Mit Genehmigung des Verlages KARL ALBER, Freiburg—München, veröffentlichen wir aus der Zeitschrift SAECULUM Bd. 5, Jahrgang 1954, Heft 4, den folgenden Artikel von Wolfgang Franke:
Seit dem Beginn der kommunistischen Herrschaft im Jahre 1949 zeigt das offizielle China eine außerordentlich fremdenfeindliche Haltung. Ausländer werden, oft ohne ersichtlichen Anlaß, schikaniert oder gar mißhandelt; die meisten werden ausgewiesen, häufig unter Konfiszierung ihres gesamten Besitzes. Die Verhältnisse in anderen kommunistisch beherrschten Ländern können diese Erscheinung nur zum Teil erklären. Es ist bemerkenswert, daß diese Diskriminierung in erster Linie die Angehörigen der abendländischen Nationen trifft und nur in geringerem Grade oder auch gar nicht die der asiatischen Völker. Dank der internationalen Konstellation sehen sich die Chinesen heute in der Lage, für die seit rund hundert Jahren vom Abendlande erlittenen Demütigungen Rache zu üben und die seit dieser Zeit aufgelaufene Rechnung mit den westlichen Mächten zu begleichen.
Grundlage der chinesisch-abendländischen Beziehungen während der letzten hundert Jahre waren die sogenannten „ungleichen Verträge"
1. Die ungleichen Verträge
Die Beziehungen zwischen den westlichen Mächten und China standen von Anfang an unter einem unglücklichen Vorzeichen. Unkenntnis der geistigen und kulturellen Voraussetzungen des anderen und infolgedessen gegenseitige Verständnislosigkeit waren charakteristische Merkmale dieser Beziehungen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie sie es noch weithin heute sind, und haben dabei ihre verhängnisvolle Rolle gespielt. Die westlichen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts trafen in ihrem machtvollen Ausdehnungsdrang auf den chinesischen Universalstaat. China, das Reich der Mitte, sah sich als das Zentrum der Welt, als der Mittelpunkt aller Kultur und Zivilisation; ja es war schlechthin d i e Welt. Diese bereits in ältester Zeit aus naiver Naturbetrachtung entstandene Auffassung konnte sich auf Grund von Chinas geopolitischer Lage folgerichtig weiterentwikkein. Da die an China angrenzenden Gebirgsund Steppenvölker kulturell weit hinter dem Reich der Mitte zurückstanden, ist die Entwicklung dieses universalistischen Gedankens erklärlich. Die Berührung mit den großen zentral-und westasiatischen Kulturvölkern hat zwar die chinesische Kultur aufs stärkste beeinflußt, aber das universalistische Weltbild hat sie nicht zu ändern vermocht. Wiederholt sind im Laufe der Geschichte einzelne Teile oder sogar das gesamte Reich von den Mongolen und anderen Steppen-völkern überrannt und zeitweilig beherrscht worden, aber geistig wurden diese alle schließlich von China überwunden und völkisch zum goßen Teile absorbiert. So schien eine zwei-tausendjährige historische Entwicklung das universalistische Weltbild Chinas bestätigt zu haben. AIs dann im 19. Jahrhundert China mit den Staaten des Abendlandes in Berührung kam, meinte man anfangs, es handele sich — wie schon so oft in der Vergangenheit — wieder um eine neue species halbzivilisierter Barbaren von roher Naturkraft, die Reichtum und Wohlstand des Mittelreiches anlockten. Daß China von solchen Barbaren vorübergehend in militärische Bedrängnis gesetzt wurde, war nichts Neues. Das Ergebnis war aber stets gewesen, daß die gleichen Barbaren allmählich der kulturellen Überlegenheit des Chinesentums Rechnung tragen mußten und sich schließlich willig in den chinesischen Universalismus einfügten. Der chinesischen Staatsauffassung entsprechend war es unmöglich, daß ein fremder Staat gleichberechtigt mit China, ein fremder Souverän dem chinesischen Kaiser, dem Sohn des Himmels, ebenbürtig sein Staaten hingegen sahen sollte. Die europäischen in dem chinesischen Anspruch auf Weltherrschaft eine untragbare Anmaßung, einen politischen Größenwahn, gegen den nur die Macht der Waffen helfen könnte. Ausdehnungsbedürf-nis des Handels und nationale Ehre erforderten das gewaltsame Durchsetzen des Anspruches auf Gleichberechtigung innerhalb eines nach abendländischen Grundsätzen geprägten Völkerrechts. Die Chinesen hielten an ihrer traditionellen Auffassung fest, nach der man Fremden unter von China festgesetzen Bedingungen erlauben konnte, an bestimmten Plätzen in beschränktem Ausmaße Handel zu treiben. Die Anerkennung eines Rechtes der Fremden hierzu oder gar die Gleichberechtigung war mit chinesischem Denken unvereinbar
Der erste entscheidende bewaffnete chinesisch-westliche Konflikt war der sogenannte OpiumKrieg zwischen England und China, 1840— 1842, wobei die Überlegenheit der westlichen Bewaffnung und Kampfesweise klar zutage trat. Der den Krieg beschließende Friede von Nanking war dann auch der erste, grundlegende der „ungleichen Verträge" und leitete die in den nächsten Jahrzehnten folgenden, immer schmähliche-ren Demütigungen Chinas ein 5a). Dem englisehen Vertrag schlossen sich in den folgenden Jahren Verträge mit den LISA, Frankreich, Belgien, Schweden, Norwegen und Portugal, später auch mit Rußland und Preußen an. Von chinesischer Seite zeigte man sich sehr lau in der Erfüllung der unter Zwang gemachten Zugeständnisse und hoffte nach wie vor, sich eines Tages der Fremden entledigen zu können. Die zusehends offenkundiger zutage tretende militärische Schwäche Chinas gegenüber den westlichen Mächten reizte diese zu immer aggressiverem Vorgehen Weitere Zusammenstöße blieben nicht aus. England und Frankreich benutzten — vielleicht absichtlich provozierte — wenig bedeutende Zwischenfälle zu neuen militärischen Interventionen, um weitere Vorteile und Gewinne zu erlangen. Im Vertrag von Tientsin 18 5 8 mußte auf Grund einer militärischen Expedition Englands und Frankreichs China neue Zugeständnisse machen.
