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Die soziale Differenzierung in der Sowjetunion | APuZ 33/1955 | bpb.de

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APuZ 33/1955 Die soziale Differenzierung in der Sowjetunion Aktuelle Probleme der politischen Emigration

Die soziale Differenzierung in der Sowjetunion

Harald Laeuen

Im Winter 1953/54 gab es in der Sowjetunion einen Theaterskandal, der durch die Obrigkeit ausgelöst wurde. Ein neues Drama „Gäste“ von Leonid Sorin war einige Male aufgeführt und auch in der Zeitschrift „Teatr“ gedruckt worden. Die Aufnahme beim Publikum und bei der Kritik war gut, aber von Seiten der Partei setzten scharfe Angriffe ein, das erfolgreiche Stück wurde abgesetzt, und Sorin erhielt vom Kultur-ministerium einen Verweis. Was war der Grund? Das Drama „Gäste“ schildert die heutige Oberschicht der Sowjetunion. Der 70jährige Alexej Kirpitschew, der in einer kleinen Provinzstadt lebt, ist noch ein Revolutionär alten Schlages, der an das Ideal des Kommunismus glaubt. Sein Sohn Pjotr dagegen, Ministerialbeamter in Moskau, hat alle Kennzeichen des Parvenus. Einer seiner Söhne ist der Typ der Jeunesse doree, über den häufig in der Sowjetpresse geschrieben wird; er will die Diplomaten-laufbahn einschlagen. Das Stück zeigt die moralische Fragwürdigkeit der neuen Oberschicht, die sich durch Opportunitätserwägungen leiten läßt. „Die Macht hat dich vergiftet,“ sagt der alte Kirpitschew zu seinem Sohn. Eine Szene aus dem Drama, in dem es wenig Handlung gibt, aber das charakterliche Verhalten der einzelnen Personen die Hauptrolle spielt, hat die Zeitschrift „Osteuropa“ abgedruckt.

INHALT DIESER BEILAGE

Zwei Gesichtspunkte treten in dem Beschluß des Kollegiums des Kulturministeriums vom 26. Mai 1954 der das Verdikt über das Sorinsche Drama verhängt, hervor: Ein „Halunke und Abenteurer“ ist als typischer Vertreter des gesamten Staatsapparates ausgegeben worden, während „ehrliche, der Partei und dem Vaterland ergebene Staatsbeamte“ nicht auftreten. Außerdem ist die Macht als verderblich geschildert worden, obwohl sie im Sowjetsystem „etwas Lichtvolles und Freudiges“ bedeutet. Ein solches Stück ist dazu geeignet, den Glauben an die „unüberwindbare Fähigkeit“ der Sowjetgesellschaft zu untergraben, „auf dem Wege zum Kommunismus ununterbrochen weiter fortzuschreiten“. Die „Literaturnaja Gaseta“ (27. 5. 1954) hat hinzugefügt: Es sei eine Verleumdung, daß die negativen Eigenschaften des Pjotr Kirpitschew nicht Überbleibsel der Vergangenheit, sondern geradezu eine Ausgeburt der sowjetischen gesellschaftlichen Struktur seien. Das sei ein glattes Echo der feindlichen Propaganda.

Dieser Zwischenfall hat sich nach dem Tode Stalins abgespielt zu einer Zeit, da man glaubte, daß eine gewisse Lockerung der geistigen Fesseln eingetreten sei und auch weitere Schriftsteller, z. B. Wera Panowa in den „Jahreszeiten“, die Schattenseiten der neuen Oberschicht zeigten. Sorins „Gäste“ wurden das Signal zu einer literarischen Säuberung, die sich gegen alle Publikationen richtete, in denen, volkstümlich gesprochen, unsympathische Parteibonzen auftraten.

Entstehung der Bürokratie Die neue Oberschicht ist also empfindlich und ist mächtig genug, um Darstellungen zu unterdrücken, die ihrer Autorität Abbruch tun könnten. Bei allen Wandlungen des Kommunismus in der Sowjetunion in bald vier Jahrzehnten hat sowohl an Zahl wie an spezifischem Gewicht die neue Oberschicht ständig zugenommen. Sie ist mehr und mehr zu einer in sich geschlossenen Körperschaft geworden, die eine Tendenz zur sozialen Abschließung zeigt. Ihre Mentalität und ihr Lebensstil geben der Sowjetunion von heute das Gepräge. Alle Veränderungen, denen das System unterliegt, werden im Schoße dieser weit verästelten regierenden Schicht geboren, die unter dem Titel der „Diktatur des Proletariats“ über alle materiellen Mittel des Sowjetreiches gebietet.

Die Revolution von 1917 hatte eine Tendenz zur Auslöschung der Klassenunterschiede. Die alte Oberschicht des Zarismus wurde (mehr noch durch die Säuberung der dreißiger Jahre als durch den Bürgerkrieg) ausgerottet, vertrieben oder gleichgeschaltet. Die Unterschiede im Einkommen waren zunächst gering und hatten eine soziale Ausgleichung zur Folge, die nur zeitweise durch die NEP-Periode unterbrochen wurde. Das Heiligenbild der „klassenlosen Gesellschaft“ beherrschte das Denken der alten Bolschewisten. In ihr soll der „neue Mensch“ geboren werden, das Gute über das Schlechte siegen, das ist die frohe Botschaft des Kommunismus. Seine Geschichtsprophetie macht seinen Sieg zur Gewißheit. Sein Ausschließlichkeitsanspruch beruht auf der Überzeugung, im Besitze einer Heilswahrheit zu sein: Unterdrückung und Unrecht werden durch das Mittel der Abschaffung des Privateigentums für immer beseitigt, und der Mensch wird zu einer neuen Würde erhoben.

Dieser Prozeß ist nach der marxistischen Lehre eng mit dem allmählichen „Absterben des Staates“ verbunden. Der orthodoxe Kommunist hielt auch die neuen staatlichen Institutionen für eine vorüber-gehende Einrichtung. Er wollte keine Ministerien, nur „Volkskommissariate“, keine Ränge und Würden. Tatsächlich wurden alle zivilen Ränge abgeschafft und nur in Bezug auf die Armee, die den Bürgerkrieg zu bestehen hatte, eine in ihren Rangstufungen bescheidene Ausnahme gemacht. Der Lebensstil der Revolutionäre war betont schlicht, ihre Kleidung proletarisch, Luxus war in jeder Form verpönt. Sie meinten die neue Brüderlichkeit zu verkörpern und einer allgemeinen Gleichheit den Weg zu bereiten, unter der auch Familie und Schule, Geschichtslehre und kodifiziertes Recht als bürgerliche Einrichtungen zum Absterben verurteilt sein sollten. Grundsätzlich hat Lenin, obwohl er der Begründer des starken Staates war, diese Anschauung stets geteilt. Die Konzentration der politischen Macht war für ihn ein notwendiges Übergangsstadium, solange die kapitalistische Umkreisung bestand.

Die große Wende tritt mit der Periode der Planwirtschaft ein, deren Schöpfer Stalin ist und in der rasch eine Bürokratie der Partei, des Staates und der Wirtschaft emporschießt und der Kreis der alten Revolutionäre, die tatsächlich ein Kollegium Gleichberechtigter gebildet hatten, durch die Stalinschen Säuberungsmaßnahmen zerstört wird. Die Entstehung der Bürokratie ist der Grund für das Zerwürfnis zwischen Trotzki und Stalin. War die Revolution nur für die Bürokratie gewonnen worden? Trotzki nennt sie im Vergleich mit dem Erlöschen der Französischen Revolution die „thermidorianische Reaktion". Unter Mißachtung der Idee der sozialen Gleichheit sah Trotzki wiederum Menschen am Werk, die Herrscher im Staate waren und das Volk in neuer Unfreiheit hielten. „Die Kontrolle über den Mehrwert," so äußert sich der strenge Marxist, „eröffnete der Bürokratie den Weg zur Macht." Für Trotzki war die Sowjetunion stalinistischer Prägung der Vorläufer eines neuen Ausbeutungssystems. Er hat nur die Anfänge einer Entwicklung erlebt, die heute zum Aufbau eines hierarchisch streng gegliederten und stark differenzierten Systems, zu der zweiten Revolution, wenn man sie so nennen will, oder, um eine stalinistische Wendung zu gebrauchen: zu der „Revolution von oben" geführt hat. „Muttermale“ des Kapitalismus Der Anhänger des Kommunismus wird hier einwenden, daß die Idee der klassenlosen Gesellschaft bis heute in der sowjetischen Theorie unvermindert in Geltung sei, ihre Verwirklichung aber erst im Zeitalter des Kommunismus erwartet werden könne. Nach der offiziellen Auffassung befindet sich die Sowjetunion etwa auf der Mitte des Weges zwischen Sozialismus und Kommunismus. Es wird nicht geleugnet, daß es auch in der Sowjetunion Klassen gibt, aber durch die Beseitigung der Voraussetzungen für die Ausbeutung sei der antagonistische Charakter dieser Klassen überwunden. In einem Ende 1954 in der Zeitschrift „Woprossy Filosofii“ (Nr. 6/54) erschienenen Artikel von M. S. Selektor wird behauptet: Noch seien bei den Menschen „Muttermale“ des Kapitalismus vorhanden, sei ihr Bewußtsein hinter der Veränderung ihres gesellschaftlichen Seins zurückgeblieben, daher seien Überbleibsel zu bekämpfen, die nicht von selbst absterben, ja sogar Wiedererstehen und sich verstärken können. Aber der Kampf gegen diese Überbleibsel sei kein Kampf gegen irgendeine Klasse der Sowjetgesellschaft, die in moralisch-politischer Haltung zusammenstehe, wohl aber trage er Klassencharakter.

