden, ich hatte die Verhaftung meiner Pädagogen und Freunde miterlebt und selbstverständlich längst bemerkt, daß die sowjetische Wirklichkeit ganz anders war, als sie etwa in der „Prawda“ geschildert wurde. Aber irgendwie trennte ich diese Dinge, auch meine persönlichen Eindrücke und Erlebnisse, von meiner grund-

sätzlichen politischen Überzeugung. Es war fast, als ob es zwei Ebenen gab: die eine der Tagesereignisse und eigenen Erlebnisse, über die ich mir nicht selten kritische Gedanken machte, die andere war die große „Linie“, die ich zu jener Zeit „grundsätzlich gesehen" — trotz mancher Bedenken — immer noch für richtig hielt.

Ich glaube, daß sehr viele Komsomolzen eine ähnliche Trennung vornahmen und für viele von ihnen diese Denkweise typisch ist. Allerdings gab und gibt es auch Jugendliche, die dem Komsomol nicht aus tiefster Überzeugung beitreten. Das wurde mir bald klar, denn von nun an nahm ich ständig an den Sitzungen und Versammlungen teil und lernte bald die verschiedensten Komsomolzen kennen, die man, meiner Meinung nach, in vier Gruppen einteilen könnte:

Da waren zunächst die „Enthusiasten", junge Menschen, sprühend von Aktivität und Initiative, die mit Begeisterung, Hingabe und Aufopferung für den Komsomol tätig waren, sich aber über politische Probleme nicht allzu viele Gedanken machten und politische Widersprüche oder plötzliche Wendungen der Linie kaum zu bemerken schienen. Für sie war der Komsomol die einzige Möglichkeit, ihre jugendliche Kraft zu entfalten. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, eine andere Bewegung oder Organisation mit gleichen Möglichkeiten hätte sie nicht minder angezogen.

Dann gab es einen anderen Typ von Komsomolzen, zu dem auch ich damals gehörte. Er trat aus politischer Überzeugung der Organisation bei und fühlte sich vor allem von den programmatischen Fragen und der politischen Diskussion angezogen. Auch solche Komsomolzen waren aktiv, wenn auch nicht immer so weitgehend wie die „Enthusiasten“. Sie sahen wohl manche Widersprüche und hatten zuweilen ernste Bedenken, versuchten aber durch langwierige und manchmal sehr komplizierte Gedankengänge vor sich selbst alles zu rechtfertigen.

Den dritten Typ des „Karrieristen“ fand ich vor allem bei Söhnen und Töchtern von Partei-, Staats-und Wirtschaftsfunktionären. Sie wollten etwas im Leben erreichen und sprachen das manchmal auch unverblümt aus. Im Komsomol sahen sie lediglich ein Sprungbrett, um schneller Karriere machen zu können.

Schließlich stieß ich zu meinem Erstaunen auf einen Typ, den ich als „gleichgültig-selbstverständlichen Komsomolzentyp“ bezeichnen möchte. Es waren junge Leute, die sich offensichtlich über ihren Beitritt zum Komsomol keine Gedanken gemacht hatten. Sie waren eingetreten, weil andere es auch taten, weil ihre Freunde oder Freundinnen im Komsomol waren, „weil es eben so ist“. Diesen Typ traf ich vor allem unter Mädchen im Komsomol, aber keineswegs nur unter ihnen.

Insgesamt war ich 6 Jahre lang Mitglied des sowjetischen Komsomol. Erst nach längerer Zeit, als ich so eng mit einigen Komsomolzen befreundet war, daß ich offen über meine ketzerischen Gedanken sprechen konnte, bemerkte ich zu meinem großen Erstaunen: ich stand keineswegs allein.

Nach und nach — leider muß ich hier auf jede nähere Beschreibung verzichten, um die Betreffenden nicht zugefährden — kam ich mit einigen oppositionellen Komsomolzen zusammen. Einer dieser Freunde im Komsomol bekannte sich in einem Gespräch mit mir zum Anarchismus. Meine anderen oppositionellen Freunde waren Marxisten und Leninisten — aber gerade weil sie die Lehren von Marx und Lenin ernst nahmen, standen sie in vielen entscheidenden Fragen in Opposition zu dem System, vor allem gegen die Allmacht der NKWD und gegen die Säuberung der alten Garde der Bolschewiki. Einmal las mir eine Komsomolzin ein Gedicht vor, das, mit der Hand geschrieben, in diesen Kreisen weitergegeben wurde. Es war ein revolutionäres Freiheitsgedicht.

Später hörte ich, daß sogar der Roman eines oppositionellen Komsomolzen von anderen mit der Hand abgeschrieben worden war und an ganz sichere Genossen weitergegeben wurde. Der Titel dieses Romans lautete: „Gullivers Reisen in das Land, wo die Wände Ohren haben.“

Die Überraschung im Finnland-Krieg Im Oktober 1939 lasen wir in der „Prawda“, daß Finnland ein Angebot der Sowjetunion über den Abschluß eines Beistandspakts abgelehnt hatte. Die UdSSR — so wurde uns gesagt — habe Finnland um eine Verschiebung der Grenzen bei Leningrad um 30 km gebeten und sei bereit, Finnland statt dessen ein fünffach größeres Territorium abzutreten. Mir schien die finnische Haltung zunächst unverständlich. Wie alle anderen „gewöhnlichen“ Sowjetbürger hatte auch ich keine anderen Informationsquellen. Ich wußte nichts von den Debatten im finnischen Parlament, fast nichts von der Stellung Westeuropas und Amerikas zu diesen Fragen. Vor allem hatte ich natürlich keine Ahnung von den Befürchtungen der finnischen Bevölkerung, daß der Pakt der Anfang vom Ende der finnischen Souveränität werden würde — wie es sich ja nur wenige Monate später am Beispiel Estlands, Lettlands und Litauens bewahrheiten sollte.

Der Ton der „Prawda“ gegen Finnland wurde nun immer schärfer. In der zweiten Oktoberhälfte wurde nicht mehr von der „finnischen Regierung“, sondern nur noch von finnischen „Häuptlingen“, „Abenteurern“ und „Glücksspielern“ gesprochen. Die Namen der maßgebenden finnischen Persönlichkeiten wurden mit verächtlichen Adjektiven bedacht.

Am 29. November explodierte das Pulverfaß. Sowjetische Truppen überschritten die'finnische Grenze. Offiziell wurde bekanntgegeben, finnische Truppen hätten an der sowjetischen Grenze „eine Reihe von provokatorischen Übergriffen“ verübt. Aber das wurde nicht sehr ernst genommen, auch von denen nicht, die im allgemeinen „ 100°oig" waren. Wenn man im Gespräch mit ihnen die offiziellen Formulierungen vom „finnischen Angriff“ benutzte, bekam man als Antwort häufig das bekannte Augenzwinkern, das ich später noch oft erleben sollte.

Wenige Tage nach Beginn des russisch-finnischen Krieges wurde in großer Aufmachung die Einnahme der ersten finnischen Stadt, Terioki, und die Bildung einer „finnischen Volksregierung“ unter dem Vorsitz von Kuusinen bekanntgegeben. Diese neugeschaffene Regierung hatte einen Aufruf an das finnische Volk erlassen und sogar Fahnen gestiftet für diejenige Truppeneinheit, die als erste in Helsinki einmarschieren würde.

Nach dem ersten schnellen Vorstoß und der Einnahme Teriokis blieben die sowjetischen Truppen jedoch vor der Mannerheim-Linie stecken. Man hörte viel von großen Verlusten, und die „kleine Aktion des Leningrader Militärbezirks“ verwandelte sich in einen richtigen Krieg. Es schien uns unvorstellbar: die große, ruhmreiche, unbesiegbare Sowjetarmee, die uns immer als stärkste der Welt gepriesen worden war, stand nun in einem Krieg gegen das kleine Finnland, das nur 31/2 Millionen Einwohner zählte!

Noch eigentümlicher als der wochenlange Stillstand der Front war für uns alle das Durcheinander im Transport-und Versorgungswesen. Schon während der ersten Kriegstage hatten Personenzüge stundenlange Verspätungen oder fielen überhaupt aus. Einige Tage nach Kriegsbeginn gab es in Moskau bereits Schlangen vor den Brotläden. Manche Versorgungsgüter wurden überhaupt nicht geliefert.

Wenn es bei einem „örtlichen Zusammenstoß“ mit einem kleinen Lande schon zu derartiger Desorganisation kommt — so fragten sich die Menschen damals in Moskau — was wird dann erst passieren, wenn die Sowjetunion in einen wirklich ernsten Krieg gegen Großmächte eintreten müßte? Die Besorgnis der Menschen kam in einem kleinen Scherzwort zum Ausdruck, das damals in Moskau flüsternd weitererzählt wurde:

Jeschtscho nitschewo njet, Es gibt noch nichts a ushe nitschewo njet.

und schon gibt es nichts mehr Schto she budjet, Was wird es erst geben, Kogda schto nibud budjet? wenn es wirklich etwas gibt?

Drei Wochen waren seit Kriegsbeginn vergangen. „Zu Stalins Geburtstag wird der Krieg sicher zu Ende sein“, hatte man anfangs oft gehört. Aber der 21. Dezember, Stalins Geburtstag, verstrich — und der Krieg war noch immer nicht zu Ende.

Die Wintermonate vergingen. Täglich lasen wir auf der ersten Seite der „Prawda" links unten das Kommunique des Leningrader Militärbezirks. Es wurde lediglich von der Erstürmung „befestigter Punkte“ berichtet. Ortsnamen tauchten nicht auf, da lange Zeit überhaupt keine Ortschaften mehr eingenommen wurden.

Obwohl der Krieg unpopulär war, glaubten viele meiner Freunde und auch ich, daß er bis zum Ende durchgefochten würde. Schließlich bestand ja bereits eine neue finnische „Volksregierung“, und die Mitglieder der offiziellen finnischen Regierung waren so häufig als „Mörder“, „Banditen“ und „Faschisten“ bezeichnet worden, daß wir nicht glaubten, die Sowjetunion werde mit derselben Regierung jemals wieder Verhandlungen führen.

