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Zwischen Lechfeld und Baranow. Tausend Jahre deutscher Ostgeschichte an Hand dreier Jubiläen | APuZ 19/1955 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 19/1955 Friedrich Schiller. Zu seinem 150. Todestag am 9. Mai 1955 Zwischen Lechfeld und Baranow. Tausend Jahre deutscher Ostgeschichte an Hand dreier Jubiläen

Zwischen Lechfeld und Baranow. Tausend Jahre deutscher Ostgeschichte an Hand dreier Jubiläen

Hans Koch

I. Die Russenschlacht bei Baranow 1945

1. Zwischen Baranow und Potsdam

Die Vertreibung der Deutschen aus Mitteleuropa Am 12. Januar 1945 begann die letzte Ost-Schlacht des zweiten Weltkrieges, die große, mit achtfacher Überlegenheit geführte russische Offensive bei Baranow an der Weichsel.

Mit dem Ende Januar 1945 erkennbaren Verlust dieser Schlacht wurde offenbar, daß das deutsche Volk mittlerweile nicht nur den zweiten Weltkrieg verloren, sondern auch seine ostdeutschen Gebiete eingebüßt hatte: Den von der Weichsel zurückflutenden bewaffneten deutschen Wehrmachtstrümmern folgten — in panischem Schrecken vor den nachrückenden russischen Truppen, die in ihren Armeebefehlen aufgefordert waren, auch die friedliche deutsche Bevölkerung zu vernichten — die wehrlosen ostdeutschen Einwohner. Das waren die Wochen und Monate, in denen deutsche Frauen und deutsche Kinder sich von Ostpreußen und Schlesien nach dem Westen treiben ließen. (Die meisten von uns haben ja den ungeheuren Sprung selbst gewagt oder seine Auswirkung gespürt.) Das war die Zeit, in der Ostpreußen, Westpreußen, Ostbrandenburg, Schlesien verloren gingen, wo sich im aufgegebenen Raum nur einige Inseln zur letzten verzweifelten Verteidigung anschickten: Königsberg, Danzig, Stettin, Breslau, bald darauf Wien, Potsdam und Berlin. In Auswirkung jener verlorenen Schlacht um Ostdeutschland und als Abschluß unserer großen Niederlage, die mit Stalingrad 1943 begann und mit Baranow 1945 endete, tagten im Herzen Deutschlands die Sieger und zogen durch die sogenannten Potsdamer Beschlüsse die Bilanz ihres Sieges: Zu den Vertreibungen und der Flucht aus den ostdeutschen Gebieten kam nun die Vertreibung aus dem sudetendeutschen Raum, aus dem ungarischen und jugoslawischen Staatsgebiet, aus dem Balkan. Ein neuer Strom geschlagener, gedemütigter, aufgewühlter, um ihre Heimat gebrachter Männer, zumeist im Greisenalter, vermehrt um ein unabsehbares Heer von Frauen und Kindern, ergoß sich nach Deutschland, das in Trümmern lag, dessen Städte ausgebombt waren: Dresden, Kassel, Mainz, Hamburg, die rheinischen Industriestädte und zum großen Teil auch Berlin.

Einige Zahlen aus der Völkerwanderung jener Zeit müssen in Erinnerung gerufen werden:

Fünfzigtausend Menschen flohen aus Nord-Siebenbürgen, eine Million siebenhunderttausend aus Pommern; aus Ostpreußen zwei Millionen, aus Danzig vierhunderttausend, aus Ost-Brandenburg sechshundertvierzigtausend, aus den Gebieten Posen, Gnesen, Warthegau und Oberschlesien zweieinhalb Millionen; aus dem niederschlesischen Gebiet dreieinhalb Millionen. Allein die beiden zuletzt genannten Zahlen machen zusammen acht Millionen aus, mehr als Österreich heute Einwohner zählt, beinahe so viel wie Bayern. (Man stelle sich, um beim letztgenannten Beispiel zu bleiben, den Vorgang vor: sämtliche Bewohner Bayerns müßten — über Nacht — ihre Heimat verlassen; von Passau bis Ulm müßte alles zurückbleiben, was die Flüchtenden nicht auf ihrem Rücken hinwegtragen könnten, Kirchen und Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, Werkstätten und Kontore, bebaute Äcker und geliebte Friedhöfe.) Zur gleichen Zeit mußten — in jenem Jahr 1945 — zweihunderttausend Ungarndeutsche flüchten, ferner hundertfünfzigtausend aus der südslawischen Batschka. Darüber hinaus mußten aus Süd-Siebenbürgen, aus der Batschka und aus dem Banat deutsche Menschen als Zwangsarbeiter in die Kohlenschächte des sowjetischen Don-und Donezgebietes abgestellt werden; man schätzt, daß es einhundertfünfundsiebzigtausend gewesen sind; diejenigen von ihnen, die die harte Zwangsarbeit überstanden, durften zwar — nach vielen Jahren — zurückkehren, wurden aber nicht in ihrer alten Heimat ausgenommen, sondern in das kleine Deutschland abgeschoben, wo sie abermals die Zahl der Flüchtlinge vermehrten.

Aus der, nach der Schlacht bei Baranow von der Sowjetarmee besetzten mitteldeutschen Zone strömten fast zwei Millionen Menschen in das Bundesgebiet, darunter etwa achthundertfünfzigtausend Bombenflüchtlinge, die erst vor wenigen Monaten den umgekehrten Weg durchmessen hatten. (Angesichts dieses ostdeutschen Zusammenbruches fallen die zweihunderttausend Flüchtlinge aus dem Elsaß und die zweieinhalbtausend, die von der Insel Helgoland vertrieben wurden, fast nicht mehr ins Gewicht.)

Insgesamt haben also im Jahre 194 5 — im Jahre der Vertreibungen — mindestens achtzehn Millionen deutscher Menschen ihre Heimat räumen müssen. Eine neue Heimat in dem verkleinerten Deutschland und Österreich fanden indes nur etwa dreizehn Millionen, rund fünf Millionen haben demnach den Weg nach dem Westen nicht mehr vollenden können: Wir müssen annehmen, daß sie ostwärts verschleppt wurden oder unterwegs erfroren; daß man sie verhungern ließ, erschlug oder in Vernichtungslagern aus der Welt schaffte. Mit diesen fünf Millionen Toter ist der Beitrag, den Ostdeutschland und die Volksdeutschen zu den Verlusten dieses furchbarsten aller Kriege geleistet haben, absolut größer als alle Verluste, die die Deutsche Wehrmacht in sechs Kriegsjahren — nämlich zwei Millionen siebenhunderttausend Tote und ungefähr zwei Millionen Vermißte — erlitten hat; um auf eine annähernd ähnliche Zahl zu kommen, müssen wir die Verluste hinzunehmen, die der Luftkrieg von unserer gesamten Zivilbevölkerung gefordert hat.

