Gedenkrede am 18. Juli 1954 zur Feier des 20. Juli 1944, veranstaltet von der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft „Der Bürger im Staat" im Lindenmuseum in Stuttgart. Veröffentlicht mit Genehmigung des Verfassers.
An den Zwanzigsten Juli erinnern heißt noch immer Anstoß erregen: schon ihn nennen zu hören erweckt bei manchem von uns ein böses Rieseln im Blut und eine alte Auflehnung. Soll es uns aber nicht möglich sein, die trennenden zehn Jahre zu unserem Nutzen zu wenden und uns aus der Entfernung für einen offeneren Blick aufzuschließen? Wir wissen alle, welchen schweren Weg wir miteinander zu gehen hatten. Die Männer des Zwanzigsten Juli handelten und konnten sich, ehe ihre Münder stumm wurden, vor uns nicht mehr erklären, wo sie standen, was sie sahen und warum sie sich gegen — und für! — die nichts ahnende Mehrheit ihres Volkes zu handeln entschlossen.
Jeder von uns wurde in einer anderen Lage davon getroffen. Mancher, der in tagtäglicher Gefahr, wo er hingestellt war, für sein Vaterland und den vermeinten Führer das Letzte gab — denken wir an die Kämpfenden an den gerade damals weit überforderten Fronten —, mußte denen fluchen, die, wie es schien, feige den Stoß aus dem Rücken versucht hatten — und bei vielen von uns hat sich dieses starre Entsetzen so tief eingegraben, daß sie sich, auch als sie sich ganz anders hätten belehren müssen, nicht mehr davon freimachen konnten. Freilich mußten wir als ein der bedingungslosen Ungnade der Sieger ausgeliefertes Volk einen Stationenweg großer und kleiner Richtprozesse durchlaufen, der in seiner Gesamtheit — wir dürfen es wohl sagen — das Gegenteil einer Läuterung unter uns bewirkt und neue Spaltung, Verhärtung, Trotz, Heuchelei gebracht hat. Auch die immer tiefer aufreißende Kluft zwischen den vormaligen Gegnermächten Deutschlands, die Drohung eines dritten, noch furchtbareren Krieges in einer von Ungewißheit erschütterten Welt ließ manchen in einer Vergangenheit sich festkrallen, die noch von einem unbeirrten Siegesglauben durchdrungen schien.
Aber schließlich konnte all solcher Wahn nicht dauern und die Erfahrungen der letzten Jahre halfen, einen klareren Blick zu gewinnen.
Heute kann nur der Beschränkte oder der Böswillige bei den ersten Irrmeinungen über den Zwanzigsten Juli beharren. Er ist ein Erbe für alle geworden, freilich ein Erbe, das Entscheidung von uns will und erst erworben werden muß. „Diese Männer standen vor Gott“
Wenn wir uns heute zum Gedenken dieses Tages vereinigen, so soll es nicht ein pietätvolles Besuchen der Gräber derer sein, die in ihrer Zeit vielleicht Gutes gewollt haben, die aber gescheitert sind und ein trauriges Ende gefunden haben, auch nicht ein Sich-rühren-lassen durch eine verfliegende Feststunde, die uns wehmütig eine Weile etwas Vergangenes wiederbringt — vielmehr ein schlichter Anruf an uns selbst, daß wir uns des Eigenen und Großen entsinnen, was wir haben, und aus solcher Gegenwart leben.
Im Hader um Sätze und Meinungen aber kommen wir nicht dorthin. Wenn ich zu Jüngeren über den Zwanzigsten Juli sprach, fiel mir mehrfach auf, wie sehr sich bei ihnen ein Bedingend-grämlich-gedankliches in den Vordergrund drängt und blutvollere Regungen fast wie etwas Unerlaubtes verstummen macht. Ich glaube, Ältere und Jüngere müssen wir uns wieder einmal die Mahnung aus dem Eckermann gesagt sein lassen: „Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und hineinlegen, das Leben schwerer als billig. Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen, aber denkt nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend ein abstrakter Gedanke und eine Idee wäre!“
Nicht als ob wir uns scheuten, das was gewesen ist, nach jenen „realpolitischen Maßstäben“ zu beurteilen, die man heute so gerne beruft und oft so irreal und leichtfertig handhabt — nicht als ob uns heute die politischen Gedanken jener Männer, ihre Einwände gegen den sie umgebenden Staat, ihre Lagebeurteilung, ihre Vorstellungen über eine Neuordnung nichts mehr bedeuteten — nicht als ob wir den heute vielfach gepflogenen Streitgesprächen über den Fahneneid, über Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, über die Zulässigkeit eines Tyrannenmordes kein Recht einräumten: solche Erwägungen mögen unsere Einsicht vertiefen, aber wir dürfen nie vergessen, daß wir mit diesen gedanklichen Nachzeichnungen das Einmalige und Fortwirkende dieses Geschehens kaum berühren.
Die jugendlichste Äußerung zu diesen Fragen hörte ich vom greisen Eduard Spranger: „Wie sollen wir rechten und Regeln machen? Dies ganze Geschehen und die Höhe der Entscheidungen ist einmalig gewesen. Diese Männer standen vor Gott.“ In solchem Sinn glaube ich, wir müßten die Geschichte dieses Tages und dieser Männer aus dem Gebiet des so leicht Beredbaren, Benutzbaren abrücken und in einer Zone des Schauers als großes, sinnbildliches Geschehen uns gegenüberstellen, wir müßten uns als Menschen nach den Kräften, die in uns noch echt und sprühend sind, davon erregen lassen, mehr den Athenern ähnlich, wenn sie den Schicksalen in des Aischylos Trilogien folgten oder jenen Engländern, die bei einfachster Zurüstung ihrer Holzbühne sich mit den Versen Shakespeares in die Böses und Gutes umschließende Tatwelt ihrer Könige erhoben.