Um so erstaunter waren wir, als plötzlich am 12. März 1940 der Friedensvertrag mit Finnland abgeschlossen wurde. Die Sowjetunion erhielt auf Grund dieses Vertrages die Karelische Landenge und die Stadt Wyborg und auch an einigen anderen Stellen wurde die Grenze etwas zugunsten der Sowjetunion verschoben, schließlich erhielt die Sowjetunion noch pachtweise die Halbinsel Hangö — aber diese Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen zu Beginn des Krieges zurück.

Mit denselben finnischen Führern, die in der „Prawda" wenige Wochen zuvor nur „Abenteurer“ und „Glücksspieler“ hießen, hatte die Sowjetregierung nun einen Friedensvertrag abgeschlossen! Überall gab es wieder Massenversammlungen, auf denen die Beendigung des Krieges als Beweis der Friedenspolitik der Sowjetunion und ihres Führers Stalin dargestellt wurde. Wie üblich wurde am Schluß jeder Versammlung bekanntgegeben, daß der Referent Fragen beantworte — und diesmal gab es Fragen. „Mir ist eines unklar, Genosse Referent“, hörte ich einen Studenten fragen. „Seit einigen Monaten besteht doch eine finnische Volksregierung, die jetzt im Vertrag gar nicht erwähnt wird. Was ist denn mit der Volks-regierung?“ ?

Der Referent wurde etwas verlegen. „Diese Frage kann ich augenblicklich noch nicht beantworten. Darüber ist in der offiziellen Verlautbarung nichts zu finden. Es ist jedoch sicher, daß unsere Sowjetregierung auch in dieser Hinsicht die notwendigen Schritte unternehmen wird.“

Von einem Bekannten, der in einem Betrieb arbeitete, erfuhr ich, daß auch dort die Frage gestellt worden war. Der Referent, der aus Arbeiter-kreisen stammte, löste die Frage einfach: „Ach ja, herrjeh, die Volks-regierung! Wo ist denn die bloß geblieben? Darüber hat man uns ja auf der Agitatorensitzung gar nichts gesagt!“

Da offenbar diese Fragen auf sehr vielen Versammlungen auftauchten, wurde wenige Tage später in einem Artikel der „Prawda“ erwähnt, daß durch den sowjetisch-finnischen Vertrag neue Verhältnisse entstanden seien und die Volksregierung sich selbst aufgelöst habe.

Mit diesem Nebensatz war das Schicksal der finnischen „Volksregierung“ abgetan. Der Krieg war beendet, und er wurde verständlicherweise nur noch selten erwähnt, denn der sowjetisch-finnische Krieg 1939/40 war einer der größten politischen und militärischen Mißerfolge der Sowjetunion.

Im Verlauf dieses Krieges hatte ich mehrmals mit einigen Freunden gesprochen, mit denen ich auch schon während der Zeit der Säuberungen vorsichtig Gedanken ausgetauscht hatte.

Jeder wußte einen Grund zu nennen für den Mißerfolg der Sowjettruppen:

„Die Rote Armee war auf den Feldzug gar nicht vorbereitet.“

„Die militärischen Kräfte Finnlands sind weitgehend unterschätzt worden.“

„Es sind politische Hoffnungen an die Bildung der „Volksregierung“ geknüpft worden, die in der Wirklichkeit nicht berechtigt waren.“

„Durch die große Säuberung, die Massenverhaftungen von Generälen, höheren und mittleren Offizieren, war die Sowjetarmee dezimiert und geschwächt worden.“

Auch heute glaube ich, daß darin die Ursachen für die Mißerfolge der sowjetischen Kriegsführung in Finnland 1939/40 zu suchen sind.

Viele Jahre später, als ich schon im Westen war, hörte ich zu meinem Erstaunen die Meinung, die Sowjetunion habe absichtlich den Krieg in Finnland so lasch geführt, um damit das Ausland irrezuführen und dort den Eindruck einer militärischen Schwäche hervorrufen. Ich halte eine solche Auffassung für völlig irrig. Selten war die Sowjetunion so daran interessiert, stark zu erscheinen, wie gerade damals, kurz nach dem Ausbruch des Krieges in Europa und als Bündnis-Partner Hitler-Deutschlands.

Mehr denn je mußte ihr daran gelegen sein, als stärkste Großmacht gewertet zu werden, um als ebenbürtiger Partner Hitler-Deutschlands zu gelten, ihre Stellung als einzige, damals nicht am Weltkrieg teilnehmende Großmacht zu festigen, um dadurch umworben zu werden und Konzessionen zu erreichen.

Ein deutliches Zeichen dafür, daß im finnischen Krieg eine wirkliche und nicht eine fiktive Schwäche der Roten Armee zum Ausdruck kam, liegt auch darin, daß wenige Wochen nach Beendigung des finnischen Krieges die große Reorganisierung der Sowjetischen Armee begann. Man scheute selbst nicht davor zurück, verhaftete Offiziere wieder aus den Lagern zurückzurufen, um sie mit neuen Kommandos zu beauftragen.

Anfang Mai 1940 wurde Woroschilow, der langjährige Volkskommissar für Verteidigung, abgesetzt. An seine Stelle trat Marschall Ti-moschenko.

Kurz darauf wurden die persönlichen Dienstränge für den höchsten Kommandeurbestand der Roten Armee und Kriegsmarine eingeführt, Anfang Juli wurde das Strafmaß für Fahnenflucht oder eigenmächtiges Verlassen des Dienstes erheblich verschärft, die Einhaltung der Gruß-pflicht wurde besonders verlangt und eine neue Beschwerde-und Arrest-ordnung eingeführt.

Schließlich wurde im Herbst 1940 die seit 1925 beendete Disziplinarordnung durch eine neue, schärfere ersetzt, in der die unbedingte Disziplin gegenüber den Befehlen der Vorgesetzten besonders betont und die Nichterfüllung eines Befehls als Verbrechen gebrandmarkt wurde.

Die Zeit vom Frühjahr bis Herbst 1940 war jedoch nicht nur durch die große Reorganisation der Roten Armee gekennzeichnet. Es war auch die Zeit, in der die Freundschaft mit Hitler-Deutschland besonders stark betont wurde.

Moskau während des Hitler-Stalin-Pakts Die große Überraschung über den Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und den Freundschaftspakt vom 28. September war abgeklungen. Die Menschen in der Sowjetunion, darunter auch ich, hatten sich an die „neuen Gegebenheiten" gewöhnt. Wir betrachteten es schon fast als selbstverständlich, daß es keine antifaschistischen Filme und antifaschistischen Bücher mehr gab. Immer wieder wurde mit Stolz verkündet, daß die Sowjetunion durch ihre geniale Friedenspolitik sich aus dem Konflikt herausgehalten habe und manchmal wurde sogar mehr oder weniger offen darüber gesprochen, daß der Krieg zwischen den Westmächten auf der einen und Hitler-Deutschland und Italien auf der anderen Seite der Sowjetunion nur nützlich sein könne. Es entstanden sogar Anekdoten und Wortspiele über die glänzende Situation, in der sich nun die Sowjetunion als nicht am Krieg beteiligte Großmacht befand. „Versucht mal zu raten, wer den Krieg gewinnt!“, sagte uns im Institut ein Student, dessen Eltern höhere Parteifunktionäre waren und uns manchmal mit — allerdings nur pro-sowjetischen — Anekdoten versorgte, die nicht in den Zeitungen standen.

Er ging an die Tafel und schrieb untereinander in lateinischen Buchstaben die Namen der Staatsmänner der damaligen kriegführenden Länder: Mussolini, Hitler, Chamberlein, Daladier, Tschiangkaischek und Mannerheim.

Lachend wandte er sich an uns: „Nun, wer gewinnt den Krieg?“ Es war zwar ein Scherz, aber niemand wollte gerne antworten. Man konnte ja nicht wissen . . . „Aber es ist doch ganz einfach!“

Ehe wir uns versahen, war er wieder an die Tafel gegangen, hatte den dritten Buchstaben eines jeden Namens besonders hervorgehoben und unterstrichen. Lachend zeigte er uns nun die unerwartete Lösung:

MuSsolini HiTler ChAmberlain DaLadier Chlangkaischek MaNnerheim Seit Anfang 1940 schwirrten Gerüchte, die Beziehungen mit Deutschland würden bald noch enger werden. Man hörte schon hie und da Gespräche über die Möglichkeit eines Kriegblocks zwischen Deutschland und der UdSSR, und es gab damals viele Menschen in Moskau, die an diese Möglichkeit glaubten.

Mitte Februar 1940 wurde der Abschluß eines neuen Wirtschaftsabkommens zwischen Hitler-Deutschland und der UdSSR begeistert begrüßt. Artikel über imperalistische Weltherrschaftspläne Englands und Frankreichs und Auszüge aus Hitler-Reden häuften sich. Am 26. Februar 1940 — das Datum habe ich mir genau gemerkt — erlebten die erstaunten Sowjetleser, daß eine ganze Seite der „Prawda" nur aus zwei Beiträgen bestand: einen langen Auszug aus einer Hitler-Rede und einem ausführlichen Artikel über das kommunistische Manifest.

Immer häufiger wurden in der Sowjetpresse England und Frankreich für den Krieg verantwortlich gemacht. „ 6 Monate dauert der Krieg, der von den englischen und französischen Imperialisten heraufbeschworen wurde, um ihre Herrschaft zu erhalten. Die anglo-französischen Imperialisten haben jedoch keine Erfolge in ihren Plänen einer Neuaufteilung der Welt erzielt. Um aus der Sackgasse herauszukommen, bereiten sie immer wieder neue Abenteuer vor mit dem Ziel, den jetzigen imperialistischen Krieg in einen neuen Weltkrieg zu verwandeln“, schrieb die „Prawda“ Anfang März 1940 und diese neue „Linie“ wurde auf unzähligen Versammlungen der sowjetischen Bevölkerung eingehämmert.