Zu diesen furchtbaren Verlusten, die man sachlich als „blutige" bezeichnet, sind aber auch noch jene Schäden zu schlagen, die man weder zahlenmäßig, noch konkret beschreiben kann: Wir denken an die Millionen Namenloser in den sowjetischen Eismeer-und Schweigelagern, deren Hungertod oder Hinrichtung kaum je zutage treten wird. Wir denken an die Millionen Ungeborener, die man nüchtern als „biologisches Defizit" bezeichnet, deren Fehlen aber nie mehr nachzuholen ist. Wir denken endlich — und vor den vollen Schaufenstern unseres „Wirtschaftswunders“ erst recht — an die Millionen Verarmter, Unzufriedener, Entgleister, Proletarisierter und Entfremdeter: Der Weg von der Heimatlosigkeit zum Nihilismus ist sehr schmal, er liegt noch immer drohend vor uns.

Alles in allem eine vernichtende Bilanz: Über unser Volk brach eine Katastrophe unfaßbaren Ausmaßes herein, die es niemals wird verwinden können; ein Unglück, vor dem wir alle in Ehrfurcht und Erschütterung stehen und eigentlich nur betend schweigen können. Dieses Unglück, dessen Ausmaß die oben angeführten Zahlen nur schwach widerspiegeln, dessen Summe von Kummer, Schmerzen und Elend sich in Worten nicht ausdrücken läßt, ist so einmalig und hart, daß unsere Jugend (die zum Teil diese Katastrophe offenen Auges als Soldat, als Vertriebener, als im Wohnraum Eingeengter, mitgemacht hat), ungeduldig wird und die Eltern fragt, warum sie, das junge Volk, die Katastrophe „allein“ tragen müsse. Wie oft hören wir die seufzende, ja revoltierende Anklage: „Wir haben nichts vom Leben, man hat unsere Generation ja nicht gefragt, wir lehnen die Verantwortung dafür ab!“ In furchtbarer Verkehrung der Katastrophe wissen sich selbst Millionen Erwachsener unseres Volkes nicht anders zu helfen, als daß sie den Verlust in irgendeiner Form nachholen, sich in Gluten des Lebenshungers erhitzen, sich in einer neu entfachten Sucht nach Vergnügen sozusagen austoben.

2. Zwischen Baranow und Moskau

Die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa Unsere ungebärdigen, nach Lebensgenuß gierigen jungen und alten Menschen würden staunen und vielleicht ein wenig unruhig werden, wenn sie erführen, daß die Katastrophe, die wir alle vor Augen haben und die ihnen noch heute in den Gliedern steckt, nicht, wie sie glauben, nur ihren Generationen allein widerfahren ist. Denn die großen Vertreibungen vor zehn Jahren waren zwar der Höhepunkt, das vorläufig nicht absehbare Ende, aber nicht die einzigen Vertreibungen, die unser Volk in seiner Geschichte auf sich nehmen mußte.

Die Gruppenwanderungen in Rußland 1905 bis 1915 Wiederum gehen unsere Erinnerungen in die Vergangenheit zurück, und zwar nicht einmal in eine so weite Vergangenheit. Denn genau in den Tagen, in denen wir jetzt das zehnjährige Gedenken an die Vertreibung des Jahres 1945 begehen, sind es fünfzig Jahre her, daß ein erstes Wetterleuchten auf die Ereignisse der Folgezeit hinwies, wenn es auch von den Zeitgenossen nicht in dieser Weise aufgefaßt wurde: Das Deutschtum der baltischen Provinzen des russischen Reiches, das diese Gebiete in jahrhundertelanger Arbeit zu einem wirtschaftlich und kulturell blühenden Lande gemacht hatte, erlebte im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Rußland während des Jahres 1905 einen abermaligen Höhepunkt im Kampfe um sein nationales Dasein. Hunderte deutscher Gutshöfe gingen wieder einmal in Flammen auf, es kam zu Morden und Plünderungen. In ihrer Not holten sich die baltischen Gutsbesitzer bäuerliche Siedler aus Wolhynien nach dem Norden. Infolge nationalistischer Widerstände der zaristischen Regierung durfte diese Neuansiedlung aber nur auf „schwarzem“ Wege vor sich gehen; immerhin konnten sechsundzwanzigtausend Menschen umsiedeln, sechzehntausend von ihnen auf Bauernstellen, die anderen als Landarbeiter. Die zaristische Regierung freilich beharrte auf ihren Russifizierungs-

plänen und zwang dadurch eine große Zahl von Deutschbalten, besonders aus den Kreisen des Bürgertums und der Intelligenz, in das Deutsche Reich abzuwandem: Die ersten deutschen Trecks im 20. Jahrhundert.

Zehn Jahre später folgten ihnen neue und längere: Nach den Niederlagen der russischen Armee im Laufe des ersten Weltkrieges zog es 1915 die oberste russische Heeresleitung bekanntlich vor, ihr Lingemach nicht dem Ungeschick der eigenen Generäle oder gar dem höheren Können der Deutschen zuzuschreiben, sondern alle Schuld auf die — angeblich spionierenden und sabotierenden — deutschen Siedler hinter der Front abzuwälzen. Sie wurden kurzerhand „umgesiedelt". Tausende und aber Tausende deutscher Menschen aus dem Baltikum, aus Mittelpolen, aus Galizien, zweihundertausend aus Wolhynien wurden nach Sibirien und der baschkirischen Steppe deportiert; diese Zwangsumsiedlung forderte mindestens fünfzigtausend Todesopfer. Ihre Gräber deckt heute das Eis der Tundra oder die Wüste des unermeßlichen Mittelasien.

(Gegenüber diesen Ostwanderungen sind die bald darauf, nämlich nach dem ersten Weltkrieg, einsetzenden Westund Südbewegungen abermals noch gering: Im Zuge der Versailler Verträge mußten aus der bisherigen Provinz Posen über 700 000 Deutsche auswandern, aus dem Elsaß über 130 000, aus Norddeutschland und aus den überseeischen Kolonien 300 000, insgesamt innerhalb des einzigen Jahres 1919 1, 1 Million.)

Die Vernichtung des Rußlanddeutschtums 1917 bis 1945 Der Sieg und die Erstarkung des russischen Bolschewismus haben die Vernichtung des Deutschtums in Osteuropa vollendet.