Lassen Sie mich hier Ihnen einige Züge des Geschehens in Erinnerung rufen. Die Erhebung des Zwanzigsten Juli wurde von Beck, Stauffenberg, Leber, Tresckow und ihren Verbündeten in umfassender Verantwortung und in klarer Einsicht in die wirkliche Lage und in die möglichen Folgen geplant und ins Werk gesetzt. Sie sahen vor sich als fast unlösbare Aufgabe: inmitten eines schweren Krieges, an dem sie mit vollem Herzen teilnahmen, und der auch ihre Kräfte bis auf das Äußerste beanspruchte, inmitten eines Herrschsystems, das hinter jede Wand lauschte und auch das geringste Gegenstreben blutigst niederschlug, umgeben von einer Politik der Feindmächte, die in einfallsloser Verstrickung am Ziel einer unteilbaren, bedingungslosen Kapitulation Deutschlands festhielt, die lenkende Gewalt zu stürzen, sich selbst und ihr Wollen durch das ganze große Kriegsreich hin durchzusetzen und eine neue Ordnung, wenn auch nur für den Übergang, zu begründen, ohne daß es zum Zusammenbruch der kämpfenden Fronten und zum Chaos im Innern durch Bürgerkrieg komme. Wie eine solche Uberfalls-
schlacht vorbereitet werden mußte, und was daran niemals vorbereitet werden konnte, wie ein solches Unternehmen durch einen Einzigen sich Verweigernden, um den man zu offen warb, oder selbst durch einen in seiner Mitwirkung Gekränkten zu Fall kommen konnte, mit welcher Zucht und Vorsicht, mit welcher Gefährdung jedes der Beteiligten es aufgebaut werden mußte, kann sich auch der Heutige kaum mehr denken, wie viele neue Erfahrungen vom Krieg gegen Unterdrückung und Gewalt ihm inzwischen auch zu Gebote stehen.
Der Plan der Erhebung forderte den Angriff auf das Staatshaupt, das Zerschlagen der bedrückenden Macht, das Begründen einer neuen Ordnung. Zum Zerschlagen der Übergewalt gab es keinen anderen Weg, als sich von oben der militärischen Befehlsränge zu bemächtigen. Stauffenberg als der Nächste neben dem Befehlshaber des Ersatzheeres hatte dazu am ehesten die Möglichkeiten: seine Stimme am Fernsprecher war in allen, auch den fernsten Stäben bekannt, sein Wort war allgemein geachtet. Die Aufgabe in Berlin war von seiner Person untrennbar, alle Fäden führten in seine Hand. Den Anschlag auf das Staats-haupt und sein Gefolge sollten und wollten andere übernehmen. Erst ganz zuletzt, als kein Attentat gelang, die sowjetischen Panzer sich über die Trümmer unserer Heeresgruppe Mitte bis auf 120 km dem ostpreußischen Hauptquartier näherten und die Marschälle aus Frankreich meldeten, daß spätestens innerhalb zwei oder drei Wochen der Umschließungsring in der Normandie zerbrechen und unsere gesamte Verteidigung in Frankreich einstürzen müsse, da entschloß sich Stauffenberg, seine eigene Möglichkeit im Hauptquartier zu nutzen und den Angriff selbst zu führen. Nur hatte er sich dabei zum Gebot zu machen, am Leben zu bleiben und zu entkommen, um in Berlin die Aufgabe und Verantwortung zu übernehmen, in der ihn für diesen Tag keiner ersetzen konnte. Man kann diesen seinen Entschluß bewundern oder nach dem Scheitern des Tages verurteilen: ohne ihn — so viel ist gewiß — hätten wir und die Welt nie etwas von einem Zwanzigsten Juli erfahren.
Höhere Schickung Zum Hergang noch dies: Unzulänglichkeiten der Vorbereitung und der Menschen zu entdecken, fällt beim gelungenen Unternehmen kaum jemandem ein, beim gescheiterten ist es leicht, und auch die deutsche Erhebung des Jahres 1944 bietet Stoff dazu. Aber wieviele Besserwisserei über den Zwanzigsten Juli wird zuschanden, wenn man in die wirklichen Voraussetzungen Einblick gewinnt! Enden nicht unsere Erklärungen sehr bald dort, wo wir einer höheren Schickung begegnen? Es ist — um nur wenige Einzelheiten zu nennen — nach heutigen Nachrichten so gut wie sicher, daß Stauffenberg die Mappe mit der Sprengladung gegen die Tischmitte hin niedergesetzt hatte, und daß sie in dem kurzen Augenblick, der. zwischen seinem Weggehen und der Entladung blieb, von einem der Anwesenden, dem sie irgend störend war, nach außen hinter die eichene Tischstütze verschoben worden ist — hier saßen oder standen die vier Besprechungsteilnehmer, die den Tag mit dem Leben haben bezahlen müssen, indessen der Gesuchte, dem der Tod ebenso nahe gewesen war, fast heil blieb ... In Berlin wartete man, weil nicht die eindeutig bejahende Nachricht kam, auf die hin man tätig werden konnte. Drei Stunden — eine entscheidende Frist in solcher Überfallsschlacht — gingen verloren, bis Stauffenberg landete und zum Handeln trieb. Auch hier eine Einzelheit mit dem Charakter eines Fatums: der General, der mit seiner Truppe den Deutschland-Sender zu besetzen hatte, war wegen eines Todesfalls an diesem Nachmittag nicht gegenwärtig, als man seiner dringend bedurfte. Die Tage zuvor zu den beiden früheren Malen war er bereit gewesen — die Truppe hatte Urlaubsperre, — zum drittenmal hatte man aus Gründen der Geheimhaltung vermieden, noch einmal eine ausdrückliche erneute Vorwarnung an alle Beteiligten zu geben. Im Durchsickern der wahren Nachrichten, die bald von Rundfunk-Durchsagen bekräftigt wurden, trennten sich die nur bedingt Handelnden, die noch hoffen konnten, das Gesicht zu wahren, von den unaufhaltsam zur Tat Entschlossenen und der Verlauf in Berlin wurde ein Zerrbild dessen, was sich am Tag sonst hätte entfalten können und was in anderen Städten, so zumal in Paris, bis in die Nähe des Gelingens vorgestoßen ist.
