Mit Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir das Buch von Joseph Scholmer: „Die Toten kehren zurück", erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1954. Kürzungen erfolgten im Einverständnis mit dem Autor.
Ein historisches Jahr
Der 19. Parteitag ist die letzte machtvolle Demonstration des Stalinismus. Die Gefangenen verfolgen ihn sehr genau, sie studieren Physiognomie und Aussehen Stalins.
„Warum sitzt er dauernd während der Huldigungen, die ihn umgeben? Kann er nicht mehr aufstehen?“
Mit dem geschärften Instinkt der politischen Gefangenen spüren sie, daß die Huldigungen einem Halbtoten gelten.
Endlich, am Schluß des Parteitages, spricht Stalin selber. Was sagt der Diktator des Kommunismus? Seine Rede ist kurz, es ist eine Ansprache von nur wenigen Minuten, eine Folge leidenschaftloser Plattheiten.
Die Gefangenen sagen:
„Er kann weder sprechen noch denken.“
„Er spricht nicht länger, weil er nicht mehr sprechen kann. Er ist ein Greis, wie lange wird er noch leben? Ein Jahr? Zwei Jahre?
Seit vielen Jahren ist das Ende des Diktators von den Gefangenen mit einer Intensität erhofft werden, die in den Annalen der menschlichen Verzweiflung ihresgleichen suchen dürfte.
Die Fotos anläßlich des Parteitages sind Gegenstand der ausführlichsten Betrachtungen.
„Er sieht alt genug aus, hoffentlich wird er bald krepieren“, sagen die Gefangenen.
Sie wissen: solange Stalin lebt, haben sie nicht die geringste Chance, aus dieser Hölle herauszukommen.
Der 19. Parteitag gibt ihren Hoffnungen neuen Auftrieb.
Als Radio Moskau die historische Apoplexie verkündet, geht eine Woge der Hoffnung durch die Lager: sicher wird er nicht wieder genesen. Die ärztlichen Bulletins sind im Ton eines dämpfenden, das Ende vorbereitenden Pessimismus gehalten. In jeder freien Minute umlagern die Gefangenen den Lautsprecher. So vergehen vier Tage in einer zunehmenden Spannung, endlich in die Gewißheit mündend, daß er sich nicht mehr, wie Lenin, auch nur vorübergehend erholen wird.
„Sag mir, Batja, du bist Arzt, was heißt das: er kriegt Sauerstoff? Kann er davon noch einmal gesund werden?“
Ich antworte: „Wenn es stimmt, was sie im Radio sagen, wird er sterben. Vielleicht ist er auch schon gestorben, aber sie verkünden es dem Volk nicht, bevor sie nicht eine neue Regierung haben.“
AIs die Mitteilung von seinem Tode kommt, liegen bärtige Muschiki mit Tränen in den Augen auf den Knien und beten. „Neunzehn Jahre bin ich jetzt im Lager“, sagt ein Grusinier, „aber eine so gute Nachricht habe ich noch nie bekommen.“
„Gott hat die Juden errettet“, flüstert mir ein polnischer Zionist zu, der, einst der Gestapo entronnen, 1940 zu fünfzehn Jahren verurteilt worden ist. „Wenn er nicht gestorben wäre, es hätte wieder Pogrome gegeben wie zur Zeit der Schwarzen Hundert oder Petljuras oder Hitlers.“
Als ich heißes Wasser für meine Baracke hole, begegne ich auf dem großen Lagerboulevard meinem besonderen Freund, einem alten Usbeken. Er spricht nur wenig Russisch und kein Wort Deutsch. Ich verstehe kein Wort Usbekisch. Er bleibt vor mir stehen. Ich klopfe ihm auf die Schulter; er lächelt mich an. Dann zwirbelt er einen nicht vorhandenen Schnurrbart, schließt die Augen, legt den Kopf leicht zur Seite, führt die flache Hand an die Wange und sagt:
„Spit. Er schläft.“
Er lächelt wieder eine Weile. Dann fügt er hinzu:
„Choroscho! Gut!“
Als später Stalins Sektionsbefund veröffentlicht wird, wird die Taktik der vier Tage klar: schon am ersten Tage der Apoplexie ist er gestorben. Man hat jedoch die Bekanntgabe seines Todes vier Tage lang verzögert, um die neue Regierung zu konstituieren und mit einem fertigen Programm vor die Öffentlichkeit der Sowjetunion und des Westens zu treten.