Zwei Jahre später drangen englisch-französische Truppen bis nach Peking vor. Die Plünderung und totale Zerstörung des großen kaiserlichen Palastes außerhalb Pekings (Yüan-mingyüan)
zählt zu ihren besonderen Ruhmestaten. Hatten bis in die sechziger Jahre hinein die Ziele der fremden Mächte vorwiegend in einer gewinnbringenden Ausdehnung ihres Handels bestanden, so strebten diese in der Folgezeit nach machtpolitischen Stützpunkten und unerschlossenen Gebieten zur wirtschaftlichen Ausbeutung; sie wollten ihr Kolonialreich erweitern.
Zu den westlichen Großmächten gesellte sich das politisch und wirtschaftlich schnell erstarkte Japan. In den siebziger Jahren besetzten die Rus-sen das Ili-Gebiet, 1880 die Japaner die Liukiu-Inseln; 188 5 erzwang Frankreich die Abtretung von Annam, 18 86 England die von Burma. Die Folge eines verlorenen Krieges Chinas gegen Japan 1894/95 war die Abtretung von Formosa und den Pescadores-Inseln an Japan sowie die UInabhängigkeitserklärung Koreas, der schrittweise schließlich die Annexion durch Japan folgte. 1897 besetzte Deutschland unter einem nichtigen Vorwand Tsingtao und die Kiaochou-Bucht, im folgenden Jahr Rußland Port Arthur und Dairen, Frankreich Kuangchouwan und England Weihaiwei. Die Erlangung weitgehender wirtschaftlicher Konzessionen für Bergbau, Eisenbahnbau . usw. in allen Teilen Chinas war vorangegangen, und einzelne Mächte hatten sich überdies vertragliche Versicherungen über „die Nichtabtretung an andere Mächte" hinsichtlich großer Gebiete Chinas geben lassen, was soviel besagte, daß dieses Gebiet ausschließliche Einflußsphäre der betreffenden Macht sein sollte und für eine eventuelle spätere Annexion als Kolonie ins Auge genommen war. So schien China zu Ende des 19. Jahrhunderts einer Aufteilung durch die fremden Mächte nach dem Vorbild Afrikas nahe zu sein, die lediglich Neid und Mißgunst der Mächte untereinander verhinderten. Der sogenannte Boxeraufstand im Jahre 1900 war der letzte Versuch des alten China, die fremden Eindringlinge gewaltsam zurückzuweisen. Er mußte mit neuen Demütigungen bezahlt werden. Infolge der ungeheuren Erschütterung des chinesischen Staatswesens durch die Einbuße an Autorität gegenüber den fremden Mächten sowie auch infolge der beginnenden wirtschaftlich-sozialen Umwälzungen und durch den Einfluß neuer, aus dem Westen importierter Ideen schwoll seit Beginn des 20. Jahrhunderts die revolutionäre Bewegung immer mächtiger an und begrub in der Revolution von 1911 den traditionellen konfuzianischen Staat unter sich. Der erste Weltkrieg setzte dem weiteren aktiven Vorgehen China sie der Mächte in ein Ende; mühten sich — zunächst noch mit Erfolg —, das Erworbene zu halten und China die faktische Gleichberechtigung zu versagen. Erst der zweite Weltkrieg und seine Folgen setzten der bevorrechtigten Stellung der abendländischen Mächte in China endgültig ein Ende.
Es sind im wesentlichen vier Punkte in den „ungleichen Verträgen“, die Chinas Souveränität am stärksten einschränkten:
1. Die Exterritorialität der Fremden in China verbunden mit der Konsulargerichtsbarkeit. Auf Grund der westlichen Auffassung von der Territorialität des Rechts zögerten die Engländer nach dem Opium-Kriege zunächst, eine solche, nach westlichen Begriffen äußerst schwerwiegende Forderung an China zu stellen. Sie wurde aber von China ohne Bedenken gewährt. Dort überwog die Auffassung von der Personalität des Rechts, und man hatte bereits tausend Jahre früher in China Handel treibenden „Barbaren"
ohne weiteres zugestanden, ihre Rechtsfälle selbst nach ihrem eigenen Recht zu entscheiden
2. Beschränkung der Zollhoheit. Die Ein-und Ausfuhrzölle waren seit 18 58 einheitlich auf einen bestimmten Prozentsatz für alle Waren festgelegt. Die Verwaltung des Scezolls lag seit 18 54 in fremden Händen. Ferner durften für einmal verzollte fremde Waren — im Gegensatz zu den einheimischen — keine weiteren Abgaben im Inland erhoben werden. Diese Bestimmung bedeutete eine weitgehende wirtschaftliche Knebelung Chinas und verhinderte den anfangs nur mit gewissen Schutzzöllen möglichen Aufbau einer einheimischen Industrie
3. Fremde Niederlassungen und Pachtgebiete. Die fremden Niederlassungen in zahlreichen Hafenstädten standen — wenn auch de iure chinesisches Gebiet — unter rein fremder Verwaltung und fremder Polizeigewalt
3. Fremde Niederlassungen und Pachtgebiete. Die fremden Niederlassungen in zahlreichen Hafenstädten standen — wenn auch de iure chinesisches Gebiet — unter rein fremder Verwaltung und fremder Polizeigewalt 8). Außerdem waren die Mächte berechtigt, dort wie zum Schutz ihrer Gesandtschaften in Peking Truppen zu stationieren. Die Pachtgebiete waren von China an die Fremden meist auf 99 Jahre abgetreten. 4. Die Freiheit der fremden Schiffahrt in den chinesischen Binnen-und Hoheitsgewässern.
