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Die Rolle Theresienstadts in der „Endlösung der Judenfrage" | APuZ 22/1955 | bpb.de

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APuZ 22/1955 Die Rolle Theresienstadts in der „Endlösung der Judenfrage"

Die Rolle Theresienstadts in der „Endlösung der Judenfrage"

H. G. Adler

H. G. Adler veröffentlicht im Herbst dieses Jahres eine umfangreiche und dokumentarisch belegte Darstellung der Geschichte, Soziologie und Psychologie des Lagers Theresienstadt Sein Werk wird unter dem Titel „Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft" in der Reihe „Civitas Gentium" bei J. C. B. Mohr in Tübingen erscheinen. Die folgende Studie ist eine selbständige Untersuchung, beruht aber auf den Grundlagen des angekündigten Buches.

Abbildung 1

Wohl ist in Mitteleuropa das „Ghetto“ Theresienstadt von allen für Juden bestimmten Lagern der Kriegszeit am bekanntesten geworden, aber die ihm vom inneren Führungskreis der Partei und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) zugedachte Rolle, die viele Insassen dieses Lagers selbst bereits schon ahnten, ist über flüchtige Andeutungen hinaus bis heute verborgen geblieben und noch nicht erforscht worden. Es fehlt an Literatur zu diesem Thema, es fehlt auch an aufschlußreichen Hinweisen in den größeren Werken, die sich um eine übersichtliche Darstellung des nationalsozialistischen Krieges gegen die Juden bemühen, es fehlt sogar noch eine Behandlung der Geschichte Theresienstadts in deutscher Sprache. So scheint es, als würde der böse Zauber eines Himmlers und Heydrichs, die mit Theresienstadt ihre wohlberechneten Pläne hatten, bis auf den heutigen Tag nachwirken. Theresienstadt wurde gegründet und erhalten, um das schlechte oder beunruhigte Gewissen einzuschläfern, um besorgte Deutsche nicht minder über die wahren Ziele der nationalsozialistischen Judenpolitik zu täuschen wie das Ausland, sei es nun die dänische Regierung, das Internationale Rote Kreuz (IRK) oder die Weltöffentlichkeit. Aber auch die Juden des Auslandes und Inlandes, nicht zuletzt die Gefangenen von Theresienstadt selbst sollten getäuscht werden — und das ist in einem gefährlichen Maße gelungen.

Abbildung 2

In der Täuschung, der man sich ergibt, liegt aber nicht nur Gefahr für das mögliche Opfer, es liegt auch Schuld in ihr, zumindest tragische Schuld, denn der Glaube an Propaganda-Lügen verbunden mit der Furcht, die ein grausames Regime durch Schrecken verbreitet, schafft dem maßlosen Verbrechen erst den freien und kaum noch von ernsten Hindernissen bedrohten Weg. Wie tief diese Schuld sitzt, die aus Glauben und Unwissen erwächst, zeigen folgende Sätze, die ein ehemaliger Gauleiter der Partei noch neun Jahre nach Kriegsende veröffentlichen konnte: „Daß die Judenverschickungen nach Theresienstadt der Anfang zu Verbrechen war, habe ich weder gewußt noch angenommen. Wiederholt habe ich mich erkundigt, wo die Juden hinkommen und was sie dort zu tun hätten. Die Antwort lautete, sie kämen in ein großes, vorbereitetes Lager nach Theresienstadt und müßten dort kriegswichtige Arbeit leisten. Ich bin ja kein Bandit, um auf den Gedanken etwaiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu kommen.“ Wie ist es nun um die Wahrheit über Theresienstadt bestellt?

Der Judenhaß des Nationalsozialismus Lim zu antworten, müssen wir ein wenig ausholen. Die „Kristallnacht“ zum 10. November 193 8 brachte den Anstiftern der damaligen Verbrechen zwei wichtige Lehren: 1. Die „spontane“ Erhebung des deutschen Volkes gegen die Juden war im großen und ganzen mißlungen, selbst gar nicht judenfreundliche Kreise und Parteimitglieder erschraken über das Geschehene und mißbilligten es. 2. Das Ausland sah zwar auch jetzt noch dem Greuel untätig zu, entzog aber dem nationalsozialistischen Deutschland den letzten moralischen Kredit. Es empfahl sich daher in Zukunft bei allen judenfeindlichen Maßnahmen, die nicht mehr gesetzlich verankert werden sollten oder konnten, den Schauplatz aus der Öffentlichkeit so gut wie möglich zu verlegen, alles heimlich zu tun und, wo es nötig sein sollte, sich ein Alibi zu verschaffen, das nicht zu kostspielig sein durfte und auch nur schäbig und oberflächlich die wahren Ziele zu verdecken brauchte. Keineswegs aber war man gewillt, von diesen Zielen selbst abzurücken oder auch nur wesentliche Konzessionen zu machen, die über taktische Schachzüge und Zeitgewinn hinausgingen.

Um diese im Nationalsozialismus sonst nicht gerade beispielhafte Konsequenz ganz zu verstehen, muß man sich über die Bedeutung des Judenhasses in diesem System klar werden. Es ist nämlich nicht so, daß man im Sinne Hitlers, Himmlers und der anderen Parteigrößen ein richtiger Nationalsozialist sein konnte, wenn man das Programm und den nationalsozialistischen Staat als gut anerkannte und nur bedauerte, daß es solche „Auswüchse“ wie den blutigen Judenhaß gab, der einen Makel an einer sonst schätzenswerten Idee darstellt. Für Hitler und die Verwirklicher seiner Macht ist der Judenhaß und der darum nötige Kampf gegen die Juden das Zentrum ihrer Anschauungen, er wurde ihre Mythologie, ihre Religion und ihre Heilslehre. Das klingt heute noch manchen phantastisch, aber es ist so, es läßt sich beweisen, und wenn es auch wahnhaft ist, hat es sich doch politisch verwirklicht und zur Vernichtung von Millionen des über alles gehaßten Feindes in Gaskammern und auf anderen Schlachtopferstätten geführt. Mit „jüdisch“ wurde alles verurteilt und zum Untergang verdammt, was nicht nationalsozialistisch war und auch nicht sein durfte. Streicher hat es unmißverständlich deutlich ausgesprochen, und wenn es, weil es zweifellos dumm und wahnsinnig war, nicht ernst genug genommen oder sogar belacht wurde, so ändert das doch nichts an der bitter ernsten Wahrheit, die sich hier zum unheimlichsten Werke der jüngsten Geschichte „verschwor“:

Wer sind die Feinde unseres Staates? Wir fassen sie unter dem Begriff der Reaktion zusammen. Lind diese Reaktion ist ein Gewirr mannigfacher Schattierungen. Wir sehen rote Fahnen. Wir sehen kohl-schwarze Fahnen. Wir sehen schwarz-rot-gelbe Fahnen. Wir sehen sogar gewisse schwarz-weif^-rote Fahnen. Der Führer dieser reaktionären Heere aber ist der Jude! Der Jude ist der General, der das ganze Heer der Reaktion führt. Der den Endkampf gegen Adolf Hitler und seine Bewegung vorbereitet. Der das Signal gibt zur Schlacht auf Leben und Tod. .. . Als das deutsche Volk noch schlief und nichts von einer Judenfrage wissen wollte, da stürmte der „Stürmer".

Stürmte gegen das gewaltige Bollwerk Alljudas. Stürmte und — siegte.

. . . Dem SA-Mann . . . gingen die Augen auf. Nun erkannte er restlos, das] ohne Lösung der Judenfrage keine Erlösung des deutschen Volkes möglich ist. Und diesem braven SA-Mann reicht der „Stürmer " die Hand. Reicht ihm die Hand zum Abwehrkampf gegen All-juda.

Zum Kampfe für den nationalsozialistischen Staat und seinen Führer Adolf Hitler

Der „Führer“ Hitler wird dem „Führer“ „Jude“ gegenübergestellt, ihre Beziehung zueinander als Kampf begriffen, für Hitler als Abwehr-kampf, in dem er, der sich als „größten Wohltäter der Menschheit“ bezeichnen ließ, den Sieg erringen mußte. So enthüllt sich, daß Irrsinn sehr wohl politisches Geschehen beherrschen kann, und die „Endlösung der Judenfrage“, zu der dieses Regime bald ausholte, ist nicht weniger historische Wahrheit geworden, als sie der Ausfluß einer „Heilslehre" war, wie sie Streicher formuliert hatte: „Wer gegen den Juden kämpft, kämpft gegen den Teufel! Wer den Teufel bezwingt, erobert den Himmel!“ ) Damit war schon die pseudosakrale Opferung, eben die „Endlösung“, moralisch gerechtfertigt, die massenhafte Abschlachtung ein „verdienstvolles“ Werk, und man ist in der abendländischen Zivilisation beim Menschenopfer angelangt. Das RSHA aber wurde zum Instrument, das den „Kampf“, die „Endlösung", das Menschenopfer durchzuführen hatte. Das war allerdings eine Aufgabe, die man weder vor der Welt noch vor dem eigenen Volk offenbaren konnte, und wir werden zeigen, wie man, im Gegenteil, alles dazu tat, um dieses schreckliche „ErlösungsWerk" zu verheimlichen, zu leugnen und mit der Einrichtung und Pflege «ines möglichst „harmlosen“ Lagers in Theresienstadt zu „widerlegen“. „Zentralamt zur Lösung der Judenfrage“

Der Weg, der von der Kristallnacht, Ende 1938, bis zu den Ausführungsbestimmungen für die „Endlösung“, um die Jahreswende 1941/42, führte, soll kurz beschrieben werden. Bevor Deutschland in den Krieg cintrat, bevor es nicht auch gegen Rußland und die LISA kämpfte, mußte man sich einige Rücksichten auferlegen und trachtete, das Problem durch eine Massenauswanderung zu lösen, die einer Vertreibung nahekam. Aus vielen Gründen gelangte man damit nicht recht voran, zu viele Juden blieben in Mitteleuropa zurück, und mit der Niederwerfung Polens hatte man sich eine so zahlreiche jüdische Minderheit einverleibt, daß an eine ins Gewicht fallende Auswanderung nicht zu denken war. Sie lag auch kaum im Interesse der deutschen Machthaber, die keine Vermehrung für so gefährlich erachtete Menschen im feindlichen Ausland wünschen konnten. Am 27. September 1939 begründete man das RSHA mit Reinhard Heydrich, nach seinem Tode mit Dr. Ernst Kaltenbrunner an der Spitze und ordnete diesem mächtigsten Apparat im Staate den Sicherheitsdienst, die Sicherheitspolizei und die Gestapo ein. Bereits am 24.

Januar 1939 hatte man ein „Zentralamt für jüdische Auswanderung , gleichfalls mit Heydrich an der Spitze, eingerichtet, das nominell dem Innenministerium unterstand, bald aber mit dem RSHA verschmolz.

Hier wurde es, bis zum Kriegsende unter Leitung von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, als Unterabteilung der Gestapo eingegliedert (RSHA IV B mit dem ausdrücklichen Aufgabenkreis „Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten. Einziehung volks-und staatsfeindlichen Vermögens,'Aberkennung der deutschen Reichsange-2 hörigkeit". Schon durch diese Aufzählung werden die wesentlichen Etappen des Vernichtungsfeldzuges gegen die Juden durchsichtig, zu dessen Hauptexekutivorgan Eichmanns Amt wurde, das später den Namen in „Zentralamt zur Regelung der Judenfrage“ änderte, als ohnedies nicht mehr von Auswanderung, sondern nur von Deportation und Vernichtung die Rede war. Eichmann erhielt seine Befehle vom Chef der Gestapo SS-Obergruppenführer Heinrich Müller oder unmittelbar von Heydrich, Kaltenbrunner oder Himmler und hat, wo schon nicht die Initiative, so doch die Vernichtungsmaßnahmen gegen die Juden in allen dem Machtkreise Hitlers unterworfenen Ländern auf dem Gewissen. Eichmann war auch in Theresienstadt der oberste Gebieter, er hat seinen Anteil an der Gründung wie an der weiteren Geschichte dieses Lagers. „Lösung der Judenfrage" durch Deportation Die „Lösung der Judenfrage“, wie wir erkannten, war für den Nationalsozialismus die planmäßige Ausrottung des jüdischen Volkes. Vor dem Kriege war durch das Reichsbürgergesetz und die zehn ergänzenden Verordnungen zu diesem Gesetze zunächst die „legale“ Grundlage für diese Lösung geschaffen worden, aber erst nach der Niederlage Polens begann die Konfinierung und Verschickung von Juden in allen besetzten Ländern. Man plante zunächst einen „jüdischen Ansiedlungsrayon“ um Lublin zwischen Weichsel und San, wohin alle Juden Polens und aus dem Westen verschickt werden sollten. Zunächst kam es zu keiner systematischen Durchführung; die Verschleppung von jüdischen Männern aus Wien, Ostrau, Kattowitz, Bielitz und Teschen im Oktober 1939 in die von Eichmann begründete „Zentralstelle für jüdische UIm-Siedlung in Nisko am San“ blieb eine halbe Maßnahme, denn es fehlte an den primitivsten Vorbereitungen, um solch eine Massenaktion gelingen zu lassen. Die Insassen von Nisko wurden teils über die russische Demarkationslinie gejagt, teils kamen sie um, und der überlebende Rest wurde im April 1940 nach Hause geschickt, nachdem Göring am 23. März 1940 plötzlich alle Deportationen aus dem Reichsgebiet verbot. Knapp zuvor, am 22. Februar, hatte man etwa 1000 Juden aus Stettin in kleine Orte bei Lublin verschleppt, aus denen sie aber nicht mehr zurückkehren durften.

Bevor man zur systematischen Austreibung überging, wurde noch zweimal aus Mitteleuropa deportiert. Am 22. Oktober 1940 wurden 6504 Juden aus der Pfalz, aus Baden und etwa 1000 aus Elsaß-Lothringen von der „Bürckel-Aktion“ betroffen. Die Opfer wurden in Lager des unbesetzten Frankreichs verschleppt. Aus Wien verschickte man ab Februar 1941 planlos 5000 Juden ins polnische „Ansiedlungsgebiet“. Den Auftakt zur radikalen Lösung bildete, nach vorangegangenen Befehlen Hitlers, ein brieflicher Auftrag Görings an Heydrich vom Juli 1941, also bald nach dem deutschen Einfall in Rußland:

In Ergänzung der Ihnen bereits mit Erlaß vom 24. 1. 1939 übertragenen Aufgabe, die Judeufrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen, beauftrage ich Sie hiermit, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa.

Sofern hierbei die Zuständigkeiten anderer Zentralinstanzen berührt werden, sind diese zu beteiligen

Kennzeichnung durch den gelben Stern Eingeleitet wurden die folgenden Schritte mit dem Kennzeichnungszwang durch den gelben Stern und dem generellen Entzug der Freizügigkeit, beides mit Gültigkeit vom 19. September 1941 an von Heydrich angeordnet. Die Verteilung der Judensterne wurde den jüdischen Selbstverwaltungskörpern, in Deutschland der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ (RJD), übertragen. Dies entsprach durchaus der Verwaltungspraxis des „Zentralamtes“, das seit seiner Gründung die jüdischen Kultusgemeinden (JKG) länderweise zum Zusammenschluß in Organistaionen sie bequem als Exekutivorgane zentralen nötigte, um für ihre Maßnahmen verwenden zu können. Mochten auch einzelne jüdische Funktionäre noch so standhaft sein, so konnten sie doch nicht verhindern, daß ihre Institutionen den verlängerten Machtarm der Gestapo darstellten. Widersetzten sich Mutige, so wurden sie vernichtet, glaubten sie aber, es besonders schlau anzupacken, so ließen sie sich auf einen hoffnungslos ungleichen Kampf ein, bei dem sie schließlich erlagen. Bald mußten die jüdischen Behörden zu unfreiwilligen Helfern bei den Deportationen und allen damit verbundenen Handlungen, wie bei der Liquidation ihrer eigenen Organisationen werden. Dies wurde bald auch wichtig für die Gründung und Geschichte des Theresienstädter Lagers, das eine Selbstverwaltung erhielt, wo sich diese Verhältnisse in verschiedenen Abwandlungen bis zum Kriegsende fortsetzten.