Soweit die Rußlanddeutschen in Städten wohnten — etwa hunderttausend -fielen sie schon den Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges zum Opfer; Sie gehörten als Kaufleute und Angehörige freier Berufe einer Klasse an, die nach der Ideologie der russischen Revolutionäre von vornherein zur Vernichtung bestimmt war. Infolge ihrer Zerstreutheit war es ihnen unmöglich, sich zur Verteidigung zusammenzuschließen. Doch auch geschlossene und bäuerliche Siedlungen vermochten sich nur vorübergehend zu halten: Die Deutschen an der „Bergund Wiesenseite“ der Wolga, in den fruchtbaren Uferlandschaften des Schwarzen Meeres und an den weinumrankten Hängen des Kaukasus.

Am besten schien zunächst das Deutschtum an der Wolga die bolschewistische Revolution überstanden zu haben; 1923 duldete die bolschewistische Regierung sogar die Bildung einer „Wolgadeutschen Autonomen Sowjetrepublik“ mit fünfhundertsiebzigtausend Einwohnern. Mit der Verschärfung der stalinistischen Agrarpolitik verschlechterte sich die Situation jedoch rasch. Die deutschen Bauern fielen zumeist in die Kategorie der „Kulaken“, die im Zuge der allgemeinen Durchführung des Kolchos-Prinzips liquidiert werden mußten. Immerhin überlebten noch vierhunderttausend Seelen den Großangriff der „sozialistischen“ Staatsmacht. Den Anlaß zum Vorgehen auch gegen sie bot der Ausbruch des Krieges zwischen der Sowjetunion und Deutschland 1941. Im Herbst dieses Jahres wurde die Wolgadeutsche Republik aufgelöst, die Einwohner zwangsweise nach Sibirien und Zentralasien verstreut. Damit hat sich ihr Geschick endgültig erfüllt.

Einen langen Leidensweg mußten die Schwarzmeerdeutsehen zurücklegen. 1914 lebten in den Gouvernements um das Schwarze Meer sechshunderttausend deutsche Bauern; sie waren wohlhabender als die Deutschen an der Wolga, siedelten nicht ganz so geschlossen wie diese, waren also dem Angriff noch mehr ausgesetzt. Ein Drittel von ihnen wurde im Bürgerkrieg vernichtet. 1939 wurden dreihundertfünfzigtausend „Volksdeutsche" aus dem Schwarzmeergebiet nach Deutschland umgesiedelt, allerdings nicht in das alte Reich, sondern in den Warthegau, also abermals an eine besonders gefährdete Grenze. Die Hälfte von ihnen flüchtete 1945 in das kleinere Deutschland, die andere wurde von den siegreichen Sowjets zwangsweise rückgesiedelt und erlitt das gleiche Schicksal wie die Deutschen von der Wolga.

Ähnlich erging es den hundertzwanzigtausend deutschen Bauern aus dem Kaukasus. (Über die deutschen Siedler, die schon vor dem ersten Weltkrieg in der Endlosigkeit dessibi ri schenRaumes eine große kolonisatorische Leistung vollbracht hatten, wissen wir so gut wie nichts; wir müssen annehmen, daß auch sie -über hunderttausend Menschen -untergegangen, zumindest aber auf verlorenen Posten gestellt sind.)

Der Sinn (oder Widersinn) dieser massenhaften Zwangsvertreibung nach dem Fernen Osten, heraus aus Europa, wird uns offensichtlich, wenn wir erfahren, daß diese neuen Um-„Siedler nicht als Kolonisatoren werden wirken können, sondern von dem Sowjetregime zu einem Zwecke eingesetzt werden, der ihnen fremd ist und ihrer eigenen Einstellung zuwiderläuft: Bei ihrem ersten Zug nach dem Osten — einst vor 150 und mehr Jahren — hatten sie Opfer und Entbehrungen in Kauf genommen, weil sie hofften, Besseres für sich und andere schaffen zu können, nun aber sind sie nichts weiter als Werkzeuge in einer sozial und national feindlichen Hand, die schon seit Jahrzehnten schwer auf ihnen lastet, Zwangsarbeiter in staatlichen Kolchosen oder Bergwerken. Zwei Nebenabsichten wurden mit der Aussiedlung der Deutschen von der Sowjetregierung zusätzlich verwirklicht: Einmal splitterte man nichtrussische Völkergruppen auf, kam also dem Ziel, aus dem Vielvölkerstaat Rußland einen „demokratisch zentralisierten“ Sowjetstaat mit einem einheitlichen „Sowjetvolk“ zu schaffen, einen großen Schritt näher. Zum andern ließ sich das Vorgehen gegen die deutschen Siedler bequem mit dem Kampf gegen die Kirche verbinden; selbst als sich späterhin — 1943 — der Sowjetstaat mit dem Fortbestehen der russisch-orthodoxen Kirche abfand, blieben die Deutschen — meist Protestanten — nur Anhänger einer Sekte, gegen die man jederzeit vorgehen konnte, ohne ernste Weiterungen befürchten zu müssen.

Als Zwischenbilanz dürfen wir somit vorläufig aufrechnen:

1. Lange vor der uns geläufigen Vertreibung von 1945, nämlich schon seit 1905, gab es Zwangsumsiedlungen deutscher Menschen in diesem Jahrhundert; sie geschahen zumeist auf rußländischem Boden und wurden zumeist von russischen Machthabern veranlaßt.

2. Die deutsche Vertreibung erfolgte nicht nur (wie uns, Bundesrepublikanern, am aufdringlichsten ins Auge fällt) von Osten nach Westen, vielmehr flutete eine starke Welle ebenso in der entgegengesetzten Richtung, auch sie von Russen bewußt gesteuert und geschleust. 3. Die Vertreibung von 1945 ist somit zwar zahlenmäßig die stärkste, aber im geschichtlichen Verlauf nicht die erste und nicht die einzige deutsche Vertreibung gewesen.

3. Zwischen Baranow und Pakistan

Die allgemeinen Zwangsvertreibungen in aller Welt In diesem Zusammenhang muß noch eine weitere ebenso erschütternde, aber um der historischen Wahrheit willen ebenso hierher gehörende Erkenntnis festgehalten werden: Die Welt steht nämlich heute vor der Tatsache, daß nicht nur Deutschland (und in erster Linie Deutschland) seine Vertriebenen beklagt, sondern daß weithin auch andere Völker ihre Sitze haben räumen, ihre Heimat haben verlassen müssen.