Es ist eine gewundene Argumentation, deren sich Selektor bedient, um klassenkämpferische Maßnahmen, oder besser gesagt, Maßnahmen zur Festigung der bestehenden Ordnung zu rechtfertigen. Sie verdeckt den Tatbestand, daß ein neuer Stand in der Sowjetunion ausschlaggebend geworden ist, der erst allmählich in die kommunistische Begriffswelt als besondere Klasse hineingeschmuggelt worden ist. Ursprünglich ist der Sowjetstaat nach seinem Bekenntnis ein reiner Arbeiter-und Bauernstaat.

Vor den Wirtschaftsfunktionären fordert nun Stalin am 23. 6.

1937, daß die Arbeiterklasse sich ihre eigene „produktionstechnische Intellig

1937, daß die Arbeiterklasse sich ihre eigene „produktionstechnische Intelligenz“ schaffen müsse. Soziologisch entsteht diese Schicht aus den Resten des Adels und Bürgertums der Zarenzeit und aus der breiten Schicht der aus dem Arbeiter-und Bauernstand Emporgestiegenen. In seinem Bericht im Dezember 1936 vor dem Obersten Sowjet über den Entwurf zur neuen Verfassung erwähnt Stalin zum ersten Mal das Vorhandensein eines dritten sozialen Faktors, der Intelligenz.

In Anlehnung an Lenin bezeichnet er sie als frei schwebende soziale Zwischenschicht, die keine selbständige Klasse darstelle. Immerhin sei sie jetzt gleichberechtigtes Mitglied der Sowjetgesellschaft, „wo sie gemeinsam mit den Arbeitern und Bauern, an demselben Strange ziehend, die neue, die klassenlose sozialistische Gesellschaft aufbaut“ 5). In dem Parteistatut von 1952 wird die Partei als „Kampfbund gleichgesinnter Kommunisten" bezeichnet, der aus Angehörigen der Arbeiterklasse, der Bauern und der Intelligenz besteht. Die Gliederung in die drei Klassen ist heute allgemein üblich, spiegelt aber die soziale Wirklichkeit in der Sowjetunion ungenau wider.

Wer repräsentiert das Volk?

Die Bewertung der Klassengegensätze, soweit ihr Vorhandensein in der Sowjetunion zugegeben wird, lediglich als „Überbleibsel" ist darauf zurückzuführen, daß der Marxismus einseitig die soziale Frage durch die Abschaffung des Privateigentums für gelöst ansieht. Boris Meissner 6) hat als erster darauf hingewiesen, daß entscheidender als die rechtlichen Beziehungen der sozialen Schichten zu den Produktionsmitteln deren tatsächliche Rangstellung in der Produktionsorganisation und im Produktionsprozeß ist. Die kommunistischen Parteischulen versichern, daß das „Volk“ über das Gemeineigentum verfüge, aber wer repräsentiert das Volk? In der Praxis übt eine durch ihre Stellung wohl-bekannte Elite das Verfügungsrecht über die sozialisierte Wirtschaft aus. Sie besitzt eine Macht, von der sie ungeniert Gebrauch macht und die vielfach größer ist, als die Macht der Eigentümer in den kapitalistischen Ländern. Wenn sie auch keine Fabriken und Latifundien als persönlichen Besitz hat, so liegt doch der Anteil dieser Elite am Nationaleinkommen erheblich über den Anteilen der anderen Volksschichten.

David J. Dallin hat in seinem 1947 erschienenen Buch „Das wirkliche Sowjetrußland“ Berechnungen auf der Grundlage des Jahres 1940 angestellt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Bürokratie, wie er ganz allgemein die neue Führungsschicht bezeichnet, etwa 10 bis 12 °/o der Bevölkerung ausmacht, aber 30 bis 3 5 % des Volkseinkommens bezieht Die auf 20 bis 22 °/o bezifferte Arbeiterschaft ist am Volkseinkommen mit 3 3 °/o und die 5 3 °/o betragende Bauernschaft mit nur 29 % beteiligt. AIs vierte Klasse rechnet Dallin die Zwangsarbeiter, etwa bis 11 % der Gesamtbevölkerung, die nur 2 bis 3 °/o des Volks-einkommens erhalten. Die Ziffern dürften sich inzwischen nicht unerheblich zu Gunsten der Bürokratie und zu Ungunsten der Bauernschaft verschoben haben.

Diese ungleiche Verteilung wird nicht als eine Verletzung der kommunistischen Idee betrachtet. Sie wird erklärt mit dem verschiedenen Nutzen, den die Arbeit eines jeden dem Staate einbringt, eine Begründung, die nebenbeigesagt genau so gut von einem Kapitalisten abgegeben werden könnte. Mit der Planwirtschaft ist der Kult der Arbeit aufgekommen. Er führt dazu, den Wert eines Menschen nach seinen produktioneilen Fähigkeiten zu bemessen. Die sowjetische Verfassung 8) beruft sich — ohne Quellenangabe — auf das Pauluswort: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Es steht in dem Kapitel des Thessalonicherbriefes, das empfiehlt, den „Schädling“, um eine kommunistische Ausdrucksweise zu verwenden, zu beschämen. Der Apostel fügt hinzu:

„Doch haltet ihn nicht als einen Feind, sondern vermahnet ihn als einen Bruder“. Dieser Nachsatz fehlt in der Sowjetverfassung und — im sowjetischen Denken. Dem Kommunismus ist Nachsicht wesensfremd. Er läßt kühl den Menschen seine Brauchbarkeit im Fünfjahresplan-getriebe erweisen. Hier genießt jedes Rädchen Schutz und hat sogar Anspruch darauf, geölt zu werden. Man darf nie vergessen: Über der Person steht das System. Der Einzelne hat sich in die Gesellschaft, deren politischer Dolmetsch die Kommunistische Partei ist, „zu seinem Besten“ einzufügen. Tut er das nicht, oder hat er aus irgendeinem Grunde seinen Nutzwert für das System verloren, kann er auch nicht mehr gefördert werden. Er wird entweder ausgemerzt oder auf dem Wege über Zwangsarbeit dem System wieder dienstbar gemacht. Das ist die geistige Basis, auf der sich die soziale Differenzierung in der Sowjetunion vollzogen hat.

Die neue Oberschicht Bei dem Versuch, ein Schema der neuen Klassen zu entwerfen, folge ich im wesentlichen N. S. Timaschew in der New Yorker Zeitschrift „The Reporter“ (Juli 1949). Auch Timaschew unterscheidet vier Klassen. Zur ersten rechnet er die höchsten Mitglieder der Partei und ihre Familienangehörigen. Es sind die leitenden Beamten der Ministerien, der Partei und der Zentralverwaltungen, die Generalität, die Manager der Trusts, Fabrikdirektoren, einiger Künstler und Wissenschaftler mit großem Namen. Diese Menschen haben sich zu einer festen Schicht zusammengeschlossen und nehmen das Recht auf gesellschaftliches Ansehen für sich allein in Anspruch. Sie wohnen in Villen und Sommerhäusern, halten Rennpferde, legen Kunstsammlungen an, haben eigene Jagden und Landgüter, zur Erholung halten sie sich auf der Krim oder im Kaukasus auf. Ihren Lebensstil begründen sie mit der „Breite der russischen Naturen" wie die zaristische Gesellschaft und streuen wie diese generös Trinkgelder aus. Sie legen Wert auf gute Kleidung, die Frauen tragen Pelzmäntel und besitzen Juwelen. Die Berichte über Modeschauen in Moskau werden mit jedem Jahre reichhaltiger. Die Industrie von Kosmetika und Parfümen, die nach der Revolution unmöglich war, ist in einem starken Aufstieg begriffen.