In der Regierung taucht Schukow auf, von Stalin 1946 wegen seiner allzu großen Beliebtheit in der Armee zum Militärgouverneur von Odessa degradiert. Schukow ist auch unter den Gefangenen populär, viele kennen ihn. Sie beginnen Hoffnungen zu haben:
„Wenn er in der Regierung sitzt, wird er dafür sorgen, daß wir hier herauskommen.“
Die Trauer der neuen Regierenden um den toten Diktator ist eine kalte Trauer. Sie wissen, wie unbeliebt Stalin war, und sie kennen die Seufzer der Erleichterung, die in diesen Tagen überall in der Sowjetunion ausgestoßen werden.
Im Lager sagt ein Moskauer Journalist:
„Im Grunde sind sie froh, daß der Alte tot ist. Sie haben mit ihm gearbeitet, aber er hat sie terrorisiert, und sie haben ihn gehaßt. Jedem von ihnen drohte das Schicksal Wosnessenskis, den er wegen allzu großer Selbständigkeit hatte verschwinden lassen.“
Die Anteilnahme des Landes ist offiziell und ohne Herzlichkeit. Niemand hat ihn geliebt. Die nächsten Maßnahmen bestätigen, in welchem Umfange die neuen Männer mit ihm unzufrieden waren. Sie entledigen sich der Menschen, mit denen Stalin sie an der Kehle hielt: Ignatjew wird abgesetzt, Rjumin, der Vertraute Stalins, wird verhaftet und zum Volksfeind erklärt.
Die Erklärung Churchills, man müsse den neuen Männern des Kreml eine Chance geben, ihren Friedenswillen zu beweisen und sich friedlich zu entwickeln, löst in den Lagern große Enttäuschung aus.
Serjoscha sucht mich auf und fragt:
„Hast Du das gelesen?"
Er ist verzweifelt:
„Die Chance dieses Jahres ist einmalig, aber nur, wenn der Westen angreift. Der Kreml muß attackiert werden, von allen Seiten und mit allen Mitteln. Nur dadurch kann man die Position derer stärken, die für eine Verständigung mit dem Westen sind. Es ist falsch zu denken, daß die gemeinsame Gefahr eine Gangsterbande zusammenschweißt. Wenn man ihr eine Chance der Kapitulation bietet, verbunden mit der ultimativen Drohung ihrer Vernichtung, brechen sie auseinander.“
Anschließend entwickelt er in einem Gespräch seine Meinung über die Politik der Engländer in der Sowjetunion seit 1917. „Im Grunde", sagte Serjoscha, „haben die Sowjets ihre Existenz nur den Dummheiten der englischen Politik zu verdanken. Die Hebamme bei der Geburt des Bolschewismus war Buchanan. Er hat Kerenski gemanagt. In den wenigen Monaten zwischen Februar und Oktober 1917 haben die beiden eine Dummheit nach der anderen gemacht. Buchanan hat die Probleme Rußlands mit englischen Augen gesehen. Niemals konnte er auf die ! dee kommen, eine Agrarreform zu machen, deren Durchführung allein schon genügt hätte, die Massen der russischen Bauern auf die Seite Kerenskis zu bringen und die Oktoberrevolution unmöglich zu machen. Sie haben es unterlassen, durch eine Sozialreform die sozialdemokratische Arbeiterschaft zu entradikalisieren.
