Gedenkrede zum zehnten Todestag von Carl Goerdeler am 2. Februar 1955 in der Universität Heidelberg Dem Wunsche, an diesem Tage Worte des Gedächtnisses für meinen Freund Carl Goerdeler zu Ihnen zu sprechen, konnte ich nur mit tiefer Bewegung folgen. Sie wissen, daß mich entscheidende Jahre der Zusammenarbeit in der Widerstandsbewegung mit ihm verbinden. Je gefahr-drohender sich die Abenteuer des Hitlersystems für das deutsche Volk auswirkten, um so enger wurde diese Zusammenarbeit. In den letzten zwei verhängnisvollen Jahren kamen wir fast regelmäßig ein über die andere Woche bei mir in Berlin zusammen. Wenn ich wir sage, so meine ich damit den engeren Kreis meiner Freunde, Wilhelm Leuschner, Max Habermann, Josef Wirmer, Bernhard Letterhaus mit Carl Goerdeler.
Meist war auch noch dieser oder jener andere Freund dabei. Und ich darf noch hinzufügen, daß auch meine Frau ständig zu diesem Kreis gehörte.
Ich erwähne das, um Sie erkennen zu Jassen, wie nahe uns der Mann stand, der heute vor zehn Jahren in letzter Einsamkeit den Weg in den Tod gehen mußte. Und wie eingehend die Verständigung darüber war, daß Deutschland aus dem nationalsozialistischen Griff erlöst werden mußte, ehe es zu spät war. Wie intensiv die ständigen Überlegungen darüber waren, wie die Erneuerung unseres Volkes erfolgen könnte.
Die Nachricht, daß Goerdeler noch lebte, während fast alle Hauptbeteiligten schon hingerichtet waren, war auch bis zu dem Verließ gedrungen, in dem ich nach dem 20. Juli Zuflucht gefunden hatte. Es war mir klar, daß man nicht aus Achtung vor dem Leben dieses Mannes handelte. Sondern daß man ihn so oder so noch auszunutzen suchte.
Übrigens zählte auch eine Reihe anderer Männer des 20. Juli — darunter enge Freunde von mir — bis kurz vor der Hinrichtung Goerdelers noch zu den Lebenden. Es spricht für die Grausamkeit des Systems, daß zehn von ihnen an einem einzigen Tage — am 23. Januar 1945 — ihr Leben lassen mußten. Darunter neben dem Grafen Moltke und Staatssekretär Planck, dem Sohne des in aller Welt angesehenen Gelehrten Professor Planck, auch Rechtsanwalt Reinhold Frank, Karlsruhe, Eugen Bolz, der frühere Staatspräsident von Württemberg, Nikolaus Groß, der Mann der Arbeiterschaft und der Sozialdemokrat Haubach. Nicht vergessen will ich auch Hauptmann Hermann Kaiser, einen der engeren Mitarbeiter von Carl Goerdeler. Der große breitschultrige Mann war der unermüdliche, kluge Verbindungsmann zwischen Goerdeler und General Olbricht.
Weder „Heldengalerie“ noch „Heiligenvita“
Dieser 23. Januar 1945 fiel in die Tage, in denen im Raume der Weichsel und in Ostpreußen die Winterschlacht tobte, die ich von meinem Verließ aus atemlos verfolgte. — Ich konnte es, denn mutige Freunde hatten mir ein kleines Radiogerät gebracht. — In dieses Geschehen hinein brachte man mir die Liste der zehn Toten vom 23. Januar. Und ich gestehe ehrlich: Die Schlacht und das Verhängnis, das wir seit jeher kommen sahen, versanken für eine Zeit vor der Tatsache der brutalen Vernichtung dieser Männer, die das Verderben unseres Landes hatten aufhalten wollen. Männer, die Deutschland noch so sehr vonnöten waren.