Anfang April wurden lange Auszüge aus dem sogenannten „Weißbuch des Außenministeriums“ der Hitler-Regierung mit zustimmenden Kommentaren in der „Prawda“ veröffentlicht. Sogar der Hitler-Angriff auf Dänemark und Norwegen wurde gerechtfertigt: „Die Maßnahmen Deutschlands . in diesem Falle waren notwendig ... Es wird behauptet, daß Deutschland durch seine Operationen in Skandinavien die Prinzipien des internationalen Rechts gebrochen, den Nichtangriffspakt mit Dänemark in einen Fetzen Papier verwandelt hätte usw . . . Heute jedoch, nachdem England und Frankreich bereits die Souveränität der skandinavischen Länder zum Schaden der Interessen Deutschlands verletzt und damit die Gegenmaßnahmen Deutschlands hervorgerufen haben, in scheinheiliges Wehklagen auszubrechen über die Rechtmäßigkeit oder Un-rechtmäßigkeit der deutschen Operationen, bedeutet nichts anders, als sich in eine lächerliche Lage zu versetzen.“

Nun war schon nicht mehr daran zu zweifeln, daß die offizielle Linie nicht mehr auf dem Standpunkt der absoluten Neutralität stand, sondern die immer engere Anlehnung an Hitler-Deutschland wurde mit jedem Tag deutlicher.

Die Politik der absoluten Neutralität in den ersten Wochen nach dem Pakt war im allgemeinen beliebt gewesen. Die jetzt erfolgte Wendung rief bei manchen jedoch Zweifel hervor. In einer Moskauer Hochschule hatte ein Student es gewagt, diese damals recht verbreiteten Zweifel offen auszusprechen.

Es geschah nach einer Vorlesung in Marxismus-Leninimus über das Thema der gerechten und ungerechten Kriege. Der Dozent legte die Unterschiede zwischen gerechten und ungerechten Kriegen dar. Gerechte Kriege könnten keine Eroberungskriege sein, sondern seien Befreiungskriege mit dem Ziel, entweder das Volk gegen einen äußeren Überfall oder gegen Unterjochungsversuche zu verteidigen, bzw. das Volk von der Sklaverei des Kapitalismus oder die Kolonien vom Joch der Imperialisten zu befreien. Ungerechte Kriege seien dagegen Eroberungskriege, die das Ziel hätten, fremde Länder zu erobern und fremde Völker zu versklaven.

Er analysierte die verschiedensten bekannten Kriege der Geschichte und schloß seine Vorlesung mit dem Hinweis, es sei die Aufgabe der Marxisten-Leninisten, jeweils die Kriege zu analysieren und danach ihre Stellung zu dem betreffenden Krieg zu formulieren. Wie immer hatte sich der Lektor nach Beendigung der Vorlesung bereiterklärt, Fragen der Studenten zu beantworten. Ein Student meldete sich:

„Genosse Dozent, vor wenigen Tagen haben die militärischen Operationen Deutschlands gegen Dänemark und Norwegen begonnen, die, wie uns in der Prawda mitgeteilt wird, notwendig gewesen seien. Wie steht es mit dem Charakter dieser militärischen Operationen? Kann man sie als gerechten Krieg bezeichnen? Ist dann etwa der Krieg von Seiten Norwegens und Dänemarks ein ungerechter Krieg?“

Es herrschte eine atemlose Stille im Hörsaal.

Die Frage war für den Dozenten höchst unangenehm. Er zog sich aus der Affaire, indem er erklärte, man könne die Dinge nicht so schematisch und formalistisch betrachten, sondern müsse sie in großen Zusammenhängen und ihren Wechselwirkungen erkennen. Eine Qualifizierung in gerechte und ungerechte Kriege sei in diesem Falle eine falsche unwissenschaftliche Fragestellung, die in einer solchen Form nicht zu beantworten sei.

Während es bei uns Studenten — und sicher in anderen Bevölkerungsschichten — manche Zweifel über die Richtigkeit der „Linie“ gab, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, daß auf der anderen Seite die neue Linie gegenüber Hitler-Deutschland nicht ohne Folgen für die Auffassung der Bevölkerung geblieben war. Als ich eines Vormittags an einem Zeitungsstand vorbeikam, unterhielten sich gerade zwei einfach gekleidete Leute über den Krieg in Westeuropa. „Hitler ist doch ein ganzer Kerl, wie der in Europa Ordnung schafft!“ sagte der eine.

„Der haut diese französischen und englischen Imperialisten und Kriegshetzer ganz schön zusammen“, meinte der andere zustimmend.

Ein anderes Mal wurde ich gefragt: „Haben eigentlich die Nazi-Konzentrationslager, von denen man früher so viel gehört hat, wirklich bestanden oder war das nicht vielleicht eine Propagandalüge von den englischen und französischen Imperialisten?“

In Kreisen deutscher Emigranten verkehrte ich zu jener Zeit verhältnismäßig selten. Nur einmal hatte ich die Gelegenheit, mit dem kommunistischen Dichter Erich Weinert, dem späteren Präsidenten des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ zu sprechen. Ich war mit seiner Tochter Marianne schon seit meiner Kindheit in Berlin befreundet und besuchte sie häufiger in dem neuen Schriftstellerhaus in der Lawruschinsky Pereulok. Als Erich Weinert ins Zimmer trat, fragte ich ihn, wie man denn nun die ganze Situation als deutscher Antifaschist zu betrachten habe. Erich Weinert — der mir menschlich sehr sympathisch war — sprach von der „völlig veränderten Situation“, von einer „neuen Aufgabenstellung“ und „neuen Perspektiven", die „ganz anders wären, als wir uns das früher gedacht hätten. „Der Nicht-Angriffs-und Freundschaftspakt vom September 1939“, meinte er, „ist vielleicht nur der Anfang und gewiß ist dann mit der Möglichkeit einer noch weitergehenden Zusammenarbeit mit Deutschland zu rechnen“.

Das war eine Auffassung, die ich im ersten Halbjahr 1940 häufig hörte. Viele sprachen damals von der Möglichkeit eines militärischen Bündnisses mit Hitler-Deutschland, manche sogar von der Möglichkeit gemeinsamer militärischer Aktionen gegen die „westlichen Imperialisten“.

Als am 10. Mai 1940 der Überfall Hitlers auf Belgien, Holland und Frankreich begann, wurden die Kämpfe in Frankreich von der Bevölkerung Moskaus mit großem Interesse verfolgt. Vor den Zeitungskiosken standen lange Reihen von Menschen, die geduldig auf die Morgenzeitungen oder die „Wetschernaja Moskwa“, die einzige Moskauer Abendzeitung, warteten. Die meisten lasen die Zeitungen, ohne irgendwelche Kommentare von sich zu geben — das Kommentieren hatte man sich in den Jahren der Säuberung gründlich abgewöhnt. Um so deutlicher sind mir die seltenen Fälle in Erinnerung, in denen die Menschen in Moskau offen ihre Meinung zum Ausdruck brachten.

Ein Vertreter der Sowjetintelligenz sagte mir damals:

„Hitlers Angriff auf Frankreich hat in den Reihen der Intelligenz in Moskau zu einem Stimmungsumschwung geführt. Solange der Krieg sich auf Polen und Skandinavien beschränkte, waren die meisten neutral; manche sympathisierten sogar ein wenig mit Hitler. Mit dem Angriff auf Frankreich hat sich das völlig verändert. Allmählich kommt eine Antipathie gegen Hitler auf, nicht so sehr aus Sympathie für England, sondern aus Mitgefühl vor allem mit dem tragischen Schicksal Frankreichs. Gerade mit Frankreich fühlten sich viele Vertreter der Intelligenz noch geistig verbunden.“

Auch bei den Studenten hatte ich eine ähnliche Wandlung gespürt — aber ich bin nicht sicher, ob sich dieser Stimmungsumschwung auch in anderen Teilen der Bevölkerung schon zu jener Zeit bemerkbar machte.

Am 15. Juni 1940 hatten Moskaus Morgenzeitungen über die Einnahme von Paris durch die deutsche Wehrmacht berichtet. Ich hatte gerade die Zeitung gekauft und fuhr mit der Straßenbahn zum Taganka-Platz. Neben mir saß ein älterer Mann, offensichtlich ein Bauer, der wohl zu Besuch nach Moskau gekommen war. „Nun junger Mann, was gibt’s denn Neues über den Krieg in Frankreich?“

„Die deutschen Truppen haben Paris eingenommen.“

Er klatschte freudig in die Hände: „Hitler zeigt’s jetzt mal den Franzosen!“

Die anderen Fahrgäste, die diese Äußerung gehört hatten, fanden kein Wort der Erwiderung.

Wenige Minuten später stand ich wieder an einem Zeitungsstand. Ich sah, wie ein vieleicht vierzehnjähriger, jüdisch aussehender Junge die Zeitung aufschlug und sichtlich aufgeregt die Meldung von der Einnahme von Paris las. „Paris ist genommen“, rief er traurig und ihm kamen die Tränen. Dann lief er nach Hause, wahrscheinlich, um die traurige Meldung seinen Eltern zu erzählen. So verschieden reagierten damals die Menschen in Moskau.

Das Ende der Kämpfe in Frankreich und der beginnende Luftkrieg über Großbritannien wurden jedoch kaum noch beachtet, denn inzwischen wurde das gesamte Land, wie immer völlig unerwartet, von innenpolitischen Ereignissen überrascht, die nun Wochen und Monate im Vordergrund standen.

Am 26. Juni 1940 war auf der ersten Seite der „Prawda“ ein Aufruf des Zentralrats der sowjetischen Gewerkschaft erschienen, mit dem Vorschlag, in allen Betrieben die Arbeitszeit von 7 auf 8 Stunden und die Arbeitszeit der Angestellten von 6 auf 8 Stunden zu erhöhen. Auch die Arbeitszeit der Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren, die bisher nur einen 6-Stunden-Tag hatten, sollte nunmehr auf 8 Stunden verlängert werden.