Polizeigeneral Daluege unterzeichnete am 14. Oktober 1941 den ersten allgemeinen Deportationsbefehl, dem ein zweiter zehn Tage später folgte. Der erste sollte sich auf ein Ziel jenseits der polnischen Grenze beziehen, doch da sich die Wehrmacht sträubte, wurde diese Gruppe nach Lodzsch (Litzmannstadt) gebracht, wohin man vom 16. Oktober bis zum 4. November 19 8 37 Juden aus Mitteleuropa verschleppte. Der nächste Befehl sollte 50 000 Opfer betreffen, als deren Ziele Minsk, Riga und Kowno bestimmt wurden, aber nur rund 30 000 sind diesen Weg in der Zeit von Mitte November 1941 bis Ende Januar 1942 gegangen. Gleichzeitig näherten sich bereits die für den Massenmord bestimmten Vernichtungslager ihrer Vollendung, von denen als erstes Chelmno seit dem 8. Dezember 1941 in Betrieb war. Belzec, Auschwitz, Sobibor, Majdanek, Treblinka und Trostinetz bei Minsk, folgten bald nach. Solche Lager, manchmal mit Arbeitslagern verbunden, für die ein kleiner Bruchteil der Ankömmlinge — doch keineswegs immer — ausgewählt wurde, bildeten ab Juli 1942 das Hauptziel jüdischer Transporte aus dem Westen. Doch zunächst trat im Januar 1942 eine Pause ein, und nachher gingen, von März bis Juni, noch ein letztes Mal viele Zehntausende den Schicksalsweg zu ihrer Vernichtung über die überfüllten Ghettos und Durchgangslager im Osten, vor allem ins Lubliner Gebiet. Seit November 1942 wurde, abgesehen von Theresienstadt, aus dem Reichsgebiet ausschließlich nach Auschwitz deportiert, das bald auch das einzige Verschleppungsziel für Juden aus allen anderen Ländern wurde.

Die Verhältnisse in Prag Das RSHA war so organisiert, daß es in den besetzten Ländern zentralisierte Filialbetriebe unterhielt, die jeweils einem „Befehlshaber der Sipo und des SD“ unterstanden, und gleichzeitig Zweiginstitutionen hatte, die den Abteilungen und Unterabteilungen des Berliner Haupt-amtes untergeordnet waren. So gab es für das „Protektorat Böhmen und Mähren" ein eigenes „Zentralamt für jüdische Auswanderung" (zunächst „Zentralstelle" genannt) unter der Leitung des SS-Sturmbannführers Hans Günther, der zwar dem Prager Befehlshaber Sipo und SD unterstellt war, doch seine Befehle meist von Eichmann empfing. Die „Zentralstelle“ hatte es bald durchgesetzt, daß die Prager JKG zum Exekutivorgan für die Beherrschung und Vernichtung der Juden im „Protektorat“ wurde, seit man ihr am 15. März 1940 alle Provinz-gemeinden untergeordnet hatte. AIs Verwaltungsamt für beschlagnahmtes jüdisches Vermögen gründete die Prager „Zentralstelle“ Anfang 1940 den „Auswandererfonds für Böhmen und Mähren“, der später, gespeist auch von jüdischen Geldern aus Berlin und Wien, die zur Erhaltung des Theresienstädter Lagers nötigen Zuschüsse zu zahlen hatte.

Knapp bevor die allgemeinen Deportationen einsetzten, verfügte Heydrich die Beschlagnahme alles Vermögens von „Auswanderern“ — so hieß es verschämt — durch die „Zentralstelle“, die das so erpreßte Hab und Gut dem „Auswanderungsfonds“ überwies.

Jüdische Bemühungen Den verantwortlichen Männern der Prager JKG war es im Sommer 1941 bekannt, daß für die böhmisch-mährischen Juden die Deportation bevorstand, die Hitler für „Großdeutschland" schon vor dem Kriegsbeginn mit Rußland, dann aber wiederholt angeordnet hatte. Inzwischen war es schon länger zu einem gewissen Zusammenspiel von Günther und dem stellvertretenden Leiter der JKG Jakob Edelstein gekommen. Edelstein, ein sozialistischer Zionist, der Leiter des Prager „Palästinaamtes“ gewesen war, wollte die Gefahr bannen und zumindest abschwächen, vom Wunsche getrieben, wenigstens 20 000 junge kräftige Juden aus dem „Protektorat“ zu retten und noch möglichst viele andere mit ihnen. Seine kluge und doch nur kurzsichtige Überlegung ging dshin, Günther und seine Mitarbeiter zu überzeugen, daß sie durch eine Deportation aller Juden aus dem „Protektorat“ sich bald den Boden unter den Füßen abgraben würden, während sie die Befehlsgewalt über Juden, die im Lande blieben, behalten könnten. Lim ihren Aufenthalt zu rechtfertigen, sollten sie nützliche Arbeit verrichten, also als Internierte fortsetzen, was sie als nominell noch Freie bereits ohnedies seit einiger Zeit tun mußten. Das schien großzügig gedacht und fiel auch bei Günther und seinen Vorgesetzten auf fruchtbaren Boden, wurde aber, ehe sich Edelstein dessen versah, in eine Richtung abgeändert, von der er zunächst nichts wissen konnte, die er aber auch später nicht begriff und, als sie endlich nicht mehr zu verkennen war, nicht mehr die Kraft und längst nicht mehr die Freiheit hatte, durch eine andere und elastischere Politik zu beeinflussen oder auch nur so zu nehmen, daß er sich den praktischen Erfordernissen klug und weitblickend anzupassen verstanden hätte.

Während man im Sommer 1941 Edelstein beauftragte, im Rahmen der JKG eine „Abteilung G“ (= Ghetto) zu gründen, die sich mit Plänen für jüdische Lager im Lande, bald also mit Theresienstadt, beschäftigte und dabei möglichst günstige Bedingungen, vor allem eine nicht zu strenge Isolation und Auflockerung der Konzentration durch Arbeitsaufträge außerhalb der Zentren erzielen wollte, verfolgten die Entwerfer der Judentragödie in Berlin ganz andere Ziele. Es ist bis heute nicht festgestellt, wer Theresienstadt als Lagerort gewählt hat — die Prager Juden haben schwerlich diese Stadt ausgesucht — und auch sonst bleibt noch manches von der Vorgeschichte dieses Lagers aufzuklären, doch sicher bedingte es die nun verfolgte „Endlösung“ für manche Juden, die man bei der bevorstehenden Vernichtung nicht so ohne weiteres verschwinden lassen konnte, einen Ausweg zu finden, der einem aus Verlegenheiten half und sich, bald genug, auch propagandistisch trefflich auswerten ließ. So kam der ahnungslose Edelstein mit seinen wohlgemeinten Rettungsversuchen für seine Schützlinge den Absichten der Judenvernichter unfreiwillig entgegen. Dabei konnte Günther ihm und den böhmischen Juden die Illusion lassen, sie würden „ihr“

Lager haben, während man für den Aufbau eines Sonderlagers die unerläßlichen Arbeitskräfte gewann und von Theresienstadt aus so viele junge Juden, wie man wollte, genau so leicht nach dem Osten abschieben konnte wie von ihren Wohnorten aus.

Die Wannsee-Konferenz Nach mehrfachem Aufschub berief Heydrich für den 20. Januar 1942 eine Konferenz über die „Endlösung der Judenfrage“ nach Wann-see, an der 16 Vertreter verschiedener Behörden, darunter Müller und Eichmann teilnahmen. Heydrich erklärte u. a.: htzwischeu hat der Reichsführer SS . . im Hinblick auf die Gefahren einer Auswanderung im Kriege und im Hinblick auf die Möglichkeiten des Ostens die Auswanderung von Juden verboten.

An Steile der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit, nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer, die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.

Im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht.

Unter entsprechender Leitung sollen im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Kolonnen (Arbeits-J, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in die Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Aus- lese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (Siehe Erfahrung der Geschichte.)

Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa vom Westen nach Osten durchgekämmt. Das Reichsgebiet einschließlich Protektorat .... wird, allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten, vorweggenommen werden müssen.

Die evakuierten Juden werden zunächst Zug um Zug in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort aus weiter nach dem Osten deportiert zu werden.

Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto — vorgesehen ist Theresienstadt — zu überstellen.

Neben diesen Altersklassen . . . finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin die Schwerkriegsbeschädigten Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen (EK 1) Aufnahme. Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet

Weiter bestimmte Heydrich, daß bestimmte Gruppen von „Mischlingen" und die jüdischen Partner von „Mischehen" gleichfalls in ein „Altersghetto“, also nach Theresienstadt, kommen sollten. Später wies man Theresienstadt auch noch einer Anzahl weiterer Juden als „Wohnsitz" zu, meist prominenten Persönlichkeiten, die am Leben zu lassen verschiedene politische oder soziale Rücksichten diktierten.

Im Protokoll von Wannsee heißt es noch:

Abschließend wurden die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen, wobei . . .der Standpunkt vertreten wurde, gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung gleich in den betreffenden Gebieten selbst durchzuführen, wobei jedoch eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden müsse.

Der Osten und Theresienstadt Das war allerdings notwendig, wenn man sich einige Stellen eines „Vermerkes" unbekannter Hand vom 17. März 1942 aus Lublin anschaut, in dem der Schreiber Mitteilungen eines SS-Hauptsturmführers Höffle weiterleitet:

Es wäre zweckmäßig, die in den Distrikt Lublin kommenden Judentransporte schon auf der Abgangsstation in arbeitseinsatzfähige Juden zu teilen. Wenn diese Auseinanderhaltung auf der Abgangs-station nicht möglich ist, müßte man eventuell überlegen, den Transport in Lublin nach den oben genannten Gesichtspunkten zu trennen.

Nichteinsatzfähige Juden kommen sämtlich nach Belzec, der äußersten Grenzstation im Kreise Zamosc. jAlso ins Vernichtungslager, wo man das Mordwerk am 17. März 1942 aufnahm! ]

H(öffle) fragt, ob auf der Strecke Lublin-Trawniki 60 000 Juden ausgeladen werden können. Über die jetzt von uns auslaufenden Judentransporte orientiert, erklärte H., daß von den 500 in Susiec angekommenen Juden die nicht arbeitsfähigen aussortiert und nach Belzec geschickt werden könnten. . . . Absdrießend erklärte [der Kreishauptmann von Zamosc], er könnte täglich 4 bis 5 Transporte zu 1000 Juden mit der Zielstation Belzec aufnehmen. Diese Juden kommen über die Grenze und werden nie mehr ins Generalgouvernement zurückkommen

Während also im Osten das Vernichtungswerk im größten Maßstabe begann, hielt man sich Theresienstadt bereit, um eine geringe Anzahl von Juden — wenigstens für einige Zeit — in Reserve zu haben. Daß hierbei menschliche Erwägungen fehlten, wird bald deutlich werden, wenn wir die schonungslose Behandlung der Gefangenen in Theresienstadt betrachten. Jedenfalls ist das Wannsee-Protokoll der Schlüssel zum Verständnis der offiziellen Judenpolitik vom Herbst 1941 bis tief in das Jahr 1944 hinein und in manchen Maßnahmen sogar fast bis zum Kriegsende. Es fällt auf, daß vom Tage der Konferenz bis zum Beginn der Deportation der vorgesehenen Gruppen aus Deutschland und Österreich fast noch fünf Monate vergingen, aber auch der Grund hierfür entbehrt jedes humanen Gefühls, denn in Theresienstadt wurde indessen nichts zur Aufnahme von Greisen, Krüppeln und Blinden vorbereitet, hingegen war die Ausbürgerung der Tschechen aus der Stadt erst Ende Juni 1942 beendet.

Lim die besondere Rolle Theresienstadts mehr zu enthüllen, seien hier noch zwei Dokumente aus späterer Zeit mitgeteilt. Am 19. August 1943 wurde der Reichskommissar Seiß-Inquart mit folgendem Briefe vom Amt des Höheren SS-und Polizeiführers in Holland bedacht:

Als Anlage werden zwei namentliche Listen über Juden mit der Bitte überreicht, die Übersiedlung der in den Listen Genannten genehmigen zu wollen. Es handelt sich 1. um Juden, die sich während des Weltkrieges 1914/18 Kriegsauszeichnungen erworben haben, 2. um Juden, die Friedensverdienste um Deutsdtland aufweisen können und um einige Juden, die bereits Angehörige in Theresienstadt wohnen haben.

Die Aufstellung der Juden ist nach den vom Reichssicherheitshauptamt, Berlin, zur Übersiedlung nach Theresienstadt herausgegebenen Richtlinien getroffen werden

Am 18. Dezember 1943 unterschrieb Gestapochef Müller folgenden Erlaß:

Der Reichsführer-SS hat auf Vorschlag angeordnet, die jüdischen Ehegatten aus nicht mehr bestehenden deutsch-jüdischen Mischehen, die vom Kennzeichnungszwang [Judenstern] befreit sind, in die Maßnahmen zur Woltnsitzverlegung von Juden nach Theresienstadt einzubeziehen.

Ausgenommen bleiben zunächst die jüdischen Ehegatten a) deren Söhne gefallen sind, oder b) wo mit Rücksicht auf vorhandene Kinder eine gewisse Unruhe hervorgerufen würde.

Das Erforderliche unter Zugrundelegung der Richtlinien zur technischen Durchführung der Wohnsitzverlegung der Juden nach Theresienstadt vom 20. 2. 1943 — IV B 4 a 2537/42 die bis auf die genannte Erweiterung des Personenkreises unverändert bleiben, ist in der Zeit vom 5. Januar bis 10. Januar 1944 durchzuführen. Bei der schlagartig durchzuführenden Wohnsitzverlegung dieser Juden bitte ich dafür Sorge zu tragen, daß ihnen keine Gelegenheit zum Untertauchen gegeben wird. In Zweifelsfällen, hinsichtlich einer eventuellen Zurüdzstellung wegen vorhandener Kinder, ist die Entscheidung des Reichssicherheitshauptamtes einzuholen

Die Anfrage Sven Hedin’s Eine besondere Bedeutung im Lager hatten die „Prominenten", eine Gruppe bevorzugter Insassen, die man im Herbst 1942 einführte. Es handelte sich um Männer von internationalem Namen oder um hoch ausgezeichnete Offiziere, später um manche Holländer und Dänen, zum Teil aber auch um zweifelhafte Größen. Im Jahre 1944 lebten 114 „Prominente" mit 8 5 Angehörigen in Theresienstadt, die manche Vorrechte genossen. Weshalb man diese Gruppe eingeführt hatte, soll ein Beispiel zeigen. Eines Tages wurde der namhafte Geograph Professor Philippsohn aus Bonn zum Lagerkommandanten bestellt, der ihn fragte, wie es ihm gehe, ob er genug zu essen habe, wie er wohne und ob er wissenschaftlich arbeiten könne. Bis zu diesem Tage hatte der Gelehrte so elend wie die anderen alten Juden aus Deutschland gelebt. Nun wies man ihm mit seiner Frau ein Einzelzimmer zu, und neben anderen Vergünstigungen erhiet er Bücher zum Studium. Kurz darauf wurde ihm ein Brief von Sven Hedin ausgefolgt, dem Philippsohn antworten mußte, wie gut es ihm gehe, und daß er wissenschaftlich arbeiten könne. — Hedin soll in einem Brief an Hitler seine Stellung zu Deutschland von Philippsohns Schicksal abhängig gemacht haben.