Hinzu kam die berüchtigte, in die meisten Verträge aufgenommene sogenannte Meistbegünstigungsklausel. Sie besagte, daß alle Rechte, die China jemals anderen Nationen gewähren würde, automatisch auch dem Vertragspartner zuteil werden sollten.
2 Die christlichen Missionen in China
Eine besondere Bedeutung kommt der soge-nannten „kulturellen Invasion“ des Abendlandes in China zu, deren Exponent in erster Linie die christlichen Missionare waren. Römisch-katholische Missionare waren bereits Ende des 13. Jahrhunderts nach China gekommen 9) und dann in größerer Anzahl wieder seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert 10). Es handelte sich hier jedoch stets um Einzelpersönlichkeiten, hinter denen keine reale politische Macht stand. Der Erfolg ihrer Tätigkeit hing lediglich von ihrer persönlichen Fähigkeit ab. Solange sie nicht mit der traditionellen chinesischen Staats-auffassung und Morallehre in Konflikt kamen, wurden sie von den religiös meist toleranten Herrschern im Lande geduldet. Wahrten sie jedoch nicht diese Grenzen, hatten sie sich die chinesische Gastfreundschaft bald verscherzt 11).
Der Vertrag von Nanking sah noch keinerlei Bestimmungen über Missionare und ihre Tätigkeit vor. Aber bereits 1844 und 1846 erwirkten die Franzosen eine kaiserliche Verordnung zur Duldung der christlichen Religion in ganz China 12);
allerdings war auch hier den Ausländern noch ausdrücklich das Betreten des Gebietes außerhalb der Vertragshäfen zu Missionszwecken verboten 13). Mit diesem ersten offiziellen Eingreifen begann Frankreich seine Rolle als die erste Schutzmacht der christlichen, insbesondere der römisch-katholischen Mission auch in China zu spielen 14). Oft hat es in der Folgezeit mit allen staatlichen Machtmitteln den Schutz der christlichen Religion und der Missionare bewirkt und ist dabei auch vor bewaffneten Interventionen nicht zurückgeschreckt. Andere Regierungen folgten zuweilen dem Beispiel Frankreichs. Ohne sich wohl dessen bewußt zu sein, haben die Mächte durch diese Verquickung von Staatsmacht und Religion dem Christentum in China einen schlechten Dienst erwiesen. Die unvermeidliche Folge war, daß die Chinesen das C h r i stentum nicht in erster Linie als eine religiöse Lehre werteten, sondern als ein den politischen Interessen der abendländischen Mächte dienendes Werkzeug. Entgegen den Bestimmungen der kaiserlichen Verordnungen von 1844 und 1846 drangen nicht wenige fremde Missionare ins Innere des Landes vor. 18 56 wurde dabei in dem durch den Taiping-Aufstand sehr unruhigen Gebiet der Provinz Kuangsi ein französischer Pater von der chinesischen Lokal-behörde ergriffen und getötet 15). Dieser Vorfall bildete einen der Anlässe zu der erwähnten militärischen Intervention Englands und Frankreichs, deren Ergebnis der Vertrag von Tientsin war 16). Der englische, französische, amerikanische und russische Vertrag enthielten sämtlich Bestimmungen, die die ungehinderte Ausübung und Verbreitung der christlichen Lehre in ganz China ausdrücklich erlaubten 17). Dabei erwies es sich als besonders folgenschwer, daß nicht nur die ausländischen Missionare, sondern auch die unbehinderte Ausübung der Religion durch einheimische Christen unter den Schutz der Verträge gestellt wurde, für deren Befolgung die fremden Mächte Sorge trugen. Dies war ein schwerer Eingriff in die chinesische Souveränität und führte dazu, daß für irgendein Vergehen in einen Prozeß verwickelte chinesische Christen sich häufig auf Verfolgung wegen ihrer christlichen Religion beriefen und sich an die betreffenden Missionare um Hilfe wandten. Diese zeigten sich meist nur allzu bereitwillig, Gesandtschaft oder Konsulat ihres Landes zum Eingreifen zugunsten des betreffenden Chinesen auf Grund der Verträge von 18 5 8 zu ersuchen.