Statt der bisherigen „Schestidnjewka“ („ 6-Tage-Woche“) schlugen die Gewerkschaften vor, die überall in der Welt übliche 7-Tage-Woche einzuführen *.

Die Gewerkschaftsführung beschränkte sich jedoch nicht darauf, für die Verlängerung des Arbeitstages und der Arbeitswoche einzutreten, sondern schlug darüber hinaus vor, die Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes abzuschaffen! Wörtlich hieß es: „Der Zentralrat der Sowjetgesellsdtafteii ist der Auffassung, daß das eigetwtächtige Verlassen des Arbeitsplatzes durch Arbeiter und Angestellte aus staatlichen, genossenschaftlichen und koinntunalen Unternehmen, sowie der eigenmäclttige Wechsel von einem Betrieb zum anderen oder einer Dienststelle zur anderen verboten werden müßte.“

Natürlich war es klar, daß diesen „Vorschlägen“ der Gewerkschaften bald eine Regierungsverordnung folgen würde.

Die entsprechende Verordnung wurde schon am nächsten Morgen veröffentlicht. Erst danach kam die organisierte Kampagne, in der sie „einstimmig“ begrüßt wurde.

Alle Maßnahmen, die die Gewerkschaften „vorgeschlagen“ hatten — die Verlängerung des Arbeitstages auf 8 Stunden, der Übergang zur 7-Tage-Woche und das Verbot, den Arbeitsplatz zu verlassen — waren in der Verordnung des Präsidiums des . Obersten Sowjets enthalten. In § 5 waren die Verbotsbestimmungen für das Verlassen des Arbeitsplatzes genau formuliert: „Arbeiter und Angestellte, die eigenmächtig staatliche, genossen-• schaftliche und kommunale Betriebe oder Unternehmungen verlassen, werden dem Geridu übergeben und durdt Urteil des Volk-geridtts mit einer Gefängnisstrafe von 2— 4 Monaten bestraft.“

Aber nicht nur Arbeiter wurden mit Gefängnisstrafen bedroht, sondern auch die Betriebsdirektoren, falls sie nicht genügend scharf durchgriffen.

Obwohl wir, streng genommen, von diesem Gesetz nicht unmittelbar betroffen waren, gab es natürlich auch bei uns im Vorbereitungskursus eine Versammlung anläßlich seiner Veröffentlichung. Dieses Gesetz vom 26. Juni müsse auch für uns Studenten als richtunggebend für eine erhöhte Aktivität im Studium gelten, wurde uns gesagt. Auch wir „begrüßten“ es natürlich einstimmig. Bald wurde das Gesetz aber noch verschärft. Ein Befehl des Volkskommisariats für Justiz vom 22. Juli 1940 bestimmte, daß eine Verspätung von 20 Minuten schon als „Progul“, als unentschuldbares Fernbleiben von der Arbeit, zu bezeichnen sei und mit „pflichtmäßigen Erziehungsarbeiten" am Arbeitsplatz bis zu 6 Monaten unter Zurückhaltung bis zu 25 Prozent des Lohnes bestraft würde. Dieses drakonische Gesetz gegen die Arbeiter ist bis heute noch nicht aufgehoben worden.

Das „ 20-Minuten-Gesetz" hatte verheerende Folgen. Von Zöglingen unseres früheren Heims, die nun in Betrieben arbeiteten, erfuhr ich, was sich jetzt dort abspielte. Es war grauenvoll. Die Verkehrsverbindungen waren im Durchschnitt so schlecht, daß ohne jegliches Verschulden des Arbeiters manchmal Verspätungen über 20 Minuten zustande kamen. Aber keinerlei Beweise halfen. Die Betriebsdirektoren zitterten selbst vor Angst. Die Zahl derjenigen, die dem Gericht übergeben oder zu „pflichtmäßigen Erziehungsarbeiten“ verurteilt wurden, stieg ins Unermeßliche. Trotz des grauenhaften Ernstes der Situation verbreitete sich in Moskau bald ein Witz über dieses Gesetz:, „Hast du schon gehört: das Große Theater ist bis auf die Grund-mauern abgebrannt!“

„Wie war denn das möglich? Konnte die Feuerwehr das nicht verhindern?“ „Nein, die Feuerwehr sitzt im Gefängnis.“ „Im Gefängnis?“

„Ja, sie kam 20 Minuten zu spät und wurde zum Löschen nicht mehr zugelassen, sondern zu pflichtmäßigen Erziehungsarbeiten ins Gefängnis geschickt.“

Die Welle von Verhaftungen und Gerichtsurteilen auf Grund dieser neuen Arbeitsgesetze hatte bald solche Ausmaße angenommen, daß die Gerichte die Arbeit nicht mehr bewältigen konnten. Aus diesem Grunde wurde durch einen Erlaß des Präsidiums am 10. August 1940 festgelegt, daß alle Verhandlungen über Straftaten gegen die Arbeitsgesetzgebung von den Volksgerichten allein, ohne jegliche Mitwirkung von Geschworenen, durchzuführen seien. Diese Ereignisse standen so sehr im Mittelpunkt des Lebens aller Einwohner der Sowjetunion, daß von den anderen Ereignissen kaum noch Notiz genommen wurde. Der Zusammenbruch Frankreichs, der Luftkrieg über England, die Besetzung der baltischen Staaten durch die sowjetischen Truppen und ihre Umwandlung in „Unionsrepubliken der UdSSR“, die Eingliederung Bessarabiens und des nördlichen Teils der Bukowina in die Sowjetunion verblaßten vor dem „Kampf gegen Bummler, Schwänzer und Desorganisatoren".

Nur ein einziges Ereignis, das außerhalb dieser Sphäre lag, ist mir noch im Gedächtnis geblieben: der Tod Trotzkis.

Am 24. August erschien in allen sowjetischen Zeitungen an auffälliger Stelle eine ganz kurze Notiz über Trotzkis Tod. Es wurde mitgeteilt, daß nach Meldungen amerikanischer Zeitungen gegen Trotzki „von einem seiner Anhänger" ein Attentat verübt worden sei. Trotzki habe einen Schädelbruch erlitten und sei in einem Krankenhaus in Mexiko gestorben.

Alle Zeitungen der Sowjetunion beschränkten sich auf diese wenigen Zeilen. Nur die „Prawda“, das Zentralorgan der Partei, schmähte in einem längeren Artikel unter dem Titel „Der Tod eines internationalen Spions" den Mitkämpfer Lenins noch nach seinem Tode. Der Artikel strotzte von Schimpfworten und historischen Fälschungen. „Trotzki war bereits seit 1921 Agent ausländischer Nachrichtendienste und ein internationaler Spion“, hieß es wörtlich. Und der Artikel der „Prawda“ über den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets von 1917 und Begründer der Roten Armee schloß mit den Worten: „Ehrlos beendete er sein Leben, dieser verachtungswürdige Mensch. Er geht ins Grab mit dem Kainszeichen eines internationalen Spions und Mörders“.

Am gleichen Abend traf ich während eines Spazierganges einen Schutzbündler, der in einem sowjetischen Betrieb arbeitete.

Unwillkürlich sprachen wir beide über Trotzkis Tod. „Ob das wohl wirklich einer seiner Anhänger war?“ meinte er und sprach damit denselben Gedanken aus, der auch mir beim Lesen gekommen war — aber beide hatten wir von den wahren Vorgängen, die zum Tode Trotzkis geführt hatten, natürlich keine Ahnung. Wir gingen noch ein wenig spazieren. An den Litfaßsäulen waren gerade große Plakate angebracht worden, eine Ankündigung für eine „Narodnoje guljanje", ein Volksfest, das im Kulturpark stattfinden sollte. „Weißt du, was einige Arbeiter im Betrieb sagen? Das Volksfest ist bestimmt wegen Trotzkis Tod angekündigt worden.“

Ich antwortete nichts darauf. Trotz Beendigung der Säuberung war es gefährlich, über Trotzki zu sprechen.

Es schien mir aber sehr interessant, daß im August 1940, 13 Jahre nachdem Trotzki aus der Partei ausgeschlossen und 11 Jahre nachdem er aus der Sowjetunion verbannt worden war, einige Arbeiter die offizielle Version über den Tod Trotzkis nicht glaubten und Stalin zutrauten, den Tod 'dieses Revolutionärs durch ein Volksfest feiern zu lassen.

In der Hochschule für Fremdsprachen Im Sommer 1940 war der Vorbereitungskursus für die Hochschule zu Ende. Die Abschlußprüfungen waren bald erledigt.

Wenige Tage später stand ich voller Spannung in den Räumen der Aufnahmekommission der Moskauer Pädagogischen Hochschule in der Metrostrojewska Uliza 38. Es war ein großes älteres dreistöckiges Gebäude, etwa in der Mitte zwischen den beiden U-Bahnstationen „Dworez Sowjetow" (Sowjet-Palast) und „Park Kulturij“ (Kulturpark). Studenten erzählten mir, daß früher in diesem Haus ebenfalls eine Hochschule gewesen sei, in der Gogol und andere russische Dichter studiert hätten. „Sie haben also den Vorbereitungskurs des Lehrerinstituts beendet. Warum wollen Sie denn nicht am Lehrerinstitut studieren?“ wurde ich gefragt.

„Ich habe für Ihr Institut eine ganz besondere Sympathie.“

Der Aufnahmeleiter lachte. „Nun, wollen mal sehen, was sich da machen läßt. Sind Sie bereit, unser Eintrittsexamen abzulegen?“

„Ja, natürlich. Wann soll ich es tun?“

„Nein, so schnell geht das noch nicht. Bitte füllen Sie erst einmal diesen Fragebogen aus und bringen Sie ihn morgen her. Dann werden wir sehen.“

Es war ein sehr ausführlicher Fragebogen. Natürlich wurden auch über die Eltern eine Reihe Fragen gestellt, und in dem betreffenden Abschnitt über meine Mutter schrieb ich die damals so häufige Auskunft „arestowana organami NKWD“, auf deutsch: „verhaftet von den Organen der NKWD“. Das war die offizielle Formulierung, mit der man Verhaftungen auf Fragebogen zu beantworten hatte.