Die Kinder dieser Schicht führen das typische Leben der Jeunesse doree. Einzelfälle werden häufig in der Presse angeprangert. Das ist gestattet, nur dürfen daraus nicht allgemeine Rückschlüsse gezogen werden, wie der Fall Sorin zeigt. Der rauhe Ton der alten Revolutionäre ist nicht mehr angebracht. Guter Ton und gute Manieren werden ständig gepredigt. Sogar die „kultivierten Gardinen" und der „kultivierte Urlaub“ gehören zu dem auch ungeschrieben schon eine große Autorität besitzenden sowjetischen Knigge. In der „Komsomolskaja Prawda“ (vom 26. 9. 1954) kann man Sätze lesen wie: „Gute Beziehungen im gesellschaftlichen Leben sind undenkbar ohne eine gute Erziehung“, die genau so für die Jugend von Eton und Oxford bestimmt sein könnten.

Ein gewisses Merkmal für das Wachsen der Führungsschicht sind die Angaben über die Zahl der Hausangestellten. Nach der Theorie schaffen Hausangestellte keinen Mehrwert, daher gilt ihre Beschäftigung nicht als Ausbeutung. 1923 gab es 150 000 Hausangestellte, 1927 -3 39 000, 1929 = 398 000 und 1932 = 406 000. Wenn Statistiken diesen Punkt dann nicht mehr berührt haben, so kann man mit Sicherheit annehmen, daß die weitere erhebliche Steigerung der Zahl der Hausangestellten der kommunistischen Propaganda Unannehmlichkeiten bereitet hätte.

Dabei könnte geltend gemacht werden, daß das Halten von Hausangestellten nicht unbedingt ein Zeichen von Wohlstand sondern in vielen Fällen darauf zurückzuführen ist, daß die Ehefrau neben dem Mann verdienen muß. Aber auf eine solche Diskussion kann der Kommunismus sich nicht einlassen. Abgesehen von Dienstmädchen gibt es in den Häusern der Elite selbstverständlich die Chauffeure für die Dienstwagen; die Verbreitung dieses Dienerstandes ist statistisch jedoch nicht erfaßbar.

Die Konsolidierung der neuen Oberschicht ist durch eine Reihe von Maßnahmen ermöglicht worden, von denen wir nur die widrigsten nennen wollen. 1931 wird das Gleichheitsprinzip bei der Entlohnung aufgegeben und das Prämiensystem eingeführt. Damit ist der Anfang zu krassen Unterschieden in den Einkommenverhältnissen gemacht. In den dreißiger Jahren gibt es die ersten Rubelmillionäre, Techniker, Erfinder und Schriftsteller, die Summen verdienen, die auch in kapitalistischen Ländern nur wenigen vergönnt sind. 1945 wird eine Erbrechtsreform vorgenommen, die in Verbindung mit dem Gesetz vom 26. August 1948 jedem Sowjetbürger das Recht zugesteht, durch Kauf oder Bau ein Wohnhaus, das fünf Zimmer haben darf, als persönliches Eigentum zu erwerben. Nutznießer der Berechtigung zum Erwerb von Häusern ist naturgemäß die Oberschicht, die allein die Mittel dafür aufbringen kann. Sie erhält auch die Möglichkeit, ihr Geld nutzbringend anzulegen. Seit der Finanzreform von 1934 zahlen sowjetische Banken und Sparkassen Zinsen, ebenso der Staat, der für den Erwerb von Obligationen auch noch Steuervergünstigungen gewährt.

Solche Vermögen können unbeschränkt vererbt werden. Es gibt auch keine gesetzliche Bestimmung, die verbietet, im Wege der Erbschaft in den Besitz mehrerer Häuser zu gelangen.

Das neue Erbrecht begleiten Maßnahmen zur „Festigung der sozialistischen Familie“, wie der offizielle Ausdruck lautet. Seit 1944 kann nur noch die registrierte Eheschließung Rechte und Pflichten der Ehegatten begründen. Die Theorie der „freien Liebe“ wird heute als „Anarchismus“ verdammt und die Ehescheidung erschwert. Reicher Kindersegen ist von Staatswegen erwünscht, dafür gibt es Prämien und Mutterschaftsmedaillen. Zu dem tugendsamen Sowjetbürger gehört auch das geordnete Familienleben. Es ist eine der Voraussetzungen für den Aufstieg.

Züchtung des Kastengeistes Die privilegierte Stellung der Führungsschicht findet durch Vorzugs-rechte vieler Art (Kauf in besonderen Geschäften, Besuch bestimmter, für andere gesperrter Geschäften usw.), durch Ordensverleihungen, durch Dienstränge mit den entsprechenden Rangabzeichen und Uniformen ihren sichtbaren Ausdruck. Die markantesten Etappen dieser Entwicklung seien hier aufgeführt.

7. M a i 1 9 4 0: Generals-, Marschalls-und Admiralsränge für Armee und Flotte. Es gibt allein drei verschiedene Marschallsränge.

9. M a i 19 4 1: Dienstränge für die diplomatischen Vertreter im Ausland.

21. Mai 1942: Besondere Dienstränge und Rangabzeichen der Gardetruppen. Der Begriff „Garde“ hatte im Zarismus einen besonderen Klang und war daher in der Revolution besonders verhaßt.

4. September 1943: Dienstränge und Rangabzeichen im Eisenbahnverkehrswesen.

16. September 1943: Dienstränge und Rangabzeichen im Staatsanwaltsdienst. Die Stufenleiter umfaßt bei den Staatsanwälten 11 Grade.

8. Juli 1945: Militärische Dienstränge und Rangabzeichen in dem gesamten Polizeidienst, einschließlich Strafvollzug, Zwangsarbeitslager, Standesamtswesen, Archivdienst, Straßenverkehrswesen sowie bei den Bauten von Straßen, Kanälen, Wasserkraftwerken und Rüstungsanlagen. 1. September 1947: Dienstränge und Rangabzeichen in der Binnenschiffahrt.

10. September 1947: Dienstränge und Rangabzeichen für das leitende und technische Personal in der Kohlenindustrie.

14. Oktober 1947: Dienstränge und Rangabzeichen für das leitende und technische Personal des geologischen Dienstes.

10. Dezember 1947: Dienstränge und Rangabzeichen für das leitende und technische Personal der Schwarzmetallindustrie (dasselbe für die Buntmetallindustrie am 20. März 1948).

3. Juli 1 9 4 8: Dienstränge und Rangabzeichen in der Seeschiffahrt. 10. Juli 1948: Dienstränge und Rangabzeichen für das leitende und technische Personal im Finanz-, Bank-und Kreditwesen.

13. Dezember 1948: Dienstränge und Rangabzeichen bei der Post und im Rundfunk.

17. Mai 1949: Dienstränge und Rangabzeichen im Beschaffungswesen. 18. Mai 1949: Dienstränge und Rangabzeichen im Staats-kontrolldienst. 28. Dezember 1950: Dienstränge und Rangabzeichen für das leitende und technische Personal im hydrotechnischen Dienst und in den Schiffsreparaturwerkstätten.

Als Abschluß der Liste sei das Kuriosum erwähnt, daß (laut „Prawda“

vom 11. 11. 195 3) dem Ministerium für Industriegüter des allgemeinen Konsums von der Regierung gestattet wurde, Putzmachern folgende Titel zu verleihen: Kolorist, Künstler und Meister der Putzmacherei 1., 2. und 3. Ranges. Wenige Tage später (am 19.) berichtete das gleiche Blatt, daß in der Fischerei der Titel „Meister großer Fänge“ eingeführt worden ist.