Oft kam es soweit, daß Chinesen, die sich strafbar gemacht hatten, formal Christen wurden, um sich unter den Schutz der Fremden stellen zu können. Dieser Mißbrauch der christlichen Lehre verschaffte den Missionaren zwar vielfach eine außerordentlich einflußreiche Stel-lung in ihrer Residenz 18); er war aber auch Anlaß zu Haß und Verachtung für die christliche Lehre und ihre Vertreter, die sich in China immer mehr ausbreiteten, und führte zu vielen blutigen Ausschreitungen gegen sie
Bei der Pekinger Konvention von 1860 wurde nachträglich in den französischen Vertrag eine Klausel eingeschmuggelt, die den französischen katholischen Missionaren das Recht zuerkannte, „in allen Provinzen Land zu pachten und zu kaufen, um beliebig Gebäude darauf zu errichten“. Diese Klausel hatte zahlreiche Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Mission und den ihre Interessen wahrnehmenden amtlichen französischen Vertretungen einerseits und den chinesischen Behörden andererseits zur Folge, wobei schließlich die Chinesen dem Druck der Macht weichen mußten
Waren schon die durch die „ungleichen Verträge" erworbenen Vorrechte der ausländischen Missionare eine starke Belastung für das Ansehen der christlichen Lehre in China, so wurde diese noch wesentlich verstärkt durch das ungeschickte Verhalten eines großen Teiles der katholischen wie protestantischen Missionare, von einer geringen Zahl rühmlicher Ausnahmen abgesehen. Im Gegensatz zu den Jesuiten-Missionaren des 17. und 18. Jahrhunderts, die tiefes Verständnis auf aufrichtige Hochachtung zeigten für die der abendländischen in vielem überlegene chinesische Kultur
Mit dem immer aktiver werdenden Vorgehen der Mächte in den neunziger Jahren ging ein verstärktes Vordringen der Missionen Hand in Hand. Die überwiegend aus Deutschen bestehende katholische Mission in der Provinz Shantung hatte sich von der traditionellen französischen Protektion der katholischen Mission gelöst und unterstellte sich 1890 dem Schutz des Deutschen Reiches, das die Ausbreitung der Mission energisch förderte. Die Ermordung zweier deutscher Missionare in Shantung im Jahre 1897 gab der deutschen Regierung den äußerst willkommenen, lag gesuchten Anlaß zur Besetzung des Kiaochou-Gebietes
Er wäre durchaus denkbar, daß das Christentum in China ein wesentlich anderes Schicksal gehabt hätte, wenn die Trennung von der Politik fünfzig Jahre früher erfolgt wäre
3. Die psychologische Wirkung der Sonderstellung des Abendländers in China auf die Chinesen
Von gar nicht zu überschätzender Bedeutung für die heutige Haltung der Chinesen zum Abendländer ist die psychologische Wirkung der bevorrechtigten Stellung der meisten Fremden gegenüber den Einheimischen nach Art des Verhältnisses vom Kolonialherrn zum Eingeborenen. Trotzdem China niemals als Kolonie unter der direkten Herrschaft eines westlichen Staates stand, war es doch nach Sun Yat-sen’s nicht ganz ungerechtfertigter Ausdrucksweise eine „Hypokolonie", eine Kolonie aller, in der sämtliche abendländische Nationen miteinander sich als Kolonialmacht fühlten und durch die „ungleichen Verträge“ eine bevorrechtigte Sonderstellung für ihre Staatsangehörigen gesichert hatten
Seit Beginn des gewaltsamen Eindringens des Westens in China um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben die Fremden, insbesondere die Missionare, durch die Verbreitung abendländischer Ideen und Lebensformen bewußt oder unbewußt traditionelle Religion und Sitte sowie die lang überlieferte soziale Struktur Chinas zu zersetzen begonnen. Wenn dies auch ein unvermeidlicher Vorgang war, so ist doch leicht zu ermessen, welche bitteren Empfindungen diese Zersetzung bei den kultur-und traditionsbewußten chinesischen Schichten gegen ihre Urheber hervorrufen mußte. Diese Empfindungen sind bis zum heutigen Tage geblieben, trotzdem diese gleichen Schichten inzwischen längst selbst die LInhaltbarkeit der traditionellen sozialen Ordnung erkannt haben und sie zu überwinden trachten. Wie der einzelne kaum Dankbarkeit empfinden wird gegen den, der ihm seinen Glauben und seine Ideale zerstört hat, sondern eher Zorn und Haß, so auch ein ganzes Volk. Nur selten haben in den letzten hundert Jahren sich Abendländer ganz in die traditionellen chinesischen Lebensformen eingefügt
Seit dem Beginn unseres Jahrhunderts verlegten zunächst die protestantischen, später auch die katholischen Missionen ihre Aktivität immer mehr auf die Errichtung und Unterhaltung von Schulen (Kindergärten, Grund-, Mittel-und Hochschulen) sowie von Krankenhäusern. Das anfangs gelegentlich angewandte Prinzip, das christliche Bekenntnis als Voraussetzung für die Zulassung zu der betreffenden Schule zu verlangen, wurde bald aufgegeben, und die Missionsschulen wurden zu einem hervorragenden Faktor in der Vermittlung westlichen Gedankengutes und westlicher Lebensformen, zum Schwerpunkt der sogenannten „kulturellen Invasion“, wie es in der chinesisch-kommunistischen Terminologie heißt