Bevor ich ihn abgab, erkundigte ich mich bei einem mir bekannten Studenten: „Wie ist das, wenn ich über die Verhaftung meiner Mutter berichte, kann mir das schaden, gibt es irgendwelche Sonderbestimmungen?" Der Student lachte trocken: „AIs ob du der Einzige wärst, der damit aufwarten kann! Das gehört doch heute schon dazu. Wenn die Prüfungskommissionen sich daran stören wollten, könnte man ja gleich ganze Hochschulen schließen.“

Ein anderer Student gab mir ähnliche Auskunft.

„ 1937 und teilweise noch 1938 wurden alle Anträge, in denen die Eltern als verhaftet angegeben waren, mit einem Kreuz versehen. Man sprach davon, in solchen Fällen seien die Prüfungen besonders streng. Das hat man aber schnell aufgegeben, denn dadurch wurden ja die Prüfungskommissionen aufmerksam gemacht, wie weit die Verhaftungswelle um sich gegriffen hatte.“

Die beiden Studenten hatten Recht. Der Leiter der Aufnahmekommission las gleichgültig über die Stelle des Fragebogens hinweg, an der die Verhaftung meiner Mutter angegeben war.

„Sie können in etwa zwei Wochen Ihre Aufnahmeprüfung ablegen. Inzwischen geben wir Ihnen schon einen Ausweis, daß Sie hier essen dürfen. Auch Ihrer Aufnahme in das Studentenheim steht nichts im Wege, sobald Sie das Examen bestanden haben.“

Freudig verabschiedete ich mich. Die nächsten beiden Wochen verbrachte ich, wie schon so oft, mit den Vorbereitungen für das Examen. Mitte August erhielt ich ein kurzes Schreiben:

„Wir bestätigen hiermit, daß Genosse Leonhard in den ersten Kursus des Moskauer Staatlichen Pädagogischen Instituts für Fremdsprachen ausgenommen ist.“ Wenige Tage später war auch meine Aufnahme in das Studentenheim geregelt.

Wie in allen Hochschulen der Sowjetunion, konnte auch hier jeder Student, der darum bat, Unterkunft im Heim der Hochschule erhalten. Unsere Hochschule besaß ein Heim in der Petrowerigsky Pereulok 6— 8. Die Wohnblocks gehörten früher der „KUNS“, der Kommunistischen Universität für die Völker des Westens. Nach der Auflösung der Institution waren sie dem Institut für Fremdsprachen übergeben worden. Jeweils nach Größe des Zimmers schliefen wir zu zweit oder dritt, was im Verhältnis zu manchen anderen Studentenheimen außerordentlich vorteilhaft war.

Am 1. September 1940, als wir „Neuen“ zum erstenmal in die Hochschule gingen, wurde jeder gleich für eine der drei Fakultäten vorgesehen: für die deutsche, englische oder französische. Ich wählte die englische Fakultät. Die Vorlesungen in Pädagogik, Psychologie, Geschichte der Pädagogik, Marxismus-Leninismus und „Wojennoje Djelo" (Militär-kunde) wurden für alle Fakultäten gemeinsam gehalten. Neben diesen gemeinsamen Fächern hatten wir Vorlesungen über englische Geschichte, englische Literatur, Phonetik und Grammatik der englischen Sprache und „Jasykosnanije" (Sprachwissenschaft). Daran nahmen natürlich nur jeweils die Studenten der betreffenden Semester unserer englischen Fakultät teil.

Sobald wir uns für eine bestimmte Fakultät entschieden hatten, erhielten wir einen genauen Vorlesungsplan. Der Besuch aller Vorlesungen war obligatorisch, und die Teilnahme an den Vorlesungen wurde ständig kontrolliert. Täglich gab es 2— 3 Vorlesungen, wobei eine Vorlesung in einer sowjetischen Hochschule stets 90 Minuten dauert. Daneben wurde der praktisch LInterricht in Phonetik, Grammatik usw. in kleineren Gruppen durchgeführt. Die Studenten eines jeden Semesters waren in 12 Untergruppen eingeteilt, wobei jede durchschnittlich aus etwa 15— 20 Studenten bestand. In diesen kleinen Gruppen fanden die Seminare statt, die aber nur sehr bedingt mit Seminaren an westlichen Unversitäten verglichen werden können. Es handelt sich meist um reine Unterrichtsstunden, mehr oder weniger wie die in einer Schule.

Es gab auch hier wieder eine Fülle von Examen. Jeder von uns erhielt neben dem Studentenbuch mit Lichtbild, das wir immer bei uns tragen und beim Betreten der Hochschule vorzeigen mußten, noch ein kleines Büchlein, das „Satschotnaja Kniga", in das die Noten der Prüfungen und Examen eingetragen wurden. In einer sowjetischen Hochschule gibt es nach jedem Semester zwei Formen von Examen: einmal das sogenannte „Satschot", das der Student für jedes durchgenommene Fach abzulegen hat. Bei einem Satschot gibt es keine Zensuren, sondern es wird lediglich die Bezeichnung „Sdal“ (abgelegt) in das Examens-Buch eingetragen.

Ein Student hat dabei das Recht, in einer gewissen Zeit mehrmals zu versuchen, ein „Satschot“ abzulegen; es ist also eine Art Vor-Examen. Erst wenn der Student alle „Satschos" abgelegt hat und dem Professor sein Examensbuch mit den eingetragenen Satschots vorweisen kann, wird er zu den „richtigen“ Examen zugelassen. Examen finden am Ende des Semesters in den wichtigsten Fächern statt. Die Examen sind natürlich strenger als die Satschots; man darf sie nur einmal ablegen und erhält Zensuren. Im Vergleich zu westlichen Universitäten scheint mir die Kontrolle des Studiums-und Examenssystems an den sowjetischen Hochschulen straffer, schärfer und organisierter zu sein.

Ein weiterer Unterschied gegenüber den Universitäten anderer Länder liegt in der außerordentlich weitgehenden Spezialisierung. Zwar gibt es in den wichtigsten Städten der Sowjetunion auch Universitäten mit verschiedenen Fakultäten. Die vorherrschende Form ist jedoch nicht die Universität, sondern das „Institut“ mit einem sehr detaillierten, spezialisierten Studienplan. So gibt es zum Beispiel in der Sowjetunion keine „Technische Hochschulen", sondern Hochschulen für einzelne technische Gebiete, z. B. „Hochschule für Kältemaschinenbau“, „Hochschule für Signalwesen“, „Hochschule für Buntmetalle“ usw.

Die weitgehende Spezialisierung der Hochschulen in der Sowjetunion entspricht den Notwendigkeiten, denen sich der sowjetische Staat gegenüber sieht: in kürzester Frist auf allen Gebieten besonders für alle Zweige der Wirtschaft, spezialisierte Kräfte heranzubilden.

Es ist nicht zu bestreiten, daß dies der Sowjetunion bereits gelungen ist. Durch die hohe Zahl der Studenten (die sich gegenüber 1940, nach einem Rückschlag während des Krieges, sogar noch erhöht hat) ist die Garantie für einen ständigen Nachwuchs hochqualifizierter Fachkräfte auf allen Spezialgebieten gegeben. Allerdings führt dieses Hochschulsystem dazu, daß die Absolventen zwar außerordentliche Kenntnisse ihres Fachgebiets besitzen, dies aber nicht selten auf Kosten ihres Allgemeinbildung erreicht haben.

Jeder Student hat nach Absolvierung einer Hochschule die Pflicht, mindestens 2— 3 Jahre in seinem Fachgebiet praktisch tätig zu sein. Nach dem Staatsexamen wird dem Absolventen meist sofort auch eine Arbeitsstelle zugewiesen. Über die hervorragende Ausstattung der Hochschule war ich erstaunt. Neben großen Vorlesungsräumen und einer ausgezeichneten Bibliothek gab es „Kabinette“ für die einzelnen Fächer, die in der Hochschule gelehrt wurden: Psychologie, Pädagogik, Phonetik, Geschichte und Literaturgeschichte. In den „Kabinetten" konnte man die wichtigste Fachliteratur für das jeweilige Gebiet finden. Hier war auch der Dekan des betreffenden Wissensgebietes oder einer seiner Mitarbeiter anzutreffen, die bereitwilligst Konsultationen gaben.

Der Stolz des Instituts aber war das „Marr-Kabinett“, ausschließlich gewidmet dem sowjetischen Sprachforscher Nikolaj Jakowlewitsch Marr. Marrs Schriften wurden uns damals als höchste Offenbarung der Sprachwissenschaft gepriesen, und im „Kabinett“ befand sich eine überlebensgroße Statue von ihm. Seine Sprachlehre war damals fast genau so unantastbar wie die Schriften Stalins. Sie wurde uns als Linguistik dargestellt, die auf dem Marxismus-Leninismus beruht und der bürgerlichen Auffassung der Sprachwissenschaft den Todesstoß versetzt habe. Im Unterschied zu den bürgerlichen Auffassungen hätte Marr die Sprache als Teil des Überbaus betrachtet, deren Entwicklung nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gesellschaft zu verstehen sei. Die Menschheit habe ihre Sprache im Prozeß der Arbeit und der bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen und die Sprache verändere sich ständig im Zusammenhang mit den Bedingungen der sozialen Formen des Lebens.

Niemand von uns wäre damals auch nur im Traum auf den Gedanken gekommen, daß der große, unantastbare Marr zehn Jahre später von Stalin genau so scharf angegriffen werden würde, wie wir ihn loben mußten.