Mit diesen beiden Reformen wäre der Versuch, den Krieg gemeinsam mit den westlichen Alliierten gegen Deutschland weiterzuführen, vielleicht erfolgreich gewesen. So aber war er dazu angetan, die letzte noch fehlende Voraussetzung für den Erfolg der Oktoberrevolution zu schaffen. Lenin gewann sie mit den Parolen „Friede" und „Das Land den Bauern". — Die Politik Buchanans endete mit der Erschießung der Zaren-familie deren Aufnahme in England abgelehnt worden war, weil die englische Regierung ihre Beziehung zu der neuen Kerenski-Demokratie nicht belasten wollte.
AIs es zu spät war, haben sie endlich begriffen, was sie angerichtet hatten, und versucht, in Archangelsk zu retten, was noch zu retten war;
ein kindlicher Versuch, denn in dieser Zeit war Lenin, der die Arbeiter und Bauern Rußlands tatsächlich hinter sich hatte, mit einer solchen Expedition nicht mehr zu schlagen. Zehn Jahre später lief die Politik Stalins dahin, im Herzen Europas einen kriegerischen Konflikt unter den Westmächten zu schallen, der es der Sowjetunion ermöglichte, am Ende des Konfliktes über die geschwächten Partner herzufallen. Man weiß heute aus den intimen Besprechungen Stalins, daß er mit dieser Möglichkeit bereits gespielt hat, bevor Hitler in Deutschland an der Macht war Die Engländer haben ihm dadurch n die Hände gearbeitet, daß sie 1935 die Aufrüstung Hitlers gegen den Willen Frankreichs tolerierten. Schon drei Jahre später war ihre Diplomatie gezwungen, sich gegen den gleichen Hitler zu wenden, den sie eben erst unterstützt hatte.
1939 wurden sie von dem Nishtangriffsabkommen zwischen Molotow und Ribbentrop überrascht Noch immer hatten sie nicht begriffen, daß es ihre Sadie gewesen wäre, die Expansion Hitlers durch einen Nichtangriffspakt England—Deutschland gegen Osten zu lenken, den Krieg dort zu entfesseln, wo et Hitler wie Stalin gleichzeitig geschwächt hätte, uni beiden das Schicksal zu bereiten, das Stalin Hitler und dem Westen zugedacht hatte.
19-4 verkannten sie Existenz und Absichten einer breiten deutschen innenpolitischen Opposition, die entschlossen war, mit Hitler Schluß zu machen und gemeinsam mit den westlichen Alliierten gegen die Sowjets zu gehen.
Seit 1944 besitzt der Westen die Atombombe, setzt sie aber nicht ein. „Wahrscheinlich", sagt Serjoscha, „stecken auch da die Engländer dahinter. Jetzt lese ich", schließt er, „man soll den neuen Männern eine Chance geben. Der Westen wild sich wundern, welchen Fußball dieses neue Team bei den internationalen Matches spielt, wenn ihnen Zeit gelassen wird, in Ruhe eine Mannschaft aufzustellen. Der Westen gibt den Sowjets eine Chance, aber er wird diese Chance teuer bezahlen. Der Tod Stalins hat die Politik des Kreml von der Arteriosklerose befreit, das ist alles. Seine Jünger werden sehr viel elastischer und gefährlicher sein als der Alte.“
* Die nächste Sensation dieses Frühjahrs ist eine erste Etappe von dreiundfünfzig Gefangenen, ausschließlich Ausländern: Deutsche, Polen, Ungarn, Rumänen und Japaner. Sie werden ärztlich untersucht; der Befund wird in großen Fragebogen festgehalten. Sie werden neu eingekleidet und verlassen mit der offiziellen Mitteilung, daß sie nach Hause fahren werden, das Lager. Gleichzeitig teilt die Lagerführung offiziell mit, daß alle Ausländer in diesem Jahr in die Heimat fahren werden. Diese Maßnahme macht Berija, den obersten Chef der Lager, populär. Die Entlassung kann nur seine Initiative sein.