Sobald die Kuomintang-Regierung zu Ende der zwanziger Jahre zur Macht gekommen war, hat sie allem Widerstreben der fremden Missionare und allen Protesten fremder Regierungen zum Trotz mit Nachdruck auf der Forderung der chinesischen Erziehungshoheit bestanden: Die Missionsschulen mußten sich der chinesischen Unterrichtsverwaltung unterstellen, sich nach den von dieser festgesetzten Lehrplänen richten, auf obligatorischen christlichen Religionsunterricht für alle Schüler verzichten, einen Chinesen als verantwortlichen Schulleiter bestellen usw. Freilich blieben auch dann noch weitgehende fremde Einflüsse im chinesischen Erziehungswesen bestehen. Der chinesische Schulleiter war oft nur eine Marionette; denn über das Geld hatten die Ausländer zu verfügen. Die ausländischen Unterrichtsanstalten waren zum großen Teil finanziell besser gestellt und ausgerüstet als die rein chinesischen, oft auch besser organisiert und eine . bessere Ausbildung vermittelnd. In den dreißiger Jahren haben manche Missionsuniversitäten nicht nur in Medizin, Naturwissenschaften und westlichen Sprachen, sondern gerade auch auf dem Gebiet der chinesischen Studien eine führende Stellung erworben. Trotzdem ist es fraglich, insbesondere auf Grund der Ereignisse nach 1948, ob ihre Wirkung nicht letzten Endes mehr negativ als positiv zu werten ist. Dadurch, daß in China Mittel-und Hochschulen zum größten Teil mit Internat verbunden sind, wirken sie in besonderem Maße charakterbildend, und manchem chinesischen Akademiker merkt man leicht an, von welcher Hochschule er kommt. Den Missionsschulen ist es dabei nur selten gelungen, einen freien, großzügigen und überzeugungsstarken Menschentyp hervorzubringen. Die in den Missionsschulen herrschende Atmosphäre der Überlegenheit des Ausländers nicht nur als des geldgebenden und damit in allen schulpolitischen Fragen letzten Endes entscheidenden Faktors, sondern auch in seiner Lebensweise lastete — selten bewußt und meist unbewußt — als ein schwerer Druck auf dem in der Entwicklung begriffenen Chinesen, der so sich selbst als eine im Grunde zweitklassige Persönlichkeit empfinden mußte.
An manchen Missionsuniversitäten erhielt auch noch nach dem zweiten Weltkrieg der als Hochschullehrer wirkende Missionar mehr als das zwanzigfache Gehalt seines chinesischen Kollegen, der vieleicht selbst im Auslande eine weit bessere Vorbildung und Qualifikation erhalten hatte als der betreffende Ausländer. Sogar eine ausländische Sekretärin im LIniversitätsbetriebe erhielt zuweilen etwa das zehnfache Gehalt eines chinesischen Professors. In manchen Universitäten wohnten die Ausländer in schönen, großen Häusern mit zahlreichem Dienstpersonal, die chinesischen Dozenten großenteils in kleinen, manchmal armseligen Hütten im gleichen Compound. Es soll nicht geleugnet werden, daß manche der ausländischen Missionare viel Geld für wohltätige Zwecke ausgaben und mancher ein gastfreies Haus nicht nur für die Christen seiner Mission hatte. Aber das konnte den grundsätzlichen Unterschied in der Stellung von Missionaren und Einheimischen nicht verwischen; und er rief entweder — wenn auch oft unausgesprochen — Neid und Mißgunst hervor oder ein starkes Inferioritätsgefühl, das vielfach in Unselbständigkeit und sklavischer Abhängigkeit vom Ausländer seinen Ausdruck fand. So wird erzählt, daß ein kleiner Junge aus den ärmsten Verhältnissen, der einst half, beim ausländischen Missionar die Fußböden aufzuwischen, von diesem christlich getauft und auf Kosten der Mission in die Missionsschule geschickt wurde. Da er nicht unbegabt war und regelmäßig zur Kirche ging, wurde ihm gleichfalls durch die Mission der Mittel-und Hochschulbesuch ermöglicht, und er erhielt sogar ein Stipendium zum weiteren Studium in Amerika. Nach seiner Rückkehr wurde er Dozent. Professor und schließlich Präsident der betreffenden Missionsuniversität. Die Geschichte mag in dieser Form erfunden sein, ist aber typisch für die Verhältnisse an den Missionsschulen. Bei solcher Bevormundung konnte sich nur schwer eine unabhängige Persönlichkeit entwickeln. Häufig äußerte sich das Inferioritätsgefühl auch in starkem Ressentiment. Bezeichnend ist, daß nach der Übernahme der Missionsschulen durch die Kommunisten, verbunden mit einer Diskriminierung der Ausländer, nicht selten gerade diejenigen Chinesen sich den Ausländern gegenüber am loyalsten erwiesen haben, die nicht christlich waren, ihre persönliche Unabhängigkeit gewahrt hatten und vordem oft in scharfem Gegensatz zu den Ausländern gestanden hatten.