Wer weiß, ob es noch ein zweites Land auf der Welt gibt, das sich in bezug auf Orden, Titel und Ränge mit dem kommunistischen Sowjet-staat auch nur annähernd vergleichen kann. Auch wenn man davon ausgeht, daß der Sinn des Systems ist, durch Auszeichnung die Menschen zu höherer Leistung anzustacheln, so ist doch eine unvermeidliche Begleiterscheinung die Züchtung eines Kastengeistes und von diensteifriger Ergebenheit, an der es in der Sowjetunion wahrlich nicht fehlt. Die Differenzierung kommt selbst in der Größe der Schreibtische im Büro, in der Qualität der Büromöbel, in der Sitzgelegenheit am Arbeitstisch, ja im Vorrang beim Eintreten durch die Tür, in der Art, wie der Gruß erwiesen wird, für den meist genaue Vorschriften bestehen, und im Stimmfall der Anrede von Vorgesetzten und Untergebenen zum Ausdruck. Die Gewohnheit der Zarenzeit, Untergebene mit „Du“ anzureden, während die Untergebenen ihrerseits gegenüber dem Vorgesetzten den vollen Titel gebrauchen, hat sich wieder eingebürgert.

Es gibt eine Erzählung von Tschechow, „Der Tod des Beamten“, die in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschien. Iwan Dmitritsch Tscherwjakow passierte es, daß er im Theater niesen mußte.

Mit Entsetzen bemerkte er, daß er dabei die Glatze des Generals Brisshalow bespritzt hatte. Der Beamte entschuldigte sich sofort von seinem Platz aus. In der Pause entschuldigte er sich ein zweites Mal. Am nächsten Tag meldete er sich im Vorzimmer des Generals und brachte seine Entschuldigung noch zweimal vor. Als er am Tage darauf wieder-kam, wurde er als lästig hinausgeworfen. Der arme Beamte starb vor lauter Angst. Im Jahre 19 50 ereignete sich in der Sowjetunion folgende Geschichte: Auf der Moskwa fuhr der Dampfer „Gagry“ unter dem Kommando des Kapitäns Winogradow nach dem Südhafen. Ihm kam der Motorkutter „Bystryj“ entgegen, der den stellvertretenden Chef der Binnenschiffahrt, Sidorow, an Bord hatte. Der Dampfer gab Signal „Backbord halten". Der Kutter machte wohl eine Wendung nach links, fuhr aber zu nahe an dem Dampfer vorbei. Die Wellen schlugen gegen die Bordwand des Kutters und bespritzten den Anzug des stellvertretenden Chefs der Schiffahrt. Noch am gleichen Tage verlangte Sidorow von Winogradow eine Erklärung. Unabhängig davon erhielt der Kapitän sofort wegen unehrbietigen Verhaltens einem Vorgesetzten gegenüber einen Verweis, außerdem wurde ihm seine Prämie entzogen. Diese Geschichte war in der Moskauer Zeitung „Trud“ vom 25. Oktober 1950 zu lesen, die dabei ausdrücklich auf die Tschechow-Novelle Bezug nahm.

Der Vorfall illustriert sehr gut die Zustände, die sich in dem hierarchischen System der Sowjetunion herausgebildet haben. Wie soll sich da noch der einfache Mann zur Geltung bringen?

Der sowjetische Mittelstand Als zweite Klasse — um in der Aufzählung fortzufahren — bezeichnet Timaschew den sowjetischen Mittelstand. Zu ihm gehören gewöhnliche Parteimitglieder, ferner Offiziere, Ingenieure, Buchhalter, Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller, Musiker, Künstler, sofern sie nicht durch ihr Einkommen und ihre Beziehungen der Klasse 1 zuzuordnen sind. Auch die Leiter der Kolchosen, Sowchosen und MTS sind an dieser Stelle zu nennen, die allmählich eine den alten Gutsbesitzern ähnelnde Rolle spielen. Dieser Mittelstand stellt das Hauptkontingent der „ Apparatschiki", der Apparatleute, die in Partei, Staat, Wirtschaft und den Massenorganisationen die Hebel der Maschine bedienen. Die Kinder dieses Mittelstandes besuchen die Oberschulen und häufig auch die Hochschulen und bemühen sich um Anschluß an die Angehörigen der ersten Klasse.

Der Drang zum sozialen Aufstieg ist übermächtig. In der „Prawda" (z. B. vom 24. 5. 195 5) kann man Klagen darüber lesen, daß der Nachwuchs, der von den höheren Schulen kommt, keine Handarbeit mehr leisten will. „Gott sei Dank“, sagte die Nachbarin des Verfassers eines Leserbriefes an die „Literaturnaja Gaseta“ (vom 19. 8. 1954), „sind alle meine Kinder studierte Leute: der ältere arbeitet als Ingenieur in Minsk, die Tochter als Ärztin in Mogilew. Doch mit dem Jüngsten haben wir großes Pech: er will zur Fabrik gehen“. Handarbeit gilt, soviel auch von oben dagegen gesagt wird, als deklassierend. Bürodienst und Wohnsitz in der Großstadt erscheinen der Jugend allein erstrebenswert. Die lörerziffer von 1 5 62 000 an den Hoch-und Fachschulen der Sowjetunion im Studienjahr 195 3/54 kann man als Zeichen der Fortschrittlichkeit deuten, man kann sie aber auch für erschreckend halten.

Wohin mit der Massenproduktion der Intelligenz, wenn die planwirtschaftliche Expansion an Grenzen gelangt ist? Vorläufig ist das Wachsen des Mittelstandes noch kein politisches Problem, denn er hat bei politischen Entscheidungen kein Mitbestimmungsrecht, er ist nur Exekutivorgan, als solches jedoch wichtig für die Inganghaltung von Verwaltung, Industrie, Handel und der kulturellen Einrichtungen. Sein Lebensstandard ist bei einem Monatsverdienst, der zwischen 1000 und 2000 Rubel liegt, ausreichend; er besitzt zu einem Teil kleine, aber private Häuser und kann sich ab und zu eine Reise leisten.

Die dritte Klasse Die Mehrheit des Volkes gehört zur dritten Klasse. In ihr sind die untersten intellektuellen Arbeiter mit geringer Bildung, die Industriearbeiter und die Bauern vereinigt. Aber auch innerhalb dieser Schicht, die keinerlei Rechte besitzt und gerade ihren Lebensunterhalt fristen kann, für die schon die Anschaffung eines Paars Schuhe ein Familien-problem darstellt, und die auf einem engen Wohnraum zusammengepfercht ist, gibt es große Unterschiede. Immer mehr hat sich aus der Masse der Arbeiterschaft, aus den Spezialisten, Werkmeistern, Vor-und Stoßarbeitern eine „Arbeiteraristokratie“ herausgehoben, die in den Genuß der Akkord-und Prämienzuschläge kommt und nach ihrem Einkommen vielfach zur zweiten, in einzelnen Fällen sogar zur ersten Klasse gehört.

Bei Beginn der Fünfjahrpläne (1928) war der Unterschied zwischen dem Arbeitslohn der niedrigsten und höchsten Kategorie 1 : 2, 8. 1940 betrug der Spitzenlohn eines Arbeiters 10 600 Rubel, der offizielle monatliche Durchschnittslohn 3 39 Rubel. Das Verhältnis zwischen der niedrigsten und höchsten Kategorie war 1 : 31, 3. Die Geheimhaltungstaktik der Statistik erlaubt keine präzisen Angaben über die spätere Zeit, aber alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Spanne zwischen dem Minimal-und Maximallohn noch erheblich zugenommen hat. Man kann nur soviel sagen, daß heute ein angelernter Arbeiter etwa 600 bis 700 Rubel im Monat verdient, ein ungelernter ungefährt die Hälfte, die Einkommen der Angehörigen der Arbeiteraristokratie gehen in die Tausende.

Die sowjetische Literatur spricht, soweit es sowjetische Verhältnisse betrifft, niemals von Arbeiteraristokratie, sie betrachtet eine solche Schichtenbildung als schädlich. Man muß sich schon an Darstellungen über fremde Länder halten, wenn man von ihr eine Definition erhalten will. B. N. Michalewski hat in den „Woprossy Istorij“ (Nr. 1/5 5) sich mit der Arbeiteraristokratie in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg beschäftigt. Seine Formulierung lautet: „Die Arbeiteraristokratie besteht aus einer bestimmten Schicht von Arbeitern, die ein erheblich höheres Einkommen haben als die Hauptmasse der Arbeiter und deren Lebensstandard dem der Kleinbürger nahekommt. . . Aus den Reihen der Arbeiteraristokratie, die mit dem Proletariat zusammenarbeitet, schält sich im Laufe der Zeit die Arbeiterbürokratie heraus. . . (In dem Artikel sind Beamte der SPD, Gewerkschaften, Genossenschaften und Selbstverwaltung damit gemeint.) Die Arbeiteraristokratie ... ist die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie in der Arbeiterklasse. . . Am Vorabend des 1. Weltkrieges wird die Arbeiteraristokratie in Deutschland zur sozialen Hauptstütze des vom Junkertum und von der Bourgeoisie getragenen Imperialismus". Die Parallelität zur sowjetischen Entwicklung liegt nahe. Die Arbeiteraristokratie in der Sowjetunion ist die soziale Hauptstütze der neuen regierenden Schicht. Sie hat im 2. Weltkrieg den in der Form des Sowjetpatriotismus auftretenden Imperialismus mitgetragen.