Nichtdeutsche Zwangsumsiedlungen auf dem Balkan Schon vor dem ersten Weltkriege setzten auf dem Balkan Bevölkerungsverschiebungen in bedeutendem Ausmaße ein: Im Verlaufe der Balkankriege flohen 1913 zweihunderttausend Türken in die asiatische Türkei; in der umgekehrten Richtung waren es hundertfünfzigtausend Angehörige der Balkanvölker. Nach dem ersten Weltkriege schien sich der Gedanke des einheitlichen Nationalstaates mit einheitlicher Bevölkerung weitgehend durchgesetzt zu haben; nun begannen Umsiedlungen in einem bis dahin unbekannten großen Stil: In den Jahren 1918 bis 1923 mußte Bulgarien aus Griechenland, Jugoslawien, Rumänien und der Türkei eine Viertelmillion seiner Landsleute aufnehmen; nur fünfzigtausend Türken wanderten dafür ab. Verstärkt wurde die rückläufige Bewegung 1950, als die „Volksdemokratische“ bulgarische Regierung zweihundertfünfzigtausend Türken aus ihren, oft jahrhundertealten Wohnsitzen vertrieb. (Es ist kein Zufall, daß der Oberbürgermeister von Konstantinopel gleichzeitig Präsident der Internationalen Flüchtlingsorganisation ist — hat doch die Türkei ein ähnlich großes, und an ihren Verhältnissen gemessen, schweres Problem wie wir zu lösen.)

Der zahlenmäßig größte Bevölkerungsaustausch des Balkans fand auf Grund des Lausanner Vertrages vom 30. Januar 1923 zwischen der osmanischen Türkei und Griechenland statt: Eine Million vierhunderttausend Menschen griechischer Abstammung verließen die Türkei, in umgekehrter Richtung fast vierhunderttausend Osmanen das griechische Staatsgebiet. (Bei einer Gesamtbevölkerung Griechenlands von fünf Millionen bedeutet der Zuwachs einen Anteil von 22 v. H., also mehr als der entsprechende Flüchtlingssatz in der Bundesrepublik. Auch mußte die Eingliederung der Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt durchgeführt werden, in dem Griechenland ohnehin, durch zwölfjährigen Krieg schwer ausgeblutet, um seine innere Ordnung zu ringen hatte. Die Massen der Rückwanderer trugen wesentlich dazu bei, daß die politische Situation Griechenlands immer labil blieb.)

Ein ganz ähnliches Problem stellten für LI n g a r n die vierhundert-tausend Menschen dar, die kurz nach dem ersten Weltkrieg aus dem rumänisch gewordenen Siebenbürgen in das verkleinerte magyarische Staatsgebiet einströmten.

Nichtdeutsche Binnenwanderungen in Osteuropa Bevölkerungsverschiebungen fanden aber nicht nur zwischen den einzelnen Staaten, sondern auch innerhalb der eigenenGrenzen statt: In die 1919 polnisch gewordenen ehemals preußischen Gebiete verpflanzte die Warschauer Regierung siebenhunderttausend Seelen aus Kongreßpolen und Galizien. Eine zweite polnische Wanderwelle erfaßte die, in den Potsdamer Beschlüssen vorübergehend an Polen übereigneten deutschen Gebiete von Ostpreußen, Ostbrandenburg, Pommern und Schlesien.

Wie immer, wenn man bestimmte Statistiken heranzieht, kann auch die Sowjetunion mit großen Zahlen aufwarten: Sie schickte in den Jahren 1926 bis 1929 drei Millionen zumeist slawische Neusiedler über den Ural nach Sibirien, weitere zwei Millionen nach Zentralasien. Diese Zahlen haben sich im Verlaufe der allgemeinen Verlagerung von Industriezentren seit dem zweiten Weltkriege erheblich gsteigert; noch heute wandern Hunderttausende idealistischer Komsomolsiedler als Kolchosen-arbeiter oder zur Grenzsicherung in die Wüsten des Trans-Ural und Zentralasiens. Aus den zu Sowjetrepubliken gewordenen baltischen Staaten gingen seit 1944 etwa eine halbe Million Menschen als Fron-sklaven in den Osten. (Nach dem Zusammenbruch Polens, 1939, fanden weitere Millionenverschiebungen statt, auf die noch einzugehen sein wird.)

Selbst das kleine Finnland mußte einen großen Beitrag zur Völkerwanderung unserer Zeit leisten: Über vierhunderttausend Finnen wechselten — 1940 bis 1945 zweimal! — ihre Heimat.

Was macht es, gemessen an diesen horrenden Zahlen, aus, daß unser Jahrhundert auch den zweifelhaften Ruhm besitzt, mit einer ungeheuren Summe politischer Emigranten aufwarten zu können? Im Verlaufe der bolschewistischen Revolution verließen neunhunderttausend Russen und über eine Million Angehörige anderer Völkerschaften das ehemalige Zarenreich und zogen ein unstetes Exulantendasein dem Verbleiben in der gequälten Heimat vor. Das Problem der D i s p 1 a c e d Persons und der Vernichtung der Juden kann in unserem Zusammenhänge nur erwähnt werden, ebenso das der verstärkten Auswanderung nach Übersee. Man kann bisweilen den Eindruck gewinnen, als zeichne sich ein biologischer Ausverkauf Europas ab.

Insgesamt waren in den Jahren 1917 bis 1951 allein in E u r o p a nach vorsichtigen Schätzungen fünfundfünfzig Millionen Menschen auf der — meist erzwungenen — Wanderschaft; fünfundfünfzig Millionen (fast so viel wie die Einwohnerzahl des Kaiserlichen Deutschland vor dem ersten Weltkriege) Wanderer zwischen Ländern, Staaten oder gar Welten, von ihnen zwanzig Millionen Den t-sehe, fast siebenunddreißig von Hundert.

Nichtdeutsche Wanderungen außerhalb Europas Dabei blieben diese Umsiedlungen und Vertreibungen durchaus nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt. Verhältnismäßig nahe stehen unserem Blickfeld noch die Umschichtungen im Zusammenhang mit der Gründung des Staates Israel: Über vierhundertfünfzigtausend Araber zogen aus dem Heiligen Lande nach Jordanien, zweihunderttausend nach Ägypten, hundertachtzigtausend nach Syrien und dem Libanon.

Diese Zahlen verzehnfachen sich, wenn wir noch weiter nach Osten blicken: Zwischen Indien und Pakistan wurden fast dreizehn Millionen Menschen ausgetauscht, fünf Millionen flüchteten nach Indien, annähernd acht Millionen nach Pakistan, Hunderttausende von ihnen liegen heute noch praktisch auf der Landstraße.

Eineinhalb Millionen flohen aus Indonesien vor der neuen volks-

demokratischen Macht, und wie viele Millionen der chinesische Bürgerkrieg auf die Straßen des Landes getrieben hat, wird sich wohl nie ermitteln lassen. Nach Japan wanderten seit 1945 viereinhalb Millionen von dem asiatischen Festland zurück, aus Korea flohen eineinhalb Millionen Menschen.

Ein Umstand erschwert im asiatischen Raum die Situation der Flüchtlinge besonders: Dort, wo Millionen obdachlos, schutzlos, ohne Hoffnung auf „Eingliederung“ in grausamer gegenseitiger Zerfleischung flüchtig sind, wo die Fürsorge-und sonstigen Organisationsformen noch nicht so ausgebildet sind wie etwa bei uns, ist die Frage der Flüchtlinge weitaus furchtbarer und brennender.