Die Inländer sagen:
„Wenn sie euch entlassen, so wird es auch uns besser gehen. Man kann hoffen, daß auch für uns bald eine große Amnestie kommen wird.“
In unserem Lager leben Gefangene, die Berija kennen. In den zahlreichen Diskussionen, die sich um seine Person ergeben, charakterisieren sie ihn:
„Er ist kein Ideologe, wie Malenkow oder Molotow. Er war ein Fouch für Stalin; er wird ein Fouch auch für den Westen sein.“
Seit Bestehen der Sowjetunion ist diese Etappe die erste Amnestie für politische Gefangene, auch wenn sie sich nur auf Gefangene erstreckt, die unschuldig sind.
AIs sie abfahren, werden sie begleitet von den Wünschen und Hoffnungen derer, die zurückbleiben müssen.
Bald kreuzen Gerüchte auf, die wissen wollen, daß sie in die Heimat gelangt sind. Zwei Monate später, als die Lager schon überzeugt sind von der endgültigen Rückkehr dieser dreiundfünfzig, trifft ein Gefangener aus Moskau ein. In der Peresilka Moskau war er zusammen mit einem Deutschen, der ursprünglich zu den Dreiundfünfzig gehörte, dessen Staatsangehörigkeit sich jedoch später als unklar erwiesen hat. Zur Klärung seines Falles hat man ihn nach Moskau übergeführt. Dort hat er unserem Zeugen berichtet:
„Alle Etappen des Juni 1953, insgesamt fünfzehnhundert Menschen, liegen in Tapiau bei Königsberg in einem großen Sammellager. Der Transport ist nach der Verhaftung Berijas angehalten worden und geht nicht weiter. Kommissionen befassen sich erneut mit den Akten der Gefangenen. Laufend werden einzelne herausgeholt und wieder nach Osten abtransportiert.“ Erst in Deutschland erfahren wir endgültig das Schicksal der fünfzehnhundert: Nur zwei Monate vor uns sind sie in die Heimat gelangt. Einige hundert von ihnen sind aber wieder in die Lager zurückgewandert.
Der Fall Berija wird damit blitzartig erhellt: eine seiner ersten Maßnahmen war die Entlassung der Ausländer aus den Gefangenenlagern der Sowjetunion. Sein Sturz hat verhindert, daß dieser Plan und der Plan des großen Kompromisses mit dem Westen sich erfüllt haben.
* AIs Gast der Sowjetunion habe ich viele unwahrscheinliche Dinge erlebt, niemals aber habe ich mir träumen lassen, daß ich im Vaterland der Werktätigen, des siegreichen Proletariats, einen wochenlangen Streik erleben würde, durchgeführt von mehr als zehntausend Bergarbeitern mit Streikparolen und Streikkomitees, mit Flugblättern und Streikbrechern, ein Streik, der nicht anders endet als jener historische Aufstand in den sibirischen Minen der Lena-Goldfield-Company, den die zaristische Polizei im Jahre 1912 genau so zusammengeschossen hat wie die bolschewistische den unseren des Jahres 195 3.
Dieses überraschende Phänomen des Streiks hat einige Voraussetzungen: Die erste ist jene Verbesserung der Lebensbedingungen der Gefangenen, die sich in den Jahren 1951/52 vollzogen hat. Ihre Gründe sind nicht humanitären Charakters. Eine Reihe von Jahren hindurch hat die sowjetische Regierung in ihren Lagern Millionen von Menschen zugrunde gehen lassen, ohne eine einzige Maßnahme dagegen zu treffen. Inzwischen aber ist durch die hohe Sterblichkeit die Zahl der Gefangenen so abgesunken, daß die Durchführung der Planvorhaben Workutas mehr als gefährdet ist. Im Sommer 195 3 fehlen in den Schächten, die bevorzugt mit Arbeitssklaven beliefert werden, schon 20 Prozent der Belegschaft; vergeblich fordert der Schacht 6 von seinem Lager dreihundert Betriebsarbeiter.
Der gesundheitliche Verschleiß der Gefangenen vollzieht sich schnell und unaufhaltsam. Schon jetzt ist abzusehen, daß die Produktion der .