Die soziale Aufspaltung der Arbeiterklasse erleichtert dem System ihre Beherrschung. Die Mehrheit der Arbeiter, insbesondere die ungelernten, und die meisten Bauern gehören rach Wilhelm Starlinger zu der „grauen Masse des hin-und hergeschobenen Termitentums , die er als eine Schicht in der Sowjetunion definiert, die niemals dem Regime gefährlich werden kann, weil sie nur von dem Kampf um das nackte Dasein ausgefüllt ist.

Dem Bauerntum ist bei Beginn der Planwirtschaftsperiode durch die Kollektivierung das Rückgrat gebrochen worden. Dadurch ist der Bauer auf das Niveau eines Landarbeiters herabgedrückt worden. Auf seine Kosten ist die Industrialisierung betrieben worden. Wenn auch die Zeit vorbei ist, da russische Bauern in den großen Städten um Brot bettelten, hat sich an der Gedrücktheit der Bauernklassen nichts geändert. Exakte Angaben über Einkommensverhältnisse sind schwer zu machen und geben kein einheitliches Bild. Nach einer amerikanischen Unter-suchung betrug im Moskauer Gebiet (im Zeitraum 1948— 50) der durchschnittliche Barverdienst eines Bauern für seine Arbeit im Kolchos noch nicht 30 Kopeken je Arbeitstag, das sind weniger als 100 Rubel im Jahr für einen Haushalt. Für Estland kommt Aleksander Kaelas dagegen zu dem Ergebnis, daß ein Bauer in einem gewöhnlichen Kolchos 1953 knapp 150 Rubel im Monat verdient haben dürfte. Höhere Schätzungen gibt es kaum. Die Unlust, unter den gegenwärtigen Bedingungen weiter auf dem Lande zu'arbeiten, kommt in einer Flucht — der Ausdruck Wanderung ist zu schwach — in die Städte zum Ausdruck.

Der Prozeß der Verstädterung Starlinger gibt eine interessante Beobachtung wieder. Bei einem Vergleich der Bildaufnahmen von Massenzusammenkünften in den Zeitungen der Großstädte, der Provinzen und des Landes kann man feststellen, daß in den Großstädten der Mann dominiert, vor allem der jüngeren Generation, dagegen tritt er in den mittleren und vornehmlich in den kleineren Städten zunehmend zurück. In den Kolchosen wird der Mann schon einzeln zählbar. Man könne ohne Übertreibung sagen, daß auf vielen Bildern einem Mann mehr als 100 Frauen zahlenmäßig entsprechen. Die sowjetische Agrarpolitik hat also dazu geführt, daß der männliche Landbewohner resigniert und die Frauen zurückbleiben, von deren Arbeit das Gedeihen des Kolchos abhängt.

Der Prozeß der Verstädterung ist in Verbindung mit der sozialen Umschichtung gar nicht wichtig genug zu nehmen. 1926 betrug die Stadtbevölkerung der Sowjetunion erst 26, 1939 = 61 und — nach Angaben Malenkows — 1953 = 80 Millionen. Das Verhältnis zwischen Stadt-und Landbevölkerung war 1926 1 : 41/2 und 1940 1 : 3. Für 19 53 läßt sich das Verhältnis in Ermangelung neuer Volkszählungsziffern nur schätzen. Es kommen jetzt etwa auf 4 Städter 5 Landleute. Nach dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre wandern jährlich rund zwei Millionen Menschen vom Dorf in die Stadt Die Sowjetunion wird bald den Zeitpunkt erreicht haben, in dem die Mehrheit der Einwohner in den Städten wohnt. Unabhängig davon führt die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Bildung von Agrostädten zu einer von oben her gewünschten und geförderten Urbanisierung des Landes. Die Veränderung des russischen Menschen durch die Verstädterung ist ein Vorgang, dessen innere Konsequenzen noch nicht abzusehen sind. Die krampfhaften Versuche des Regimes, Jugendliche und leitendes Personal auf dem Lande anzusetzen, werden den Verstädterungsprozeß nicht aufhalten können.

Auf der Landwirtschaftskonferenz in Saratow am 17. 3. 1955 forderte Chruschtschow mit großem Nachdruck, daß die Leitung der Staatsgüter, MTS und Kolchosen den besten Männern, landwirtschaftlichen Spezialisten und Organisatoren der Produktion übertragen werden solle. Aus Partei, Verwaltung, Wirtschaft und Technik sollten bis Juli 195 5 30 000 qualifizierte Kräfte zu diesem Zweck herangezogen werden. Welche Bedeutung Chruschtschow diesen Funktionären zumaß, geht aus seiner weiteren Bemerkung hervor, daß sie Parteimitglieder und Söhne der Arbeiterklasse sein müßten. Wenige Wochen später forderte er auf einer anderen Konferenz Bestrafung für die Betriebsleiter, die im letzten Jahr im Gebiet von Moskau „Unwürdige“ für die MTS empfohlen hatten. Gleichzeitig kritisierte die „Prawda“ daß die Neubesetzung der leitenden Stellen in den landwirtschaftlichen Betrieben durch fähige Leute unbefriedigende Fortschritte mache. Sie hielt es für nötig zu betonen, daß leitende Arbeit auf dem Lande nicht weniger ehrenvoll und verantwortlich sei als in städtischen Betrieben. Man braucht aber nur in der gleichen „Prawda“ zu blättern, um in ihr Schilderungen zu finden wie in der Nr. vom 23. 1. 195 5. Dort lesen wir, wie der Leiter des städtischen Gesundheitsamtes von Baku von einem leitenden Beamten des Gesundheitsministeriums des aserbajdshanischen SSR angerufen wird. Die Situation ist so, daß in der Stadt Mediziner im’Überfluß vorhanden sind und täglich sich neue melden, die nicht mehr untergebracht werden können. Dagegen fehlt weit und breit auf dem Lande ärztliche Hilfe. Der Ministerialbeamte weigert sich aber entschieden, Mediziner auf das Land zu vermitteln, er will vielmehr der Bakuer Behörde noch weitere Bewerber aufhalsen. Grund: „Das sind alles sehr zarte Menschen. Das Dorf liegt ihnen nicht. Versucht man nur, sie irgendwo außerhalb des Zentrums von Baku einzusetzen, wird man die Unannehmlichkeiten nicht los. Die Väter bedrängen mich . . . Sie verstehen . .. Das sind alles Kinder meiner Freunde, der Freunde meiner Vorgesetzten und Ihrer Freunde“. Am 2 5. 2. 195 5 beklagte ein Leitartikel der „Prawda“ den Mangel an Bereitschaft bei den jungen Spezialisten, die großen Städte zu verlassen und auf dem Lande zu arbeiten. Infolge dieser inneren Einstellung ist das ganze Experiment der Verpflanzung der Intelligenz höchst problematisch.

Auf die Dauer ist ausschlaggebend, ob die Menschen auf dem Lande bleiben wollen. „Einige der auf das Land entsandten Genossen benehmen sich dort falsch“, schrieb „Partijnaja Shisnj“ (Nr. 7/1955). „Sie rechnen damit, daß ihr Aufenthalt auf dem Lande nur vorübergehend ist und lassen ihre Familien nicht an den neuen Arbeitsplatz umziehen.“ Mit dieser auf „einige Genossen“ beschränkten Feststellung ist ein die Intelligenz allgemein kennzeichnender Grundzug berührt. Sie betrachtet es als eine Strafe, wenn sie in ländliche Einsamkeit versetzt wird, der sie so bald als möglich wieder zu entfliehen sucht. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß eine Verwurzelung städtischer Elemente auf dem Lande nur in den seltensten Fällen gelingt. In der Sowejtunion begegnet dieser Kolonisationsversuch von oben dem Strom der Bauern, die das Dorf in der Hoffnung verlassen, in der Stadt eine Chance zur Verbesserung ihrer sozialen Lage zu finden.