Am Moskauer Institut für Fremdsprachen studierten damals etwa 2 500 sowjetische Jugendliche — 2 440 weibliche und 60 männliche. Es war die Hochschule in der ganzen Sowjetunion, die den größten Prozentsatz weiblicher Studenten aufzuweisen hatte. In Moskauer Studenten-kreisen nannte man sie daher scherzhaft „Institut blagorodnych deviz“ — das Institut der tugendsamen Mädchen. Es war aber nicht nur wegen der „tugendhaften Mädchen" bekannt, sondern auch durch seine ausländischen Studenten, Söhne und Töchter von Emigranten, von Funktionären der Komintern oder von sowjetischen Diplomaten, die längere Zeit im Ausland verbracht hatten.

Sehr bald hatte ich nicht nur unter den russischen, sondern auch unter den ausländischen Studenten gute Freunde gefunden; einen Polen, der in Spanien in der Internationalen Brigade gekämpft hatte, eine junge Amerikanerin, eine Koreanerin und eine sowjetische Studentin, die lares Zeit in Charbin verbracht hatte, weil ihre Eltern bei der Leitung der mandschurischen Eisenbahn angestellt waren. Auch mit vielen ehemaligen Schülern der deutschen Karl-Liebknecht-Schule konnte ich ein fröhliches Wiedersehn feiern.

Trotz dieser Besonderheit war unser Institut eine typische sowjetische Hochschule. Wie in allen anderen Hochschulen gab es neben unserem Studium die sogenannte „gesellschaftliche Arbeit“ — gekennzeichnet vor allem durch die Komsomoloder Parteiversammlungen (eine Reihe von Studenten waren bereits Parteimitglieder). Die Komsomolversammlungen in der Hochschule, unterschieden sich kaum von allen anderen und zogen sich meist schleppend und träge hin. Fast ausschließlich wurden praktische Fragen besprochen, wie der oder jener studiert, ob er seine Wettbewerbsverpflichtungen erfüllt usw. Politische Themen wurden fast nur an Feiertagen behandelt: vor dem 1. Mai, dem Revolutionsfeiertag am 7. November, oder dem 23. Februar, dem Tag der Roten Armee.

Selbst dann hörten wir das übliche Standard-Referat, wie es an diesen Tagen sowieso in allen Institutionen und Betrieben gehalten wurde, so hatten wir Komsomolzen in politischer Hinsicht lediglich das Privileg, dasselbe Referat zweimal zu hören.

Noch weniger aktiv waren die sogenannten Massenorganisationen, denen jeder Komsomolz selbstverständlich angehörte.

Da war zunächst die „OSOAVIACHIM", die Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung durch das Flugzeugwesen und durch dip Chemie, die die Aufgabe hatte, in besonderen Aeroclubs Fallschirmspringer heranzubilden. Schießkurse. Kurse in „PWChO“, in Luftabwehr und chemischer Abwehr, zu organisieren und vieles andere mehr. In der Praxis jedoch beschränkte sich für uns die Mitarbeit in dieser Gesellschaft auf die Verpflichtung, einen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen und drei-oder viermal im Jahr einen Vortrag über Luftabwehr anzuhören.

Auch von der MOPR, der „Internationalen Organisation zur Unter-

Stützung der Kämpfer der Revolution“, die viele Emigranten unterstützte, war aüf unserer Hochschule — in anderen Instituten war es ähnlich — nur wenig zu spüren. Lediglich am 18. März, am Tag der Pariser Kommune, der zum „Tag der MOPR“ auserkoren war, fanden von der MOPR einberufene Versammlungen statt. Bei uns sprach am 18. März 1941 Wilhelm Pieck, der eine Übersicht über die internationale Lage gab.

Die dritte Massenorganisation, der ich, wie alle Komsomolzen an unserer Hochschule, damals angehörte, war der „Bund der kämpferischen Atheisten („Sojus Woinstwennych besboshnikow"). Auch diese Organisation hatte ihre Bedeutung inzwischen vollkommen eingebüßt. Einerseits war bereits seit Ende der 30er Jahre, noch deutlicher allerdings während des Krieges, eine neue Politik gegenüber der Kirche zu spüren. Andererseits war die Organisation uns Komsomolzen und Studenten faktisch überflüssig geworden. Wir waren ohne Religionsunterricht ausgewachsen, blieben von diesen Fragen vollkommen unberührt und machten uns darüber gar keine Gedanken mehr — zumindest habe ich in den 10 Jahren meines Lebens in der Sowjetunion in meinem Bekanntenkreis keinen einzigen Menschen meiner Generation getroffen, der nicht Atheist gewesen wäre.

Im Frühjahr 1942 — zu jener Zeit lebte ich schon nicht mehr in Moskau — wurde uns kurz und bündig, ohne jede Begründung mitgeteilt:

„Der Bund kämpferischer Atheisten ist aufgelöst“.

Der Auflösungsbeschluß wurde in der Presse nicht veröffentlicht. Seit Frühjahr 1942 wurde der Bund einfach nicht mehr erwähnt. Getreu der sowjetischen Art, den Kurs der gegenwärtigen Politik in die Vergangenheit zurückzuverlegen und die Geschichte demgemäß umzudeuten, ist man sogar noch einen Schritt weitergegangen: es wird nicht einmal mehr erwähnt — selbst nicht in den neuen Ausgaben der Sowjet-enzyklopädie —, daß eine solche Organisation, wie der Bund kämpferischer Atheisten, jemals bestanden hat!

Sowjetischer Studentenalltag Inzwischen war ich zu einem der 600 000 Studenten geworden, die damals in der Sowjetunion studierten. Mein Tageslauf glich dem jedes anderen Studenten.

Bis in die späten Mittagstunden hinein hörte ich die obligatorischen Vorlesungen und nahm an Seminaren teil. Mittags aß ich in der „Stolowaja", der Mensa der sowjetischen Hochschulen. Meist kehrte ich erst in den Abendstunden zu unserem Studenten-Obschetscheshitije zurück.

Unser Studentenheim galt als eines der besten in Moskau, war aber dennoch, im Vergleich zu Studentenheimen anderer Länder, recht primitiv. Meistens stand in den Zimmern ein kleiner einfacher Schrank, in dem wir unsere Mäntel und unsere „Walinki", jene hohen schwarzen Filzstiefel, die man im Winter in Moskau trägt, aufbewahrten. Die anderen wenigen Habseligkeiten, die wir besaßen, hatten wir, wie alle Studenten, in einem kleinen Koffer verstaut, den wir unter das Bett stellten. Im Winter war es oft sehr kalt, und es kam vor, daß wir abends im Zimmer in unseren Wintermänteln saßen, um die notwendige Literatur zu lesen. An solchen Abenden war die einzige Rettung der Kipjatok-Kessel — ein Wasserbehälter mit kochendem Wasser (leider war es allerdings manchmal nur lauwarm), mit dem wir unseren Tee auf-brühten. Einige Studentinnen hatten kleine primitive Kochgeräte zur Bereitung von Kaffee oder Tee — obwohl die Benutzung elektrischer Kochgeräte im Studentenheim verboten war. In der Kleidung hatte ich mich allmählich den anderen Studenten angepaßt und niemand hätte wohl damals in mir einen Ausländer vermutet.

Das Studium war damals noch kostenlos. Darüber hinaus erhielt jeder Student vom Staat ein Stipendium, das mit jedem Kursus (unter „Kursus“ versteht man in der Sowjetunion zwei Semester, also ein Studienjahr) erhöht wurde. Zu jener Zeit schwankte es zwischen 140 Rubel im ersten Kursus und 280 im letzten.

Diese Summe reichte gerade zur Bestreitung der notwendigsten Lebensbedürfnisse aus, zur Bezahlung der geringen Miete im Studenten-heim und vor allem für die Verpflegung. Kleidung konnte man sich vom Stipendium nur durch sehr hartes Sparen anschaffen. Ganz wenige Studenten brachten es fertig — mir ist noch heute unklar, wie.

Die Studenten halfen sich auf ihre Weise: Manche, die Eltern, Freunde oder Verwandte auf dem Dorfe hatten, erhielten Pakete; andere verfügten über Geldzuwendungen von ihren Eltern oder von Bekannten in der Stadt. Ein nicht geringer Teil der Studenten verdiente sich zusätzlich etwas durch irgendwelche körperliche Arbeit — z. B. Schneeschaufeln — oder durch Übersetzungsarbeiten und Unterrichtsstunden in

Fremdsprachen. Allerdings wirkten sich diese zusätzlichen Arbeiten bei dem völlig genormten, fast möchte man sagen, schulmäßigen Studium, sofort negativ für den betreffenden Studenten aus.

Die meisten ausländischen Studenten, vor allem die Söhne und Töchter von Emigranten, erhielten regelmäßig von der MOPR, der Roten Hilfe, eine zusätzliche Unterstützung von 200 Rubel monatlich. So standen uns im Monat 340 Rubel zur Verfügung — aber selbst mit dieser Summe konnte ich nur ganz knapp auskommen. Auch russische Studenten, die ihre Eltern verloren hatten und in Kinderheimen ausgewachsen waren, erhielten monatlich eine gewisse Unterstützung, allerdings eine geringere als die, welche wir von der MOPR bekamen.

Aber die materiellen Schwierigkeiten störten uns nicht allzusehr. Wir waren fast alle so in unser Studium vertieft, daß wir auf Wohlleben keinen großen Wert legten, zumal auch die anderen Menschen — abgesehen von einer kleinen Schicht — mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.

Damals gab es etwas anderes, was mich viel mehr beunruhigte. Seitdem Anfang 1939 die große Säuberung zu Ende gegangen war, lebte ich in dem Glauben, die schreckliche Zeit der Denunziationen und des Spitzelunwesens sei vorüber. Ich hielt sie für einen untrennbaren Bestandteil der Säuberungsperiode.

Bald aber wurde ich eines anderen belehrt.