Wir halten einen Augenblick inne und überlegen insgesamt: 1. Die Katastrophe der Ausweisungen, das Schicksal der Vertriebenen, das Unglück der Heimatlosigkeit sind zwar ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts, aber nicht ausschließlich das deutsche Schicksal. Vielleicht tut es gut, wenn wir uns heute (da wir leicht wehleidig werden und geneigt sind, unsere Tränen als die heißesten anzusehen), erinnern, daß auch andere Völker -zum Teil durch unsere Schuld oder Mitschuld — ein ähnliches Schicksal erlitten haben. 2. Es ist begreiflich, daß das deutsche Volk unter seiner furchtbaren Last seufzt und schier nicht mehr weiter kann. Aber genau wie wir unserer Jugend bedeuten müssen, daß sie nicht die einzige Generation unseres Volkes ist, die das Vertriebenen-Schicksal auf sich nehmen mußte, so gilt es, dem ganzen Volk zu sagen, daß sein nationales Vertriebenen-Schicksal nicht das einzige des Erdballs ist. 3. Llmgekehrt darf aber nicht übersehen werden, daß die Katastrophe des deutschen Volkes jene fremden Zwangsvertreibungen — wenn auch nicht ausschließlich, so doch mit-entscheidend beeinflußt hat:

Das Herausbrechen der Deutschen Mitte, durch die Flammen von Baranow furchtbar gekennzeichnet, hat nicht nur Europa, sondern die bewohnte Erde aus dem Gleichgewicht gebracht.

II. Die Ungarnschlacht auf dem Lechfeld 955

Im Sommer dieses Jahres wird die Stadt Augsburg ein besonderes Fest begehen, das tausendjährige Jubiläum der sogenannten Ungarnschlacht; sie wird sich mit uns erinnern, daß damals ein großes Reitervolk aus dem Osten gegen Europa aufgebrochen war und erst am Laurentiustage des besagten Jahres 95 5 vor dem Geröllfeld am Lech zurückgeschlagen werden konnte. Diese Erinnerung, die von den Stadtvätern von Augsburg, aber auch von unserem gesamten Volk, mit berechtigtem Stolz gefeiert wird, bietet uns den Anlaß, über die geschichtlichen Hintergründe jener „Ungarnschlacht“ nachzudenken.

Drang nach Osten oder Westen?

Denn was damals vor tausend Jahren geschehen ist, war nicht etwa der örtliche Einbruch eines vereinzelten Reitervolkes, sondern eine allgemeine geschichtliche Ost-West-Offensive größten Ausmaßes. Auch war es bereits damals nicht der erste, schon gar nicht — wie wir merken werden — der letzte östliche Einbruch in Europa. Vielmehr sind, soweit wir uns erinnern, schon im Jahre 300 n. Chr. die Hunnen gen Westen geritten; Attila stand später in Ungarn, bedrohte Frankreich, selbst Spanien, das gleiche Spanien, das drei Jahrhunderte nachher von der anderen Seite, nämlich von den Arabern besetzt worden ist. Die Schlacht auf den katalaunischen Feldern, die 451 Westen und Osten aufeinanderprallen ließ und die Reiterhorden Attilas endlich nach Osten ab-drängte, soll so furchtbar und grausam gewesen sein, daß — wie die Chronik sagt —, in der folgenden Nacht noch die Geister der beiderseits Erschlagenen in den Lüften miteinander gerungen haben. So gesehen, war die nachmalige „Ungarnschlacht" von 95 5 zwar ein siegreicher Wendepunkt für unser Volk, blieb aber weder für Europa noch für Deutschland der letzte östliche Einbruch: 1241 kämpften wir gegen die Mongolen in Schlachten bei Liegnitz; 1526— 29 marschierten die Türken nach Wien, und als sie von dort zurückgeworfen wurden, zogen sie sich hinter Preßburg zurück. (Von Wien nach Preßburg kann man heute mit der Straßenbahn fahren.) Schon im Siebenjährigen Krieg besetzten die Russen Ostpreußen; im 19. Jahrhundert standen sie bei Leipzig, später in Ungarn. Während des ersten Weltkrieges bedrohten sie die deutschen Hauptstädte, im zweiten Weltkrieg besetzten sie diese. So ist auch der östliche Einbruch von 1945 — gemessen an dem, was vor tausend Jahren auf dem Lechfelde geschah — nur ein Steinchen des ungeheuren Mosaik-bildes ununterbrochener östlicher Vorstöße nach dem Westen; für die heutige Generation mit dem Erfolg, daß in der deutschen Hauptstadt Berlin und in der österreichischen Hauptstadt Wien die Russen, in den deutschen Oststädten Danzig-, Stettin und Breslau die Polen stehen. Wir erkennen jetzt, daß die sogenannte Ungarnschlacht nur eine Einzelerscheinung ist, und daß das deutsche Volk nicht nur am Laurentiustag 955, sondern seitdem es besteht, in ununterbrochener, Jahrhunderte alter, genau: eineinhalbtausendjähriger Auseinandersetzung mit dem Osten ringen muß. Wenn wir heute immer wieder das nörgelnde Wort hören, es habe einen deutschen „Drang nach dem Osten“ gegeben, so wollen wir uns der Wucht und der gelegentlichen Richtigkeit dieses Satzes beileibe nicht entziehen; aber ebenso sollen wir — anläßlich der Ungarnschlacht auf dem Lechfelde erst recht — darüber nachdenken und, wo notwendig, sagen, daß es auch so etwas wie einen „Drang n ach dem Westen“ gegeben hat, und daß er sozusagen planmäßig von Völkern vorgetragen wurde, die (müde-geworden) einander abzulösen vermochten, während das deutsche Volk jene ungeheure Last allein und einsam zu tragen hatte. Wenn einmal gerechnet werden soll, dann sei doch in aller Deutlichkeit festgestellt, daß der sogenannte deutsche Drang nach dem Osten höchstens 700 Jahre gedauert hat, der fremde Drang nach dem Westen aber 1600 Jahre, also mehr als doppelt so lange wie der angebliche deutsche. In einer Auswirkung dieses östlichen Druckes auf deutschen Boden leben wir heute. Natürlich stehen heute nicht mehr die Hunnen, die Mongolen oder Türken auf deutschem Boden, sondern, und das ist das erste Mal in der Weltgeschichte, die zusammengeballte Kraft aller — auch asiatischer — Völker des Ostens unter Führung der Slawen.