Schächte in noch größerem Ausmaß als bisher sinken wird.
Dieser Mangel an Arbeitskräften, ein Charakteristikum der Sowjetunion von heute, ist mitbedingt durch die außerordentlichen MenschenVerluste während des Krieges und dadurch, daß heute noch immer Millionen Männer unter Waffen stehen. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte Rußlands werden Frauen und Jugendliche in den Arbeitsprozeß eingespannt. Als im Sommer 1953 die üblichen Waggons mit Kohl aus dem Süden einzutreffen beginnen, besteht das Begleitpersonal nur aus Frauen. Sie erzählen, daß durch die Mobilisierung ganzer Jahrgänge die Kolchosen ihres Rayons fast ohne Männer sind. In den Berichten über die Planerfüllung stehen die Brigaden der noch nicht wehrpflichtigen Jugendlichen, der sechzehn-, siebzehn-, achtzehnjährigen Komsomolzen an erster Stelle.
Die Regierung war gezwungen, die Lage der Gefangenen zu verbessern, um deren Arbeitskraft so lange als möglich zu erhalten. Im Jahre 1952 wurde in den Lagern die Bezahlung für geleistete Arbeit eingeführt;
jeder Gefangene erhält einen Teil des Geldes, das von der Schachtverwaltung, der Eisenbahn oder den kommunalen Verwaltungen an das Lager für die Arbeitsleistung gemieteter Gefangener gezahlt wird.
Der Schacht zum Beispiel zahlt an das Lager pro Monat für einen Bergarbeiter zwölfhundert Rubel. Von diesem, recht stattlichen Monatseinkommen werden dem Gefangenen abgezogen: die Unkosten für seine Unterbringung, Verpflegung, Bekleidung und Bewachung (der Stacheldraht geht also zu Lasten der Gefangenen). Mehr als dreihundert Rubel *)
pro Monat werden ihm nicht ausgezahlt. Hat ein Gefangener darüber hinaus verdient, so geht der Betrag auf ein Sperrkonto, das ihm bei der Entlassung zur Verfügung steht. Dreihundert Rubel sind also das Maximaleinkommen, das im übrigen nur von solchen Bergarbeitern erreicht wird, die ihre vorgeschriebene Norm erfüllen. Demgegenüber sind viele Gefangene vollkommen ohne Einkommen: die meisten der Arbeiter im inneren Lagerdienst (in.den Baracken, der Küche, den handwerklichen Betrieben, bei den Bauten) erhalten nicht eine Kopeke. Sie haben nur Anspruch auf „freie Station“. Die Baubrigaden des Außendienstes verdienen bis zu hundert Rubel, aber auch nur bei Normerfüllung. Bei den meisten Objekten ist jedoch die Norm so hoch, daß sie von zahlreichen Gefangenen nicht erreicht werden kann. Diese verdienen zwanzig bis vierzig Rubel im Monat. Wer weniger als 60 Prozent seiner Norm erfüllt, erhält kein Geld. Außerdem bekommt er einen „Strafkessel“, d. h. eine verminderte Lebensmittelration.
In allen Lagern wurden Verkaufsläden eingerichtet, in denen Lebensmittel, wenn auch nicht uneingeschränkt, zu haben sind. Sie führen hauptsächlich Marmelade, Fischkonserven, Zucker, Margarine und billige Textilien. Die Belieferung ist nicht regelmäßig. Manchmal vergehen Monate, ehe Zucker angeliefert wird. Außerdem hat die staatliche Verwaltung eine Tendenz, solche Waren in diesen Läden umzusetzen, die zu kostspielig sind, um von der „freien“ Bevölkerung gekauft werden zu können. Es gibt zum Beispiel Pralinen, von denen das Kilo vierzig Rubel kostet.