Ich war mit einer Studentin befreundet, die ich hier nicht näher beschreiben möchte, weil sie heute noch im Osten lebt. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, mit denen ich offen sprechen konnte. Auf unseren langen Spaziergängen im Kulturpark oder am Moskwafluß unterhielten wir uns über alle Fragen, für die sich junge Menschen in allen Ländern interessieren; manchmal auch über die Dinge, die uns in der Sowjetunion bedrückten. Uns beiden waren solche Gespräche brennendes Bedürfnis.

Eines Tages, als ich sie im Korridor der Hochschule traf, flüsterte sie mir zu: „Wolodja (so wurde ich in der Sowjetunion genannt), ich muß heute abend mit dir etwas sehr Ernstes allein besprechen“.

Ich wartete gespannt auf den Abend.

Zunächst nahm sie mir ein Versprechen ab:

„Versprich mir, daß du unter keinen Umständen irgend jemanden erzählen wirst, was ich dir jetzt sage.“

Ich versprach es (und habe auch mein Versprechen gehalten).

„Versprich mir, daß du unter keinen Umständen irgend jemandem wirst, daß du mein Geheimnis kennst.“

Nachdem ich ihr auch dieses Versprechen gegeben hatte, sagte sie mit stockender Stimme:

„Seit einigen Tagen arbeite ich für die NKWD. Ich wurde hinbestellt und mußte ein Schriftstück unterzeichnen, daß ich bereit sei, alle gewünschten Auskünfte zu erteilen und niemandem etwas über meine Tätigkeit zu sagen. Ich soll nun regelmäßig über bestimmte Studenten Berichte schreiben. Für diese Arbeit habe ich einen anderen Namen bekommen, mit dem ich auch die Berichte unterzeichnen muß.“ „Worüber mußt du denn berichten? Über feindliche Äußerungen gegen die Partei?“

„Nicht nur darüber. Da gäbe es ja verhältnismäßig wenig zu schreiben. Ich muß über alles, was die mir genannten Personen erzählen, berichten, über alles, was mit Politik, auch nur indirekt, zu tun hat.“

„Stehe ich auch auf deiner Liste?“

„Nein, bis jetzt noch nicht. Aber ich bin sicher, daß man mich auch über dich fragen wird. Man hat mir gesagt, jetzt sei erst der Anfang gemacht, und später würden weitere Namen hinzukommen. Ich weiß nicht, ob ich es fertig bringen würde, dann deine Äußerungen zu verschweigen. Ich glaube nicht. Deswegen bitte ich dich, von heute ab mit mir keine politischen Gespräche mehr zu führen."

Ich schaute ihr in die Augen. Sie war sehr traurig, traurig darüber, daß sie nicht mehr offen mit mir sprechen konnte, was auch ihr so viel Erleichterung gebracht hatte. Vor allem aber schien es sie innerlich sehr zu belasten, nun für die NKWD tätig sein zu müssen. Das konnte ich deutlich spüren, aber nach ihrem Bericht wußte ich auch, daß ihr gar keine andere Wahl blieb. Eine Ablehnung hätte sie verdächtig gemacht, vielleicht ihre Verhaftung zur Folge gehabt. Daß sie mir ihre Anwerbung mitgeteilt, ja sogar genau geschildert hatte (ich verzichte auf die Wiedergabe dieser Erzählung, um der NKWD keine Hinweise zu geben), war wahrscheinlich der größte Freundschaftsbeweis, den ich in meinem ganzen Leben erhielt.

So tief ich davon beeindruckt war, so erschreckte mich auf der anderen Seite ihre Erzählung. Sie war sicher nicht die einzige. Es gab also bei uns Studenten und Studentinnen, die laufend über alle Gespräche, die sie in der Hochschule und dem Studentenheim hörten, schriftlich an die NKWD berichteten!

Wie viele mochten es wohl sein? In Gedanken ging ich noch einmal die mir bekannten Studenten und Studentinnen durch. Wer von ihnen würde für die NKWD berichten? Bei keinem meiner Bekannten hielt ich es für möglich. Aber konnte ich so sicher sein? Hätte ich je geahnt, daß diese Studentin Berichte für die NKWD schreiben muß? Wer garantierte mir, daß die anderen mir bekannten Studenten es nicht auch tun mußten? Würden sie den Mut finden, mir das zu sagen und damit eine Angelegenheit preiszugeben, zu deren strikter Geheimhaltung sie sich verpflichtet hatten?

Ein unheimliches Gefühl überkam mich. Jede, selbst die geringfügigste politische Äußerung wurde vielleicht in schriftlichen Berichten notiert und wöchentlich der NKWD abgegeben. Ich war ja gar nicht gegen das System — aber sagte ich nicht doch manchmal etwas, was nicht ganz der Linie entsprach? Von diesem Tag an beschloß ich, noch vorsichtiger zu sein, mich bei allen politischen Gesprächen fest an die „Linie“ zu halten, möglichst schnell von politischen Dingen abzulenken und über „neutrale“ Gebiete zu sprechen.

Der große Schlag vom 2. Oktober 1940 Vier Wochen hatte ich in der Hochschule verbracht, als wir plötzlich, am Morgen des 3. Oktober 1940, ohne jede Vorbereitung, über eine jähe Wendung des gesamten Studentenlebens unterrichtet wurden.

Irgend jemand, der zufällig ganz früh auf der Straße gewesen war, hatte schon eine Zeitung mitgebracht und klopfte an die Türen mit dem Ruf: „Die Stipendien sind abgeschafft!" „Übergeschnappt ist der Idiot!“, sagte mein Zimmerkamerad, aber er zog sich trotzdem schnell an. Ich tat das gleiche. Als wir auf den Korridor kamen, war unser Frühaufsteher bereits von einer Gruppe Studenten umringt. Er hatte die „Prawda“ in der Hand und las die Verfügung des Rates der Volkskommissare der UdSSR über die Einführung der Schulgeldpflicht für die höheren Klassen und Hochschulen der UdSSR vor.

„In Anbetracht der Steigerung des materiellen Wohlstandes der Werktätigen . . .“, begann er zu lesen. Nach einem solchen Anfang ahnten wir Schlimmes.

Zunächst kam die Einführung des Schulgeldes für die drei letzten Klassen der Mittelschulen. Dann folgte ein Schlag, der uns traf: „Für das Studium an den Hodisdiulen der UdSSR wird folgende Höhe der Bezahlung festgelegt: a) In den Hodtschulen, die stdt in Moskau, Leningrad und den Hauptstätten der Unionsrepublik befinden — 400 Rubel int ]ahr; b) in den Hochschulen, die sich in anderen Städten befinden — 300 Rubel int Jahr; c) in Musik-, Kunst-und Theater-Hodtschulen — 500 Rubel int Jahr. Das Schulgeld wird an die betreffenden Lehranstalten in gleichen Teilen zweimal im Jahr gezahlt: zum 1. September und zum 1. Februar.

Bemerkung: Für das erste Halbjahr des Sdtuljahres 19'40/41 wird das Schulgeld nicht später als zum 1. November dieses Jahres entrichtet.“ Überall sah man lange Gesichter — nicht nur wegen der Einführung des Studiengeldes überhaupt, sondern vor allem auch wegen der Tatsache, daß die erste Rate schon bis zum 1. November bezahlt werden mußte.

„Noch 27 Tage Zeit", sagte einer. Es klang hoffnungslos.

Schon überlegten wir uns, wie vielleicht von den Stipendien etwas abzuzweigen sei, um das Studiengeld zu bezahlen.

Aber da traf uns schon der nächste Schlag: Mit der gleichen Verordnung wurden auch unsere monatlichen Stipendien abgeschafft. In Zukunft werden Stipendien nur noch an die allerbesten Studenten gegeben.

Wie üblich fanden Versammlungen statt, auf denen „die Veränderung der Vorschriften über die Zuteilung von Stipendien“ — wie die offizielle Formulierung hieß — und die Enführung des Schulund Studiengeldes begründet wurden.

In unserer Hochschule verlief diese Versammlung planmäßig. Als der Redner geendet hatte, kam der übliche Beifall. Danach wurde gefragt, ob irgendwelche Dinge noch unklar seien, Fragen zu erklären seien, oder jemand seine Meinung äußern wolle. Niemand machte von der Aufforderung Gebrauch.

Einige Tage später erzählte mir ein Student, daß in einer Moskauer Hochschule der stellvertretende Minister für Volksbildung über das neue Gesetz referiert habe. Ein Student habe nach seinem Referat vor der ganzen Versammlung an ihn die Frage gerichtet, wie das neue Gesetz mit Artikel 121 der Verfassung der UdSSR in Einklang zu bringen sei.

Es war eine heikle Frage — denn tatsächlich war in Artikel 121 der Verfassung der UdSSR ausdrücklich der kostenlose Unterricht in allen Volksbildungsanstalten der UdSSR „einschließlich der Hochschulen“ festgelegt.

Der stellvertretende Volkskommissar hatte erklärt, die Begründung für diese Maßnahme sei im Gesetz enthalten und der entsprechende Absatz der Verfassung würde gemäß dem neuen Gesetz gelegentlich verändert werden. Das geschah auch — übrigens war es nicht das einzige Mal, daß Gesetze in der UdSSR erlassen wurden, die im Gegensatz zur Verfassung standen.

Aber die Studenten dachten nach dem 2. Oktober nicht darüber nach, ob das Gesetz der Verfassung widersprach, sondern darüber, was sie nun tun sollten.

Da die Einführung des Studiengeldes gleichzeitig mit dem Entzug der Stipendien erfolgte, wurde die Weiterführung des Studiums vielen Söhnen und Töchtern von Arbeitern oder Kolchosbauern praktisch unmöglich.

In diesen Tagen sah ich oft verweinte Gesichter. Von vielen Studenten mußten wir uns trennen.

Besonders schwer fiel mir der Abschied von einem kleinen rothaarigen Studenten, der aus einer ärmlichen Bauernfamilie stammte, verbissen und emsig studiert und sich sehr auf seine spätere Tätigkeit als Lehrer in den letzten Schulklassen gefreut hatte.