Auch eine geglückte Erhebung des Zwanzigsten Juli — das bleibt hier noch zu erinnern —, hätte nicht Feste und Lorbeeren gebracht, sondern wäre ein erster kühner Aufbruch zu einem noch nicht übersehbaren schweren Weg geworden, auf dem es der wachsten Kräfte bedurft hätte, um standzuhalten und zu hindern, daß nicht unter neuen Namen die alte zähe Knechtschaft wiederauflebe. Anders haben es die Männer wie Leber Und Stauffenberg auch nicht gesehen, aber sie fühlten sich fähig und bereit, um mit allem, was sie vermochten, gegenwärtig zu sein.
Fragen wir uns nach den Menschen, die miteinander dem Gedanken einer Erhebung lebten, so stellt sich uns das Bild einer unter uns kaum je so verwirklichten Tatgemeinschaft ein, die Männer aus den verschiedensten Herkünften des Stammes, des Standes, der Konfession, der Bildung, der politischen Anschauung, Ältere und Jugend vereinte, unter ihnen solche, die in ihrem Fach als Beste galten und die in ihrem Lebenskreis von vielen verehrt und geliebt wurden. Ich möchte davon als dem weithin Bekannten nicht sprechen, sondern Ihnen zum heutigen Tag einmal Bilder des Gelebten — wenn Sie wollen: wie aus der Legende — in Erinnerung rufen, die für uns etwas aus jenen Schicksalen bewahren.
Wir sehen etwa jenen pommerschen Landedlen mit seinem Sohn durch ihre Besitze und Altwälder gehen, in denen sie seit Geschlechtern wurzeln. Der Jüngere, bewegt von langen Gesprächen, die er am Vortag mit Stauffenberg gehabt hat, erzählt dem Vater vom Plan einer Erhebung und fragt ihn um seinen Rat, ob er es übernehmen solle, eine Sprengladung zu zünden mit der nahen Gewißheit, selbst dabei umzukommen. Der Vater, ernst und großdenkend, bejaht, und es ist, wie wenn das Land, auf dem sie stehen, durch ihn spräche und an ein Unverlierbares gemahnte. Er selbst hat später als einer der Unbeugsamsten den Tod empfangen.
Oder wir nehmen Teil an der Zwiesprache mit dem Ruhm: ein junger Reiteroffizier, Abgott seiner Leute, der es bis zum Eichenlaub mit Schwertern aus des Kriegsherrn Hand gebracht hat, tritt vor die Frage, ob er durch ein Mittun mit den Verschwörern dies alles gefährden solle, ob nicht alle, die ihn jetzt für groß halten, über ihn herfallen, ihn schmähen werden, ob es nicht schöner sei, den geschmückten Tod an der Spitze der ihm im Kampf Ergebenen zu finden. Er entscheidet sich aber gegen die Lockung einer letzten Eitelkeit und geht den Weg, den ihm die Freundschaft eines der Stärksten dieser Männer, Tresckows, weist und die wahre Ehre.
Oder wir denken jenes anderen unter den Beteiligten, dem der Untersuchende vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit gibt und der, als er wieder vorgeführt werden soll, im Flur blitzschnell die Wächter niederschlägt, das Fenster erreicht und vom dritten Stock in die Tiefe springt, um an seinen Freunden nicht zum Verräter zu werden — oder jenes anderen, der vielleicht von gleichen Gründen bewogen in die vorderste Frontlinie geht und in einem vorgetäuschten Kugelwechsel sich den Tod gibt. Ein Bericht schildert, wie er in der Sonne eines herrlichen Morgens — es ist der 21. Juli — ruhig und gelassen wie immer zu seinem Wagen kommt, einem der jüngeren Offiziere, den er als Zeugen hatte mitnehmen wollen, der aber doch noch zurückbleiben muß, von seinem Vorhaben spricht, ihm männlich Lebewohl sagt und der andere ihm bewundernd nachblickt „wie jemand zwei Stunden vor seinem Tod so ruhig und zuversichtlich sein kann.“
Wie spricht uns der Augenzeugenbericht eines anderen in Berlin Beteiligten an: „Als wir, ein kleiner verlorener Haufen, abends in der Bendlerstraße auf den Sturm der anrollenden SS-Formationen warteten in dem klaren Bewußtsein, daß auch dieser letzte Versuch einer deutschen Selbsthilfe gescheitert sei, habe ich weder Stauffenberg noch irgend einen anderen klagen hören. Wir hatten zu tun versucht, was wir Deutschland und der Welt vor Gott und unserem Gewissen uns zu tun für schuldig hielten, wir hatten es getan mit den Mitteln, die wir in sorgsamer Planung und unendlichem Bemühen erlangen konnten das andere war Gottes Sache. „Man kann nicht mehr tun schließlich, als dafür sterben', sagte Ulrich Wilhelm Graf Schwerin-Schwanenfeld, als wir überwältigt, aneinander gefesselt, abgeführt wurden.