In jedem Lager wurde ferner ein sogenanntes „freies Restaurant“ eingerichtet, in dem gegen Bezahlung „Schtschi", „Kascha“, Suppen, Makkaroni und gelegentlich als besondere Kostbarkeit Kartoffelbrei zu haben sind. Fast alle Bergarbeiter essen zusätzlich zur Normalverpflegung, die sie in der allgemeinen „Stolowaja" einnehmen, im „freien Restaurant“, wo sie einen großen Teil ihrer Löhnung ausgeben.
Die Lagerverwaltungen gaben bessere Kleidung aus. Erstmalig im Jahre 195 3 wurde warmes Unterzeug geliefert, bevorzugt an Brigaden, die im Bergwerk und auf den offenen Baustellen tätig waren.
Alte Baracken wurden abgerissen und durch neue ersetzt. Sie sind mit den Baracken der Jahre 1943/47 nicht mehr zu vergleichen. Sie sind hoch, geräumig und stellen für die Gefangenen eine außerordentliche Verbesserung dar.
Der Schacht 9/10 baute ein neues Ambulatorium, zu dem die Gefangenen das gesamte Baumaterial aus dem Schachte gestohlen haben! Dieses Ambulatorium, eines der besten von Workuta, it ausschließlich von deutschen Handwerkern errichtet.
Das Lager des Schachtes 6 baute im Jahre 1953 zwei neue Kranken-baracken und ein neues Ambulatorium, in der äußeren Architektur Puschkins Landhaus in Michalowskoje sehr ähnlich. Die Bibliotheken erhielten mehr Bücher. Die Zahl der Theateraufführungen wurde vermehrt. General Derewjanko befahl die Gründung einer von Schacht zu Schacht wandernden Kulturgruppe.
In allen Lagern wurden Fußballmannschaften gegründet, die unter großer Anteilnahme des Lagers Pokale ausspielten. An einem Sonntagnachmittag überflog während eines solchen Spieles ein viermotoriges Flugzeug in seht großer Höhe den Raum Workuta.
Ein Russe sagt:
„Wenn das Amerikaner sind, die uns photographieren, werden sie sich den Kopf zerbrechen, was da in den Lagern los ist. Niemand wird auf die Idee kommen, daß wir hier Fußball spielen.“
Das Leben der Gefangenen verbesserte sich. Der Hunger verschwand. Die Gefangenen, ihrer unmittelbaren und täglichen Sorge, des Hungers, ledig, hatten Zeit und begannen, über das Prinzipielle ihrer Situation nachzudenken. Sie stellten fest, daß sich zwar allgemeine Dinge gebessert hatten, nicht aber die grundsätzlichen. Sie wurden besser ernährt, ihr Strafmaß aber war unverändert geblieben.
Die Regierung ernährte sie so gut, daß sie anfangen konnten, über eine Revolte nachzudenken.
Trotzdem war die wesentliche Voraussetzung für den Streik die Existenz der Widerstandsgruppen in den Lagern. Diese Gruppen sind nicht speziell für den Streik geschaffen worden; sie bildeten aber die notwendigen technischen und personellen Voraussetzungen für eine kollektive Widerstandsaktion. Die Streikleitung war zum Teil personell identisch mit den Führungsgruppen, zumindest aber von ihnen ausgewählt und bestimmt. Sie konnte sich eines Apparats bedienen, der sorgfältig aufgebaut war und zuverlässig arbeitete.
* Ob der Streik von Workuta ohne das Beispiel des 17. Juni zustande gekommen wäre, ist schwer zu sagen.
Vor dem 17. Juni ist in den Lagern der Gedanke eines Massenstreiks weder von den Gefangenen, noch von den Führungen der Widerstandsgruppen erwogen worden. Diese warteten auf den Krieg, die große Hoffnung der Sowjetunion im Sommer 1953. Die Ereignisse des 17. Juni änderten diese Überlegungen schlagartig. Die Gefangenen sahen das Beispiel eines realisierbaren Nahziels vor Augen: der Krieg ist ohne den Westen nicht möglich; der Streik ist ohne ihn möglich. Der Prozeß dieses Bewußtwerdens dauerte einige Wochen.