So wie man Theresienstadt beabsichtigt, eingerichtet und endlich nach vielen Verwandlungen umgestaltet hatte, sollte es noch zu Kriegsende den Hauptschuldigen zur Entlastung dienen. Als Himmler am 20. April 1945 den aus Stockholm gekommenen Juden Norbert Masur zu geheimen Verhandlungen bei Berlin empfing, betonte der Reichsführer, daß Theresienstadt kein Lager im eigentlichen Sinne des Wortes sei, sondern eine von den Juden bewohnte Stadt, die von ihnen verwaltet wird und in der sie alle Arbeit zu verrichten haben. „Diese Art von Lager ist von mir und meinem Freund Heydrich geschaffen worden,“'

sagte er, „und so hatten wir alle Lager gewünsd-tt.“

Die Wahl Theresienstadts Nun. dahin war es ein weiter Weg, und zunächst ließ man Edelstein sich abrackern, Günther in Prag im Herbst 1941 Vorschläge zu unterbreiten, die das Beste für die Juden des „Protektorats“ herausschlagen und dabei für das RSHA annehmbar sein sollten. Edelstein geriet dabei immer mehr in eine bedrängte Lage, und von seinen Plänen — eine Reihe seiner „Vermerke'haben sich erhalten — ist am Tage der Lagergründung nicht allzu viel übriggeblieben. Hingegen ist das Schema der internen Lagerverwaltung im Oktober und November 1941 an den Schreibtischen der Prager JKG entworfen worden und lieferte, trotz häufigen „Reformen“, das steife und komplizierte bürokratische Gerüst für den Theresienstädter Alltag bis zur Liquidation des befreiten Lagers im Sommer 1945. Nach einer unverbürgten Quelle soll Rosenberg Theresienstadt am 4. Oktober 1941 bei einer Sitzung in der Reichskanzlei in Anwesenheit von Hitler, Himmler, Heydrich u. a. vorgeschlagen haben. Wie dem auch sei, gegen Mitte Oktober wußte Edelstein von dieser Wahl als von einer beschlossenen Sache. Die äußeren Gründe für die Wahl lagen in der leichten Bewachungsmöglichkeit der Stadt durch ihre Befestigungsanlagen, die mühelos den Abschluß von der Außenwelt gestatteten, in den vielen Kasernen, auf die das Heer verzichten konnte, in der geographisch zentralen und verkehrstechnisch günstigen Lage und schließlich in der geringen Rücksicht, die man auf die meist ärmlichen tschechischen Einwohner nehmen mußte.

Für die Pläne Edelsteins, für die böhmischen Juden und später für die übrigen Gefangenen, die herverfrachtet wurden, war das kleine Garnison-städtchen — die Festung ließ nur Platz für einen Ort von den Ausmaßen 700 X 500 Meter — in wenig gesunder Lage, ohne zulängliche sanitäre Anlagen und fernab von geeigneten produktiven Arbeitsmöglichkeiten denkbar ungünstig. Theresienstadt, von Joseph II.. begründet, war im wesentlichen im Jahre 1780 vollendet. 1882 wurde die Stadt als Festung aufgegeben, doch blieb sie bis 1942 Garnison. Die Kasernen, zum Teil in die Festungswerke eingebaut, stammen genau so wie die rund 200 Privathäuser aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert; nur wenige Gebäude waren neu oder modernisiert, die Mehrzahl einstöckig, der Rest zweistöckig. Vor dem Krieg lebten hier über 4000 Militärpersonen und rund 3000 Zivilisten, davon aber ein Teil außerhalb der späteren Lagerfläche, zu der nie der ganze Ort auch nur innerhalb des inneren Festungsgürtels gehörte. Theresienstadt liegt, 62 km von Prag und beiläufig gleich weit von Dresden entfernt, an der Eger, nahe deren Mündung in die Elbe bei dem kaum 3 km von der Stadt entfernten Leitmeritz. Am anderen Egerufer liegt die „Kleine Festung“, die vom 14. Juni 1940 bis zum Kriegsende als Konzentrationslager, offiziell als Polizeigefängnis der Prager Gestapo diente und administrativ nie mit dem „Ghetto“ verbunden wurde, wenn auch manche Insassen von hier strafweise dort verschwanden und erschlagen wurden. Der Bahnhof von Theresienstadt, an der Strecke Prag—Bodenbach—Berlin, liegt in dem Dorf Bauschowitz, weniger als 3 km vom Lager entfernt.

Gründung des Lagers Am 19. November 1941 ordnete SS-Obersturmführer Dr. Siegfried Seidl, der erste Kommandant von Theresienstadt, für den 24. November die Abfahrt eines „Aufbaukommandos“ (AK) von 342 Mann aus Prag an, denen genau so wenig wie einer zweiten Gruppe von 1000 Mann am 4. Dezember verraten wurde, daß es sich bei dieser Reise bereits um die endgültige Deportation handelte. Man hatte außer endlosen Reden und abverlangten Berichten in Prag nichts an Ort und Stelle vorbereitet, um die AK-Männer und schon in den gleichen Tagen Tausende von Deportierten aufzunehmen; räumlich wie technisch gab es noch kein Lager. Alles geschah sinnlos, überstürzt und mit verbrecherischer Nachlässigkeit, aber sc waren die Gründungen des RSHA für Juden und Häftlinge, denen man es überließ, durch Fleiß, Erfindungsgabe und improvisiertes Flickwerk für künstlich erzwungene Probleme Lösungen zu finden, statt sie vorher zu meistern. Nicht einmal rechtlich-administrativ hatte man für die Gründung des „Ghettos“ gesorgt, in das man schon fast 14 000 Menschen verfrachtet, ja aus dem man bereits 2000 weiterverschleppt hatte, als Heydrich am 16. Februar seine „Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren betreffend Maßnahmen zur Unterbringung der Juden in geschlossenen Siedlungen“ erließ. In dieser Verordnung wurde die Auflösung der Stadtgemeinde Theresienstadt und der Ankauf aller Häuser und Liegenschaften aus Privatbesitz sowie die Räumung der Stadt durch Zivilisten bis zum 31. Mai 1942 (man mußte die Frist später um einen Monat verlängern) verfügt. Der Ankauf wurde durch Mittel des „Auswanderungsfonds'gedeckt, während man die Militärobjekte vom Staat für Kriegsdauer pachtete. Im § 14 seiner Verordnung sorgte Heydrich für die Legalisierung jeglicher Willkür:

Die zur Durchführung, Ausführung und Ergänzung dieser Verordnung erforderlichen Bestimmungen erläßt der Reichsprotektor . . . Der Befehlshaber der Sicherheitspolizei beim Reichsprotektor . . . trifft die zum Aufbau der Judensiedlung erforderlichen Maßnahmen im Verwaltungswege. Er kann hierbei von dem Recht des Protektorates Böhmen und Mähren abweidrende Verordnungen treffen.

Die ersten Wochen Als die AK-Männer am 24. November 1941 nach Theresienstadt kamen, wurden sie in die einzig bisher schon geräumte Kaserne E I gebracht und hier eingesperrt. Die Kaserne stand leer und verschmutzt, Inventar war nicht vorhanden. Seidl war nicht im Ort, auch Edelstein und seine meisten Mitarbeiter kamen erst am 4. Dezember aus Prag. So war an einen Aufbau nicht zu denken. Die Eingänge der Kaserne bewachten tschechische Gendarmen einer besonderen Abteilung, die bis zur Befreiung, neben einigen anderen Aufgaben, die Absperrung des Lagers von der Außenwelt unter dem Kommando der SS durchzuführen hatte. Noch vor Ankunft Edelsteins und des zweiten AK-Transportes deportierte man gegen alle Zusicherungen nach Theresienstadt 2000 Menschen, denen aber dieses Ziel bei der Abfahrt unbekannt war. AIs Edelstein eintraf, waren in der Kaserne 3465, tags darauf sogar 4465 Personen zusammengepferscht, die auf bloßem Boden, teilweise Beton, liegen mußten. Zum Glück haben diese ersten Transporte, Männer, Frauen und Kinder, ihr gesamtes Gepäck ungeschmälert erhalten, was wichtig war, da es nichts oder fast nichts zu essen gab. Die geringen privaten Vorräte reichten aber nicht aus, eine Hungersnot zu verhüten — Hunger ist für einen großen Teil der Gefangenen in Theresienstadt ein dauerndes Übel geblieben, denn der Menge und dem Nährwert nach wurde hier nie die legale Kost eines der „normalen“ großen Konzentrationslager westlich der polnischen Grenze erreicht. Diese Hungersnot in den ersten Wochen und Monaten war mitschuldig, daß die meisten Gefangenen, die mit Lebensmitteln oder anderen Konsumgütern zu tun hatten, bald der Korruption erlagen und nur an ihre eigenen Bedürfnisse dachten, weswegen, trotz vieler Reformversuche, die Mehrzahl der Insassen gewöhnlich nicht das empfing, was ihr zustand.

Die hoffnungslose Lage in den ersten Tagen und Wochen rief in vitalen Menschen einen mutigen Pioniergeist hervor, und so gelang es trotz allem, von Edelstein ermuntert und oft geschickt beim Lager-kommando vertreten, einen primitiven Aufbau der wichtigsten Institutionen zu erzielen. Eine minimale Ernährung wurde sichergestellt. Schütten, Bretter, später Strohsäcke und Matratzen angeschafft, ein Gesundheitsdienst und noch manches andere, was man unbedingt benötigte, schlecht und recht eingerichtet. Dennoch sah es böse aus, es fehlte an Wasser, das elektrische Licht funktionierte nicht, die Kanali-sation war nicht in Ordnung, am Nötigsten herrschte Mangel. Dabei mußte sofort ein viel zu komplizierter administrativer und technischer Apparat in Gang gesetzt werden, dem es — für lange Zeit — fast an allen Hilfsmitteln gebrach. Arbeitskolonnen konnten nur von Gendarmen und Ghettowachtmännern (GW) begleitet — man gründete die GW am 5. Dezember 1941 — die Kaserne verlassen, und einzelne Funktionäre bekamen „Durchlaßscheine“, die der Stellvertreter des Kommandanten, Untersturmführer Karl Bergl, unterschrieb. Das Verlassen der Kasernen in Gruppen oder einzeln war an schwerfällige bürokratische Prozeduren gebunden. So ging alles stockend voran, und es ist erstaunlich, daß damals überhaupt etwas geleistet wurde.

Männer und Frauen getrennt Ein harter Schlag war die Trennung von Männern und Frauen, die auf Seidls Befehl am 6. Dezember vollzogen werden mußte. Frauen und Kindei beider Geschlechter unter 12 Jahren mußten in die Kaserne H V übersiedeln. Männer und Frauen durften weder zusammenkommen noch sprechen, jeder noch so flüchtige Kontakt zwischen Mutter und Sohn konnte verhängnisvoll werden. So hieß es im „Tagesbefehl“ (TB) vom 21. Dezember 1941:

Es wurde von der Behörde bekanntgegeben: (Es folgen sechs Namen)

Sänttlidte Angeführten haben sich am 17. d. M. unerlaubt von der Arbeitskolonne entfernt und sind in Verbindung mit Frauen getreten.

Sie haben sich des Vergehens gegen die Lagerordnung schuldig gemacht und werden zu fünf Stockhieben verurteilt, welche Strafe von der Ghettowache durchgeführt wird.

(Ein anderer Name) Der Genannte entfernte sich unerlaubt von seiner Arbeitskolonne und trat mit Frau und Tochter in Verbindung.

Darüber befragt, bestritt er diese Tatsache, erst nach längerer Untersuchung wurde er der Tat überführt und gestand sie ein. Er wird wegen Irreführung der Behörden und Übertretung des Verbotes des Besuches der Frauenkaserne mit einem Monat Haft und fünf Stock-hieben bestraft.

Im Laufe der nächsten Monate wurden den Gefangenen alle Kasernen überwiesen, und bis auf zwei — B V als Sitz der Selbstverwaltung und E VI Krankenhaus — führte man das Prinzip der Trennung überall rigoros durch. An Grausamkeit und Härte standen die Einrichtungen von Theresienstadt bis Juli 1942 in vielen Dingen kaum hinter einem „normalen" Konzentrationslager zurück, so manches war im „Ghetto“ noch schlimmer, das man um keinen Augenblick früher zivil maskierte, als es längst vorgesehene Pläne auch praktisch erforderten. Seelisch verhielten sich die Gefangenen hingegen anders als in einem Konzentrationslager, sie waren wohl verschleppt und entwurzelt, doch fühlten sie sich nicht verhaftet, sie hatten ihre Zivilkleider, ihr Gepäck, sie wußten ihre Angehörigen nahe, und so mußte ihnen die SS erst mit drastischen Mitteln das Bewußtsein für ihre wahre Lage beibringen.

Durchgangslager in den wahrscheinlichen Tod Anfang Dezember 1941 hielt Bergl mit den Männern in E 1 einen Appell ab und schüchterte die Gefangenen mit Drohungen ein. Dann befahl er Turnübungen und Laufschritt. Der gefährlichste Mann neben Bergl war der Gendarmerie-Kommandant Janecek, ein skrupelloser tschechischer Kollaborant,, der jede Kleinigkeit der SS anzeigte. Diese beiden und einige SS-Leute waren stets auf der Suche nach „Missetätern“, besonders wollten sie Besucher in Frauenkasernen ertappen oder verbotene Gegenstände entdecken, zu denen Geld und Tabakwaren gehörten, aber auch Briefe, denn es herrschte strenges Schreibverbot. Die Opfer wurden verprügelt und in den Arrest gesteckt, wo sie weiter mißhandelt wurden, oder sie kamen zur SS, wo man sie erschlug oder in Konzentrationslager steckte. Im Glücksfalle konnte man auch entlassen werden, aber meist war das Glück nur scheinbar, denn diese Menschen wurden gewöhnlich mit dem nächsten Transport verschickt. Man führte eine „Grußpflicht" ein, die am nachdrücklichsten im TB v. 21. Dezember 1941 formuliert wurde:

Auf behördliche Anordnung müssen alle Lagerinsassen Angehörige der Lagerkommandantur, der SS, der Regierungsgendarmerie sowie überhaupt jeden Uniformträger grüßen.

Verstöße gegen diese Anordnung werden in Hinkunft mit zehn Stockhieben bestraft. Marschierende Arbeitergruppen haben ohne Kommando die Mützen abzunehmen.

In der zweiten Dezemberhälfte verkündete Seidl bei einem Appell in E I, daß Briefe durch Zivilisten geschmuggelt worden seien, die bereits verhaftet wären. Wer unter den Juden Briefe gesandt habe, solle sich binnen zwei Minuten unter Zusicherung von Straflosigkeit melden, sonst habe das „Ghetto" schwere Strafen zu erwarten. Zwei Männer traten vor, wurden verhaftet und mit sieben anderen zusammen, die ähnliche „Verbrechen" begangen hatten, am 10. Januar 1942 unter grausigen Umständen gehenkt. Der Hinrichtung mußte Edelstein mit dem Ältesten-rat, der GW und den Gebäudeältesten beiwohnen. Fluchtversuche und illegale Postverbindung wurden generell mit der Todesstrafe bedroht. Am 26. Februar 1942 wurden nochmals sieben junge Männer wegen nichtiger Vergehen gehenkt. Künftig unterblieben Hinrichtungen, man beseitigte die Schuldigen auf weniger auffallende Weise. Um den Gefangenen die letzten Illusionen zu rauben, daß man in Theresienstadt verhältnismäßig sicher sei, bedurfte es nur noch der Deportationstransporte vom 9. und 15. Januar 1942, als man zum ersten Mal von hier je 1000 Menscnen nach dem Osten verschickte. Nun gab es keinen ruhigen Tag mehr im Lager, denn die Deportation drohte immer, auch wenn es einmal „stillere" Zeiten gab, sie drohte bis zur Befreiung. Theresienstadt sollte also bloß für manche ein Dauerlager und — nur zu oft — ein Sterbelager werden, für die Mehrzahl und vor allem für die Juden aus dem „Protektorat“ war es ein Durchgangslager in den wahrscheinlichen Tod. Übersicht über die Deportationen Bis zur letzten Genauigkeit stimmende Zahlen über die Opfer von Theresienstadt werden sich nicht mehr feststellen lassen, weil die SS vor Kriegsende alles erreichbare schriftliche Material vernichtete, aber es hat sich dennoch heimlich oder zufällig so viel erhalten, um eine Übersicht zu liefern, die der Wahrheit ganz nahe kommt:

Spricht man aber von den eigentlichen Theresienstädter Gefangenen, so läßt man die KL-Häftlinge weg, die erst nach dem 20. April 1945 kamen. Im Lager sind bis zu Kriegsende 33. 251 Menschen gestorben, 88. 194 wurden von hier deportiert (über 60. 000 aus dem „Protektorat , rund 16. 000 aus Deutschland, über 7500 aus Österreich, rund 3000 aus Holland und 1260 aus Polen). Die Zahl der Toten stieg bis zum 30. Juni 1945 auf 3 5. 08 8 an. Durch ausländische Interventionen wurden vor dem Kriegsende 1945 1623 Menschen nach der Schweiz und nach Schweden geschickt. Zur Zeit der Befreiung lebten rund 30. 000 Personen in Theresienstadt, von denen nicht mehr als 17. 515 als ursprüngliche Lagerinsassen anzusehen sind. Da nach Abfahrt des letzten Deportationstransportes am 28. Oktober 1944 nur 11. 077 Menschen im Lager blieben, wird deutlich, wie wenige sich hier halten konnten, ohne verschleppt zu weiden. Über das Schicksal der in 63 Transporten aus Theresienstadt Deportierten gibt folgende Tabelle Auskunft: Gerettet wurde über ein Siebentel der vor dem 20. April 1945 nach Theresienstadt Deportierten, aber nur wenig über ein Zehntel der vor dem 1. November 1944 hierher Verschickten.