Wie viele Auftritte vor Gericht sind uns denkwürdig, wie viele Worte wie diese: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehängt werde, bereue aber meine Tat nicht und hoffe, daß sie ein anderer in einem glücklicheren Augenblick, um uns vor dem Chaos zu bewahren, durchführen wird“ — oder jene stolze Erwiderung eines anderen, die er den höhnenden Worten des Präsidenten „Sehen Sie, was Sie angerichtet haben, das ist Ihr Untergang", entgegenhielt: „Ein Schiff kann untergehen, aber es braucht seine Flagge nicht zu streichen."
Oder wir rufen uns Jene Szene im Gefängnis vor den Sinn: die Häftlinge sind in drei Gliedern angetreten, um Bekanntmachungen zu vernehmen. Ein Älterer droht, ohnmächtig, zu fallen. Sein Nachbar, ein jüngerer Hauptmann, stützt ihn mit den Worten: „Jetzt müssen wir stehen bleiben, auch wenn sie uns hängen wollen“, worauf ihn vom Rücken bekräftigend eine Hand berührt und er seinen Namen und die Worte vernimmt: „Was sie mit uns machen, ist gleichgültig, aber was wird aus Deutschland?" Der so sprach, ein Mann, der bei einer Neuordnung in ein wichtiges Amt gerufen worden wäre, ist bald darauf hingerichtet worden.
Wie viel schöne Gebärde der gefahrvollen Hilfsbereitschaft, des Freundestrostes, der sich mitteilenden Festigkeit, des verinnerlichten Lebens ist uns aus den Gefängnissen bewahrt. Wie rührt uns an, wenn einer dieser Männer dem ihm Befreundeten in der Nachbarzelle, dem der neue Tag den letzten Weg bringt, mit der Geige, die er hatte behalten dürfen, durch die Wand noch einmal die von ihm meist geliebten Lieder schickt: Jerusalem du hochgebaute Stadt ... Wenn ich einmal soll scheiden ... und den alten Kreuzfahrerhymnus Vexilla regis pro-deunt ... Solche Berichte erinnern daran, daß es unter diesen ungewöhnlichen Verurteilten etwas wie eine erhobene Todesbereitschaft, etwas wie den regungslosen Einstand der Waage gab, die wir anderen, denen der Tag zwischen Auf-und Untergang voll LImtriebs ist, nicht kennen.
Das Trauervolle überwiegt nicht Aber das Trauervolle überwiegt nicht. Diese Männer des Zwanzigsten sind nicht von der Art, daß Haß sie finster macht, daß sie sich leidend zur Märtyrerkrone drängen und andere mit in ihre Verzweiflung hineinziehen. Eine bewunderte Leichtigkeit — niemals Leichtfertigkeit — bleibt manchem von ihnen eigen bis in die aufreibenden Mühen, etwas Gegründetes an Zuversicht, Bejahung, Lebensfülle inmitten aller einbrechenden Angst, Hast und Unrast. An der Schwere des ihnen Aufgetragenen und an der steten Gefahr haben sie teil wie die, die draußen im Kampf stehen. Daß sie ihrer Kraft unvorstellbares zumuten — ein hochgespanntes Leben mit ein paar Stunden Schlaf: sie haben es selbst, an jene anderen denkend, nie bemerkenswert gefunden. Daß aber der Ernst bei ihnen nicht alles ist, nie jene grauenvoll-verschlfngende, licht-lose Farbe, jenes „Tierische" bekommt, das freilich scheint uns des Rühmens wert. Wir hören mit Erstaunen berichten, wie spürbar für den, der aus den zerstörten Straßen Berlins, aus dem einzig auf nackte Erhaltung abgestellten Llmgangston der Ämter kam, sich die Atmosphäre um jenen einäugigen Stabschef in der Bendlerstraße unterschied: hier galt noch Blick und Lachen, Dank und ein frisches Wort, Handschlag, den-andern-beim-Arm-nehmen, und auch jeder fremd dazu Kommende hatte das befreiende Gefühl, hier werde noch das Ganze unseres Schicksals von Verantwortlidien umsorgt und erwogen. Wieviel Freude und Freundschaft gedieh in aller Unglückssaat dieser Wochen, welch ein erfülltes Leben in dieser Sturmzeit, wie es vielleicht lange bequeme Jahre nie reifen! Wie birgt sich die Ahnung des nahen Opfertags bei manchen dieser Männer hinter zarter Fürsorge! Denken wir an jenen, der kurz vor dem Zwanzigsten, ohne von der bevorstehenden Entscheidung zu sprechen, aus Berlin noch einmal zu den Seinen aufs Land kommt und den Nachmittag mit den Kindern beim Spiel im Park verbringt. Abends führt ihn ein Pferdegespann zum nächsten Bahnhof. Zum Abschied winkt er vom Kutschbock. Unerwartet nach Bürgerart grüßend, zieht er zuletzt sein Offiziersmützchen und verneigte sich tief. So entschwindet er, der ihnen immer etwas zur Freude wußte, den nachjubelnden Kindern.