Aber auch nach außen hin war die psychologische Wirkung der Missionsschulen diesen auf die Dauer weniger günstig. Ohne daß von einer Diskriminierung oder allgemeinen Verachtung der Missionsschulen und ihrer Schüler und Studenten die Rede sein könnte, sahen zumal die Schüler und Studenten der führenden, rein chinesischen Mittel-und Hochschulen gern etwas herab auf die Missionsschulen und ihre dortigen Kameraden, die nicht selten dazu neigten, in ihrem äußeren Auftreten ausländische Gewohnheiten zu zeigen. Lehrer und Dozenten zogen es oft vor, wenn sie die Möglichkeit hatten, an rein chinesischen Institutionen tätig zu sein. Der Mangel an diesen sowie die oft günstigeren Bedingungen ermöglichten es den Missionsschulen nichtsdestoweniger, gute Lehrkräfte heranzuziehen. Die Kreise außerhalb der Missionsschulen hatten keine Möglichkeit, die positiven Seiten der dort wirkenden Ausländer kennenzulernen, und so sahen sie in diesen oft nichts anderes als die Repräsentanten einer unerwünschten „kulturellen Invasion“. Daß ferner die christlichen Missionare in ihrem Heimatlande zur Werbung von Mitteln für ihre Arbeit in China in Wort, Schrift und Bild vor allem Elend, Armut und Unbildung dieses Landes schilderten, wogegen sie Abhilfe schaffen wollten, und so eine sehr einseitige Vorstellung von China verbreiteten, hat viele Chinesen, die davon erfuhren, sehr erbittert. Gewiß waren alle diese traurigen Dinge im Libermaß vorhanden, aber sie stellten eben nur einen Aspekt dar, und die Chinesen waren hierfür besonders empfindlich.
Viele Missionare und sonstige Ausländer haben in ihrem Wirkungskreis in China Hervor-ragendes geleistet, nicht wenige durch ihr persönliches Verhalten vorbildlich gewirkt und sich manche Sympathie in ihrem engeren chinesischen Kreise erworben. Das allgemeine Ressentiment gegen die Ausländer als die bevorrechtigten Kolonialherren konnte dadurch nicht bereitigt werden. Ja, Tüchtigkeit und Leistungen von Ausländern, die die vieler Chinesen übertrafen, waren durchaus nicht immer dazu angetan, reine Sympathie hervorzurufen, sondern hatten — zumal bei den gebildeten Schichten — oft gerade die entgegengesetzte psychologische Wirkung. In die objektive Bewunderung und Anerkennung der Leistungen mischten sich nicht selten subjektiver Neid und Mißgunst. Dabei haben die Missionare, vom Bewußtsein des höheren Standes ihrer Kultur, Religion und Moral erfüllt, nicht immer die nötige Zurückhaltung gegenüber einheimischen Gewohnheiten und Empfindungen gewahrt und so durch ihr freundlich-mitleidvolles Herabsehen auf die „Heiden" bei den national-und kulturbewußten Chinesen oft mehr Unwillen hervorgerufen als die Geschäftsleute der Hafenstädte, die zum größten Teil ihr eigenes Leben unter sich führten und nur wenig Verbindung mit solchen chinesischen Kreisen hatten 48a).
4. Die chinesische Reaktion gegen die Abendländer
In den vorangehenden Abschnitten wurde versucht darzulegen, wodurch Erbitterung und Feindschaft weiter chinesischer Kreise gegen das Abendland und seine Vertreter in China hervorgerufen worden sind. Diese seit etwa hundert Jahren durch das oft verständnislose kurzsichtige Verhalten der Mächte oder auch nur einzelner Persönlichkeiten stets von neuem angefachte Erbitterung hat sich wiederholt in einer Reihe gewaltsamer Ausbrüche Luft gemacht. Dazu zählen neben zahlreichen kleineren Zwischenfällen, bei denen Fremde — insbesondere Missionare — und Einheimische den Tod fanden, z. B. das sogenannte Blutbad von Tientsin sowie vor allem der Boxeraufstand im Jahre 1900. Vorkämpfer eines aktiven Widerstandes gegen die Fremden waren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in erster Linie die konservativen Kreise der konfuzianischen Literaten. Die seit der Jahrhundertwende rasch anschwellende revolutionäre Bewegung sah in der regierenden Mandschu-Dynastie und im traditionellen politischen System die Hauptschuldigen an Chinas Unglück; im Kampf gegen diese suchte sie vom Westen zu lernen und sogar von ihm Unterstützung zu erlangen. Freilich empfanden auch die Revolutionäre unter Führung von Sun Yatsen aufs stärkste die Demütigungen und das Unrecht, die China von den fremden Mächten erleiden mußte. Sie meinten jedoch, eine solche Behandlung habe das herrschende Mandschu-Regime durch seine halsstarrige und reaktionäre Politik geradezu herausgefordert, und in dem Maße, wie sich das chinesische Staatswesen und seine Regierung den Erfordernissen der Zeit anpaßten, würden die Fremden allmählich freiwillig auf die „ungleichen Verträge" und ihre daraus resultierenden Vorrechte verzichten. Auch nach dem Sturz der Dynastie und der Errichtung der Republik im Jahre 1911 gründete Sun Yatsen seine Pläne zum Aufbau des Reiches auf eine großzügige politische und wirtschaftliche Unterstützung durch den Westen, um China in einen modernen Staat umzuwandeln. Das Verhalten der Mächte im weiteren Verlauf der Entwicklung, insbesondere 1915 bei den berüchtigten 21 Forderungen Japans, 1919 in Versailles und 1921/22 in Washington mußte aber Sun und seinen Anhängern deutlich machen, daß sie von falschen Voraussetzungen ausgingen und die Mächte weder für den selbständigen politischen und wirtschaftlichen Aufbau Chinas noch für die freiwillige Aufgabe irgendwelcher aus den „ungleichen Verträgen" herrührenden Vorrechte auch nur das geringste Verständnis offenbarten
Vorsorglicherweise waren alle Engländer, zumeist Missionare und Kaufleute, aus dem Inland evakuiert worden, und selbst die britischen Niederlassungen in den Hafenstädten wurden zum großen Teil von englischen Frauen und Kindern verlassen. Daß sich die chinesische Erbitterung in dieser Zeit in erster Linie gegen England richtete, hatte einmal seinen Grund darin, daß England die führende und tonangebende fremde Macht war und die meisten wirtschaftlichen und politischen Interessen in China hatte. Hinzu kam aber wahrscheinlich auch eine geschickte Beeinflussung durch die damals bei der chinesischen Nationalregierung tätigen sowjetrussischen Berater. Denn die russische Politik richtete sich zu jener Zeit vor allem gegen England und wollte England von den übrigen Mächten isolieren.