Gefangene verschicken Gefangene Eine so tragische Bilanz erwartete sich wohl kaum einer in Theresienstadt, als man die ersten Deportationen befahl und auch nicht später, man neigte zum Optimismus und wollte sich über das Los der Verschickten täuschen, doch blieb man dauernd von der drohenden Gefahr beschattet und konnte sich nicht verbergen, daß man der SS auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war. Das RSHA machte es sich hier mit den Verschickungen leicht. Der Kommandant gab dem Judenältesten den bevorstehenden Abtransport von 1000 oder mehr Opfern bekannt, dem er die betroffenen und zu schonenden Menschenkategorien samt allgemeinen Richtlinien angab, die individuelle Auswahl wurde ihm und der jüdischen Selbstverwaltung überlassen, bloß einzelne Personen, die sogenannten „Weisungen“, wurden namhaft gemacht, Mißliebige und andere Unglückliche, die gegen die Lagerordnung verstoßen hatten. Der SS lag nur daran, daß zur gestellten Frist die verlangte Anzahl in der Sammelstelle — hier „Schleuse“ genannt — bereit war. Welche Folgen das für die Moral der Gefangenen und ihrer kümmerlichen Selbstverwaltung hatte, muß nicht geschildert werden. Edelsteins Hoffnungen hatten sich also schon Anfang 1942 als illusorisch erwiesen, und nun sollte er einen produktiven Aufbau mit willigen Arbeitskräften und konstruktiven Arbeitsvorhaben bewältigen! Das konnte ihm und keinem gelingen, aber es ist ein ehrenvolles Zeugnis für die Gefangenen, wie viel doch, trotz allen wiederholten Erschütterungen der gesamten Lagerstruktur geleistet wurde, wie viel sogar geleistet werden mußte, in welchem erstaunlichen Umfang das Lager aus seiner Mitte komplizierte soziale Institutionen ins Dasein rief, was alles im Auftrage der SS für ihre Bedürfnisse wie für auswärtige Firmen oder staatliche Stellen hergestellt und geliefert wurde. Ende 1941 führte man „Hundertschaften“ ein, die für die nötigen Arbeiten bereit sein sollten, außerdem mehrte sich die Zahl jener, die einen bestimmten Posten erhielten. Das alles wurde intern geregelt.

Man begann mit der Erzeugung von Stockbetten, primitive ungehobelte Ungetüme, mit denen man bis zum Sommer 1942 die meisten Kasernen-räume vollgestellt hatte, ohne die Raumfrage dadurch lösen zu können.

Außer diesen zwei-oder dreistödeigen Gestellen mußte man in den meisten Quartieren für immer auf jede weitere Einrichtung verzichten, der Schlafplatz, hinter und unter dem man sein Gepäck zu verstauen hatte, war die Wohnung des Gefangenen, wo allein er sich bis zum Sommer 1942 in seiner Freizeit aufhalten konnte. Zur Arbeit war jeder Gesunde im Alter von 16 bis 60 Jahren unbedingt, von 14 bis 65 Jahren bedingt verpflichtet, doch arbeiteten auch viele Greise, schon um der Vorteile willen, die sich, seit Frühjahr und Sommer 1942, in vermehrten Zuteilungen an Lebensmitteln und noch anderweitig auswirkten.

Die Ernährung Nach der ersten Notzeit, als es an Brot und allem mangelte, teilte man täglich Nichtarbeitern 333 g Brot zu, Arbeiter erhielten 375, Schwerarbeiter 500 g. Fleisch oder andere eiweißhaltige Kost gab es in den ersten Monaten oft wochenlang nicht, später zweimal wöchentlich in einer Menge, die 60 g kaum überstieg, nur Schwerarbeiter bekamen etwa 90 g. Das Fleisch war meist minderwertig und stammte gewöhnlich aus Notschlachtungen. Arbeiter erhielten zeitweise nebenher fleischhaltige Konserven, wöchentlich 62, 5 g. Die Zuteilung an Margarine und Zucker war in den ersten Monaten unregelmäßig und erreichte im Wochen-durchschnitt nur wenige Gramm. Seit Herbst 1942 entfielen im Durchschnitt höchstens auf den Nichtarbeiter 120, auf den Arbeiter 200, auf den Schwerarbeiter 220 g Margarine. Andere Fette kamen nie ins Lager. Die Zuckerzuteilung betrug seit Frühjahr 1943 110, bzw. 180 und 200 g wöchentlich. Die Mehlmengen für Nichtarbeiter und Normalarbeiter erreichten wöchentlich 3 50— 450 g, für Schwerarbeiter höchstens 500 g. Die wöchentliche Kartoffelzuteilung näherte sich günstigenfalls 1950 g, wurde aber nicht oft erzielt. Oft waren die Kartoffeln verdorben. Die Zuteilung an Nährmitteln, meist Graupen, lag für Normalverbraucher um 120 g, für Schwerarbeiter um 150 g. Was noch an Lebensmitteln gewährt wurde, ist kaum nennenswert. In den ersten Monaten bildeten mehr oder weniger verdorbene Kohlrüben die Hauptnahrung, zum Glück verschwanden sie später, aber dann stand dem Lager außer geringen Mengen Trockengemüse nur ausnahmsweise Gemüse zur Verfügung — meist war es verdorben. Als Kaffee verwendete man einen minderwertigen Pflanzenextrakt, zeitweise auch Kräutertee, ausnahmsweise gab es einen Viertelliter Magermilch oder etwas Marmelade. Salz war nicht immer zu haben, so daß man wochenlang ungesalzen kochen mußte. Außer Brot und einem Teil der Zucker-und Margarineration empfing man seine Nahrung als gekochte Speisen in drei Tagesmahlzeiten. Oft war das Essen schon bei der Ausgabe kalt oder verdorben, gewöhnlich war es verwässert, die Mengen gering, der Kampf gegen Unredlichkeit führte zu einigem, aber nie zu einem vollen Erfolg. Daß es überhaupt zu einer geregelten Bewirtschaftung und Verteilung der Lebensmittel und anderer Güter kam (ein Stückchen Seife erhielt man einmal in sieben Wochen!) muß immerhin als Leistung anerkannt werden.

Postsperre Besonders schmerzlich empfand man die strenge Postsperre, wenn auch von Ende Januar bis Mitte Mai 1942 monatlich eine Karte ins „Protektorat“ bewilligt war, aber die Gunst blieb illusorisch, die Karten wurden nicht befördert. Seit dem 4. Januar 1942 durfte man unverschlossene Briefchen von einer Kaserne in die andere schicken. In den Quartieren fehlte es, wie ich schon erwähnte, an jeder Bequemlichkeit. Die Räume waren überfüllt, in Sälen hausten 400 und mehr Gefangene, die in ihren Stockbetten wie eingesargt und selbst bei Tag fast im Dunkel lagen. Oft durfte kein Licht gebrannt werden, strafweise oder wegen technischer Mängel. Die schlechte Wasserversorgung führte dazu, daß die unzureichenden Waschräume nur weilchenweise benützt werden durften. Ein ordentlicher Betrieb des einzigen Brausebades wurde nie erzielt. Auch die Wäscherei genügte nie den Bedürfnissen. Oft vergingen drei bis vier Monate, bevor man sich zwei höchstens vier kg Wäsche waschen lassen konnte. Lim Reparaturen von Kleidern und Schuhwerk war es stets schlecht bestellt. Es war bei den Verhältnissen ein Wunder, daß wenigstens die gesunden Gefangenen meist sauber waren und ordentlich gekleidet gingen. Erschwerter Aufbau Während Theresienstadt schon bald geordnete Unterkunfts-und Lebensmöglichkeiten für alte Menschen bieten sollte, wurde im Lager herumgestümpert, das RSHA war nur im Vernichtungswerke groß, Konstruktives wollte und konnte man gar nicht vollbringen. So entzog man dem „Ghetto", das nie eines wurde und damals noch nicht einmal ein Lager war, sondern ein auf mehrere Kasernen verteiltes Sonder-gefängnis, dauernd die fähigsten Arbeitskräfte. Bis Ende Mai 1942 kamen rund 29. 000 Personen an und rund 14. 000 wurden weiter verschickt. • Für die Einteilung in „Osten-Transporte“ waren ganz bestimmte Normen vorgeschrieben. Daher mußte bei der Zusammenstellung immer wieder gerade auf den arbeitsfähigen oder wegen seiner Fach-kunde wichtigen Teil der Bevölkerung zurückgegriffen werden.

Durch diese Abzüge wurde aber der Apparat immer wieder erschüttert und mußte durch neu eintreffende Mitarbeiter ergänzt und aufgefüllt werden, wobei diese neu eingestellten Menschen häußg wieder nach dem Osten abgingen. Trotz aller Bemühungen, die notwendigen Personen zurückzuhalten, ging eine große Anzahl wertvollster Arbeitskräfte dem Ghetto verloren, und der Verwaltungsapparat stand wiederholt vor dem Zusammenbruch. Nach fünf Monaten des Bestandes des Ghettos mußte auf verschiedenen Gebieten von neuem begonnen werden. Im Februar waren 77 Prozent aller Männer arbeitsfähig, im Juni dagegen nur noch 51 Prozent. Im Juni mußten 42 Prozent mehr Personen eingesetzt werden als arbeitsfähige vorhanden waren, was nur möglich war durch Heranziehung von Alten und Jugendlichen zu Arbeiten, denen sie nicht voll gewachsen sein konnten.

Ein weiteres Hindernis für den Lageraufbau war die Anwesenheit der Zivilbevölkerung, die wenig Neigung zeigte, sich mit der Übersiedlung aus ihrer Heimat zu beeilen. Es ist verständlich, daß die Einwohner bei der Räumung mit den ohnedies meist schlecht gepflegten Häusern und der immobilen Einrichtung nicht gut umgingen, und so übernahmen die Gefangenen nicht nur einen leeren, sondern auch einen desolaten Ort. Er ließ sich bei den kümmerlichen Investitionen, zu denen sich die SS bereitfand, nicht so leicht und vor allem nicht so schnell in einen halbwegs bewohnbaren Zustand bringen, zumal es galt, in weniger als 200 ungeeigneten Kleinstadthäusern, die rund 3000 Menschen beherbergt hatten, zeitweise 3 5— 40. 000 meist alte, gebrechliche und kranke Menschen zusammenzupferchen. Noch vor der Räumung der Stadt wurden ihre öffentlichen und militärischen Betriebe übernommen, die durchwegs den Lagerbedürfnissen nicht entsprachen und ihnen erst mühselig im Laufe von fast zwei Jahren angepaßt werden mußten: Fleischerei, Heeresbäckerei, Heereswerkstätten, Elektrizitäts-und Wasserwerk, Kanalisation, Feuerwehr. Anfang Mai begann man mit dem Bau eines Krematoriums, das Anfang Oktober 1942 mit einer täglichen Verbrennungskapazität von 180 Leichen in Betrieb genommen wurde. Vorher hatte man erst in Einzel-gräbern, dann, als die Sterblichkeit bis zu über 150 Toten täglich anstieg, in Massengräbern bis zu 60 Leichen ohne Särge beigesetzt.

Nebenher mußte für den Export produziert werden, wodurch der auch durch Kanzleien eingeschränkte Wohnraum noch verringert wurde, obwohl man für die Betriebe auch Baracken zu bauen begann. Die Tragik wird offenbar: die jüdische Leitung dachte noch immer, zumindest teilweise an ein „Arbeitsghetto", was sich das RSHA gefallen ließ, und so waren dem Aufbau des „Altersghettos“ zur Zeit seines Beginns, Ende Juni 1942, 1139 wichtige Arbeitskräfte entzogen. Aber was machte das aus, wenn das „Altersghetto“ nichts als eine unaufrichtige Geste war, hinter der sich der Vernichtungswille vor der besorgten Öffentlichkeit nur dürftig verbarg! 4. 613 alte Juden aus Deutschland und Wien waren seit dem 2. Juni 1942 zunächst in kleinen, bald auch schon in größeren Transporten nach Theresienstadt „bevorzugt“ überführt worden, als am 6. Juli, neun Tage nach der Übernahme der geräumten Stadt durch die jüdische Selbstverwaltung, die Gendarmerieposten von den Kasernentoren abgezogen und an den Stadtrand verlegt wurden. Die Ausstellung von Durchlaßscheinen innerhalb der Stadt wurde dem Judenältesten übertragen, und nach einer kurzen Übergangsperiode durfte man sich bis auf einige der SS vorbehaltene Sektoren und einzelne Gebäude und Betriebe, sowie bis auf die Sperrstunden (gewöhnlich von 20 bis 6 Uhr) ohne Durchlaßschein frei in der Stadt bewegen und auch die Gehsteige benützen, was vorher untersagt war. Damit war das Verkehrsverbot von Bewohnern verschiedener Gebäude, also von Männern und Frauen, aufgehoben, eine Erleichterung, die den Gefangenen so wunderbar erschien, daß sie zunächst fast daran nicht glauben konnten. Bald freilich mußte man merken, daß sich an der bösen Gesamtlage wenig geändert hatte, auch blieb der überwältigenden Mehrheit ein wirkliches Zusammenleben versagt, die getrennten Massenquartiere für Männer und Frauen blieben erhalten. Übrigens bewirkte die Erleichterung, daß die Eingesessenen nicht sahen, wie für die Neulinge bei dem, was sie erwartete, nur das Elend des eigenen Schicksals galt, sie konnten keine Erleichterung spüren. Die nächsten Monate, sachlich beurteilt, waren die schwerste und furchtbarste, wenn schon nicht die härteste Zeit der Lagergeschichte.