Deutsche und Slawen Unsere gegenwärtige wie zukünftige Geschichte wird bestimmt durch die große Auseinandersetzung des deutschen Volkes mit den Slawen. Sie haben wir bisher weder beachtet noch ernst genommen; stolz faselten wir, daß sie angeblich geschichtslos seien — bis wir aus einem bösen Traum erwachten. Denn die Slawen sind da. Sie pochen auf das Recht der Geschichte: sie seien vor uns gewesen. Sie pochen auf das Recht der Jugend: sie seien gesünder, fruchtbarer, tapferer, bedürfnisloser, weniger technisiert. Sie pochen auf das Recht der Kriegsbeute: auch diejenigen unter ihnen, die mit dem gegenwärtigen — sowjetischen — Regime nicht zufrieden sind, geraten in Gewissensnot, wollte man ihnen zumuten, daß sie die Erfolge des zweiten Weltkrieges etwa aufgeben. Wollte man z. B.den Russen zumuten, daß sie Ostpreußen räumen, von den Polen fordern, daß sie Schlesien aufgeben sollten, so dürften die — auch die nationalen Russen antworten: das Gebiet sei zwar unter der Führung Stalins, aber mit dem Blute tapferer russischer Volksgenossen errungen worden. Die Polen aber werden antworten: die Vertreibung sei nicht von ihnen, sondern von den Russen durchgeführt; und die neuen „Westgebiete“ beanspruchen sie als Ersatz für ihre früheren „Ostgebiete , aus denen sie 1946 ebenfalls von den Russen verjagt worden sind. (Das starke Wort „Verjagung“ soll nicht ohne Erklärung angewandt werden: Bekanntlich garantierten die Westmächte die polnischen Grenzen und da Hitler sie überschritt, kam es 1939 zum Krieg; doch schon die Sowjets konnten die gleichen Grenzen vier Wochen später überfluten — ohne daß ihnen der Krieg erklärt worden wäre. Nach dem Abschluß des zweiten Weltkrieges zog man dann die Bilanz: Die Deutschen wurden für die mit den Sowjets abgesprochene sogenannte Vierte Teilung Polens „bestraft“, ihre Partner aber durften die Beute behalten. Polen verlor so an die Sowjetunion fast einhunderstachtzigtausend km 2, d. h. 45 v. H.seines bisherigen Territoriums, mit 1939 über elf Millionen Einwohnern. Nun aber drehten die Sowjets die Schraube gleich weiter und siedelten — Slawen gegen Slawen — rund zweieinhalb bis drei Millionen Polen aus den erbeuteten Räumen aus. Die Polen nennen das ingrimmig „Verjagung“. Wenig tröstet sie hierbei der Umstand, daß es die reichen deutschen Ostgebiete sind, in die sie geschleust wurden: Nach ihrer eigenen Rechnung gebührt ihnen ja beides, der „polnische“ und der deutsche Das vierte Argument der Slawen ist der Zauber friedlicher Lockung:

„Wir sehen ein,“ (heißt es) „daß ihr, Deutsche, ein bis zum äußersten zusammengepreßtes und zusammengepferchtes Volk seid; wir begreifen, da ihr euch ausdehnen müßt, aber — warum gerade nach dem Osten?“

„Gibt es nicht,“ so flüstert man uns gelegentlich offen und geheim zu, „die Möglichkeit, sich nach einer anderen Richtung auszudehnen, euren Volksboden, den ihr für eure hohe Zahl, für eure Intelligenz und Expansivkraft braucht, nach Westen zu vermehren? Muß denn immer nach dem Osten geblickt werden? Wäre es nicht besser, wenn wir das Kriegs-schwert an der Ostfront ein für alle Mal begraben und ihr euch dort das Land nehmen wolltet, wo nicht so arbeitsfreudige Völker und nicht so erfolgreiche Nationen hausen?“ So raunt man uns zu — und wer jetzt gut mitgedacht hat, wird nun verstehen, was in solchem Zusammenhang der Streit um das Saargebiet bedeutet. Das ist nämlich nicht nur eine Angelegenheit zwischen zwei westlichen Völkern geworden, sondern ein Lock-und Zank-Objekt von ganz bestimmter östlicher Seite. Unwillkürlich denkt man an das sogenannte Testament Stalins, das darauf ausgeht, die westliche Welt in steter Bürgerkriegsbereitschaft zu halten und sie durch stets neue Streitfragen aufzuwühlen. Wenn einmal, so lautet der eindeutige Wunsch dieses Testaments, der Westen sich zerfleischt hat, so wird im entscheidenden Augenblick der Osten, d. h. die Sowjetunion, die Waage zum Schwingen bringen, indem sie ihr eigenes Gewicht, das Gewicht des Schwertes, in die Auseinandersetzungen wirft.

Ein großer Teil der slawischen Expansionsträume ist heute erfüllt. Es drücken jetzt auf die deutschen Grenzen mehr als 200 Millionen Einwohner der Sowjetunion, ferner rund 100 Millionen der Satelliten-staaten, sie alle im Bündnis mit China, einem Sammelvolk von weiteren 600 Millionen. Auf der Ostgrenze der schmal gewordenen deutschen Bundesrepublik, auf Elbe und Werra, auf Hamburg und Lübeck, lastet ein Überdruck von 900 Millionen Menschen, dem gegenüber wir mit 50 bundesrepublikanischen Millionen ein nur schwaches Gegengewicht darstellen.

Osten.)

Begreiflich, daß nicht nur die ergrauten Menschen, die das alles miterlebt haben, sondern auch die jungen Mütter und Väter der kaum geborenen Kinder verzweifelt in die Zukunft blicken, ja vielfach aus lauter Todesangst den Tod suchen. Lind kann nicht — so fragen andere — auch bei größtem Friedenswillen irgendein neuer Brandfunke eine neue Katastrophe bedeuten, sozusagen einen Strich unter die Gesamt-rechnung machen? Bedeutet, was sich in Formosa abspielt, nicht das gleiche, was 1939 in Danzig, oder 1914 in Sarajewo geschah, nämlich den Anstoß zum abermaligen Weltbrand? Es ist keine Schande, über diese Dinge nachzudenken. Es gehört aber bei aller begreiflichen und selbstverständlichen Gefühlsbetontheit dieser Erwägungen ebenso eine gewisse Ruhe, vielleicht auch ein gut Stück Sachkenntnis dazu, um uns doch noch einen Schritt weiterzuführen.

III. Der Religionsfriede von Augsburg 1555

Wieder hilft uns das Jahr 195 5 mit seinen Jubiläen: Das gleiche Augsburg, das demnächst die Tausendjahrfeier der Ungarnschlacht auf dem Lechfeld begehen wird, wird auch der vierhundert Jahre seit dem Religionsfrieden von Augsburg (1 5 5 5) zu gedenken haben. Nach fast vierzigjährigem konfessionellen Kriege wurde damals, als Krönung sechsmonatiger Verhandlungen, endlich „Religionsfrieden“ geschlossen, die erste große Koexistenz des Reformationszeitalters, das Beispiel aller darauf folgenden konfessionellen Pakte Deutschlands und Europas. Ohne den zu erwartenden zahlreichen Predigten und Vorträgen über dieses Jubiläum auch nur das Geringste vorwegzunehmen, wollen wir die Ergebnisse dieses Religionsfriedens nach zwei Gesichtspunkten durchdenken: einmal, wie man solche Friedensschlüsse nicht machen sollte und dann, wie man sie besser machen könnte.