Die Denkprozesse in den Köpfen der Masse, die in den Lagern den Streik tragen mußte und ohne deren tätige Mitarbeit er unmöglich gewesen wäre, verlaufen langsam. Es ist jedoch mit Sicherheit anzunehmen, daß der Prozeß der geistigen Fermentation, der sich in den Gehirnen der Gefangenen zwischen dem 17. Juni und dem Beginn ihres eigenen Streiks Ende Juli abspielte, im Fall eines wochenlang dauernden Generalstreiks der Sowjetzone direkt und unmittelbar ohne eine Zwischenpause den Streik in Workuta ausgelöst hätte. Die Atmosphäre ließ schon damals an Spannung nichts zu wünschen übrig; die Entladung — das fühlte jeder instinktiv — war unmittelbar zu erwarten.
Obschon die offiziellen Verlautbarungen über den 17. Juni verzögert und verfälscht erfolgten, war es den Gefangenen möglich, sich aus den offiziellen Rundfunk-und Pressenachrichten ein objektives Bild von den Geschehnissen zu machen. Die Gefangenen verstehen, zwischen den Zei-len zu lesen und die verdeckten Untertöne von Radionachrichten mitschwingen zu hören. So spürte auch der einfache Mann auf der Lager-straße instinktiv, daß sich in Berlin und in der Ostzone eine Revolte gegen das gleiche Polizeisystem abspielte, von dem er selber verhaftet, verurteilt und zum Sklaven gemacht worden war.
Die „Prawda“, die vor dem Klub als Wandzeitung aushängt, ist bei solchen Gelegenheiten dauernd von einer Menschentraube umlagert. Nur die Vordersten können den Text lesen.
„He, Väterchen“, ruft es von hinten, „wir müssen zur Nachmittagsschicht, haben keine Zeit zu warten, bis Du zu Ende gelesen hast. Lies laut vor!“
Die Veröffentlichungen der sowjetischen Presse geben den Aufstand zu, betonen aber gleichzeitig seinen Zusammenbruch, die „Abwehr einer schmutzigen Provokation Adenauers“ und die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. So war die Nachricht zwar stimulierend, aber nicht mehr. Man diskutierte die Veröffentlichungen, sah sich jedoch nicht zu sofortigen Konsequenzen veranlaßt.
Die letzten Zweifel darüber, daß es sich am 17. Juni um eine aus der Arbeiterschaft kommende Streikbewegung handelte, nicht aber um eine vorbereitete Provokation Adenauers oder der Amerikaner, beseitigt der Abschlußbericht des Zentralkomitees der SED.
„Die SED“, so liest einer aus der Wandzeitung den hinter ihm Stehenden vor, „wird in Zukunft ihr Gesicht der Arbeiterklasse zuwenden.“
Darauf ein Zuhörer laut, unter dem Gelächter der anderen: „Also, was hat sie den Arbeitern bisher zugekehrt? Den Arsch!“
* Ich lege die uralte Nummer des „Ogonek“ beiseite, in der ich eben das ehrwürdige Haupt des Dekans von Canterbury betrachtet habe, der immer so freundlich von der Sowjetunion spricht. Er sollte uns doch einmal hier besuchen! Es ist eine laue Sommernacht, Juli 1953, gegen zwölf UIhr. Der Trockenraum meiner Baracke ist fast leer. An einem kleinen Tisch in der Ecke spielen zwei Gefangene Domino. Ich kann mein Feuer ausgehen lassen. Heute hat es nicht geregnet, es gibt nichts zu trocknen.
Ich sage den beiden, daß ich einen Freund in der Nachbarbaracke besuche. Eigentlich sollten alle Türen verschlossen sein, aber die nachlässigen Posten lassen sie häufig offen.
„Geh ruhig, wir passen auf, daß nichts gestohlen wird.“
Ich finde Georg vor seiner Baracke auf einer Bank. g „Guten Abend, Genosse Suschiltschik", sage ich.
„Guten Abend, Herr Kollege“, antwortet Georg.