Dabei kreiste stets die Sorge um den Mann, der im Mittelpunkt des zivilen Sektors der Widerstandsbewegung gestanden hatte. Um Carl Goerdeler. Bald nach dem Tag der zehn Toten sickerte die Nachricht durch, daß auch er am 2. Februar — also heute vor zehn Jahren — hingerichtet worden ist. Ich erfuhr davon zugleich mit der Tatsache, daß sein und unserer Freunde Peiniger, der Präsident des Volksgerichtshofes Freisler, am 3. Februar von einer Bombe erschlagen worden sei. Man wird verstehen, daß wir in dem Gescheen dieses 3. Februar so etwas wie dig Hand ewiger Gerechtigkeit am Wirken sahen. Es war, als hätte Deutschland den lebenden Freisler nicht mehr ertragen können, nachdem er auch diese Mordtat an einem aufrechten Patrioten noch vollbracht hatte. Nicht nur das. Sondern nachdem dieser Repräsentant der nationalsozialistischen Gerichtsbarkeit alles, was an Vaterlandsliebe, Freimut und Freiheitswille unter seine Gewalt kam, mit Schmähungen überschüttet hatte. Nachdem er in den Pseudoverhandlungen des Volksgerichtshofes jedes mannhafte Wort überschrieen hatte, bis er seinen wehrlosen Opfern den Strick um den Hals legen konnte.
Ich las in diesen Tagen noch in dem eben erschienenen Buch von Gerhard Ritter über „Carl Goerdeler und die deutschen Widerstandsbewegung“. Es ist ein bedeutsames Werk, das mehr als jedes bisher erschienene Buch über den sachlichen Gehalt und den Geist der Widerstandsbewegung aussagt. Es ist aber auch für jeden, der Goerdeler und der Widerstandsbewegung verbunden war, ein bewegendes Buch. Niemand wird sich der Tragik der letzten einsamen Lebenstage Goerdeler entziehen können. Ich las die Aufzeichnungen Goerdelers aus seinen letzten Gefängnistagen schon 1945. Lind ich muß sagen: Ich habe eine Zeitlang gebraucht, um in diesen Dokumenten eines täglich mit dem Tode Ringenden den Mann wieder-zuerkennen, der jahrelang der wagemutigste Geist der Widerstandsbewegung gewesen war.
Ich stimme dabei Gerhard Ritter vollkommen bei, daß die Männer und Frauen des Widerstandes weder mit einer „Heldengalerie“ noch mit einer „Heiligenvita" etwas zu tun haben. Sie waren Menschen von Fleisch und Blut. Lind sie waren Politiker von Fleisch und Blut. Das bedeutet: Sie konnten genau so irren wie andere Menschen. Aber eines steht fest: Die Männer der deutschen Widerstandsbewegung waren Patrioten, die um eines sittlichen Zieles, um der Rettung und der sittlichen Erneuerung Deutschlands willen ihren harten Weg gingen.
Ich lege Wert darauf, dieses gerade im Denken an Carl Goerdeler klar-zustellen. Lind zwar jenen gegenüber im eigenen Volk, die Wert und Wesen der Widerstandsbewegung verkennen möchten. Welcher Grund dafür auch immer maßgebend sein mag. Ich sage es aber auch gegenüber gelegentlichen Behauptungen, es sei der Widerstandsbewegung nur um die Verhütung des totalen Zusammenbruches gegangen. Diese Behauptung wurde ja gleich nach dem 20. Juli und dann nach dem Zusammenbruch nicht zuletzt auch vom Ausland in einer geradezu herabsetzenden Weise vertreten. Noch heute findet man in dem kürzlich erschienenen Buch des englischen Historikers Wheeler-Bennet „Nemesis der Macht folgende Behauptung: „ ... ebenso gewiß ist, daß die Verschwörung keine demokratische Bewegung war. Das allen gemeinsame Motiv war das innige Bestreben, das Vaterland vor einer Katastrophe verheerenden Ausmaßes zu bewahren, und darum waren sie — was sie auch sonst gewesen sein mögen — Patrioten . Der Patriotismus der Widerstandskämpfer wird also anerkannt, weil sie'ihr Vaterland retten wollten. Was sie sonst noch wollten, weiß Wheeler-Bennet anscheinend nicht. Es ist nun aber Tatsache, daß es keine Beratung mit Carl Goerdeler gab und es auch keine seiner Denkschriften gibt, in denen nicht stets der Abscheu vor der Entsittlichung des Staates durch den Nationalsozialismus und der geradezu leidenschaftliche Wille, der Entartung Einhalt zu tun, das Leitmotiv waren. Und was den Willen zur Demokratie angeht, „spielten nicht nur „demokratische Elemente“ in die Widerstandsbewegung hinein — wie Wheeler-Bennet meint — sondern, sie wurde von starken demokratischen Elementen getragen. Das gilt nicht zuletzt für die Vertreter des Arbeiterflügels. Was uns und viele andere betrifft, so haben wir mit der Sammlung unserer Kräfte nicht erst begonnen, als sich die Katastrophe des Zusammenbruches abzeichnete. Sondern wir haben 1933 und schon vorher begonnen, als sich der Zynismus abzuzeichnen begann, mit dem das System zur Macht drängte. Wir haben nicht nur mit Entsetzen verfolgt, wie unser eigenes Volk Hitler verfiel. Wir haben auch mit Staunen wahrnehmen müssen, wie lange das Ausland Hitlers Machttrieb gewähren ließ. Im übrigen haben sich wenige so sehr um das Verständnis der freien Welt für den deutschen Widerstand und die Sache der Freiheit und Sittlichkeit in Deutschland bemüht wie Carl Goerdeler. Vielleicht wäre manches anders gelaufen, wenn gerade der unermüdliche Goerdeler nicht immer mit leeren Händen aus den Metropolen des Westens in unser bedrängtes Vaterland zurückgekehrt wäre. Wer die damaligen Enttäuschungen Goerdelers miterlebt hat, ist fast versucht, eine Parallele zur heutigen Zeit zu ziehen.
Schon vor Jahren lag mir der Bericht über die Unterredung mit einem der drei verantwortlichen Männer der Sonderkommission zur Bekämpfung des 20. Juli 1944 vor, die von Kaltenbrunner eingesetzt wurde. Bei der Charakterisierung der Männer des Widerstandes und ihrer Motive kommt der Berichterstatter zu folgender Feststellung: „In diesem Zusammenhang soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, daß es sich bei den bisher erwähnten Männern um Persönlichkeiten handelt, deren Gegnerschaft zum Nationalsozialismus auf politischen, moralischen und religiösen Beweggründen fundierte. Sie muß daher eine echte Feindschaft genannt werden.“ Das war eine objektive Beurteilung von gegnerischer Seite. Sie dürfte auch jenen im Ausland zu denken geben, die es gern anders sehen möchten. „Glauben an die Macht der sittlichen Vernunft“
Diese Feindschaft gegen den Nationalsozialismus war zunächst und vor allem aus moralischen Gründen entstanden. Ich kann für alle, die mir nahestanden, bezeugen, daß sie zu ihrem Widerstand zutiefst bewegt wurden von der Erkenntnis der Untaten, mit denen man den Namen unseres Volkes befleckte. Kaum je sind ja edle Begriffe wie Volk, Volks-gemeinschaft, Vaterland, Familie, Frieden, Freundschaft und Verständigung so skrupellos mißbraucht worden wie im Dritten Reich. Unter Mißbrauch dieser Begriffe sind zahllose Untaten vollbracht worden. Kaum je ist unter Mißbrauch dieser Begriffe mit den Gefühlen eines Volkes — nicht zuletzt seiner Jugend — so zynisch umgegangen worden wie von dem nationalsozialistischen System. Und man wußte geschickt zu tarnen, so daß weite Kreise unseres Volkes immer wieder geblendet wurden.