Der Religionsfrieden von Augsburg hat das geschichtliche und kirchengeschichtliche Geschehen seit vierhundert Jahren bis heute insofern entscheidend beeinflußt, als aus ihm in Europa und anderswo die Lehre vom „cuius regio eius religio“ (deutsch: Wes das Land, des die Religion) entwickelt worden ist. Nach dieser Ordnung bestimmte also nicht der Einzelmensch seinen Christenglauben, sondern sein Landesherr. So wurde Österreich, wo damals neun Zehntel der Menschen Protestanten gewesen sind, katholisch; das gleiche geschah in Bayern. Unter den Hohenzollern wurde zuerst die lutherische, dann die reformierte, dann die evangelischunierte Ordnung eingeführt. Dazwischen gab es Enklaven — Inseln —: das evangelische Nürnberg mitten im späteren katholischen Bayern, das katholische Ermland im evangelischen Ostpreußen, Geheim-und Katakombengemeinden in Österreich. Wer der offiziellen Staats(Landes-). Kirche nicht angehören wollte, durfte abwandern.

Ein furchtbarer Konflikt, der in den Betroffenen zweierlei vernichtete: das Recht auf den himmlischen Glauben und das Recht auf die irdische Heimat. Schon damals begann, was in unseren Tagen abermals grausame Wirklichkeit geworden — das Wandern um höchster Werte willen. Die Österreicher zogen nach Nürnberg und Franken, die Engländer nach den Vereinigten Staaten, die Pfälzer nach Ungarn, die Salzburger nach Litauen, die Hugenotten nach Preußen, die Zillertaler nach Schlesien — ein großes Wandern, weil man vergessen hat, den vom „Frieden“ Betroffenen das Recht auf „Glauben und Heimat“ zuzusprechen.

Jenem Religionsfrieden von Augsburg hing etwas an, was sich (in jeweils verschiedener Form) bis heute als verderblich erwies: der Hang zum Monopol des jeweils am Ruder befindlichen Einzel-geistes, zur Monokultur. Damals ging es um die Religion. Die Religion befand sich schon lange vorher in einer gefährdeten Lage, sie war keine echte re-Iigio (Rückbindung an Gott) mehr. Von hier aus setzte eine allgemeine Relativierung der Werte ein, von der neben dem Religiösen selbst der Staat bedroht war.

Monopol der Nation In der Folge geschah daher, daß anstelle der Religion die Nation getreten ist und statt der „Einheit der Religion in einem Staat“ die Uniformität des Volkes gefordert wurde.

Mit ihm konnte man weitere Kreise der inzwischen konsolidierten Territorien ansprechen, weil er eine Saite anschlug, die stets zum Klingen bereit war, ja sogar darunter litt, nicht klingen zu dürfen.

Die Nation wurde zum großen Schlagwort der Französischen Revolution. Während der Napoleonischen Epoche füllte der deutsche Idealismus den Begriff mit sittlichem Gehalt; jedes eigene Volk bildete sich selbst seinen Begriff von der Nation, alle politischen Gruppen bemächtigten sich des Wortes.

Lind hier begann die Zwiespältigkeit in seiner Anwendung. Die einen entwickelten einen Volksbegriff, der fremde Völker friedlich und gleichberechtigt neben sich bestehen ließ, die anderen schlossen die Mit-Herrschaft oder auch nur die Existenz eines zweiten Volkes neben sich aus. Der Riß ging mitten durch die Welt. Für die „Koexistenz“, das Zusammenleben der Nationen in Frieden und Freiheit trat der Tscheche Cheltschitzky ebenso ein, wie der Franzose Voltaire und die Deutschen von Herder bis Fichte. Aber aus den gleichen Nationen ertönte auch der Bannfluch gegen alles, was nicht „gleichblütig“, „gleichsprachig“ oder „gleichrassig“ war; die ersten Chauvinisten unter den Tschechen waren Hus und die Hussiten, unter den Franzosen ihre Jakobiner bis Poincare und Clemenceau, unter den Deutschen die Pangermanisten. Neben ihnen, den jeweils „herrschenden“, oder „Staats-“ oder „Herrenvölkern“, waren die anderen Mitbewohner oder Anrainer nicht Mitbürger, sondern Minderheiten; nicht gleichberechtigt, sondern geduldet; Untermenschen.

Ihren Höhepunkt fand diese Monopolisierung der herrschenden Nation im Versailler Vertrag und im Dritten Reich: „Recht oder Unrecht — mein Volk.“ — „Recht ist, was dem Volke nützt.“ — „Wer die Macht übt, bestimmt die nationale Zugehörigkeit.“

Monopol der Partei Heute tritt anstelle der Nation ein Drittes, die Partei. Ist ihr Monopol schon bei den demokratischen Parteien eine schwere Belastung des Gewissens und des öffentlichen Lebens, so wird die vergiftende Wirkung der Alleinherrschaft einer Partei zur offenen Gefahr, wenn aus der bloßen „Partei“ eine „Religio n“ gemacht wird. Die Partei, unter deren Drude wir alle heute stehen, ist nicht eine harmlose Wald-, Feld-und Wiesenpartei, die durch das Parteibuch ausgewiesen ist, sondern eine Organisation, die von ihren Anhängern bedingungslosen Gehorsam verlangt. Sie ist nicht mehr politische Partei im üblichen Sinne, sondern eine Religiosität, eine Pseudo-Religion mit Liturgie, Dogma und Offenbarung. Ihr Altes Testament heißt: Marx; ihr Neues Testament: Lenin; ihr Gebetbuch stammt von Stalin.

Die neue „Religion“ besitzt — mag sie es noch so hartnäckig leugnen — ihr Ketzergericht; die Inquisition ist wieder auferstanden, kaum daß sich die Methoden verändert haben. „Die Partei, die Partei hat immer Recht“ singen deutsche Jungen heute in Mitteldeutschland, aus dem einst die Reformation aufgebrochen ist. „Wer die Macht hat, bestimmt die Partei“ ist heute die Doktrin auch der „Vereinigten“ und der sogenannten „Einheits“ -Volksdemokratien. Alles u. a. auch merkwürdige Folgen jener großen Monopol-Ordnung vor vierhundert Jahren.