Die „Feinde des Volkes“

Die vierte Klasse schließlich sind für Timaschew ebenso wie für Dallin die Insassen der Arbeitslager, die staatlichen Sklaven und Gefangenen, die als „Feinde des Volkes“ unterhalb des Existenzminimums existieren müssen, aber als Arbeitsfaktor für die volkswirtschaftliche Planung von erheblicher Bedeutung sind. So stark an Zahl diese Gruppe auch ist, sie fristet ihr Dasein außerhalb des normalen Lebens des sozialen Organismus.

Die Klassengliederung und -absonderung hat in der Sowjetunion feste Formen angenommen Die Zeit des ungehemmten sozialen Aufstiegs, die ihre LIrsache darin hatte, daß der Staat einer neuen Intelligenz dringend bedurfte, ist vorbei. 1932 fiel die Bestimmung über den „Arbeiterkern“ an den Hochschulen. Sie besagte, daß 65 Prozent der Studenten der Arbeiterklasse angehören müßten. Seitdem stellt den Hauptteil des akademischen Nachwuchses die Intelligenz selbst. 1940 wurde der verfassungsmäßig verbürgte kostenlose Unterricht abgeschafft, soweit er sich auf die drei oberen Klassen der Oberschule, die Hochschulen und Fach-schulen bezog. Die Zuteilung von Stipendien wurde an verschärfte Bedingungen geknüpft. Seitdem ist die Ausbildung wieder eine Kosten-frage.

Sie mögen immer noch mäßig sein, aber sie genügen, um breiten Schichten den Weg nach oben zu versperren. Alle Berufe haben die Bildungsanforderungen erhöht, auch die Parteilaufbahn bedarf der Absolvierung der Parteihochschule. Wer im Kriege in Rußland war, weiß, welche Rolle es in der Bevölkerung spielt, eine wievielklassige Schule einer besucht und welche Prüfungen er abgelegt hat. Die Tendenz zu einer berufsständischen Abkapselung ist immer stärker geworden. Außerdem hat die Führungsschicht, nachdem sie sich stabilisiert hat, die Neigung, nur noch beschränkt Außenstehende aufzunehmen. Das Vorrecht der Geburt gilt wieder. Die Kadettenschulen werden in der Hauptsache heute von Offizierssöhnen besucht. Je nach Rang und Beziehungen sucht jeder Funktionär seine Familienangehörigen gut unterzubringen.

Offiziell wird zwar die Vetternwirtschaft kritisiert, tatsächlich aber geschieht nichts dagegen. Es gibt sogar staatliche Maßnahmen, die dafür sorgen, daß die verdienten Familien einen guten Platz behalten. Als Beispiel sei eine Anordnung des Ministerrats der LIdSSR (veröffentlicht in der „Prawda" vom 7. 9. 19 51) beim Tode des Generalobersten Schtschadenko genannt. Hierin wurde nicht bloß der Frau des Verstorbenen eine Rente gesichert, sondern es wurden auch ausgiebige Stipendien für den Sohn und eine von diesem Sohn unterhaltene weibliche Person bis zum Abschl 51) beim Tode des Generalobersten Schtschadenko genannt. Hierin wurde nicht bloß der Frau des Verstorbenen eine Rente gesichert, sondern es wurden auch ausgiebige Stipendien für den Sohn und eine von diesem Sohn unterhaltene weibliche Person bis zum Abschluß des Studiums bewilligt.

Die Kommunistische Partei — eine Interessenpartei der herrschenden Klasse Die Kommunistische Partei ist eine Interessenpartei der herrschenden Klasse geworden. Der Verzicht des XIX. Parteitages auf die Bezeichnung „bolschewistisch", die zwar nach Erledigung der Menschewisten ihre Bedeutung verloren, aber inzwischen revolutionären Weltklang gewonnen hatte, war ein Symptom. In ihrer sozialen Zusammensetzung hat die heutige Partei kaum noch etwas mit der des Jahres 1917 gemein. Auf dem Parteitag 1930 besaßen 22. 9 Prozent der Delegierten Hochschul- oder Oberschulbildung, 1934 = 41. 0 Prozent, 1939 = 54. 0 Prozent und 1952 = 85. 2 Prozent. Bei denjenigen, die nur eine Grundschul- oder nicht abgeschlossene Oberschulbildung besaßen, ist nicht mitgeteilt worden, ob es sich um Angestellte, Arbeiter oder Bauern handelte. Überwiegend dürften sie der Parteibürokratie und damit der Funktionärsklasse angehören. Meissner 16) schätzt den Anteil der neuen Intelligenz an der Gesamtzahl der Parteimitglieder auf mindestens 60 Prozent. Dallin 17) betont besonders den Wandel der Mentalität. Zu 90 Prozent oder sogar noch mehr bestehe die Partei heute aus typischen „Sowjetphilistern", die wenig Ähnlichkeit mit den alten Fanatikern und Idealisten hätten, keine hochfliegenden Ideale verfolgten, aber wohl wüßten, daß sie der Revolution alles verdankten. Weder in der Partei noch im Parlament, dem Obersten Sowjet, sind wirkliche Handarbeiter und Bauern noch in einem nennenswerten Maße vertreten. Wenn die amtlichen Statistiken anders lauten, so beruht das auf dem Kunstgriff, Staatsangestellte den Handarbeitern zuzurechnen. In kaum einem westeuropäischen Lande dürfte die politische Vertretung der Arbeiter und Bauern so schwach sein wie heute in der Sowjetunion. Die Worte „Proletariat"

und „Proletarier“ werden in der Presse im Vergleich zu früheren Zeiten nur noch selten gebraucht.

Die Konsumentenpolitik Nach dem Tode Stalins war die aus seiner Hand hervorgegangene Führungsschicht gewissermaßen sich selbst überlassen. Mit Malenkow gelangte ein typischer Vertreter der Apparatschiki an die Regierungsspitze. Seine Konsumentenpolitik entsprach den Wünschen der Intelligenz, die einen bequemen, westeuropäischen Massen angenäherten Lebensstil kultivieren möchte. So schwach auch die praktischen Erfolge gewesen sein mögen, mit dieser Politik war doch eine Änderung der Mentalität verbunden. Zum ersten Mal durfte der Sowjetbürger, sofern er kaufkräftig war, in seiner Eigenschaft als Kunde als Fordernder auftreten. Sein Geschmack und seine Wünsche beeinflußten die Planung.

Es war nur zweifelhaft, ob man diese Neuorientierung unbedingt als einen Weg zum Sozialismus bezeichnen mußte. Für Eisschränke, Nähmaschinen, Waschmaschinen, Kerosinherde, Radio-und Fernsehapparate, Fahrräder, Uhren, Samoware, Kristallgefäße, Tüllgardinen, Atlas-bänder, Baumwollstoffe, Schuhe und Nahrungsmittel wurden hohe Produktionssteigerungen vorgesehen. Es war ein Programm der Equipierung der russischen Kleinbürgerfamilie. Zu diesem Stil paßte es auch, daß die Schaffung von 18 Millionen Schrebergärten vorgesehen war. Früherer Behördenschluß wurde damit begründet, daß man für die Angehörigen Zeit haben müsse, eine Einstellung, die in der Stalinzeit als ganz unkommunistisch gegolten hätte. Dieses „Zeit-haben“ für das Familienidyll konnte für den Charakter des Regimes geradezu belastend werden. Und so finden wir denn auch bald wieder z. B. in den „Woprossy Filosofij" (6/54) sorgenvolle Betrachtungen 18), daß in der Ehe und der Familie die Überreste des Kapitalismus besonders zählebig seien.

Ihre Bekämpfung werde erschwert, meint der Verfasser, weil sie der Gesellschaft häufig verborgen blieben. Er verurteilt scharf, daß der berufstätige Ehemann „seine Frau dazu verdammt, in der Hausarbeit zu verkümmern". Auf diese Weise gerate die Frau nicht nur unter den Einfluß des kleinbürgerlichen Alltagslebens, sondern auch der kleinbürgerlichen Weltanschauung. Hier wird eine Problematik sichtbar, mit der das System nicht mehr fertig wird. Es verkündet als sein oberstes Ziel dauernd die Hebung des Lebensstandards. Je mehr sich der Standard hebt, desto weniger besteht für die Sowjetfrau die Notwendigkeit zur Berufsarbeit und desto stärker wird die Gefahr ihres Abfalls in Vorstellungen, die von der amtlichen Theorie als „kleinbürgerlich" bezeichnet werden. Die inneren Gefahren, die sich aus der Konsumenten-politik für das System ergaben, haben mit zu der Aufgabe dieses Kurses beigetragen.