Ein anderer, der Tausende mit seiner Rede zu bewegen vermocht hatte, ein Mann von Härte und Klarheit, dessen Namen die Erhebung wohl in aller Munde gebracht hätte, spricht davon, daß sich ihm das Leben nur durch eine tiefe Leidenschaft rechtfertige, die alle Gänge und Räume des inneren Wesens erhelle: „ Wer eine solche Kraft nicht hat, der lebt nicht oder er lebt doch nicht anders als der Wurm, der noch dasselbe Leben hat, wenn man ihn halbiert...“ Er fügt ein andermal in seiner erzwungenen Einsamkeit sinnend hinzu, er sei zur Überzeugung gelangt, die Liebe, deren die menschliche Seele fähig sei, die mehr vermöge als alles im Menschen und in der Welt, die Liebe beweise, daß die Seele göttlichen Ursprungs sei, göttlichen Ursprungs bedeute auch unsterblich.
Ein anderer beendet die Totenrede auf den vorausgegangenen Freund: „Diese strahlende Kraft, die einstmals unseren Freund und Gefährten trug und im schönen irdischen Licht sich entfalten ließ, diese Kraft zerrinnt nicht ins Grenzenlose, löst sich nicht auf, denn sie ist mit der zeugend-fortzeugenden Kraft der Liebe verbunden."
In der Lebensschilderung eines anderen, der sich in den Schicksals-monaten des Jahres 1944 nahe mit Stauffenberg befreundet hat, liest man: „Diese Freundschaft, die die schöpferische Zukunftshoffnung in ihm — allen Widerständen und Aussichten zum Trotz — neu belebt haben muß, mag wie ein letztes Geschenk des Himmels gewesen sein, der diesem außerordentlichen und so früh abgebrochenen Leben auch diese irdische Erfüllung noch gewähren wollte."
Daß die Liebe zu Deutschland oder zum vaterländischen Volkstum diesen Menschen nicht nur im Sinn, sondern noch im Blut lag, sagt uns eine vielfältige Überlieferung. Ob Adlige oder Männer des Volks — man findet sie aus innerer Art ohne heuchlerischen Vorsatz dem Ganzen des sozialen Wesens verbunden und sieht sie unbemüht und leicht mit dem einfachen Mann umgehen. Von Landbegüterten wissen wir, daß sie bei einer Neuordnung bereit waren, mit Aufteilung eigenen Grundes voranzugehen. Von einem Diplomaten stammt das Wort: „Wenn wir nicht sprechen lernen wie Jeremia, so daß einer unsere Sprache versteht, ob er tausend Schafe hat oder nur eines, solange können wir nicht erwarten, gehört zu werden“, von einem Grafen, dem man die Verwirklichung wohl zutrauen konnte, die Äußerung: „Wenn ich überhaupt aus der Sache herauskomme, werde ich mein Adelsprädikat ablegen. Dann erst wird sich zeigen, was an uns ist“.
Der Genius des Ortes heißt uns hier eigens der Brüder Stauffenberg gedenken, die auf besondere Weise mit Stuttgart verbunden sind und die ganz nahe von diesem Haus in das nunmehr verschwundene Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in der Holzgartenstraße gingen. Vielen, die heute hier sind, werden die beiden noch lebendig vor Augen sein. Höhepunkt jener Schulzeit waren die Feste, bei denen Aufführungen stattfanden. Die Erinnerung an Berthold Stauffenberg ist für viele an sein Auftreten im Hofmannsthalschen „Tod des Tizian“ geknüpft, der bald nach dem ersten Krieg gespielt wurde. An den „Teil“ ist erinnert worden, in dem Claus Stauffenberg als Stauffacher die berühmten Worte von der Freiheit zu sagen hatte: „Nein, eine Grenze hat Tyrannen-macht. Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden. Wenn unerträglich wird die Last, greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Lind holt herunter seine ewgen Rechte Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst ... Der Güter höchstes dürfen wir verteidigen gegen Gewalt.“ Einige Schritte von hier in der Jägerstraße gab es eine Aufführung von Szenen aus Julius Cäsar, worin Claus Stauffenberg als Knabe Lucius vor Brutus, seinem Bruder Berthold, die Laute spielte in der schicksalsschweren Nacht, die dem Tag von Philippi und dem Untergang des Brutus vorausging. Hier trat dem aufwachsenden Claus Stauffenberg zum erstenmal auch jenes im Skolion gerühmte Paar des Harmodios und Aristogeiton vor Augen, das ihn schon früh bewegt hat. Aus Traum und Spiel einer beglänzten Jugend ist die Tat der Mannesjahre geworden, aus dem langen fruchtbaren Eintauchen in unsere Ursprünge jenes Sich-verantwortlich-fühlen für das Schicksal dieses Volkes.
Auf Claus Stauffenberg dürfen wir vielleicht jenes Goethewort mit Fug anwenden: „Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt. Die Tat belebt, aber beschränkt." Ein reiches nicht nur im Fach gebundenes Wissen und ein weiter geistiger Umblick, ein lebendiges Aufgeschlossensein für die Dinge — zugleich aber die Eigenart tathaften Betrachtens und das Drän-gen einer zum Zugriff geschaffenen Natur mit dem Charisma dessen, der entflammt und zu seinem Werk fortreißt, so könnte man Claus Stauffenberg schildern und neben ihn den Bruder stellen: reich veranlagt wie er, aber nach innen gewandt, ein großer Kenner der Völker-rechtsordnungen, ein Mensch des langen Schweigens und Bedenkens, aus dessen Haltung allein sich schon die Antwort ergab, ein Schwer-aufzuschließender, der sich nie im Haß geäußert, über dessen innere Entschiedenheit und Unberührbarkeit aber niemand einen Zweifel gewagt hat.