Doch sollten die pseudoreligiösen Attribute nur zufällig in die neue Lehre mit hineingerutscht sein oder sie nur vorübergehend kennzeichnen? Marx’ prinzipielles Anliegen war die Neubegründung des absoluten Humanismus: Die Entmenschung des Menschen ging von diesem selbst aus, da er den Menschen nur auf den Menschen für bezogen hält. Bedarf dieser Mensch aber der Erlösung, dann kann diese wieder nur durch den Menschen kommen:

„Es rettet uns kein höh’res Wesen kein Gott, kein Kaiser, nodt Tribun.

Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun."

So sang der religiöse Kommunismus durch Jahrzehnte, und alle diejenigen, die an solche Selbsterlösung nicht zu glauben vermochten, wurden als Ketzer — wie räudige Hunde — ausgemerzt. Die Partei war Zweckverband, Interessenvertretung, Kultgemeinschaft, Staat und Religion zugleich. Monokultur.

Wie aber, wenn die „Stunde der Befreiung“ verwirklicht, der „klassenlose“ Staat begründet ist — die versprochene Erlösung jedoch ausblieb?

Wenn sich herausstellt, daß auch das Monopol der Partei keine Anwartschaft auf Erlösung enthält?

Vor diesen Fragen steht heute die sowjetische Philosophie und versucht weiterzutasten. Irgendwie spürt auch sie, daß ihre ehemals so lebendige Lehre in dem Augenblick, da sie zum Monopol ausschlug — steril geworden ist. Man hilft sich zwar zunächst mit Kunstgriffen; man behauptet, nicht die „Monokultur“, sondern die Tatsache, daß der sozialistische Staat von aggressiven Feinden umgeben sei, hemme die Erlösung; oder man erneuert die Lehre vom „dialektischen Sprung“, der zunächst eben geglaubt werden muß. Dennoch treten schon jetzt die Kennzeichen zu Tage, die jeder geistigen (nationalen, parteipolitischen)

Bewegung anhaften, sobald sie stagniert: Der lebendige Gedanke wird zum versteinernden Dogma; an die Stelle der weiteren Forschung tritt die reine Autorität, an Stelle befruchtender Vielfalt — die Monokultur.

Aber — wie soll man es wirklich machen? Der Religionsfriede von Augsburg ist nicht nur deshalb verhandelt, beschrieben und in die Tat umgesetzt worden, weil die Menschen so überaus friedliebend waren, sondern auch weil die Menschen, die damals zusammentraten, sehr reale Rechner waren. Es war kein Zufall, daß die Triebfeder des konfessionellen Haders, Kaiser Karl V. von Habsburg, just vorher, 15 54, abdankte, und Ferdinand I. Vollmachten gab, Frieden zu schließen. Wenn die Streitenden dann auch wirklich Frieden schlossen, so deshalb, weil v o r Wien die Türken standen und das europäische Abendland bei Preßburg bedroht war. Die Kämpen jener Tage mußten sich sagen, daß man sich nicht länger gegenseitig zerfleischen und dem vor Europa stehenden Halbmond den Weg ebnen dürfe, daß man sich vielmehr angesichts der Bedrohung und Gefahr zusammenschließen müsse. So ist unter dem Druck der tatsächlichen Bedrohung im Zusammenspiel, aber auch im maßvollen Nachgeben aller, der Religionsfrieden von Augsburg zustande gekommen.

Sind wir heute nicht in einer ähnlichen Lage? Steht heute der Osten nicht etwa wieder in Preßburg, ja in Berlin und Wien? Sprechen nicht sehr viele Anzeichen dafür, daß er in seinen Absichten durchaus nicht bescheiden geworden ist, sich mit dem Erreichten nicht begnügen will?

Ist nicht schon die zahlenmäßig furchtbare Belastung unserer Ostgrenze Anlaß genug, um uns das Trennende zurückstellen zu lassen und uns auf das Einigende zu besinnen? Freilich fordert uns zu solcher „Einigung“

auch die angeblich friedliebende andere Seite auf. Das freilich, was etwa von der kommunistischen Partei von Preßburg, Prag, Warschau bis Pankow und Moskau als „Frieden“ proklamiert worden ist, kann unmöglich als echter Frieden zwischen den Völkern angesehen werden, denn es ist ein Frieden der „Monokultur“ und des Hasses.

Die Völker aber fordern nicht irgendeine Diktatur — regio —, sondern einen frei ausgehandelten Frieden der Ordnung und Vernunft, der ein Frieden aller Nationen sein soll. Zu deutsch: ein Friede der christlichen Liebe!

Im Interesse eines solchen Friedens gibt es für uns eine Reihe ganz konkreter Dinge zu tun: Zuerst müssen wir uns ganz nüchtern über die Vergangenheit Rechenschaft ablegen, dann ebenso nüchtern die Situation der Gegenwart beurteilen; Nüchternheit ist nicht nur eine Forderung des kühlen Intellektes, sondern auch der christlichen Haltung. Eine weitere christliche Forderung ist das Unterlassen von Haßpredigten; man kann nicht vorgeben, Gott zu lieben, und dabei seinen Nächsten hassen. Überlegen wir einmal, ob nicht auch unser Gegner im Grunde auch unser Nächster ist. Diese Überlegung wird sowohl in unserem Bewußtsein als auch in unserer Handlungsweise Folgen zeitigen; die Objekte für beides liegen sehr nahe.

Daraus folgt, daß ein Gespräch mit der anderen Seite notwendig ist. Um dieses Gespräch zu führen, brauchen wir nicht unbedingt eine Reise nach dem Osten anzutreten, das Gespräch kann unter uns und in uns stattfinden, es gibt in den Zeugnissen und in der bloßen Existenz des östlichen Machtblockes genügend Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung. Unbewußt sprechen wir ohnehin mit dem Osten, weil uns der Gedanke seines Vorhandenseins und seiner Drohung jederzeit bei Entschlüssen und Taten beeinflußt oder beeinflussen sollte. Tun wir es also bewußt, vielleicht wird die erste Folge davon sein, daß wir unsere eigene Situation deutlicher als bisher erkennen.

Wir haben uns heute dreier Jubiläen erinnert: Wir erkannten, daß unser Volk geschlagen, aber nicht das einzige geschlagene Volk ist; daß ein großer Teil unseres Volkes wandern mußte, aber nicht der einzige Wanderer in der Welt ist; daß wir zwar leiden, aber dieses Leiden in großen, auch heilsgeschichtlichen Zusammenhängen erblicken dürfen. Von solcher Erkenntnis wollen wir uns zu gemeinsamer Arbeit am Wiederaufbau neu stärken und leiten lassen.

An diesem Wiederaufbau wollen auch wir teilhaben: in Ruhe, Disziplin, Geduld und vor allem im Glauben, daß siegen wird der Friede in Freiheit.

Fussnoten

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