Rückkehr zum Primat der Schwerindustrie Mit der Rückkehr zum Primat der Schwerindustrie entstehen auch Unannehmlichkeiten für die Intelligenz, deren Bedürfnis nach feineren Waren nicht mehr restlos befriedigt wird. Es gibt dafür kleine Symptome. Nadi dem Sturze Malenkows berichtete die schwedische Presse, daß eine Sowjetdelegation, mit der Schweden Verhandlungen über einen Warenaustausch führte, sich sehr zurückhaltend gegenüber Kleider-importen zeige. In der Malenkow-Ära waren aus Schweden in steigendem Maße Erzeugnisse der Konfektions-und Textilindustrie, darunter Zehntausende von Fräcken, nach der Sowjetunion geliefert worden 19).

Doch sind es nur verhältnismäßig geringe Abstriche, die von der führenden Schicht in der gegenwärtigen Phase verlangt werden. Geblieben ist das in der Malenkow-Zeit zum erstenmal zur Allgemein-gültigkeit erhobene Prinzip der persönlichen materiellen Interessiertheit. In eine andere Sprache übersetzt heißt dieses Prinzip nichts anderes, als daß man dem Profitstreben Rechnung trägt; in welchem Umfange, dafür ist ein Beispiel der Beschluß des ZK und Ministerrates der UdSSR „über die Steigerung des Interesses der Kolchosbauern und der Mitarbeiter der Traktoren-Brigaden der MTS an der Vergrößerung der Maisproduktion im Jahre 1955“ Er „empfiehlt" — dem Buchstaben nach sind die Kolchosbetriebe selbständig — den Bauern über das ihnen für Arbeitseinheiten angerechnete Entgelt hinaus bis zu 15 Prozent der Maisernte zuzuteilen. Aber Brigadiers, Kolchosvorsitzende und Agronomen erhalten als Zuschlag 130 bis 150 Prozent der durchschnittlich auf die Kolchosbauern entfallenden Maismenge. Das Prinzip der materiellen Interessiertheit legalisiert alle Einkommensunterschiede, die in einer ständigen Polemik mit der „Gleichmacherei“ sich rasch vergrößern.

Aus Revolutionären wurden Reaktionäre Die Berichte der Weltpresse über das glanzvolle Gartenfest, das bald nach der Genfer Konferenz der Regierungschefs der vier Großmächte Bulganin an einem schönen Augustsonntag des Jahres 1955 für das Moskauer Diplomatische Korps auf dem ehemaligen Landsitz des Grafen Orlow, eines Günstlings der Zarin Katharina gab, liest sich wie eine Erzählung aus fernen kaiserlichen Tagen. In einem riesigen Park von Eichen, Birken und Tannen waren fünf lange Tische unter einem großen Zeltdach aufgestellt. Fast hundert Diener boten Kaviar, Krebse, Geflügel und kaltes Fleisch an. Wodka, Kognak, weiße und rote Weine aus der Krim und dem Kaukasus wurden reichlich eingeschenkt. Die höchsten Heirschaften tanzten ausgelassen Volkstänze und stimmten Volkslieder an. Oder sie luden Gattinnen und Töchter der fremden Missionsschefs zu Bootsfahrten auf dem See ein, der zu dem herrlichen Besitztum gehörte. Es wurde gelacht und gescherzt wie zu Orlows Zeiten. Die Großartigkeit dieses Festes mögen die Ausländer denen zum ersten Male vom Sowjetstaat eine Einladung dieser Art zuteil geworden war, erstaunlicher gefunden haben als die Veranstalter selbst. Ihnen erscheint ein solcher Stil schon garnicht mehr als ungewöhnlich oder anstößig. Ihre Politik ist nach innen und außen auf Stabilisierung, auf Festigung bestehender Machtverhältnisse gerichtet. Aus den Revolutionären wurden Reaktionäre, die argwöhnisch und feindselig auf jede Gärung achten, die ihren Besitzstand gefährden könnte.

Gibt es in der staatstragenden Schicht keine Risse? Hermann Achminow dem wir scharfsinnige und geistreiche Untersuchungen über die soziologische Situation in der Sowjetunion verdanken, glaubt, daß eine * sich unaufhörlich erweiternde Kluft zwischen der technischen Intelligenz, die auf die Wiedereinführung des Privateigentums an den Produktionsmitteln drängen wird, und der Parteibürokratie aufgetan hat. Mir scheinen die Gründe für eine völlige Auseinanderentwicklung beider Gruppen nicht überzeugend. Der technischen Intelligenz geht es unter dem gegenwärtigen Regime, ob sie an dessen Doktrin glaubt oder nicht, verhältnismäßig gut. Was sie an persönlichem Besitz erwerben kann, mag ihr genügen. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß diese Intelligenz bewußt in Spezialistenenge gezüchtet worden ist. Es wird zwar heute in der Sowjetunion gewissermaßen als Ersatz der humanistischen die polytechnische Bildung verkündet. Aber kann diese polytechnische Bildung ohne ausreichende allgemeine Bildungsgrundlagen überhaupt bestehen? Der Sowjetstaat ist daran interessiert, keine Intelligenz zu haben, die über ihren Fachrahmen hinaus sich durch universales Wissen und Selbständigkeit des Urteils eine innere Unabhängigkeit erwirbt. Geistige Enge ist ein hervorstechendes Kennzeichen der neuen Intelligenz, deren „niedriges Niveau“ in ihren persönlichen Interessen und ihrem Geschmack häufig getadelt wird.

In ihr dominiert die Halbbildung. Diese Schicht hat kein geistiges Gesicht und auch, wenn sie oppositionell gestimmt ist, keine politische Theorie. Auf dem Boden der Politik bleibt der Parteimann, der in der kommunistischen Scholastik über eine Pseudoreligion verfügt, deren suggestive Kraft man auch heute nicht unterschätzen soll, dem Techniker überlegen.

Sowjetpatriotismus Man muß außerdem berücksichtigen, daß die marxistisch-leninistische Lehre eine für die Mentalität der Intelligenz wichtige Ergänzung durch den Sowjetpatriotismus gefunden hat, der im Krieg geboren wurde und durch Verherrlichung der russischen Geschichte die in der Revolution abgebrochene Brücke zur Vergangenheit wieder schlägt. Angesichts des großrussischen Gepräges der neuen Oberschicht — wer aus anderen Völkern in sie aufsteigt, russifiziert sich zwangsläufig — ist der Sowjet-patriotismus ein alle bindender Kitt. Mit seinem übersteigerten nationalen Wertgefühl gibt er auch der Masse mehr als die trockene Lehre. Er wird zum geistigen Fundament der Idee des starken Staates. Hat Lenin sich mit den Umständen entschuldigt, die den Prozeß des Absterbens des Staates verzögerten, so hat Stalin die Theoretiker, die an dieser marxistischen Vision festhielten, verfolgt. Jede Schwächung des Staatsbewußtseins erschien ihm gefährlich.

Bei den langen Schatten, die dieses Staatssystems wirft, kann jedoch der Zweifel an seiner Unfehlbarkeit nicht verstummen. Er regt sich bei den Jungen lauter als bei den Alten. Das soziale Problem wird von einem Generationsproblem gekreuzt. Die Siebzigjährigen, die Kampf gefährten Lenins und Stalins waren, nehmen zwar heute noch hohe Stellungen ein, aber ihre Zahl ist klein, und sie stehen am Ende ihrer Laufbahn. Sie mögen zwar manchmal von dem Gedanken beunruhigt werden, wie wenig die Welt, die aus dieser Revolution hervorgegangen ist, der entspricht, die sie sich erträumt haben. Aber ausschlaggebend für sie dürfte doch die Eitelkeit auf das Werk sein, auf die Fabriken und auf den mächtigen Apparat, der unter ihren Augen gewachsen ist. Sie haben sich daran gewöhnt, Träger der Macht zu sein und nach Gesichtspunkten der Macht zu urteilen. Alles andere wurde für sie zweitrangig, auch die Ideologie, die nach den Bedürfnissen des Tages gemodelt worden ist.