Um uns noch einmal in die Lage vor zehn Jahren zurückzuversetzen, lassen Sie mich Ihnen einige Stellen aus dem Bericht eines jungen Offiziers vorlesen, der kurz vor dem Zwanzigsten Juli in Claus Stauffenbergs Nähe versetzt worden ist und sein erstes Zusammentreffen mit ihm schildert. „Gehen wir medias in res, sagte er, ich betreibe mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln den Hochverrat. Dann sprachen wir von der unentrinnbar hoffnungslosen militärischen Lage, daß ein Umsturz daran nichts zu ändern vermöge, aber daß viel Blut gespart und ein letztes furchtbares Chaos vermieden werden könne. Die Schmach der gegenwärtigen Regierung müsse aber beseitigt werden. Ernst fügte er hinzu, es sei fraglich, ob es gelinge, doch schlimmer als ein Mißlingen sei, der Schande und dem lähmenden Zwang tatenlos zu verfallen. Nur Handeln, vermöge innere sowie äußere Freiheit zu gewinnen. Waren diese Gedanken ganz nach meinem Herzen ausgesprochen, so gab noch etwas anderes den Antrieb, ohne Rücksichten Kräfte und Leben hier einzusetzen. Von Stauffenberg ging keine Suggestion, keine Magie aus, aber man spürte bei ihm unangreifbare geniale Kräfte, die wünschen ließen, ihn an lenkender Stelle zu sehen, und die verhießen, daß es eine Lust sein müsse, für ihn, mit ihm zu wirken. Der Bann, daß heute nur niedere rohe Kräfte etwas auszurichten vermöchten, schien, wenn man auf ihn schaute, gebrochen. Seine Gestalt gab die Gewähr, daß stärkste lebendigste Kraft sich mit höchster natürlicher Noblesse vereinigen kann.“
Antworten auf verschiedenen Stufen Fragen wir uns heute, was eigentlich jene Männer wie Beck, Goerdeler, Hoepner, Witzleben, Tresckow, Stauffenberg, Leber, Stülpnagel, Hofacker, Schulenburg, Yorck, Rommel, Schwerin — um nur einige zu nennen — zur Erhebung trieb, so finden wir Antworten auf verschiedenen Stufen. Wie für alle gesprochen ist das schlichte Wort Becks: „Nicht was wir tun, sondern wie wir es tun, ist so schlimm: Politik der Gewalt und des Treubruchs.“ So steht in ihren Äußerungen voran ihr Aufstand gegen die Rechtlosigkeit, rohe Gewalttat, das Ungesetz, die Willkür, die über uns Macht gewonnen hatte, gegen den Frevel am Leben, wie er mit der kaltsinnigen tausendweisen Vernichtung von Juden, Fremd-stämmigen, Alten und Kranken geschah. Kaum minder stark ist ihr Aufstand gegen eine Führung, die unendliche Opfer an Gut und Blut forderte, ohne sie jemals noch in einer umfassenderen Gesamtschau vor einem Höheren verantworten zu können. Lind so, wie die Kämpfenden von dem verlassen schienen, der in höchster Treupflicht und Verantwortung für sie zu sorgen und einzustehen hatte, so sahen sie die Deutschen insgeheim von ihren Staatslenkern verlassen, die — was für jeden einzelnen von ihnen gelten konnte — „Sieg oder Untergang“
einem ganzen Volk als Wahl setzten und in pöbelhaftem Dünkel hinter einer möglichen Niederlage das verschlingende und sogar wohlverdiente Nichts eines völligen Zusammenbruchs kalten Bluts erwarteten, ohne etwa noch den Versuch zu wagen, durch Preisgabe ihrer selbst dem Weiterleben ihres Volkes zu dienen.
Man hatte die Hoffnung, Blut zu sparen und die sinnlos fortgehende Zerstörung der Städte aufzuhalten — der Nachbetrachtende weiß, wie Ungeheures hätte erspart werden können, wenn beizeiten noch durch eine verhandlungsfähige Regierung der Weg in einen Frieden hätte gefunden werden können und wenn sich etwas davon hätte erfüllen lassen, was man ersonnen hatte, um Deutschland wieder in den Kreis der anderen europäischen Völker zurückzuführen und der Spaltung in West und Ost zuvorzukommen. Wie es gelänge, diese als furchtbar vorausgesehene Spaltung der europäischen Mitte aufzuhalten, ist eine oft und bang umkreiste Frage für die Männer der Erhebung gewesen, und wir wissen von ihren fast beschwörerischen Anrufen an Verantwortliche in England und Amerika: es drohe ihnen, wenn sie sich nicht besännen, trotz eines militärischen Sieges ein vielleicht nie mehr gut zu machendes Unterliegen ... Was die zehn Jahre gebracht haben, wissen wir, und nicht von deutscher Seite wurde zuerst ausgesprochen: die westlichen Alliierten hätten den Krieg . nicht so hoch'zu verlieren brauchen.
Statt tatenlos dem lähmenden Zwang zu verfallen der Versuch, durch eigenes Handeln innere und äußere Freiheit zu gewinnen — so hatten wir den Antrieb zur Erhebung in dem einen Gespräch gefunden. Noch könnte einer einen solchen Versuch nur als ein Gegenstreben gegen den damaligen Staat und seine Führung, als Widerstand auffassen wollen, der uns heute, da jenes Gegenüber verschwunden ist, einzig noch als vergangener geschichtlicher Vorgang beschäftigt. Wer sich aber in die Entscheidungen Stauffenbergs und der ihm Verbündeten einlebt, wird gewahr, daß man ihr Tun durchaus nicht nur als eine re-actio einer Widerstandsbewegung, sondern als eine höchst eigenständige, aus tieferen Lebensbildern genährte actio, eine Erhebung erkennen muß, die zwar durch die einmalige geschichtliche Gegebenheit ausgelöst wurde, aber spürbar aus eigenen Wurzeln kommt und über diese Gegebenheit hinausragt. Jedenfalls ist es nach den vergangenen zehn Jahren deutlich, daß von diesen Männern noch geredet werden wird, wenn die Züge ihrer Gegenwelt lang schon verblaßt, ja vergessen sind.