Mit den Transporten aus dem Altreich und der Ostmark kamen insbesondere Personen aus wohlhabenden bürgerlichen Kreisen, aus gutgeführten Altersheimen. Der nunmehr kommende Zeitabschnirt der Besiedlung der ganzen Stadt bot mit seiner bisher ungeahnten Zahl von ankommenden und abgehenden Transporten, den tiefen Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und der sozialen und wirtschaftlichen Organisation Aufgaben von einem Ausmaß, wie sie die an Schwierigkeiten gewiß nicht arme Aufbauperiode nicht geahnt hat. „Kurort Theresienstadt“

Für die deutschen Juden hatte sich das RSHA einen betrügerischen Trick ausgedacht, der, zusammen mit den übrigen Begleitumständen der Deportation, für die meist viel zu leichtgläubigen Opfer neben dem physischen auch den moralischen Zusammenbruch mit sich bringen mußte. Dem RJD wurde aufgetragen, mit den Bevorzugten „Heimeinkaufsverträge“ abzuschließen: Gegen die Hergabe des ohnedies nur noch ihrer beschränkten Verfügungsgewalt unterliegenden Vermögens wurde die kostenlose Unterbringung, Ernährung und medizinische Pflege bis zum Lebensende in Theresienstadt verheißen, wobei man den Unglücklichen einredete, daß es sich um ein „Reichsaltersheim“ im „Kurort Theresienstadt“ handle, dessen freundliche Villen und Hotelpensionen man pries. So fuhren die Greise, die Kriegsinvaliden und Kriegsdekorierten oft mit einem für das Lager ungeeigneten Gepäck, sie brachten Zierat und Familienschmuck mit, aber kaum die unerläßlich nötige Ausstattung wie Decken, Handtücher und ein Eßgeschirr. Statt des versprochenen Komforts fanden sie nichts vor als Schmutz und Staub auf nackten Planken oder Steinfliesen in den düsteren Festungskasematten oder auf den stickigen Dachböden der „Schleusen“, von wo man sie in kaum geeignetere Quartiere und nicht selten wieder auf unvorbereitete Dachböden abschleppte. Oft genug mußten solche Räume auch als Kranken-stuben dienen. Schon in den ersten Wochen des Bestehens des Lagers versuchten tschechische Gendarmen aus dem Gepäck der Ankommenden Sachen zu nehmen. Gewöhnlich verfuhren sie gelinde, zumal die jüdische Hilfsmannschaft den Neulingen beistand. Gegen die Ausländer verhielt sich die Gendarmerie weniger rücksichtsvoll, aber leider ließen es auch manche Juden an Solidaritätsgefühl mangeln, dazu kam der Trubel eines technisch überlasteten Betriebes mit seinem nicht zu bewältigenden heillosen Durcheinander — die Folge waren erhebliche Verluste des ohnedies beschränkten Gepäcks, das man den Deportierten bewilligt hatte. Um die systematische Beraubung der Juden schon vor ihrer Ankunft in Theresienstadt zu zeigen, werden hier einige Stellen aus einem Erlaß des Landrates in Fulda vom 31. August 1942 „An alle Bürgermeister des Regierungsbezirks Kassel“ mitgeteilt:

Am 7. 9. 1942 werden die restlichen Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel nach Theresienstadt abgeschoben . . . Bei Abmeldung der Juden ist in den Meldeämtern nicht der Zielort oder ein Vermerk „Evakuiert nach Theresienstadt , sondern lediglich „Unbekannt ver-zogen“ bzw. „Ansgewandert“ anzuführen. An Gepäck dürfen die Juden einen Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsgegenständen bei sich führen, und zwar a) vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk), b) Bettzeug mit Dcclte, c) Eßgeschirr (Teller oder Topf) mit Löffel, d) Mundvorrat für 3 Tage.

Es bestehen keine Bedenken, wenn die Juden den Mundvorrat in einer Hand-oder Aktentasche oder im Netz bei sich tragen. Außer diesem einen Gepäckstück dürfen sie zusätzlich braudtbare Ausrüstungsgegcn'stände (Werkzeug, Matratzen, Eimer, Töpfe, Reinigungsgegenstände usw.) mitführen. Das Handgepäd? (Koffer oder Rudzsack) haben die Juden mit in die Züge zu nehmen. Die Frachtkostensfür die zusätzlidten Ausrüstungsgegenstände] hat jeder Jude selbst zu tragen . . Sämtliches Bargeld haben die Juden mitzunehmen. Ihnen werden pro Person 50, — RM zur Verfügung gestellt . . . Die restlid^en Barmittel werden den Juden erst im Auffanglager [Kassel] abgenommen. Auf Veranlassung der Staatspolizeistelle Kassel ersudte ich, den Juden etwa mitgeführte Wertsachen, wie Gold, Silber, Platin usw. zu belassen, da im Auffanglager Kassel ohnehin die körperlidte sowie die Gepädzdurchsudtung vorgesehen ist . . . Das in den Wohnungen zurüdzbleibende Vermögen der zu evakuierenden Juden wird nadt deren Abtransport beschlagnahmt. Um darüber eine Übersidtt zu gewinnen, werden den Juden von der Staatspolizeistelle Kassel Vermögenserklärungen zur Ausfüllung ausgehändigt, die sie über ihren jüdisdien Obmann bei der Staatspolizeistelle Kassel abzugeben haben . . . Jede Vermögensversddeppung bzw. Abgabe oder Verkauf von Sachen an deutsdrblütige Volksgenossen ist nad-idrücklidist zu unterbinden. Folgende Gegenstände hatten die Gendarmen in Theresienstadt für die SS zu beschlagnahmen:

Medikamente, Werkzeug, Instrumente aller Art, Tabakwaren, Konserven und dauerhaft verpackte Lebensmittel, elektrische Geräte wie Kocher, Heizkissen, Taschenlampen, Batterien, Kerzen, Zündhölzer, Feuerzeuge, Geld, Schmude und Wertgegenstände aller Art, Chemikalien, kosmetisdie Artikel, Seifen, Zahnpasta, Rasierklingen und aller Rasierbedarf, Spirituskodter, Hartspiritus, Gummiwaren wie Sddäuche, Wärmflasdren, Irrigatoren, Präservative, Thermosßaschen, Spirituosen, Kakao, Sdiokolade, Tee, Kaffee, Zeitungen.

Wenn streng kontrolliert wurde, blieb nicht zu viel Wertvolles im Gepäck zurück, und nun wurde am 10. Juli 1942 die Lage der Ankömmlinge durch die generelle Beschlagnahme des „Mitgepäcks“ noch mehr erschwert. Falls sie überhaupt etwas bekamen, so nur das persönlich mitgeführte „Handgepäck". Waren die Deportierten zu gebrechlich, um mit ihren Sachen vom Bahnhof Bauschowitz ins Lager zu marschieren, so wurden sie barbarisch auf motorisierten Fahrzeugen verfrachtet und büßten dabei gewöhnlich alles Gepäck ein. Diese entwürdigende Behandlung zerrüttete die Hilflosen und hatte katastrophale Folgen:

Alte und gebrechliche Leute verlieren ihre Personaldokumente, vergessen ihren Namen und Wohnplatz und irren hilflos durch die Straßen. Rastlos werden die Straßen abgegangen, nicht selten 40 b; s 50 Verirrte täglich nach stundenlangen Redterdren in ihr Heim abgeführt. Die Wadrstube des Orientierungsdienstes labt und beherbergt auch nachts soldte Hilfsbedürftige.

Das Durchschnittsalter betrug bei den AK-Transporten 31, bei den übrigen Transporten aus dem „Protektorat“ 46 Jahre, bei den Zugängen aus Deutschland aber gegen 70, aus Wien sogar 73 Jahre. Von 4213 dieser Menschen im Juni 1942 gab es bloß 178 Arbeitsfähige. Viele, die wie die Wiener und Kölner schon wochenlang interniert waren, kamen verwahrlost und verlaust an. Man bestimmte eine Kaserne für sie als Quarantäne, wo die Zustände so ziemlich alles übertrafen, was dieses Vorzugslager sonst an Grauen zu bieten hatte: Die Menschen hungerten und verkamen buchstäblich im Lingeziefer. Erst im nächsten Jahre, als man wirkungsvoll desinfizieren konnte, besserten sich diese verzweifelten Zustände ein wenig.

Fast 60 000 Gefangene Zahlen veranschaulichen die Schwierigkeiten jener Monate. Im Juli 1942 trafen 58 Transporte mit 25. 111 Personen ein, 2000 wurden deportiert. In diesem Monat stieg die Gefangenenzahl von 21. 304 auf 43. 403 Personen. Im August kamen mit 36 Transporten 13. 469 Personen, 3000 mußten fort. Im September kamen mit 3 8 Transporten 18. 647, in acht Transporten wurden 13. 005 weiterdeportiert. Am 18. September wurde mit 5 8. 491 Gefangenen die ärgste Überfüllung des Lagers erreicht. Im gleichen Monat wurden 3941 Todesfälle verzeichnet. Nachdem im Oktober 9866 verschickt und 3096 gestorben, aber „nur“ 5004 angekommen waren, zählte man am 1. November 45. 312, doch am 24. Dezember wieder 50. 006 Personen. Nach der Deportation von 7000 Menschen Ende Januar 1943 hielt sich die Zahl der Gefangenen bis zur nächsten Deportationswelle Anfang September 1943 mit Schwankungen rund bei 45. 000 — die Abgänge durch den Tod wurden durch neue Einlieferungen stets wieder ausgeglichen.

Wir sagten: Zahlen veranschaulichen. . . . Schon müssen wir eingestehen, daß wir damit der Wirklichkeit nicht gerecht werden können, weswegen wir versuchen, durch weitere Streiflichter die Verhältnisse im „Altersghetto“ näher zu beleuchten.

Schon im August (1942) entßel auf einen Ghettoinsassen durchschnittlich 1, 6 qm reiner Wohnfläche, auf weldter er nidit nur schlafen, sondern auch seine Habseligkeiten unterbringen mußte. Man ging zur Belegung der Dadiböden über, die in keiner V/eise vorbereitet waren, keine Isolierung gegen Wärme und Kälte hatten, keine Beleudctungsanlagen, keine Aborte und keine Wasserleitung. In der Sommerhitze herrsditen dort Temperaturen, die einen Aufenthalt außerordentlich ersdiwerten, wozu kam, daß viele sieche und kranke Personen nidtt die Möglichkeit hatten, die Treppen zu benützen, um während der heißen Tageszeit ihr Dadibodenquartier zu verlassen. Mehr als 6 000 Personen waren auf Dadiböden untergebracht. Sie wurden zum größten Teil ohne Matratze, Strohsack oder Zudcd^e, ohne die zur körperlidien Reinigung notwendigen Behelfe und Wäschestücke und ohne Eßgesdiirr untergebradtt. Auch mußten große Verpflegungsschwierigkeiten überwunden werden. Die Kessel reichten immer weniger aus. Im Monat August gab es sdiließlidi nur noch 0, 34 Liter Kesselinhalt je Person. Die Mittagessen mußten in mehreren Schichten gekodit werden. Dabei fehlte es an Transportmitteln, um das Essen den Alten in die Häuser zu sdiaffen.

Immer ungünstiger für die Arbeitsverhältnisse verschob sich die Alters-schichtung. Im August stieg die Anzahl der Personen über 65 Jahre auf 56 °/o der Gefangenen an. In jener Zeit waren durchschnittlich bei der Spedition und bei den Küchenarbeiten 80 bis 110 Wochenstunden, darunter auch Naditarbeit, bei der Krankenpflege 75 bis 85 Stunden und 20 Stunden Naditarbeit, bei den Handwerkern 65 bis 75 Wochenstunden und 10 Naditstunden, bei den Mitarbeitern der Verwaltung 78 Wodrenstunden und Naditstunden notwendig.

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Epidemien Daß sich im Sommer und Herbst 1942 die Gesundheitsverhältnisse außcroideutlich verschlechterten, erschwerte die Lage noch wesentlich. Epidemische Durchfälle wurden im zweiten Halbjahr 1942 in rund 3 5 000 Fällen verzeichnet, über 5 000 Kranke (davon allein im September 2000) sind in dieser Zeit diesem Leiden erlegen. Bald mehrten sich auch Typhusfälle, die in den ersten Monaten 194 3 am häufigsten waren. Nicht minder bedenklich verbreitete sich Scharlach (zweites Halbjahr 1942 896 Fälle), dem Diphtherie nur wenig nachstand. Daneben wüteten epidemische Gelbsucht und schwere Masernfälle. Besonders zahlreich waren Lungenentzündungen, an denen über 6 000 Menschen in Theresienstadt starben. Gefährlich wurden epidemische Bindehautentzündungen (4 500 Fälle im zweiten Halbjahr 1942), die oft dauernde Schädigungen hinterließen. Diese und viele andere Leiden sind den Mangelkrankheiten zuzurechnen, die im Lager böse Ernte hielten. Der Mangel an Eiweiß und Vitaminen verursachte Krankheiten des Haut-und Knochengewebes und setzte die Widerstandskraft der Gefangenen sehr herab, Hungerödeme und langwierige septische Prozesse verzehrten viele Patienten und konnten selten ausgeheilt werden. Stets wurden die Greise am meisten betroffen, die selten eine Möglichkeit hatten, die elende und schwer verdauliche Lagerkost zu verbessern. Die durch Gewichtsverluste ausgemergelten Gestalten dieser Unglücklichen lassen sich nur mit den sonst viel jüngeren zerstörten Menschen, den „Muselmännern“ der „normalen“

Konzentrationslager vergleichen. Deshalb war auch in Theresienstadt Tuberkulose in verschiedenen Formen bei Greisen nicht weniger häufig als bei den übrigen Altersstufen, doch erreichte dieses Übel erst im Jahre 1944 seinen Höhepunkt, als ihm 844 Personen erlagen.

Trotz der ungeheuerlichen Belastung des Lagers im Herbst 1942 hätten sich die Verhältnisse einigermaßen konsolidieren lassen, wenn man den Gefangenen dazu ein wenig Zeit vergönnt hätte. Für Zehntausende von hilflosen Menschen konnten nicht in wenigen Wochen erträgliche Lebensbedingungen geschaffen werden, aber statt die rücksichtslose Zufuhr immer neuer Transporte wenigstens zu verzögern, entschied sich die SS für eine ihr viel genehmere „Lösung“: Verschickung „in ein anderes Versorgungsghetto“ — also zum Massenmord in den Vernichtungslagern Trostinetz, Treblinka und Auschwitz. Bisher hatte man Personen über 65 (manchmal 67) Jahre aus Theresienstadt nicht deportiert, nun mußten im September 10. 000 alte deutsche und österreichische, im Oktober gegen 8000 tschechoslowakische Juden fort, wobei sich diesmal die SS die Auswahl vorbehielt. Verschont wurden Menschen mit schwerer Kriegsverletzung, hohen Auszeichnungen (mindestens EK I), fremder Staatsbürgerschaft und halbjüdische Kinder. Beim Abtransport der Greise — Menschen von 70, 80 und 90 Jahren — spielten sich Szenen ab, die selbst in der an Unmenschlichkeiten überreichen Geschichte der Deportationen einmalig sind. Nach qualvollen Tagen in den Sammelstellen wurden die Verurteilten bis zu 60 Personen auf einem Lastwagen zum Bahnhof verladen, unter Mißhandlungen in den Zug gestopft, wobei die SS vielen das letzte Bündel entriß. Stockhiebe fielen auf die Verlorenen, die sich für ein „sorgloses“ Leben in Theresienstadt eingekauft hatten, bevor sie endlich in den Tod gefahren wurden.