Wie bar jeder Verantwortung und Vaterlandsliebe die Führer des Nationalsozialismus waren, beweist allein schon das gesamte Geschehen vor zehn Jahren. In den Januar-und Februartagen 1945 wußte jeder, daß die Tage des Dritten Reiches gezählt waren. Auch und gerade die nationalsozialistischen Kräfte wußten, daß neue Männer die Verantwortung für das Schicksal Deutschlands übernehmen mußten. In diesem Augenblick begingen sie noch das Verbrechen an Deutschland, daß sie unserem Land eine Vielzahl von Männern nahmen, die sicher manches noch hätten retten können. Der 2. Februar, der Hinrichtungstag Carl Goerdelers ist gerade deshalb für alle Zeiten ein Symbol nationaler Verantwortungslosigkeit. Denn wenige hatten wie er Willen und Fähigkeit, Deutschland nicht nur vom Abgrund zurückzureißen, sondern Volk und Staat mit neuem Inhalt zu erfüllen. Und auf diesen neuen Inhalt kam es ja nicht zuletzt an.
Das staatspolitische Bewußtsein von Carl Goerdeler trug gewiß im Anfang einen autoritären Zug. Dieser und jener in der Widerstandsbewegung hat das ab und zu kritisch vermerkt. Da und dort hat es Hinweise gegeben, er habe ja auch noch einmal als Preiskommissar unter Hitler gearbeitet. Aber wir wissen, daß Carl Goerdeler auch in dieser kurzen Periode seinen eigenen Weg gegangen ist. Es ging ihm darum, Deutschland durch vernünftige wirtschaftliche Maßnahmen aus der Krise herauszuführen, die schon seit 1929 den Bestand des Staates bedroht hatte. Nur das war der Sinn seiner Arbeit.
Gerhard Ritter hat in seinem Buch sehr vieles in der sauberen, verantwortungsbewußten und politisch ungeheuer aktiven Persönlichkeit von Carl Goerdeler mit seinem „Glauben an die Macht der sittlichen Vernunft“ erklärt. Dieser Glaube war in der Tat — ich könnte es aus Hunderten von Begegnungen und politischen Aussprachen mit ihm belegen — das Stärkste und das Bewegendste an ihm. Er ließ ihn das Gute im Menschen und seine Bedeutung für die Politik manches Mal überschätzen. Er hat ihn notwendigerweise mitunter in Konflikt mit der Wirklichkeit gebracht. Aber er war auch die starke Triebfeder in all seinen Handlungen. Er war nicht zuletzt auch die Triebfeder seiner Kühnheit, mit der er immer wieder zum Motor der Bewegung wurde. Dieser Vernunft-glaube ließ ihn zunächst auch annehmen, man könnte aus dem System, das 1933 die Macht über Deutschland ergriffen hatte, vielleicht doch noch gute Kräfte gewinnen. Lim so konsequenter war aber sein Handeln, als er diesen Irrtum erkannte. Die Abkehr Goerdelers von jeder Mitwirkung an Hitlers Staat, sein Kampf gegen die Unsittlichkeit des Machtmißbrauches war so überzeugend, daß sie jeden mitriß. Mit der entschlossenen Niederlegung seines Oberbürgermeisteramtes 1936 in Leipzig, als man in blindem Rassenwahn das Mendelssohn-Denkmal gegen seinen Willen entfernt hatte, wurde er zum leidenschaftlichen Mann des Widerstandes.
Wie sehr das Wirken Carl Goerdelers und diese seine mannhafte Amtsniederlegung in Erinnerung geblieben sind, konnte ich noch 1947 in Leipzig erleben. Nach dem Scheitern des 20. Juli hatte ja unser Volk seinen schweren Weg bis zum bitteren Ende gehen müssen. So lastete der Druck des Kommunismus schon schwer auf der Stadt wie auf der ganzen Zone. Ich forderte damals in einer großen Kundgebung im Beisein von Pieck und Grotewohl demokratische Freiheit und „Zugang der Zone zu den freiheitlichen Geistesquellen Europas und der Welt“. In diesem Zusammenhang wies ich auf den großen Oberbürgermeister der Stadt Leipzig hin, auf Carl Goerdeler, der für die Freiheit sein Leben lassen mußte. Für die Freiheit und für den Versuch, Deutschland vor dem Schicksal zu bewahren, das die Leipziger und mit ihnen alle Mitteldeutschen nun schon fast ein Jahrzehnt durchzustehen haben. Ich werde nie den Sturm und die tiefe Bewegung vergessen, die bei Nennung des Namens Goerdeler durch die Tausende ging, die vor mir standen. Vielleicht ist es manchem damals erst ganz klar geworden, welcher Wille ihren früheren Ober-bürgermeister bewegt hatte. Und was sie und wir an Goerdeler verloren haben.