In engem Zusammenhang mit der a n t i -i m p e r i a 1 i s t i s c h e n Bewegung stand die a n t i -c h r i s 11 i c h e Bewegung. Sie begann bereits 1922 und erreichte 1925— 1927 ihren Höhepunkt. Beim Vormarsch der revolutionären Armee von Kanton über Wuhan und dann Yangtse-abwärts im Jahre 1926/27 kam es wiederholt zu Plünderungen von Missionseigentum und zu Ausschreitungen gegen ausländische Missionare. In vereinzelten Fällen wurden sogar Missionare getötet. Freilich ist die anti-christliche Bewegung hier kaum von der anti-imperialistischen zu trennen, und sie richtete sich daher wie jene in erster Linie gegen die angelsächsischen Missionen, was soviel bedeutet wie gegen die protestantischen Missionen, die meist in Händen von Engländern und Amerikanern waren. Im Zuge der Evakuierung Süd-chinas von Engländern verließen mehr als zweitausend Missionare, meist Engländer wie auch Amerikaner, das Land
In den vergangenen Abschnitten war versucht worden zu zeigen, daß die anti-christliche Einstellung weiter chinesischer Kreise bereits seit dem 19. Jahrhundert im Grunde nicht auf religiösen Erwägungen basierte und sich nicht gegen das Christentum als Religion richtete, sondern gegen die Träger des Christentums, eben die fremden Missionare und deren „kulturelle Invasion“ Chinas. Obwohl manche Chinesen aus rein religiöser Überzeugung Christen und deswegen nicht weniger „anti-imperialistisch“ als die Nicht-Christen waren, und wenn auch — wie z. B. Li Hung-d-tang — manche durchaus zwischen der christlichen Religion als solcher und ihren Trägern zu unterscheiden wußten, so verwischte sich doch für die meisten dieser Unterschied, und ein Kampf gegen die Missionare war gleichbedeutend mit einem Kampf gegen das Christentum. Nur in geringerem Maße spielen neben diesen nationalen, anti-kolonialen und anti-imperialistischen Motiven andere Faktoren mit. Zu diesen gehören vor allem die neuen Ideen der 4. -Mai-Bewegung (1919) von „Demokratie und Wissenschaft“.
Ihre Anhänger wollten zum größten Teil das Christentum im besonderen und die Religion im allgemeinen als unzeitgemäß, unfortschrittlich, unwissenschaftlich, sozusagen als Aberglauben abtun. Mit dem naiven Fortschrittsglauben, dem die meisten Vertreter der 4. -Mai-Bewegung huldigten, war Religion schlechthin unvereinbar 52a). Unbewußt mag hier auch die ausschließlich auf das Diesseits gerichtete, allen Jenseits-Vorstellungen abholde Gedankenwelt des konfuzianischen Literatentums mitgewirkt haben. Auch der Kommunismus spielte schon damals bei der antichristlichen Bewegung eine gewisse Rolle. Es ist kein Zufall, daß die Führer der chinesischen Kommunisten auch an der anti-christlichen Bewegung tätigen Anteil nahmen, und manches aus den Proklamationen anti-christlicher Organisationen war der kommunistischen Ideologie entnommen. Diese weltanschaulichen Faktoren verschwanden aber allmählich, und die antichristliche Bewegung ging schließlich ganz in der anti-imperialistischen auf. Das fand seinen Ausdruck auch darin, daß nicht nur die am Anfang abseits stehenden Schüler und Studenten von Missionsschulen, sondern auch die christlichen Studenten selbst an der Bewegung teilnahmen. Eine ihrer wesentlichen Forderungen war die sogenannte Erziehungshoheit, die ja schließlich auch erreicht wurde
Die Nationalregierung der Kuomintang hat nach der Übernahme der Regierung ganz Chinas und ihrer internationalen Anerkennung im Jahre 1927 mit Entschiedenheit ihren in der Revolutionszeit begonnenen Kampf gegen die „ungleichen Verträge“ und die fremden Vorrechte fortgeführt. Bereits 1928 konnte sie mit einer Reihe von Mächten neue Verträge auf grundsätzlich gleichberechtigter Basis abschließen. Mehrere Länder, wie Belgien, Italien, Dänemark, Portugal und Spanien, verzichteten darin ab 1. 1. 1930 auf die Exterritorialität ihrer Staatsangehörigen in China
So gehören nach dem Kriege die „ungleichen Verträge“ der Vergangenheit an; China hatte die volle Souveränität und den größten Teil der seit den neunziger Jahren verpachteten oder verlorenen Gebiete zurückerhalten. Der unbefangene Beobachter hätte meinen können, daß daraufhin dem Anti-Imperialismus der Kommunisten nur noch offene Türen einzurennen blieben. Hätte der Krieg nicht chaotische Zustände in China geschaffen, sondern dem Lande und seinen Bewohnern eine ruhige Entwicklung und allmähliche Auswertung der neuen Situation ermöglicht, dann hätten sich vielleicht mit der Zeit ein Ausgleich und eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Abendländern und Einheimischen ergeben können, wie sie sich z. B. jetzt in Indien zu entwickeln scheinen. So waren aber einmal die Erbitterung über die Demütigungen der Vergangenheit und im übrigen das Ressentiment