Die NSDAP gibt bekannt. .. In dieser Zeit hatte sich im Reich das Elend der Juden mehr herumgesprochen, als den Schuldigen lieb war, und so verbreitete die Kanzlei der NSDAP am 9. Oktober 1942 eine „Bekanntgabe“, in der es hieß: Iw Zuge der Arbeiten an der Endlösung der Judenfrage werden neuerdings innerhalb der Bevölkerung in verschiedenen Teilen des Reichsgebiets Erörterungen über „sehr scharfe Maßnahmen" gegen die Juden besonders in den Ostgebieten angestellt. Die Feststellungen ergaben, daß solche Ausführungen — meist in entstellter oder übertriebener Form — von Urlaubern der verschiedenen im Osten eingesetzten Verbände weitergegeben werden, die selbst Gelegenheit hatten, solche Maßnahmen zu beobachten. Beginnend mit dem Reichsgebiet und überleitend auf die übrigen in die Endlösung einbezogenen europäischen Länder werden die Juden laufend nach dem Osten in große, zum Teil vorhandene, zum Teil noch zu errichtende Lager transportiert, von wo aus sie entweder zur Arbeit eingesetzt oder noch weiter nach dem Osten verbracht werden. Die alten Juden sowie Juden mit hohen Kriegsauszeichnungen (EK I, Goldene Tapferkeitsmedaille usw.) werden laufend nach der im Protektorat Böhmen und Mähren gelegenen Stadt Theresienstadt umgesiedelt. Es liegt in der Natur des Sache, daß diese teilweise sehr schwierigen Probleme im Interesse der endgültigen Sicherung unseres Volkes nur mit rücksichtsloser Härte gelöst werden können

Nadirichten im Ausland Daß man gleichzeitig mit der „Bekanntgabe“ von den „nach Theresienstadt Umgesiedelten" 000 „noch weiter nach dem Osten verbrachte“, verschwieg die Parteikanzlei wohlweislich. Unterdessen hatte man auch schon im Ausland trotz manchen Fehlinformationen einigermaßen zutreffende Kenntnisse über Theresienstadt, wie aus einem Artikel des „Manchester Guardian“ vom 17. September 1942 hervorgeht:

Am 15. August waren 40 000 im Alter von 65 bis 85 Jahren in neuerrichteten Kasernen oder im alten Gefängnis zusammengepferdtt. Außerdem beherbergt Theresienstadt 7000 jüngere Leute, durdtwegs Juden, die Zwangsarbeit verrichten. . . . All die unglücklidien Bewohner wurden, bevor sie nach Theresienstadt kamen, ihrer persönlidien Habe beraubt, sie wurden aus ihren Wohnungen evakuiert und gezwungen, ihre Möbel, Bettzeug, Kleidung und Geld zurüd^zulassen, das von den Deutsdten besddagnahmt wurde 18).

Wenn solche und ähnliche Nachrichten, die wesentlich die Wahrheit trafen, sich im Inland wie im Ausland verbreiten konnten, so war es an der Zeit, eine Scheinnormalisierung der Verhältnisse zu beschleunigen, damit man sich zur Widerlegung aller „Greuelpropaganda“ mit einem respektablen Alibi ausweisen konnte. Freilich wurde auch das bald durchschaut. A. J. Fischer schilderte in einem längeren Artikel Theresienstadt ziemlich zutreffend und sagte dazu: Theresienstadt ist als bewußte Widerlegung des Terrors in den Ghettos des Ostens aufgemacht, wo Himmler Herr ist „Bank“ und „Kaffeehaus“

Was fiel der SS als besonders wirkungsvoll ein? Geldwirtschaft mit einer schönen Bank, „richtige“ Geschäfte, eine Leihbücherei, ein „autonomes“ Gerichtswesen und als Clou — ein Kaffeehaus. Lim es kurz zu sagen: Alle diese Institutionen haben zu einer unleidlichen Belastung des internen Verwaltungsapparates beigetragen, den meisten Errungenschaften kam eine geringe, oft gar keine praktische Bedeutung für die Gefangenen zu, oder sie wirkten sogar negativ, indem sie die Selbsttäuschung vergrößerten und die moralische Widerstandskraft schwächten. Nur das kulturelle Leben der Gefangenen, das bisher kaum geduldet war (es bestand ein Musizierverbot) konnte einen Aufschwung nehmen und hat im großen und ganzen bewundernswerte Ergebnisse gezeitigt. Das Geld, das erst im Mai 1943 ausgegeben wurde, war wertlos und vermittelte keine Güter, die das Lager nicht schon vorher den-Gefangenen geboten hatte. Nicht anders war es mit den Geschäften, in denen man fast nur von der Kommandantur freigegebene minderwertige Konfiskate aus dem Gepäck der Gefangenen gegen Bezugschein und (später) „Ghettogeld“ turnus-weise — einmal in vielen Monaten — „kaufen“ konnte. Die Bücherei verfügte über ansehnliche Bestände, die größtenteils aus den Bibliotheken namhafter jüdischer wissenschaftlicher Institute stammten. Ins „Kaffeehaus“

konnte man auch nur selten gehen, durfte zwei Stunden bleiben und 2 „Ghettokronen“ bezahlen, um den üblichen Lagerkaffee mit einem Würfel Zucker aus einer richtigen Tasse trinken zu können. Es war das traurigste Kaffeehaus der Welt, bot aber immerhin den Greisen einen Sitz auf einem wirklichen Sessel und im Winter einen geheizten Raum.

Wichtiger als diese lächerlichen Propagandatricks war die Bewilligung eines beschränkten Postverkehrs am 16. September 1942. Zwar dauerte es noch Monate, bevor der Betrieb erst in Gang kam, aber er war nicht nur propagandistisch, sondern auch praktisch bedeutsam, weil das Schicken 'von Lebensmittelpaketen erlaubt wurde. Leider sprach es sich außerhalb des Lagers bloß langsam und allgemein nur im „Protektorat herum, so daß viele diese Hilfe für lange oder immer entbehren mußten. Aus dem „Protektorat“ kam allerdings seit Anfang 1943 so viel an, daß man den Zustrom durch einen Zulassungszyklus drosselte, nach dem jeder tschechoslowakische Jude nur einmal in mehreren Monaten ein Paket empfangen durfte, doch durfte es bis 20 kg wiegen. Die Greise aus Deutschland, die am bedürftigsten waren, gingen oft leer aus. Das Schreibrecht blieb stets beschränkt und wurde ab 1. Juni 1943 so geregelt, daß jeder einmal in drei Monaten eine Karte schreiben durfte, die einer strengen Zensur unterlag. Ähnlich beschränkt wurde auch die Post an die Gefangenen. Ausnahmen wurden nur zugelassen, wo es propagandistische Interessen erforderten. „Sonderbehandlung“

Außer diesen Maßnahmen entschied man sich noch für einen Schritt, der die ganze Verworfenheit des RSHA enthüllt. Für den 6. September 1943 kündigte man einen „Arbeitseinsatztransport“ an, mit dem 5 000 Gefangene, darunter auch ältere Leute, Kranke und Kinder, fahren mußten. Man schaffte sie nach Auschwitz II (Birkenau), unterwarf sie aber hier nicht der üblichen „Selektion“ — so hieß die Einteilung der Opfer in jene, die entweder für die Gaskammer oder für Sklavenarbeit bestimmt wurden —, sondern brachte sie in ein „Familienlager“, wo man ihnen das Gepäck ließ und sogar Zivilkleidung gestattete. Außerdem gewährte man ihnen eine Selbstverwaltung in der Art von Theresienstadt und nötigte sie zu keiner anderen Arbeit, als zur Ordnung ihrer internen Angelegenheiten nötig war. Man ließ sie normale Postkarten an ihre Angehörigen im „Protektorat“, im Ausland und nach Theresienstadt schreiben, wo man sogar antworten durfte. Der Absender „Birkenau“ wurde nicht mit Auschwitz oder einem Vernichtungslager identifiziert. Am 5. März 1944 mußten sie nochmals schreiben, aber ein viel späteres Datum angeben. Die Überlebenden dieses Transportes — 1 140 waren in der Zwischenzeit gestorben — wurden bis auf einige Ausnahmen in der Nacht vom 8. zum 9. März in den Gaskammern von Auschwitz ermordet, und jetzt wußten die erfahrenen Häftlinge dieses Lagers, was es bedeuten sollte, daß diese Gruppe mit „SB-Transport tschechischer Juden mit sechsmonatlicher Quarantäne“ bezeichnet worden war. SB war die Abkürzung für „Sonderbehandlung“ und dies das Deckwort für Vergasung.

Neue Lagerleitung Am 31. Januar 1943 griff die SS einschneidend in die Selbstverwaltung von Theresienstadt ein, nachdem schon vorher mehrere Reformen durchgeführt worden waren. Dr. Paul Eppstein, ein Funktionär der RJD in Berlin, wurde zum Judenältesten ernannt. Edelstein und ein leitender Mann der Wiener israelitischen Kultusgemeinde, Dr. Benjamin Murmelstein, wurden ihm als Vertreter beigegeben. Mit der neuen Leitung hatte das Lager nichts gewonnen. Eppstein war ein längst in seiner Widerstandskraft gebrochener Mann, als er in Theresienstadt eintraf, und viel zu schwach, um eine entschiedene Politik zu verfolgen. So wurde er noch mehr als der auch schon sehr geschwächte Edelstein zu einem Instrument des Lagerkommandos, das mit dem Triumvirat bewußt einen Schlag gegen die potentielle Autorität der Selbstverwaltung geführt hatte, denn die SS sah richtig voraus, daß sich diese drei ungleichen Männer mit ihrem ehrgeizigen Anhang -schlecht vertragen würden.

Im Frühjahr 1943 mußte das Regime erkennen, wessen eine jüdische Widerstandsbewegung fähig war. Der Aufstand von Warschau belehrte das RSHA, alles zu tun, um einen möglichen Widerstand im Keim zu ersticken. Die unerläßlich nötigen Aufbauarbeiten in Theresienstadt waren notdürftig beendet, und so konnte man es sich leisten, die jüngeren Lagerinsassen empfindlich zu treffen. Im Juli 194 3 löste man die GW auf, eine Gruppe von militärisch gut ausgebildeten 420 Mann samt einer zusätzlichen Reserve und ersetzte sie durch 150 Männer über 45 Jahre. Die GW stellte unter ihrem energischen Leiter Dr. Karl Loewenstein im Rahmen eines zentralisierten „Sicherheitswesens“ eine gewisse Macht dar, die übrigens mehr in Berlin als vom SS-Kommando des Lagers gefürchtet wurde. Bald darauf kam es auch, unter Ausnützung eines unerfreulichen internen Machtkampfes der jüdischen Leitung gegen das „Sicherheitswesen“, zum Sturze des wegen seiner korruptionsfeindlichen Maßnahmen unbequemen Loewensteins, das „Sicherheitswesen“ wurde dezentralisiert und seine einzelnen Abteilungen unmittelbar dem Judenältesten unterstellt. Die entlassenen GW-Männer wurden zum größten Teil verschickt. Auch der bisherige Schutz der AK-Männer vor Transporten fiel, im September 1943 suchte der Kommandant bereits eine Anzahl zur Deportation aus. Am 1. Juni war die von Gefangenen gebaute Verbindungsbahn vom Bahnhof Bauschowitz ins Lager eröffnet worden, womit die Abschließung Theresienstadts von der Außenwelt noch vollkommener wurde. In der Kaserne E 1 war die junge Arbeiterschaft des Lagers, in der Mehrzahl Protektoratsangehörige, konzentriert, über 5 000 Mann, die gleichfalls eine gewisse Gefahr darstellten. Nun mußten am 24. Juli 1943 E I und noch einige andere Gebäude binnen 24 Stunden geräumt werden. Damit wurde der soziale Aufbau des Lagers erschüttert, Theresienstadt war endgültig kein Lager der böhmischen Juden mehr, Edelsteins Traum für immer zerstört. In E I, nun „Berliner Dienststelle“ genannt, wurden Archive des RSHA VII (Konzentrationslagerpapiere) untergebracht, die Lagerfläche erheblich verkleinert.

Schöne Projekte und die harte Wirklichkeit • Diese Verluste konnten durch den Aufbau von zwei Barackenkolonien am Stadtrande nicht wettgemacht werden. Die Mehrzahl dieser Baracken war zunächst als ein vorbereitendes Austauschlager für jüdische Kinder gedacht. Ende Mai 1943 wurde dem Judenreferenten des Außenamtes von Thadden durch den Schweizer Gesandten in Berlin ein Angebot der britischen Regierung eröffnet, 5 000 Juden, davon 8 5% Kinder, aus Polen und den baltischen Ländern zu übernehmen. Eichmann bestand auf einem Austausch gegen 20 000 militärdienstfähige Deutsche. Die Aktion gedieh nicht weit, die in Theresienstadt für die Kinder vorbereiteten Baracken mußten für den Bedarf von produktiven Betrieben umgebaut werden. Immerhin schaffte man bei der Liquidation des Ghettos von Bialystok, die am 21. August 1943 begann, von dort 1 260 Kinder nach Theresienstadt, wo sie am 24. August ankamen, streng isoliert in einigen Baracken untergebracht, relativ gut ernährt, gepflegt und ausgerüstet wurden. 5 3 Personen aus dem „Ghetto“, die von nun auch abgesondert blieben, wurden zu ihrer Pflege ausgewählt. Am 5. Oktober wurden die Kinder mit den Erwachsenen abtransportiert, man dachte ins Ausland, wie die SS hatte durchblicken lassen, in Wirklichkeit nach — Auschwitz, wo alle sofort mit Gas erstickt wurden. Indessen diskutierte man das schöne Projekt im Ausland weiter und erklärte das britische Angebot noch am 2. Mai 1944 als gültig. Darauf ließ sich von Thadden durch Eichmann melden, daß Lodzsch der einzige Ort sei, wo 5 000 jüdische Kinder zu finden wären, die allerdings nicht nach Palästina, sondern nach England sollten, um dort Antisemitismus zu verbreiten.

Die Politik des RSHA, damals für die Gefangenen nicht durchsichtig und auch heute noch ungenügend bekannt, war eindeutig. Während man in Theresienstadt nichts Entscheidendes zur Verbesserung der Lage tat und den Insassen stets nur jenes Lebensminimum bot, um den Fortbestand gerade noch zu erhalten, während man sie weiter schikanierte und hungern ließ, traf man doch solche Anstalten, um im geeigneten Augenblick sich vor der Weltmeinung zu salvieren. So war es geschickt, im Juli 1943 zivile Straßennamen einzuführen, „Seestraße“ als Absender eines „Prominenten" nahm sich ganz gut für einen idyllischen Kurort aus. Wer wußte schon in der Welt, daß es weit und breit bei Theresienstadt keinen See gab? Im Mai dieses Jahres zeigte man das Lager einer Anzahl deutscher Journalisten, führte ihnen — wie zivil! — eine Verhandlung vor dem „Ghettogericht“ vor und befahl einige leitende Persönlichkeiten zum „Interview“ auf die Kommandantur. Bemerkenswerterweise erschienen nachher keine Artikel über Theresienstadt in der deutschen Presse, das schien unerwünscht, aber bestimmt erwünscht waren die mündlichen Nachrichten, die man gewiß in der Welt verbreitete. Man sorgte schon dafür, daß weniger zivile Dinge nicht an die große Glocke gehängt wurden, so wenn der neue Kommandant, SS-Obersturmführer Anton Burger, der Seidl Anfang Juli 1943 ablöste, im TB vom 7. Juli 1943 verkünden ließ:

Meldepflicht der Schwangeren. Über amtsärztlichen Auftrag haben sich sämtliche schwangere Frauen unverzüglich in der Sprechstunde des Frauenarztes in der zuständigen Gesundheitseinheit zu melden.

Von nun an wurden Fruchtabtreibungen unter Androhung schwerster Strafen selbst noch im achten Monate der Schwangerschaft erzwungen. Klingt dieser Aufruf harmlos und daher nicht glaubwürdig genug? Dann lese man den Rundbrief vom 21. August 1943, der allen Chefärzten „zur Kenntnisgabe an alle Frauenärzte“ zugestellt wurde:

Bei der Gelegenheit der letzten zwei Geburtsanzeigen teilt Herr SS-Obersturmführer Burger mit, daß künftig alle Väter hier gezeugter Kinder, als auch Mutter und Kind in den Transport eingereiht werden und daß sie abgeschoben werden. Wir ersuchen daher noch- mals vorerst, sämtliche Ihnen bekannte Schwangerschaften, soweit sie noch nicht gemeldet sind, zu melden, denn wegen Nichteinhaltung rechtzeitiger Meldepflicht macht sich auch der untersuchende Frauenarzt mitwissend und daher schuldig. Die Mitteilungen, die den schwangeren Frauen gemacht werden, haben ganz eindeutig zu klingen, daß die Sdiwangerscltaftsunterbrechungen über behördlichen Auftrag durcltgeführt werden müssen.