Ich sehe einmal ganz davon ab, ob alles, was er an staats-und wirtschaftspolitischen Überlegungen in den Jahren des Widerstandes bis in die einsamen Tage seiner Haft hinein niedergeschrieben hat, in allen Einzelheiten der Wirklichkeit standgehalten hätte. Vieles davon sicher-lieh. Vieles entsprang zudem auch Erkenntnissen, die in langer gemeinsamer Arbeit Gestalt angenommen hatten. Ich denke an seine Verfassungspläne, die er noch 1944 niedergeschrieben hat. Ich denke auch — was uns alle nicht zuletzt bewegen muß — an die Frage der Gewerkschaften, denen neue soziale und staatspolitische Aufgaben zugedacht waren. Manches erscheint sicherlich heute — in dem Zustand, den die totale Kapitulation über unser Volk gebracht hat — überholt. Vieles aber hat seine Geltung behalten.
Aber Einzelbeispiele würden den Rahmen dieser Gedächtnisstunde überschreiten. Wesentlich erscheint mir in diesem Augenblick ein anderes. Wesentlich erscheint mir die Persönlichkeit und das Wirken Goerdelers als Ganzes. Wesentlich erscheinen mir die Grundzüge seines Wesens und seines Wirkens. Wesentlich erscheint mir das Beispielhafte, das in seiner Persönlichkeit und in seinem Kampf liegt. Dieses Beispielhafte ist nicht verdunkelt durch den Zustand, in den unser Volk nach 1945 geraten ist. Es erscheint mir vielmehr klarer geworden zu sein.
Carl Goerdeler trug das ganze Deutschland in seinem Bewußtsein. Er kam aus Westpreußen und war Bürgermeister in der Stadt Ostpreußens, in Königsberg. Mit hingebender Liebe hing er an seiner Heimat. Jeder, der um seine Wirksamkeit im Osten unseres Landes weiß, weiß auch um die leidenschaftliche — um nicht zu sagen kühne Anteilnahme, mit der er nach dem ersten Weltkrieg um die Erhaltung deutscher Gebiete im Osten gerungen hat. Lind es erscheint mir von symbolhafter Bedeutung, daß er in den Tagen vor seiner Verhaftung den Weg nach dem östlichen Deutschland einschlug. Hitler hatte den Preis von einer Million Mark auf seine Ergreifung gesetzt. Und der Patriot Carl Goerdeler wußte damals im wahrsten Sinne des Wortes keine Stätte mehr, wohin er sein Haupt legen sollte. Er hatte uns bei den letzten Begegnungen nach dem 20. Juli wieder und wieder gefragt, wohin er sich wenden solle, um sich zu verbergen. Keiner von uns konnte ihm einen sicheren Rat geben. Denn keiner von uns wußte, wohin er sich selbst wenden sollte. Carl Goerdeler zog es dann doch in seine ostdeutsche Heimat. Die Liebe zu ihr war mit seine stärkste Kraft. Wie sehr wäre sie in der nun schon seit zehn Jahren andauernden Zerrissenheit unseres Landes wirksam geworden.