über die nicht in kurzer Frist von ein paar Jahren umstürzbare, seit Generationen aufgebaute und gewohnte Sonderstellung der Fremden noch stark genug, um sich den durch die kommunistische Propaganda hervorgerufenen Emotionen willig hinzugeben. In den während des Krieges von den Japanern besetzten Gebieten haben diese den Kommunisten durch ihre anti-westlich-imperialistische Propaganda wirksam vorgearbeitet. Die Japaner sahen sich als die Befreier Chinas, ja ganz Ost-und Südost-Asiens vom westlichen Imperialismus und versuchten die chinesischen Empfindungen gegen den Westen aufzustacheln. Praktisch führten sie den Chinesen vor, wie man den einzelnen Abend-länder in China diskriminieren und schikanieren konnte
Bezeichnend für die gespannte Atmosphäre nach dem Kriege war die ungeheure Erregung in ganz China, als zu Weihnachten 1946 in Peking eine chinesische Studentin angeblich von einem amerikanischen Soldaten vergewaltigt worden sein sollte. Ungeachtet, daß die Amerikaner China von den Japanern befreit hatten, die amerikanischen Truppen auf ausdrücklichen Wunsch der chinesischen Regierung bis zum Abschluß der Repatriierung aller Japaner in China weilten und überdies tatsächliche Vergewaltigungen von Frauen durch chinesische Soldateska im eigenen Lande nichts Seltenes waren
1946 wurde General Marshall als Sonder-Botschafter nach China gesandt, um im Kampfe zwischen Nationalregierung und Kommunisten zu vermitteln. Zunächst wurden zwar durch die Bemühungen Marshalls und seines Stabes an vielen Fronten die Feindseligkeiten einstweilen eingestellt; schließlich scheiterte aber die Mission an den politischen Realitäten. Der vorübergehende Waffenstillstand wirkte sich militärisch vorwiegend für die Kommunisten günstig aus.
Dies sowie Marshalls Erklärung bei seiner Rückkehr in die Staaten Anfang 1947, worin er beide Seiten für den Fortgang des Bürgerkrieges verantwortlich machte 61c), rief in militärischen wie politischen Kreisen der Nationalregierung starke Kritik gegen die Amerikaner hervor. So war bei der Machtübernahme durch die Kommunisten die allgemeine Einstellung zu den USA durchaus nicht rein positiv, sondern weitgehend kritisch, wenn nicht gar negativ
Diese großenteils emotionell bedingte Stimmung gegen die USA und das Abendland im allgemeinen hat es nach Übernahme der Regie-rung durch die Kommunisten diesen leicht gemacht, mit ihrer Propaganda geschickt auf die vorhandene anti-westliche Einstellung in ihrem Sinne einzuwirken und ihre einschneidenden, diskriminierenden Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Seit 1949 werden in zunehmendem Maße Ausländer des Landes verwiesen oder verhaftet und für tatsächliche oder angebliche Verstöße gegen die chinesischen Gesetze, zuweilen in Schauprozessen, meist aber unter Ausschluß der Öffentlichkeit verurteilt
Besonders schwer müssen die Missionare für die Fehler ihrer Vorgänger büßen. Oft ist es nicht genug damit, daß man das bewegliche und unbewegliche Eigentum der Missionare einzieht und die fremden Missionare — oft nach kürzerer oder längerer Inhaftierung — des Landes verweist. Darüber hinaus sucht man nicht selten durch öffentliche Diskriminierung gröbster Art den einzelnen Missionar vor der großen Menge der Bevölkerung aller persönlichen Würde zu entkleiden und verächtlich zu machen
Nicht so leicht, wie die Emotionen gegen die Abendländer im allgemeinen zu wecken waren, war und ist es für die kommunistischen Machthaber Chinas, die Sowjetrussen nicht nur von diesen Emotionen auszunehmen, sondern sie als die großen Freunde und Retter Chinas vom westlichen Imperialismus hinzustellen
Seit 1949 kommen sowjetrussische militärische und technische Berater in großen Mengen nach China. Die chinesische Regierung muß ihnen Gehälter zahlen, welche die der Chinesen oder sonstiger Ausländer in gleicher Stellung um ein Vielfaches übersteigen. Darüber hinaus genießen sie eine Vorzugsbehandlung in Verpflegung und Unterbringung. Freilich sind sie größtenteils gemeinsam in abgeschlossenen Anwesen untergebrächt, fahren gemeinsam zu ihrer Arbeitsstätte, gehen nur in geschlossenen Gruppen mit ihren besonders abgeordneten chinesischen Dolmetschern aus und haben keinen unmittelbaren Kontakt mit der chinesischen Bevölkerung. Eine gewisse Berührung mit chinesischen Arbeitskollegen und mit chinesischem Personal ist aber nicht gänzlich zu verhindern. Dabei soll das Verhältnis zwischen Sowjetrussen und Chinesen durchaus nicht immer sehr harmonisch sein. Dahin deutet z. B., daß im November und Dezember 1952, offensichtlich auf besondere höhere Weisung, in einer Serie von Berichten über die Aufbauarbeit in China die Verdienste der russischen Berater in den höchsten Tönen gepriesen wurden