Der Leiter des Gesundheitswesens (gez.) Dr. Erich Munk

Wie weit die Schnüffelei ging, soll noch ein späteres Dokument belegen:

Die Bestimmungen über Sdrwangerschaften, welche bereits einige-mal in Tagesbefehlen bekanntgegeben wurden, sind allen weiblidten Inssasen neuerdings nadtdrüddichst in Erinnerung zu bringen. Alle Frauen der Jahrgänge 1928 bis 1889 incl. haben listenmäßig schriftlich zu bestätigen, daß sie belehrt wurden, daß Sdtwangerschaften sofort beim Auftritt der ersten Anzeidnen in der zuständigen Frauen-ambulanz zwed? s Untersudtung zu melden sind.

Die Zimmerältesten müssen außerdem Fälle von Schwangerschaften welche ihnen bekannt werden, zur Einhaltung der Untersuchungsvorschriften anhalten und sich gegebenenfalls durch eine Besdieinigung der Frauenambulanz die vorgenommene Untersudrung bestätigen lassen. Bei Weigerung zur Vornahme der Untersudrungen muß sofort Meldung an die Leitung der Gebäudeleitung erfolgen, damit beim Gesundheitswesen das Nötige veranlaßt werden kann „Volkszählung“ im Freien Auch mit der denkwürdigen „Volkszählung“ vom 11. November 1943 brüstete man sich nicht. Knapp vorher hatte Burger erfahren, daß die Anzahl der Gefangenen, die täglich vom Judenältesten bei seinem Rapport auf der Kommandantur zu melden war, nicht genau stimmte. Fehler waren bei dem Transportchaos im Herbst 1942 entstanden und nie mehr berichtigt worden. Burger machte Edelstein verantwortlich, der wegen „Beihilfe zur Flucht“ mit einigen Beamten verhaftet, nach Auschwitz geschafft und dort am 20. Juni 1944 hingerichtet wurde. In der Leitung wurde er durch seinen alten Stellvertreter Ing. Otto Zucker ersetzt. Burger ordnete eine Freiluftzählung außerhalb des Lagers im sogenannten Bauschowitzer Kessel für alle an, die gehen konnten. Die Menschen waren von den frühesten Morgenstunden bis tief in die Nacht auf den Beinen, manche haben sich damals den Tod geholt. Die Zählung wurde mit sinnlosen Quälereien der vielen alten Menschen und dabei so dilettantisch vorgenommen, daß sie fehlerhaft ausfiel und eine zweite vernünftigere Zählung durchgeführt werden mußte, bei der man 40 145 Gefangene errechnete.

Lagerbesichtigung Im Laufe des Oktober 1943 waren 456 Juden aus Dänemark nach Theresienstadt verschleppt worden, ein kleiner Bruchteil der dort lebenden Juden, von denen sich 90% bei der Fangaktion vom 1. zum 2. Oktober durch die Flucht nach Schweden retten konnten. Mit diesem Eingriff in die Souveränität eines nominell unabhängigen Landes hatte man in ein Wespennest gegriffen — es war eine Niederlage Eichmanns, die er schließlich doch beinahe in einen Sieg zu verwandeln wußte. Die dänischen Behörden, vor allem das Außenministerium und das Rote Kreuz (RK) schritten sofort energisch für die Verschleppten ein, verlangten und erreichten Garantien, daß man die Dänen in Theresienstadt lasse und ihnen den regelmäßigen Empfang von Paketen des RK gestatte. Das deutsche RK mußte sich an Eichmann wenden und antwortete nach einer Aussprache mit ihm am 15. November 1943 dem dänischen RK:

Die aus Dänemark nadt Deutsddand verschickten Juden sind nad't Theresienstadt überführt worden. Die Möglidrkeit, Vertretern des Dänischen Roten Kreuzes die Erlaubnis zu einem Besuch der dänischen Juden in Theresienstadt zu geben, ist nicht grundsätzlidt abgelehnt worden. Die Ausführung muß jedoch zunächst für eine etwas spätere Zeit zurückgestellt werden.

Dem Dänisdren Roten Kreuz kann das Deutsche Rote Kreuz weiterhin mitteilen, daß es erreicht worden ist, Korrespondenzmöglichkeiten für die in Theresienstadt aufgenommenen dänischen Juden vorzusehen, und daß ferner die Zusicherung gegeben worden ist, daß sie n Theresienstadt verbleiben. Sie stehen dort unter der unmittelbaren Aufsicht des Jüdisd'ien Ältestenrates selbst

So ein Brief klang ganz beruhigend, aber die dänischen Behörden mußten noch lange energisch intervenieren, damit der für Mai vorgesehene Besuch schließlich am 23. Juni 1944 zustandekam. Theresienstadt war nicht präsentabel, Hitlerdeutschland wußte genau, warum es wiederholte Ansuchen um eine Lagerbesichtigung durch Vertreter des IRK abgelehnt hatte. Nun wünschte man, sein Ansehen als zivilisierter Staat in Dänemark zu retten, und es war nicht schlecht, auch die Weltmeinung bei dieser Gelegenheit zu beruhigen, weswegen man sich entschloß, neben den Dänen Frants Hvass, Abteilungschef im Außenministerium, und Oberarzt Juel Henningsen vom dänischen Gesundheitsamt und im Auftrage des dänischen RK, auch den Schweizer Dr. Rossell vom IRK ins Lager zu lassen, nachdem man es gründlich „verschönert“ hatte.

Die „Verschönerung“ ihres Lagers wurde den Juden im Dezember 1943 anbefohlen und Murmelstein mit ihrer Durchführung betraut. Leider war Theresienstadt zu überfüllt, und man mußte erst einmal Platz schaffen. Das war nicht schwer, solange man noch Auschwitz hatte, wohin man im Dezember 1943 5 000 Menschen und, da auch das nicht genügte, im Mai 1944 7 500 verschickte. Die Kommission konnte nicht wissen, daß von diesen 12 500 Unglücklichen kaum 1 200 das Kriegsende überleben würden. So hatte man am 2 3. Juni rund 27 700 Menschen im Lager, zwang aber Eppstein, der als Cicerone auch fast alle Auskünfte allein zu erteilen hatte, den ausländischen Gästen vorzuschwatzen, daß es in Theresienstadt 37 — 40 000 Einwohner gebe, dies eine vernünftige Zahl, die mit den im Ausland verbreiteten Gerüchten ziemlich übereinstimmte. Mit den aufgelockerten Wohnverhältnissen allein war es aber nicht getan, und so sparte man weder Geld noch Erfindungskraft, um Theresienstadt gründlich zu verändern.

Der düstere Burger eignete sich schlecht für dieses Spiel, er wurde durch den um nichts besseren, aber viel intelligenteren und umgänglicheren SS-Obersturmführer Karl Rahm im Februar 1944 abgelöst. Alle Dreistockbetten mußten durch Absägen des Oberteils in Zweistockbetten verwandelt werden, die Straßen wurden hergerichtet, der Stadtplatz — bisher war das Betreten verboten — wurde in einen Rosengarten verwandelt und erhielt, wie es sich für einen Kurort gehört, einen Musikpavillon, wo die Stadtkapelle aufspielte. Aus einer Bastei wurde der „Südberg“ mit Sportplätzen und Spazierwegen. In einem kleinen Park baute man aus Holz und großen Glasscheiben einen Kleinkinderhort, daneben einen Spielplatz mit Planschbecken und Karussell. Die Häuser wurden außen und, was besichtigt werden sollte, auch innen gründlich überholt. Eine Baracke wurde als „Speisehalle“ eingerichtet. Einzelzimmer für Familien oder wenige Insassen wurden mit anständigen Möbeln, Bildern, Vasen mit Blumen und Vorhängen als nette Wohnungen ausgestattet. Auch ein Krankenhaus und ein „Siechenheim machte man ansehnlich, und ein Deutscher mußte seine Villa am Stadtrand räumen, um Platz für ein Kinder-Rekonvaleszentenheim zu gewinnen. Jugendheime, die Kanzleien der Selbstverwaltung — alles kam an die Reihe. Das Vereinshaus der tschechischen Turnerschaft Sokol wurde zu einem „Gemeinschaftshaus“ mit luftigen Terrassen, einem Theatersaal, Vortragssaal und einer „Volkslesehalle“. Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den vielen Vorbereitungen, zu denen man alle verfügbaren Arbeitskräfte ein halbes Jahr lang heranzog. Auch organisatorisch mußte alles gut bedacht werden, damit ja kein peinliches Versehen unterlaufe. Fast alle technischen Bezeichnungen, die lagermäßig wirkten, wurden durch zivile Ausdrücke ersetzt, so „Tagesbefehle“ durch „Mitteilungen der Selbstverwaltung“, in denen man am 18. Juni, fünf Tage vor dem Besuch, verkündete:

Es wird erneut darauf hingewiesen, daß keine Gruß-und Meldepflidtt besteht. Es ist daher die Ankündigung „Achtung und die Mel- dung sowie das Aafstehen von den Plätzen zu unterlassen. . . . Die Einwohner können sich ohne besondere Rücksicht auf etwaige Besuche verhalten. Es ist selbstverständlich, das! bei einer etwaigen Anrede die üblichen zivilen Formen zu beachten sind.

Die Besucher ließen sich von der strahlenden Pracht zwar nicht blenden, aber der ganze Betrieb war doch so raffiniert einstudiert worden, daß — zumal bei den falschen oder verfärbten Auskünften Eppsteins und der Verschüchterung der selbst nicht illusionsfreien Gefangenen — die Lebensbedingungen für halbwegs erträglich gehalten, sonst aber nur der starke psychische Druck, der auf den Gefangenen lastete, und die Hoffnungslosigkeit im Ausdruck der Insassen des „Siechenheimes" festgestellt wurden. So konnte Hvass resümieren:

Zum Schluß dieses Berichtes kann ich nicht unterlassen, der Bewunderung Ausdruck zu geben, die man für die Juden hegen muß, die es durch ihren einzig dastehenden Einsatz möglich gemacht haben, innerhalb des Rahmens der Selbstverwaltung so relativ gute äußere Verhältnisse für ihre Glaubensgenossen zu sdiaffen und ihnen Mut und Stärke zur Fortsetzung des Lebens einzuflößen. Ob es ihnen gelingen wird, den Lebensmut zu bewahren, wird — was wir während unseres Aufenthaltes in der Stadt bestätigt erhielten — vermutlich in nicht unwesentlichem Grade vom Glauben der Bevölkerung daran abhängen, daß die Unterbringung in Theresienstadt nur vorübergehenden Charakter hat

Es wird gefilmt Eichmann und seine Auftraggeber konnten zufrieden sein. Sie hatten ihren Gästen, die nie allein mit den Juden sprechen konnten — SS-Funktionäre in Zivil und von Thadden waren stets zugegen — tüchtig Sand in die Augen gestreut, aber — und das war viel verhänignisvoller — sie hatten auch, jetzt nach geglückter Invasion, die meisten Gefangenen in eine viel zu sorglose Sicherheit gewiegt. Wenn auch die bessere Ernährung in der Woche des Besuches gleich wieder verschwand, die meisten Einrichtungen der „Verschönerung“ blieben bestehen und förderten viel mehr die Selbsttäuschung als ein normales soziales Leben. Dabei ging die „Verschönerung“ erstaunlicherweise weiter, sie überstürzte sich sogar, denn nun mußte noch von allen Herrlichkeiten ein Film gedreht werden, der das Leben der Juden in Saus und Braus zeigen sollte. Man rüstete Vergnügungen auch außerhalb des Lagers zu, eine Schwimmveranstaltung in der Eger und ein Freiluft-Kabarett, zu dem man Zuschauer kommandierte:

Morgen, den 19. d. M., werden 1800 Leute im Drabschitzer Kessel als Publikum bei einer Kabarett-Vorstellung gefilmt.

Zu diesem werden der H 600 Zweck in V-Kaserne Personen um 12 Uhr antreten. — Diese marschieren um 12. 45 ab.

Wir bitten sie, zwecks Erleichterung der Abfertigung 4 Hundertschafts-oder Zugälteste der Gebäudeältesten H V zur Verfügung zu stellen

Der Gendarmeriekordon in angemessener Entfernung wurde freilich nicht gefilmt. Der Film war Mitte September 1944 fertig, wurde aber, soweit bekannt, propagandistisch nur wenig ausgebeutet, doch teilte Himmlers Adjutant, SS-Standartenführer Rudolf Brandt, dem großen Menschenfreunde und Arzte Himmlers Dr. Felix Kersten am 21. März 1945 mit: „Es gibt über Theresienstadt einen interessanten Film“

Reduzierung des Lagers Als Brandt dies schrieb, gab es allerdings nicht mehr das verschönerte Theresienstadt Kaum vom Sommer 1944. hatte man ausgefilmt, so schien man sich schon mit den Erfolgen seiner Propaganda zufrieden zu geben und reduzierte das Lager in einer Weise, die seiner Liquidation nahekam. War die Judenpolitik und mit ihr die Bestimmung Theresienstadts seit Anfang 1942 in großen Linien festgesetzt, so wich man doch im Laufe des Jahres 1944 vom Gesamtplan ab. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen, einen bis zum in Judenfrage starre auf der Seite der Schluß der

Hitler, ihm entgegen einige Männer aus Himmlers Umgebung, denen sich der Reichsführer gegen Kriegsende immer häufiger zuneigte. Doch hatte dieser Kreis mit gefährlichen Gegenkräften in der SS zu rechnen, zu denen Kaltenbrunner, Müller und Eichmann gehörten. Seit Mai 1944 schien das Leben von Juden nicht mehr unbedingt vernichtungswürdig, aus den Lagern im Osten strömten jüdische Arbeitssklaven in die deutschen Lager, doch erst am 2. November stellte Himmler die Vergasungen in Auschwitz ein, zu spät für die neuen Theresienstädter Opfer. Indessen verfolgte Eichmann bis fast zum Kriegsende seine Deportationspolitik weiter und ließ sich erst sehr spät zu Konzessionen herbei. Warum schaffte man vom 28. September bis zum 28. Oktober 1944 18 402 Menschen aus Theresienstadt nach Auschwitz, von denen kaum 2 000 den Krieg überlebten?

Es ist bis jetzt nicht aufgeklärt, warum das „Musterlager“ so hart getroffen wurde, doch gibt es Indizien, die hier nur angedeutet werden können: Angst vor ehemaligen Offizieren und vor gesunden jungen Männern, die einen Aufstand hätten wagen können, aber auch Angst vor lästigen Zeugen, deren es in Theresienstadt zu viele gab, vielleicht auch — im geringeren Maße — Interesse an Arbeitssklaven für die Rüstungsindustrie. Dazu kommen psychologische Gründe: Die Juden in Theresienstadt hatten ihre Aufgabe erfüllt, man konnte sich der Mehrzahl entledigen, allenfalls genügte der verbleibende Rest, um eine neue Komödie zu inszenieren, wie es schließlich auch geschah. Die Transporte, zunächst aber nur 5 000 jüngere „voll arbeitsfähige“ Männer, wurden von Eppstein am 23. September in einer Rede angekündigt. Die SS hatte ihm gesagt:

Es wird noch einmal betont, daß nur Leute mitgeschickt werden dürfen, die voll arbeitsfähig sind. Es wird in Aussicht gestellt, daß die Post ähnlich wie nach Zossenfein Außenkommando von Theresienstadt] 8-oder 14-tägig zugestellt werden kann; der Bestimmungsort kann jedoch nicht mitgeteilt werden

Die SS ließ durchblicken, daß es sich um einen Ort in Sachsen handle. Es wurde befohlen, daß der Judenälteste-Stellvertreter Zucker und noch ein führender Mann der Leitung mitfahren müssen. Verschont sollten einige Kategorien bleiben, darunter die Dänen, einige holländische Gruppen, Prominente, Schwerkriegsverletzte, einige Arbeitsgruppen und „asoziale Elemente". Geschützt blieben auch, bis zum Ende, alle Gefangenen über 65 Jahre.

Bevor noch der erste Transport fuhr, wurde Eppstein am 27. September unter einem nichtigen Vorwand verhaftet und am gleichen oder nächsten Tage in der „Kleinen Festung" umgebracht. Murmelstein, ein viel klügerer Mann als Eppstein, aber ein genau so gefügiges Werkzeug, wurde sein Nachfolger. Ehe Vernichtung Hintergründe für Eppsteins sind unaufgeklärt, doch spricht vieles dafür, daß er als am besten eingeweihter Mitwisser der SS durch einige Unvorsichtigkeiten das Mißtrauen seiner Gebieter erregt hatte.