Unter den Männern um Stauffenberg findet man das Gedicht „Der Widerchrist" aus einem Gedichtband von Stefan George fast wie eine Art Erkennzeichen oder wie einen Weckruf umgehend. In diesem Gedicht, das übrigens schon im Jahr 1907 veröffentlicht worden ist, konnte der wundertuende Verführer, dem sich die Menge, das Kornfeld zertretend, wie toll nachwälzt gleich dem erstandenen Herrn, wohl in etwa auf die deutsche Gegenwart bezogen sein, aber wie das Wirken jenes im Geheimen Lachenden geschildert ist, läßt weiter blicken: es ist der große Täuscher, der die Künste nur um ein Haarbreit schlechter als Gott weiß und sie gottfern gottlos verwendet, der Ausbeuter, der die Kunst lehrt „ohne Roden und Säen und Baun zu saugen gespeicherte Kräfte", der Stoffverwandler, der keine Grenzen mehr kennt, aus Lehm Gold gewinnt, der Großfürst des wahnhaften Fortschritts, der breite Beglücker, der das Schwere leicht, das Seltene jedem zugänglich macht und seinen Haß nur auf die wirft — eine kleine Schar —, die noch für das Echte stehen. Hören Sie seinen Triumphruf:
Der Fürst des Geziefers verbreitet sein Reich.
Kein Sdtatz der ihm mangelt, kein Glück das ihm weicht... Zu Grund mit dem Rest der Empörer!
Ihr jauchztet, entzückt von dem teuflischen Schein Verprasset was blieb von dem früheren Sein Lind fühlt erst die Not vor dem Ende.
Dann hängt ihr die Zunge am trocknenden Trog Irrt ratlos wie Vieh durch den brennenden Hof . ..
Lind schrecklich erschallt die Posaune.
Wir haben hier nicht Raum, von diesem Gedicht etwa die Linien bis in unsere Gegenwart zu ziehen: bis in die Welt des uns übermannenden materiellen „Fortschritts", die manches Gleißende jenes nicht vom Himmel geborenen falschen Propheten ausstrahlt, oder in die politische Welt in West und Ost, die heute — ob auch einige der zuvor mächtigen Beweger tot sind — gleich viel von jenem gleisnerischen Ais-ob von Freiheit, gleich viel von Ausbeutung und Unterdrückung enthält.
Stauffenberg und seine Freunde lebten im Wissen von solchen Zusammenhängen und sie sahen in dem, was sich ihnen in Deutschland bot, gewiß nur Einen Ausdruck einer anderwärts gleich mächtigen Gegen-welt. Sie waren keine Träumer, die die Welt umschaffen zu können meinten, aber in ihrem Vaterland fanden sie sich an einen Punkt geführt, wo sie aus ihrer Natur heraus, in der die Gesamtverantwortung für unser aller Dasein lebendig war, nicht mehr tatenlos verharren, nicht mehr duldend hinleben konnten. Wenn Geist und Tat einmal vorbildhaft zu wirken berufen waren: jetzt schien diesen Männern der Augenblick da und ein Ausweichen für sie nicht mehr denkbar. Sie wußten von der Last Stellen wir uns heute einmal nahe zu ihnen. Wenn sie sich eingliederten und das Unheil gehen ließen, konnten sie alle, wie sie damals waren, die Hoffnung haben, den Krieg zu überleben — zu schweigen davon, daß Stauffenbergs schwere Verwundungen genügt hätten, ihm jede von ihm nur gewollte Milderung des Dienstes zu verschaffen. Sie sahen als Kenner unserer Kriegs-und Rüstungslage unaufhaltsam die Niederlage herankommen und mußten sich sagen, daß eine unbelehrbare Menge aus dem eigenen Volk, wenn sie handelten — ob erfolgreich oder mit Mißerfolg — gegen sie aufstünde und ihnen die Schuld an der Niederlage gäbe. Sie ermaßen, daß ein Gelingen kaum so viel Wahrscheinlichkeit habe wie ein Scheitern, jedenfalls in Gottes Hand stehe. Sie verbargen sich nicht, daß die überwiegende Zahl der Deutschen in Unkenntnis dessen, was war, es noch mit den Regierenden halte und erst durch die Erhebung bestürmt und gewonnen werden müsse. Sie waren nicht unkundig dessen, was sie mit ihrem Entschluß zur Tat in einem Volk gegen sich aufriefen, dem sich Bild und Wahnbild der Treue unselig verstrickten. Sie wußten von der Last, daß sie sich nicht wie andere Befreiungsbewegungen gegen einen eingedrungenen Landesfeind, sondern inmitten eines nach außen zu fechtenden Kriegs gegen eine aus dem eigenen Land stammende Gewalt erhoben. Sie spiegelten sich nicht vor, daß sie bei den mit Deutschland kriegführenden Mächten von vornherein irgend bereitwillige Einsicht oder gar Mitwirkung zu gewärtigen hätten.
Trotz alledem haben sie, als sie um die Wende Juni-Juli 1944 noch einmal den letzten Rat pflegten, sich entschlossen zu handeln, in voller Besonnenheit sich entschlossen zu handeln und wer von Verzweiflungstat redet, dem ist der Geist dieser Männer fremd geblieben.