Den Höhepunkt seiner administrativen Tätigkeit schon vor 193 3 erlebte Goerdeler in Leipzig. Im Zentrum des mitteldeutschen Gebietes, das heute unter sowjetischer Besatzung steht. In seiner Wirksamkeit in Leipzig ist Goerdeler nicht zuletzt auch die ganze Dringlichkeit der sozialen Probleme aufgegangen. Wer mit seiner Tätigkeit in Leipzig auch nur im geringsten vertraut wurde, erfuhr, wie sehr ihm gerade dort der soziale Ausgleich zum dringlichen Anliegen wurde. Immer wieder versuchte er, Bürgertum und Arbeiterschaft stärker miteinander zu verbinden. Deshalb hatte auch der Begriff der Volksgemeinschaft, wie ihn die Nationalsozialisten verkündeten, zunächst etwas Bestechendes für ihn. Allerdings wurde er über . das, was man dort unter Volksgemeinschaft verstand, nur allzu rasch eines Besseren belehrt. Gerhard Ritter führt in seinem Buch ein drastisches Beispiel an, das Goerdeler auch in seinen Gesprächen mit uns oft erwähnte. Goerdeler hatte 193 5 in einer Unterredung mit Robert Ley auf die Notwendigkeit der Volksbildung durch die Deutsche Arbeitsfront hingewiesen. Darauf antwortete der Führer der Arbeitsfront: „Das wollen wir lieber lassen, dann würden die Arbeiter zu klug werden." Für einen Gewerkschafter wäre diese Antwort aus dem Munde eines Ley keine Überraschung gewesen. Denn die Gewerkschaften hatten 193 3 am eigenen Leibe erfahren, wie man in nationalsozialistischen Kreisen die Volksgemeinschaft auffaßte.
Ein Vermächtnis Für Goerdeler wurde solcher Zynismus nur zu stärkerem Antrieb, der Bedeutung der Arbeiterschaft gerecht zu werden. Dieser Wille kehrte nicht nur in allen seinen Gesprächen sondern in allen seinen Niederschriften wieder. In einer seiner Denkschriften Anfang der vierziger Jahre, die im wesentlichen an die Wehrmacht gerichtet war, kritisiert er z. B. die Haltung des kaiserlichen Deutschland: „Aber die Regierung" — so sagt er — „beging den verhängnisvollen Fehler, die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung zu bekämpfen und so die Idee des Klassenkampfes zu verschärfen und zu vertiefen." Das mag uns heute vielleicht gar nicht so aktuell anmuten. Aber diese scheinbar historische Rückschau war in Wirklichkeit der Versuch, führende Männer der Wehrmacht immer wieder auf die Unhaltbarkeit des sozialen Zustandes unter Hitler aufmerksam zu machen. Dieser Zustand war ja schließlich nichts als eine Knechtung der Arbeiterschaft. Er war gegenüber dem kaiserlichen Deutschland ein abgrundtiefer Rückschritt. Man muß Verständnis dafür haben, daß man führenden Männern der Wehrmacht nicht gleich mit Holzhammermethoden kommen konnte. Wir selbst — vom Arbeiter-flügel — haben schon 1933 mit Denkschriften an maßgebliche Männer der Wehnnacht begonnen, die mehr oder weniger deutlich waren. Einer der Aktivsten darin aber wurde Goerdeler. Natürlich wurden Ton und Inhalt immer härter und klarer, je weiter der Uhrzeiger auf die drohende Katastrophe zurückte.
Es liegt mir daran, festzustellen, daß Carl Goerdeler schon in seiner Wirksamkeit in Königsberg und in Leipzig von ausgesprochen sozialer Grundhaltung war. Man könnte noch manches Beispiel dafür anführen. Diese Grundhaltung — das darf ich sagen — hat sich in den Jahren unserer Gemeinsamkeit immer mehr vertieft. Niemand, der ihn kannte, konnte ihn auch nur mit einer Spur von Berechtigung einen Reaktionär nennen. Gerhard Ritter schreibt in seinem Buche: „Goerdeler war tiefdurchdrungen von der Einsicht, daß diese neue Demokratie, in bewußtem Gegensatz zum Bismarck-Staat, vor allem auch in der Arbeiterschaft verankert sein müsse. Eben darum hielt er mit größter Zähigkeit, gegen mancherlei Widerspruch seiner Freunde, an dem Gedanken fest, die Gewerkschaftsbewegung neu zu beleben." Auch hier rückt wieder ein Zug Goerdelers in den Vordergrund, der in der heutigen Politik von stärkster Bedeutung ist. Die Erkenntnis der Notwendigkeit nämlich, daß ein freiheitliches Staatswesen von Gesundheit und Dauer nur unter verantwortlicher Beteiligung der Arbeiterschaft aufgebaut werden kann.