Die Technik, mit der diesmal die Behörde die Deportationen durchführte, war sehr raffiniert und so angelegt, nicht nur die Arbeiterschaft zu dezimieren, sondern auch den Verwaltungsapparat des Lagers zu zertrümmern. Als man die Blüte der jungen Männer verschickt hatte, kamen die Frauen und Kinder einschließlich den Waisen, die meisten hohen und höheren Funktionäre, aber auch Kranke mit ihren Ärzten und Pflegern und sogar viele Kriegsverletzte und Ausgezeichnete selbst mit dem EK I an die Reihe. Auch Halbjuden und „Versippte" wurden nicht immer verschont. Nach diesen Transporten glich Theresienstadt einer zerstörten Stadt, das Leben war gelähmt, die Einrichtungen des Lagers zerschlagen. Am 31. Oktober zählte man 11068 Gefangene, darunter 4 064 Greise, 819 Kinder und 4 543 Frauen, nur 1 642 Männer im doch arbeitsfähigen Alter. Dennoch verlangte man von den Gefangenen die gleichen, ja sogar mehr produktive Leistungen als vor der Katastrophe. Die Arbeitszeit wurde auf 70 Wochenstunden ohne freien Tag festgesetzt, doch mußten viele Überstunden eingeschaltet werden. Kinder und Greise wurden noch mehr als früher herangezogen, Frauen mußten die schwersten Männer-arbeiten verrichten, zumal man wieder den alten Fehler beging und mühselig eine überdimensionierte Verwaltung rekonstruierte, die zu viele Männer der produktiven Arbeit entzog. Die Verhältnisse wurden erst wieder erträglicher, wenn auch kaum besser, als im Winter rund 8 000 Personen eintrafen, vor allem ihren christlichen Ehepartnern entrissene Juden, unter denen viele im besten Alter waren. Freilich hat sich dieser Zuwachs selbst den zur Erhaltung des Lagers nötigen Arbeiten wo nur möglich entzogen. So nahe vor dem Kriegsende ist das psychologisch verständlich, das RSHA scheint jedoch bis Mitte April 1945 keine anderen Sorgen gekannt zu haben, als in noch unbesetzten Orten Deutschlands schnell ein paar Juden aufzustöbern und zu verschicken.

Rettungsversuche des Auslandes Die letzten Monate stehen im Zeichen der Ratlosigkeit der Behörden. Einmal möchte man die Vernichtung vollenden, dann will man die Vergangenheit auslöschen, die Spuren begangener Verbrechen tilgen, schließlich wünscht man nochmals die Judenpolitik Hitlerdeutschlands als harmlos erscheinen zu lassen. Die erregende Geschichte Theresienstadts in dieser Zeit steht unter dem Einfluß dieser widerspruchsvollen Tendenzen. Die in Papierbeuteln aufbewahrte Asche der Toten wurde fortgeschafft und vernichtet. Alle Papiere der Selbstverwaltung bis zum 1. Januar 1945, besonders alles im Zusammenhang mit Deportationen, wurden gleichfalls vernichtet, schließlich auch die Archive der Kommandantur und der „Berliner Dienststelle“. Andererseits begann Himmler mehr auf ausländische Interventionen zu hören, die vielen der noch lebenden rund 700 000 Häftlinge in Lagern, darunter etwa 200 000 Juden, nützen sollten. Kersten mahnte Himmler brieflich am 21. Dezember 1944:

Zum Schluß möchte ich Sie, sehr geehrter Herr Reichsführer, noch an unsere Gespräche über die Juden erinnern. Ich bat Sie, 20 000 Juden aus Theresienstadt für die Schweiz freizugeben. Sie aber sagten mir leider, daß Sie das unter keinen Umständen tun könnten, wohl aber wären, als bereit erstes 2-3000 Juden zu einem Abtransport nach der Schweiz freizulassen. Falls die Weltpresse es nicht als eine Schwäche von Deutschland auslegen würde, würden Sie darüber weiter in wohlwollendem Sinne mit mir verhandeln 1 200 sorgfältig ausgesuchte Gefangene wurden am 5. Februar 1945 aus Theresienstadt nach der Schweiz geschafft. Während aber Himmler sich solchen Rettungsaktionen nicht ganz versagte, ließ man die Gefangenen im gleichen Februar in aller Eile in den Festungswerken Anlagen bauen, deren Bestimmung als Gaskammern und Massenhinrichtungsstätte erkenntlich war. Rahm erklärte den Zweck der Bauten als bombensichere Lebensmittellager und Geflügelfarm. Eichmann änderte Anfang März die Pläne wirklich in diesem Sinne um und meinte: „Theresienstadt, so wie es ist, muß jedem gefallen.“ Das scheint er aber doch selbst bezweifelt zu haben, denn nun befahl er eine neue „Verschönerung“, und Gestapochef Müller gab es am 29. März dem IRK schriftlich, daß Theresienstadt in den nächsten Tagen gezeigt werden könne, „um der Lügenpropaganda des Feindes ein Ende zu machen“.

Das IRK greift ein Wieder wurde, wenn auch nicht so weitgehend wie im Vorjahr, am Lager März dem IRK schriftlich, daß Theresienstadt in den nächsten Tagen gezeigt werden könne, „um der Lügenpropaganda des Feindes ein Ende zu machen“.

Das IRK greift ein Wieder wurde, wenn auch nicht so weitgehend wie im Vorjahr, am Lager herumgebessert und viele Veranstaltungen einstudiert, die am 6. April nicht ganz den Eindruck auf den Schweizer Delegierten Dunant vom IRK verfehlten, doch interessierte er sich zum Glück für wesentlichere Dinge. Diesmal überließ man es keinem Juden, dem Gast Auskünfte zu erteilen. Alles wurde von Dr. Weinmann, dem Befehlshaber Sipo und SD im „Protektorat“, der schon die Kommission im Vorjahr begleitet hatte, besorgt. Auf Dunants Fragen nach Eppstein und ob es sich bei Theresienstadt nur um ein „Durchgangslager“ gehandelt habe, log ihm Weinmann vor, daß von hier insgesamt 18 000 Menschen verschickt worden seien. Weinmann behauptete. daß die letzten Transporte nadt Aussdiwitz vor rund sedts Monaten stattgefunden hätten. Es habe sidt um 10 000 Juden gehandelt, die verwendet wurden, um das Lager Ausdiwitz zu vergrößern. Sie wurden zum größeren Teil in der Lagerverwaltung angestellt. Einige Tausend mußten für Schanzarbeiten herangezogen werden 28).

Nach dem Besuch ließ sich Dunant von Eichmann und Weinmann versprechen, daß niemand mehr aus Theresienstadt deportiert werden würde. Eichmann belehrte Dunant:

Nach seiner Meinung waren die Juden von Theresienstadt in Ernährung und medizinischer Versorgung viel besser daran als viele Deutsche. Er sagte, daß Theresienstadt eine Gründung des Reichs-führers SS Himmler gewesen sei, der den Juden die Möglichkeit geben wollte, im Ghetto dieses Lagers unter jüdischer Leitung und im Genusse einer fast vollständigen Autonomie ein Gemeinschaftsleben zu organisieren; man wollte den Sinn einer rassischen Gemeinschaft erwecken 28).

Eichmann oder zumindest Günther und Rahm waren jedoch nicht gesonnen, das Dunant gegebene Versprechen zu halten. Am 19. April, vier Tage nachdem man, im Rahmen einer Rettungsaktion für Skandinavier in allen Konzentrationslagern, die dänischen Juden aus Theresienstadt mit dem schwedischen RK hatte abreisen lassen, wurde ein „zweiter Transport in die Schweiz“ angekündigt, mit dem die angesehensten Persönlichkeiten des Lagers verschleppt werden sollten. Bald darauf sollte auch der Abgang einer „Barackenbaugruppe“ erzwungen werden. Schließlich wollte die SS im Rückzugsfall noch Ende April 1 800 Gefangene in ein anderes Lager mitnehmen. Knapp vor dem 1. Mai wurden von Eichmann bei seinem letzten Lagerbesuch alle diese Befehle und Pläne widerrufen. Inzwischen war Dunant am 21. April wieder zu Besuch gekommen und verkündete dem versammelten Ältestenrat seinen Schutz:

Diese Erklärung besagt, daß das jüdische Siedlungsgebiet Theresienstadt weiterhin der Unterstützung durch das Internationale Rote Kreuz in jeder Hinsicht gewiß bleiben darf. Herr Dunant ist mit der ständigen und unmittelbaren Bearbeitung sämtlicher mit der Hilfe-leistung für Theresienstadt zusamenhängenden Fragen betraut 29).

Die Befreiung Dunant hatte bei Staatsminister K. H. Frank in Prag auch erwirkt, daß die damals wochenlang herumirrenden Evakuationstransporte aus Konzentrationslagern, falls sie ins „Protektorat“ oder in seine Nähe kämen, nach Theresienstadt gebracht werden sollten. Sie trafen seit Dunants Besuch bis über die Befreiung hinaus in großer Anzahl und im allerkläglichsten Zustand ein. Das Lager war für diesen erbarmungswürdigen Zuwachs nicht vorbereitet. Die Ankömmlinge, für die man weder ausreichende Nahrung noch geeignete Unterkünfte hatte, schleppten Flecktyphus ein, an dem bis Ende Juni 2 190 Personen erkrankten und 502 starben. Auch unter den alten Lagerinsassen forderte die Krankheit Opfer. Unter den Neulingen gab es manche, die früher — meist im Herbst 1944 — aus Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden. waren. Jetzt waren sie so entstellt, daß Mütter ihre Söhne nicht erkannten.

Am 2. Mai übernahm Dunant von den Kommandanten des „Ghettos“ und der „Kleinen Festung“ den Schutz beider Lager und behielt ihn bis zum 10. Mai, als die Leitung an einen russischen Kommandanten überging. Die SS, Rahm zuletzt, verließ Theresienstadt am 5. Mai. Der Juden-älteste Murmelstein trat zurück und die interne Leitung ging an den bisherigen Ältestenrat mit dem ehrwürdigen Dr. Leo Baeck an der Spitze über, wurde aber bald nach der Befreiung von einem tschechischen Juden, Ing. Georg Vogel, übernommen, der Insasse des Lagers seit seiner Gründung war und nun die Liquidation durchführte. Am 6. und 7. Mai kam es bei Theresienstadt zu Kämpfen, von denen das Lager zum Glück fast verschont blieb. In den Abendstunden des 7. Mai 1945 trafen die ersten russischen Panzerwagen ein, die Stunde der Befreiung hatte geschlagen.

Die Heimführung der Befreiten, unter denen es viele Kranke und Greise gab, zog sich auch aus technischen Gründen lange hin. Wegen des Flecktyphus, der sich schon in umliegenden Dörfern verbreitete, mußten die Russen eine strenge Quarantäne über Theresienstadt verhängen, die erst am 28. Mai gelockert werden konnte. Die letzten ehemaligen Gefangenen wurden am 17. August repatriiert. Rund 15 5 OOO Juden haben in Theresienstadt vom 24. November 1941 bis über die Befreiung hinaus gelebt und geduldet in einer Zwangsgemeinschaft von einer Art, wie sie ähnlich zu ertragen Menschen noch nie geboten war. Wohl ist es wegen der besonderen Rolle, die diesem Lager zugedacht war, zur endlichen Errettung von manchen gekommen, die sonst gewiß namenlos im Elend der Vernichtungslager im Osten zugrundegegangen wären, aber der Preis für diesen Gewinn war teuer bezahlt. In einem Gespräch mit dem SS-Offizier Dr. Hoettl hatte sich Eichmann Ende August 1944 gebrüstet, daß vier Millionen Juden in Vernichtungslagern, zwei Millionen Juden anders umgebracht wurden Mag auch diese Zahl ein wenig zu hoch gegriffen gewesen sein, die Wahrheit blieb nur wenig hinter ihr zurück. Demgegenüber stehen kaum 200 000 aus Konzentrationslagern gegen Kriegsende errettete Juden, von denen es nur wenig über 17 000 beschieden war, nie in einem ärgeren Lager als im argen Theresienstadt zu schmachten, um die wahren Ziele des RSHA und des inneren Führungskreises der NSDAP solange verdecken zu helfen, bis man, im Falle des Sieges, auch dieser Eidhelfer für ein Alibi sich schnell entledigt hätte.

Anmerkung:

H. G. Adler, Dr. phil., geb. 1910 in Prag, während des Krieges in fünf Lagern interniert (1941/45, Theresienstadt 32 Monate, Auschwitz usw.), seit Anfang 1944 in London als freier Schriftsteller tätig, befaßt sich seit dem Kriege mit der historischen und soziologischen Erforschung der jüdischen Minderheiten in den Ländern, die während des Krieges in Hitlers Gewalt gerieten, namentlich aber mit Theresienstadt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wahl K.: . .. . es ist das deutsche Herz". Augsburg 1954. S. 178 f.

  2. Streicher im Leitartikel seines „Stürmer“, 193 5, Nr. 25.

  3. Das Motto von Streichers „Stürmer".

  4. Trial of the Major War Criminals. Nürnberg 1946/49. Bd. XXVI, S; 266 f, Dokument 710—PS.

  5. Das „Wannsee-Protokoll" zur Endlösung der Judenfrage. Düsseldorf 1952.

  6. Kermisz J.: Akcje i wysiedlienia. Warschau 1946. S. 32 f.

  7. Naar Theresienstadt in „Nederland in Orloogstijd . Amsterdam 25. 1. 1947.

  8. Dokument 3366—PS vom Nürnberger Hauptprozeß.

  9. Masur N.: En Jude talar med Himmler. Stockholm 1945.

  10. Verordnungsblatt des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren. Prag 28. 2. 1942.

  11. Zucker O.: Geschichte des Ghettos Theresienstadt zum 31. 12. 1943. Diese von der SS bei der Selbstverwaltung des Lagers bestellte Geschichte wurde Anfang 1944 fertiggestellt und blieb unveröffentlicht.

  12. Zucker a. a. O.

  13. Weiss G. (Hsg.): Einige Dokumente zur Rechtsstellung der Juden und zur Entziehung ihres Vermögens. Schriftenreihe zum Berliner Rückerstattungsrecht. VII. Ohne Angaben. S. 93 ff.

  14. Kläber J.: Ein Jahr Theresienstadt. Manuskript einer 1942 im Lager gehaltenen Ansprache.

  15. Zucker a. a. O.

  16. Zucker a. a. O.

  17. Verfügungen, Anordnungen, Bekanntgaben. Herausgegeben von der Partei-Kanzlei. Bd. II. München o. J. (1943). S. 131 f.

  18. The Prisen Fortress of Terezin.

  19. Fischer A. J.: Theresienstadt. A German Alibi? In „Free Europe , London 18. 6. 1943.

  20. Interner Rundbrief.

  21. „Rundschreiben der Gebäudeleitung“ vom 18. 3. 1944, für die leitenden jüdischen Funktionäre der Quartiere bestimmt.

  22. Durchschlag des Briefes im Besitz des Internationalen Suchdienstes. Arolsen.

  23. Hvass F.: Besgg i Theresienstadt den 23. Juni 1943. Unveröffentlichter Bericht.

  24. Wielek H.: De erloog die Hitler won. Amsterdam 1947. S. 404.

  25. Kersten F.: Totenkopf und Treue. Hamburg o. J. (1952). S. 307.

  26. „Aktenvermerk“, zitiert von Murmelstein B.: Geschichtlicher Überblick. Knapp nach Kriegsende in Theresienstadt geschrieben, unveröffentlicht.

  27. Kersten a. a. O. S. 277 ff.

  28. „Mitteilungen der Selbstverwaltung“ vom 22. 4. 1945.

  29. Trial usw. a. a. O. Bd. XXXI. S. 85 ff, Dokument 2378-PS.

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