Aber er war nicht der einzige. Immer mehr Studenten, deren Eltern ärmeren Kreisen angehörten, verließen die Hochschule. Eigentlich blieben nun nur noch die Söhne und Töchter der Privilegierten, Offiziere oder sonstigen „Verantwortlichen“.

Viele ausländische Studenten und alle russischen, die in Kinderheimen ausgewachsen waren, gehörten nicht zu den „Privilegierten“. Wir glaub-ten zunächst, daß auch wir das Studium aufgeben mußten. Wenige Tage später wurde den russischen Studenten aus den Kinderheimen eine Unterstützung zum weiteren Studium zugesichert. Inzwischen waren wir ausländischen Studenten nacheinander zur MOPR gerannt, die uns manchmal geholfen hatte. Bald erfuhren wir, mit großer Erleichterung, daß wir nicht im Stich gelassen werden sollten. Die MOPR versprach uns, sowohl das jährliche Studiengeld von 400 Rubeln zu zahlen, als auch weiter die monatlichen Unterstützungen zu gewähren.

Wenn ich heute daran zurückdenke, so erinnere ich mich nicht nur an den traurigen Abschied von vielen Freunden aus der Hochschule, sondern es ist mir auch klar, daß dieses Gesetz einen neuen Schritt in der Entwicklung des stalinistischen Systems bedeutete.

Die Besetzung fast aller wichtigen Funktionen in der Sowjetunion wird von der Absolvierung einer Hochschule abhängig gemacht. Bis zum 2. Oktober 1940 war es praktisch allen begabten und fähigen Kindern der Arbeiter und Bauern möglich, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, die 10-Jahres-Schule und danach die Hochschule zu besuchen. Damit standen ihnen alle Möglichkeiten offen — eine Tatsache, die damals von der sowjetischen Propaganda auch immer betont worden war. Seit dem 2. Oktober 1940 können dagegen in der Regel nur noch solche jungen Menschen in höhere Positionen aufsteigen, deren Eltern selbst hohe Funktionen innehaben. Der Kreislauf hat sich geschlossen: Die herrschende bürokratische Schicht, die sich seit Ende der 20er Jahre gebildet und mit den Säuberungen von 1936— 38 durch die Liquidierung der „alten Garde“ ihre Macht konsolidiert und gefestigt hatte, begann sich nun im Jahre 1940 von „Außenseitern“ abzuschließen und tat damit den ersten Schritt, ihre Privilegien und Funktionen zu vererben.

Deutsche Emigranten wieder gefragt Ende November 1940, fast eineinhalb Jahre nach Abschluß des Nichtangriffspaktes mit Deutschland und wenige Wochen nach dem Besuch Molotows in Berlin, erinnerte man sich in Moskau plötzlich wieder der deutschen Emigranten.

Nachdem unser Kinderheim aufgelöst worden war, hatten wir uns nur selten und zufällig gesehen; die meisten arbeiteten in Betrieben, einige waren noch immer im russischen Kinderheim, andere studierten inzwischen in Hochschulen. Manche von uns, hatten russische Frauen geheiratet und waren nun völlig russifiziert.

Um so erstaunter war ich, als ich, Ende November 1940, wenige Wochen nach der Rückkehr Molotows aus Berlin, eine Einladung zu einer Zusammenkunft im Zentralkomitee der MOPR erhielt. Ich war froh, denn ich hoffte, auf diese Weise meine früheren Freunde einmal wiederzusehen. Mit großer Spannung ging ich in das MOPR-Haus, wo wir uns um 20 Uhr versammeln wollten. Es gab ein großes Hallo, denn ich traf wirklich sehr viele aus dem früheren Kinderheim Nr. 6 und auch viele andere österreichische und deutsche Jugendliche, Söhne und Töchter deutscher Emigranten, die bei ihren Eltern gewohnt hatten. Fast alle waren Komsomolzen, alle sprachen fließend russisch, manche von ihnen russisch sogar besser als deutsch.

Wir hatten jedoch wenig Zeit für Begrüßungen, Unterhaltungen und Erinnerungen, denn wir wurden in einen großen Saal gebeten. Die offizielle Veranstaltung begann mit der Rede eines österreichischen Kominternfunktionärs: „Genossen, wir haben euch zusammengerufen, um wieder die Verbindung aufzunehmen. Es handelt sich hierbei nicht um eine einmalige Zusammenkunft, sondern wir werden von jetzt an jeden Montagabend zu einer politischen Schulung zusammenkommen. Alle Anwesenden werden in bestimmten Gruppen für die Seminare aufgeteilt. Es wird nicht nur eure Aufgabe sein, jeden Montagabend hierherzukommen und das Referat anzuhören, sondern auch die angegebene Literatur zu lesen und an den Seminaren teilzunehmen.

Vor allem möchte ich euch noch darauf hinweisen, daß diese Schulung im engsten Kreis vor sich geht und aus begreiflichen Gründen darüber nicht allzuviel geredet werden soll.“

Wir waren lange genug in der Sowjetunion, um uns an diese Direktive zu halten und erzählten unseren russischen Bekannten nichts davon. Offenbar wurde auf diese Schulung großer Wert gelegt. So waren alle, die in den Betrieben am Montag Abendschicht hatten — bestimmt auf höhere Anweisung — von der Arbeit freigestellt, ohne daß allerdings die Leiter der betreffenden Arbeitsstelle genau wußten, warum das notwendig war.

Auch ich sprach mit russischen Studenten nicht über unsere Sonder-Schulung. Ich machte mir aber doch Gedanken darüber. Allein die Tatsache, daß sich nach 11/2 Jahren wieder deutsche und österreichische Genossen in Moskau trafen, schien mir ein Zeichen dafür zu sein, daß vielleicht in den Beziehungen zu Hitler-Deutschland noch nicht alles ganz so rosig war, wie man es zu jener Zeit auch noch offiziell darstellte.

In der sowjetischen Presse war von einer Verschlechterung der Beziehungen nicht das geringste zu spüren. Alle Meldungen ausländischer Zeitungen, die die Beziehungen zu Deutschland in irgendeiner Weise schädigen konnten, wurden sofort scharf dementiert.

Die Reise Molotows nach Berlin war groß aufgemacht und kommentiert worden. Mitte November veröffentlichte die „Prawda“ nachträglich ein Bild von den Verhandlungen, auf dem Molotow und Hitler gemeinsam zu sehen waren.

Auch bei unserer Montag-Abend-Schulung im Zentralkomitee der MOPR wurden in der ersten Zeit alle Themen vermieden, die die gegenwärtige internationale Situation und die Beziehungen der Sowjetunion zu Hitler-Deutsdiland berührten. Neben der obligaten Durcharbeitung der Geschichte der KPdSU — auf dieser Schule nahm ich sie nun schon zum drittenmal durch — behandelten wir einige grundsätzliche Fragen des Marxismus-Leninismus und hörten Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Schon am zweiten Schulungsabend hörte ich das Referat eines Funktionärs, den ich bis dahin nur dem Namen nach kannte: Walter Ulbricht. Er behandelte ausführlich die Revolution von 1918, sprach aber kein Wort über die aktuellen Fragen des Kampfes gegen den Faschismus. Ein anderes Mal hörten wir einen Vortrag über den Charakter des Weltkrieges. Auf Grund der offiziellen Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen wurde auch jetzt noch — Ende 1940 — versucht, den Nachweis zu erbringen, daß der Krieg von beiden Seiten, sowohl von Deutschland und Italien, als auch von England und Frankreich, ein ungerechter imperialistischer Krieg sei.

Erst im Frühjahr 1941 konnte ich eine leichte Veränderung der „Linie“ verspüren. In einem Referat sprach Walter Ulbricht von der Möglichkeit» daß sich, wie das häufiger in der Geschichte der Fall gewesen sei, der Charakter des Krieges in seinem Verlauf ändern könne. Es war atemlos still im Raum, denn eine solche Bemerkung konnte man damals in keiner sowjetischen Zeitung lesen. „Diese Tatsache“, erklärte Ulbricht, „ist besonder wichtig im Zusammenhang mit dem Angriff Deutschlands und Italiens auf Jugoslawien und Griechenland. Es sind bereits Elemente vorhanden, insbesondere im Falle Jugoslawiens, die darauf hinwiesen, daß man in gewisser Hinsicht von einem gerechten Verteidigungskrieg dieser beiden Völker gegen einen äußeren Angriff sprechen kann.“ Wenn Ulbricht sich auch sehr vorsichtig ausdrückte und das Wort Faschismus — das während der ganzen Dauer des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakts verboten war — auch in diesem Falle vermied, so war mir doch dieser Hinweis deutlich genug.

Einige Wochen vergingen. Heikle Themen wurden nicht mehr berührt.

Am Montag, dem 16. Juni 1941, kamen wir wie immer zu unserem Schulungsabend in das Haus des Zentralkomitees der MOPR. Auch an diesem Abend sprach Walter Ulbricht. Nach seinem etwa 11/2stündigen Referat wurde, wie immer, anschließend bekanntgegeben, daß man Fragen stellen könne. Es folgten eine Reihe von Fragen zu dem Referat Ulbrichts, das, soweit ich mich erinnere, mit der aktuellen Situation nicht direkt in Zusammenhang stand. Da wir allmählich, im Verlaufe der Aussprache zur gegenwärtigen Lage übergegangen waren, stellte ein Teilnehmer die Frage:

„Genosse Ulbricht, immer häufiger berichten ausländische Zeitungen von der Gefahr eines deutschen Angriffs auf die Sowjetunion. Die Meldungen sind zwar in der Sowjetpresse klar und deutlich dementiert worden, aber vielleicht wäre es möglich, noch etwas Genaueres über diese Dinge zu erfahren.“

Ulbricht ging jedoch nicht auf diese Frage ein. Er wiederholte lediglich kurz die offiziellen Dementis und schloß mit den Worten: „Das sind Gerüchte, die mit provokatorischen Absichten verbreitet werden. Es wird keinen Krieg geben.“

Sechs Tage später begann Hitlers Angriff auf die Sowjetunion.

Fussnoten

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