Hinter ihnen steht die mittlere Generation, die in der Stalin-Periode zur Reife gelangt ist. Sie ist im Dienste der Partei, des Staates und der Wirtschaftsunternehmungen emporgestiegen, sie ist gewohnt, Karriere zu machen und sich anzupassen. Bei ihr weiß man nicht mehr, wieviel noch echter Glaube an den Kommunismus ist und wie weit sie ihn lediglich als Zweck betrachtet. Es ist eine Generation, die technisch gut geschult ist und auch auf beachtliche sachliche Leistungen hinzuweisen hat, die aber weitgehend von einem Konjunkturdenken beherrscht ist.

Im Grunde ist sie verbürgerlicht und das heißt, daß von ihr keine Handlungen zu erwarten sind, die umwälzende Bedeutung hätten. Sie wird das System lassen, wie es ist und sich bemühen, sich lediglich in ihm einzurichten.

Eines ist sicher: bei jeder Veränderung wird die Intelligenz in der Sowjetunion eine zentrale Stellung behalten. Diesen Gesichtspunkt hat Dallin stark herausgearbeitet. Es sei heute nicht mehr möglich, so betont er, diese Millionen starke Klasse zum Verschwinden zu bringen. Die Führung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens werde in ihren Händen bleiben. Noch immer betrachte das Volk die arrivierten Sowjetbürokraten irgendwie als seinesgleichen. Es werde Jahrzehnte brauchen, bis der Revolutionsmythos allmählich in Vergessenheit gerate und sich in der neuen Schicht das Verlangen nach politischer Freiheit rege. Vielleicht ist das eine zu pessimistische Betrachtung, aber die darin enthaltene Warnung vor grundlosen Erwartungen einer bürgerlichen Revolution, in der harmlose Spießernaturen in der Sowjetunion das Heft in die Hand bekommen, erscheint durchaus beherzigenswert. Das Sowjetregime steht und fällt mit seinem geistigen und politischen Terror, unter dem auch ein spießbürgerliches Herz zufrieden schlagen kann, leichter jedenfalls als das eines klassenbewußten Proletariers.

Der Kommunismus ist alt geworden Wir müssen mit langen Prozessen rechnen. Die größte Gefahr für den Kommunismus scheint darin zu bestehen, daß ihm die Jugend entgleitet. Das Schlagwort „wer die Jugend hat, hat auch die Zukunft" ist von niemandem mehr abgenutzt worden, als von den Herrschern der Sowjetunion. Heute mehren sich bei ihnen die Klagen über die Jugend, die disziplinlos, träge und nicht genug ehrerbietig gegen Eltern und Lehrer sei. Sogar in „gesunden Jugend-Kollektiven“, behauptet „Komsomolskaja Prawda“ (12. IV. 5 5) sei Verachtung gegenüber der Arbeit und dem sozialistischen Eigentum anzutreffen, die das Ansehen des Sowjetbürgers herabsetze. Weniger der Inhalt als die Art der Kritik zeigt deutlich, daß der Kommunismus alt geworden ist. Er versteht nicht die Enttäuschung der jungen Generation über das Regime. Sie besitzt in der russischen klassischen Literatur, die nicht voll siegender sondern voll scheiternder Menschen ist und fruchtbar wird durch die Erschütterung, die sie auslöst, einen Vergleichsmaßstab mit der Gegenwart, in der die Literatur zur Magd der Planwirtschaft herabgesunken ist. Diese Jugend hat in der Stalin-Ära erlebt, daß heute in den Staub gezogen wurde, was gestern noch angebetet worden war. Sie ist an ihren Vätern irre geworden, die sich vor dem Diktator erniedrigten. Überall begegnen ihr die Pjotr Kirpitschew-Typen. Sie weiß nicht mehr, woran sie sich halten soll. Wie in der Zarenzeit muß sie zur Schule Uniformen tragen und von früh auf das marxistisch-leninistische Glaubensbekenntnis als bestimmend für ihre geistige Formung in sich aufnehmen. Sie empfindet deutlich die innere Unwahrhaftigkeit des Systems und die Unfreiheit des Geistes, in der sie gehalten wird. Den Werdegang dieser Jugend erleben wir sehr lebendig mit in Achminows „Die Macht im Hintergrund“ und in dem Roman des ehemaligen „Iswestija“ -Redakteurs Michael Soloviev „Gott aber schwieg“ Wie sehr diese Jugend von Zweifeln zerrissen und auf der Suche nach neuen Werten ist, davon haben uns Gespräche im Lager Workuta, die Brigitte Gerland uns geschildert hat, eine Vorstellung gegeben. Dort werden mit russischer Diskussionsleidenschaft letzte Lebensfragen und utopische Gedanken in einer Form erörtert, die an die Diskussionen der russischen Revolutionäre von 1917 erinnert.

Ein Kreislauf hat sich geschlossen. Die Revolution hat eine neue Wirklichkeit geschaffen, aber ist sie besser als die frühere? Der „neue Mensch“, den die Revolution verhieß, ist nicht geboren worden. Alle Glorifizierung der positiven Helden auf der Bühne und in der Literatur können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Sowjetunion wie überall gute und schlechte Menschen gibt, arm und reich, hoch und niedrig. Es gibt Ausbeutung in brutalsten Formen, so sehr auch der Kommunismus diese Tatsache leugnet. Die sozialen Unterschiede übertreffen in ihrer Größe und Härte die der bedeutenden kapitalistischen Länder. Die Dialektik richtet sich heute gegen das System, das die Gesetze des Umschlagens der Entwicklung lehrt. Noch immer war es in der Geschichte so, daß die Erstarrung einer Oberschicht zu sozialen Konflikten führte, aus denen eines Tages politische hervorgingen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nr. 46, 4. Jhg. (1954), S. 431 ff.

  2. Abgedruckt in „Sowjetskaja Kultura" v. 5. 6. 1954.

  3. Leo Trotzki, Stalin — Eine Biographie, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln, S. 523.

  4. „Gibt es heute in der Sowjetgesellschaft Erscheinungen des Klassenkampfes?", deutsche Übersetzung in „Die Presse der Sowjetunion" Nr. 26, 1955 (Kongreß-Verlag, Berlin).

  5. „Der Wandel im sozialen Gefüge der Sowjetunion", Europa-Archiv Nr. 9/1950, und „Rußland im Umbruch“, Frankfurt, 1954.

  6. In einer späteren Veröffentlichung " The New Russian Intelligentsia" (in " The Yale Review", New Haven, Conn. Dez. 1953) veranschlagt Dallin die Stärke der Intelligenzschicht aller Gruppen auf ungefähr 15 Millionen Menschen. Er hat dabei nur die Berufstätigen gerechnet. Wie hoch danach der prozentuale Anteil der Intelligenz einschließlich Familienangehöriger ist, läßt sich angesichts der Tatsache, daß viele russische Frauen berufstätig sind, und der Kinderreichtum der Intelligenz wahrscheinlich nicht groß ist, schwer sagen. Meissner (a. a. O) nimmt an, daß jeder fünfte berufstätige Sowjetbürger heute der führenden Klasse angehört.

  7. Artikel 12 der Verfassung der UdSSR von 1936.

  8. „Grenzen der Sowjetmacht", Würzburg 1955, S. 76. Vgl. auch Beilage B XIV, Ausg. 6. April 1955.

  9. A. Nove und Roy D. Laird " Kolchoz Agriculture in the Moscow Ob-last", in " The American Slavie and East European Review", New York, Dezember 1954. Deutsche Übersetzung in „Ost-Probleme" 7. Jhg. S. 845 ff.

  10. „Das Verdienst der Kolchosbauern in Sowjetrußland" in „Osteuropa", 5. Jhg., H. 3, S. 178 ff.

  11. Rede vor dem Obersten Sowjet der UdSSR am 8. 8. 1953.

  12. Chruschtschow: „In diesen fünf Jahren sind mehr als 9 Millionen Menschen vom Dorf in die Stadt abgewandert." Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU am 25. 1. 1955.

  13. Konferenz der Landwirtschaft der Zentralen Nichtschwarzerdezone im Kreml am 6. 4. 1955.

  14. 5.4.1955.

  15. „Ostdienst" Nr. 20 vom 11. 3. 1955.

  16. Abgedruckt in „Selskoje Chojaistwo“ v. 21. 5. 1955.

  17. „Die Macht im Hintergrund", Ulm 1950, und „Die Oberschicht in der Sowjetunion" in „Osteuropa", Jhg. 3 (1953), Heft 4 und 5.

  18. " The New Russian Intelligentsia".

  19. Comel-Verlag, Köln 1953.

  20. „Die Hölle ist ganz anders". Stuttgart, Steingrüben-Verlag.

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