Sicherlich hat er die bürgerlich-konservativen Züge, die er aus Herkunft und Landschaft mitbrachte, nie verleugnet. Aber es gibt einen Zug des Konservativen, den ich selbst auch in unserem Staats-und Volks-leben nie vermissen möchte. Das ist die Achtung vor den Werten der Vergangenheit eines Volkes. Vor den nationalen, den geistigen und den politischen Werten. Diesen Zug hätte Carl Goerdeler in die aktive Politik mitgebracht, wenn es ihm noch einmal vergönnt gwesen wäre, an verantwortlicher Stelle für sein Volk zu wirken. Lind noch in weiteres hätte er mitgebracht: Das ist ein Stück gesunden preußischen Staatsgefühls. Und sicherlich auch ein Stück alter preußischer Sparsamkeit. Diese Züge kehrten auch in allen Beratungen wieder. Und wir wollen uns auch heute klar darüber sein, daß dieses echte Staatsgefühl, dieser Stolz auf die Tradition unseres Volkes, daß ehrbare Sparsamkeit Grundvoraussetzungen für jedes deutsche Staatswesen bleiben.
Wheeler-Bennet hätte nicht die Befürchtung zu haben brauchen, die er in seinem Buche — für uns, die Deutschen, übrigens in sehr schmerzlicher Weise — ausspricht. Die Auffassung nämlich, es sei besser gewesen, daß der Versuch des 20. Juli nicht gelungen sei. Denn sonst wäre die britische und amerikanische Regierung sicherlich „unter Druck gesetzt worden“ — so sagt er wörtlich — mit einem „neuen Deutschland" Frieden zu schließen. Das hätte bedeutet, so meint Wheeler-Bennet, daß „es in Reims keine bedingungslose Kapitulation gegeben" hätte „und kein Eingeständnis der deutschen Armee, daß sie unbedingt geschlagen war“. Ich kann dem nur entgegenhalten, daß die Männer — Politiker wie Soldaten der Widerstandsbewegung — mit Millionen Einsichtigen im deutschen Volk stark genug gewesen wären, den tatsächlichen und den angeblichen deutschen Militarismus zu bannen. Um ihn zu treffen, brauchten nicht noch Hekatomben von Blut hüben und drüben vergossen zu werden. Brauchten nicht noch Hunderte von Städten und Dörfern zertrümmert zu werden. Schließlich war es ja nur eine Gruppe von Vabanque-Spielern, die mit Hitler noch die Befehlsgewalt in Händen hatte. Und nichts hat sie so sehr gestützt wie das Beharren auf der bedingungslosen Kapitulation. Generaloberst Beck und die mit ihm verbundenen Soldaten und Goerdeler mit der zivilen Widerstandsbewegung neben ihnen dachten dabei so verantwortlich, daß sie sich dazu durchgerungen hatten, schließlich auch die Kapitulation hinzunehmen, um die Herrschaft des Bösen und das Martyrium unseres Volkes abzukürzen. Wobei sie noch die Zuversicht erfüllte, daß der geplante Appell um Waffenruhe doch Gehör finden würde.
Es ist nicht gelungen, die Katastrophe aufzuhalten. Mit dem Zusammenbruch ist die Teilung unseres Landes über uns gekommen. Das Ringen um die Wiedervereinigung, das von Tag zu Tag unser Volk mehr bewegt, macht es klarer denn je, was Deutschland an den Männern des 20. Juli verloren hat. Was es insbesondere an dem Patrioten und weltverbundenen Politiker Goerdeler verloren hat. Unermeßliches ist unserem Lande verloren gegangen. Aber Unermeßliches ist mit dem Eintreten der Männer des Widerstandes für die Freiheit auch gewonnen worden. Sie haben bewiesen, daß es in der Zeit härtester Diktatur und äußerster Gefahr deutsche Männer gab, die für Freiheit und Anstand mit ihrem Leben eintraten. Uns ist es aufgegeben, ihr Vermächtnis zu erfüllen. Dieses Vermächtnis lautet: Wir haben im Zusammenwirken aller verantwortungsbewußten Kräfte, aller Schichten und Stände, ein in Freiheit wiedervereintes Deutschland zu schaffen.