Bannwort und Mahnung Ganz offenbar stand ihnen höher als die Gefahr der Dolchstoß-legende, höher als Erfolg und Mißerfolg, höher selbst als das Leben, das sie wagten: einen anderen Willen zu bekunden, Schmach, die sie auf dem deutschen Namen empfanden, zu sühnen und — wie sie glaubten: Vorbedingung jedes künftigen Lebens — jene innere Freiheit wieder zu schaffen, ohne die ein Sieg so trüb wie eine Niederlage und eine Niederlage erst ganz sternenlos und vielleicht tödlich ist. Wem eine solche Entscheidung vielleicht nichts sagt und nur unheilvolle Schwärmerei scheint, dem sei in Erinnerung gerufen, daß bei dem nüchternen antiken Staatsvolk an der Tiber nach schweren Niederlagen lauter als der Schrei nach Männern und Waffen der Ruf war: Wir müssen rein und mit reiner Ehre vor unseren Schutzgöttern stehen, so nur werden sie uns helfen . . . und daß sie alles taten, dies innere Einssein zu bekräftigen. Mag dies auch ein uns fernes Bild sein — finden wir uns, in unserer Sprache gesagt, nicht auch bei der Überzeugung, daß ein Volk in seiner Not nicht die Hilfe der Oberen und nicht die Kräfte seiner Genien und — wenn Sie wollen — seiner Ahnen als Macht herrufen kann, wenn es sie tagtäglich betrübt oder schändet?
Viele von uns, von keiner anderen schreckenden Erfahrung getroffen, haben bis zuletzt, bis in den tiefen Niedergang des Krieges hinein, in gutem Glauben für Reich und Führer ihre Kraft eingesetzt. Manche aber, die ihr Weg so führte, daß sie mit Entsetzen auch das andere sahen, hat während jener Jahre ein tiefer Zwiespalt umgetrieben und nicht mehr zur Ruhe kommen lassen, weil sie nicht vermochten, ihn zu lösen. Wir lesen heute auch in Briefen davon, die jetzt erst bekannt werden. Mancher auf unteren Rängen Dienende, zu jeder echten und begeisterten Hingabe bereit, wird dennoch nicht mit dem Gedanken fertig , für Verbrecher zu siegen*. Auf hohen und höchsten Rängen Stehende leiden am quälenden Widerspruch des ihnen Befohlenen und des von innen her Gesellten. Die Männer der Erhebung haben diesen Widerstreit zerreißend empfunden — man hat Bericht, in welcher Erregung Stauffenberg einmal zu den Freunden kam mit einem ihm eben bekannt gewordenen Befehl, der 40 000 ungarische Juden zur Vernichtung beorderte, Schwerin hatte Kenntnis, daß im Kieslager eines seiner Forste 1400 auf ähnliche Weise Hingerichtete aus dem Spätherbst 1939 lagen —, die Männer des Zwanzigsten Juli fühlten sich aber vor sich selbst und den vielen dieses Volkes gedrängt, diesen Zwiespalt zu lösen und durch das eigene Tun für eine Umkehr, für ein Wiedererringen jener inneren Freiheit zu wirken, die mehr vermag als eine nur aus dem Erfolg sich rechtfertigende Machtwelt je und je ahnt. Stauffenberg hat dafür zuletzt das Wort vom „Heiligen Deutschland“ aufgerufen, das geheimnisvoll — und manchem zum Ärgernis — fortwirkt. Sprach darin Dankbarkeit und Stolz? Ist es Bannwort und Mahnung?
Was diese Männer des Zwanzigsten Juli geplant und gewagt haben, haben sie einzig um Deutschland geplant und gewagt und keine Macht von draußen hat ihnen Sold gegeben oder ist ihnen Sold schuldig geworden. Aber das Mal, das sie aufgerichtet haben, ragt über die deutschen Grenzen hinaus. Manche Menschen von draußen stehen vor diesem Mal mit Ehrfurcht — nicht so sehr weil sie ans Vergangene, an Qual und Wunden denken, die sie vielleicht gleich diesen Männern litten, sondern weil sie mit uns fühlen, daß die Macht, gegen die sich diese Schar erkühnte, nicht von gestern, sondern um uns, in uns allen gegenwärtig ist, und daß sie, die sich in freiem Entschluß, den Tod vor Augen, erhoben, wie geopferte Erstlinge sind, die in unserer Welt für ein freies, ein an die göttlichen Mächte gebundenes stolzes Leben fielen.
Anmerkung Jakob Kaiser, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, geb. 8. 2. 1888 in Hammelburg. Volksschule, 1901/04 Buchbinderlehre, Mitglied des Kath. Gesellenvereins. Seit 1912 führend in der Gewerkschaftsbewegung. 1914/18 Kriegsteilnehmer, 1918 Geschäftsführer, 1924/33 Landesgeschäftsführer für Westdeutschland des Gesamtverbandes der Christlichen Gewerkschaften. 1933 Mitglied des Reichstages (Zentrum). Widerstandsbewegung, 1938 sieben Monate Gestapohaft. 1945 CDU-Vorsitzender in Berlin und Stadtverordneter. 1948/49 Parlamentarischer Rat. Mitglied des Deutschen Rates der Europ. Bewegung. Stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands. Seit September 1949 Bundesminister. Dr. Eberhard Zeller, Verfasser des bekannten Buches über den 20. Juli . Geist der Freiheit", Arzt in Friedrichshafen. Der vorliegende Aufsatz ist bereits veröffentlicht in „Bekenntnis und Verpflichtung", Reden zur zehnjährigen Wiederkehr des 20. Juli 1944. Friedrich Vorwerk Verlag, Stttgart 1955, unter dem Titel: „Vom Erbe, das Entscheidung verlangt."