Georg ist Ingenieur, ich bin Arzt. Da wir Deutsche sind, gibt es in Workuta für uns keinen Platz in unseren Berufen. Auf unserer bisherigen Odyssee durch zahllose Arbeitsbrigaden haben wir alles hinter uns gebracht. Wir haben Löcher für die Fundamente der Bauten des Kommunismus ausgehoben. Wir haben Ziegelsteine geschleppt, Beton gemischt und Mörtel getragen. Wir waren zusammen auch auf dem Holzplatz. Aber jetzt haben wir es geschafft. Wir sind Invaliden, sitzen auf einer Bank vor der Baracke und betrachten die Schönheit der Tundra in der Mittsommernacht. „Willst Du Tee trinken?“ fragt Georg.
„Gern.“
In einigen hundert Metern Entfernung zieht sich die Straße zur Gruppe der nordwestlich von uns liegenden Schachtlager. Dahinter liegt die Eisenbahn. Sie gabelt sich: eine Linie führt geradeaus und verschwindet am Horizont der Tundra; ihr Ziel ist ein Hafen am Eismeer, etwa sechzig Kilometer nördlich von uns.
„Ich weiß nicht, was das ist“, sagt. Georg. „Seit gestern abend kommen keine Kohlenwaggons mehr aus den Schächten. Alles ist ruhig. Die Lokomotive schleppt leere Waggons herauf, bringt aber keine Kohle zurück.“
„Vielleicht eine technische Störung.“
„Das glaube ich nicht. Wenn es sich nur um einen Schacht handeln würde, ja! Aber drei Schächte?“
Gegen halb zwei nachts kommen die Leute der Nachmittagsschicht aus dem Schacht zurück und berichten, daß im Schacht 7 ein Streik ausgebrochen ist. Ein Lokomotivführer, der im Schacht 7 war und mit seiner Lokomotive beladene Waggons aus unserem Schacht geholt hat, hat davon erzählt. Es ist eine elektrisierende Nachricht. Wir bleiben noch stundenlang auf und diskutieren sie. Der nächste Tag bringt eine Einzahl weiterer Neuigkeiten, die sich zu einem guten Teil als das herausstellen, was man eine „Parascha“ nennt, einen Kübel, auf gut Deutsch also eine Latrinenparole. Manche von den unsinnigen Gerüchten mögen vom MGB absichtlich zu unserer Verwirrung ausgestreut worden sein. Immerhin, daß der Schacht 7 streikt, ist sicher. Aber noch fahren Lokomotiven einzelne beladene Waggons ab! Also arbeiten die anderen am gleichen Eisenbahnstrang liegenden Schächte doch noch?
Ein Gerücht kommt auf, im Schacht 40, dem größten und modernsten Workutas, werde ebenfalls gestreikt. Am nächsten Tag streiken angeblich die Schachtlager unmittelbar an der Stadt. Alle Gerüchte sind mit konkreten Details über Herkunft und Übermittlungsform ausgestattet; ein „Freier“,, der im Schacht arbeitet, und dessen Frau heute in der Stadt Workuta war, hat dem Brigadier des 6. Utschastok selber erzählt, daß der Schacht 1 in Streik getreten ist.
Im Laufe des Tages entwickelt sich — in der Fama — aus dem Streik im Schacht 40 eine Schießerei, bei der es Tote und Verletzte gibt. Am Abend stellt auch der Schacht 8 — laut Gerücht — die Arbeit ein.
Zunächst ist es unmöglich, sich ein klares Bild zu machen. Dann beginnen die Konturen der Tatsachen sich langsam abzuzeichnen. Es streiken mit Sicherheit die Schächte 7, 14/16 und 29. Außerdem streiken die Gefangenen der großen Baustelle des neuen Elektrizitätswerkes, die in der Nähe der streikenden Schächte gelegen ist.
Den Vorfall aber, der diese Ereignisse ins Rollen brachte, hatten wir von unserem eigenen Lager aus beobachten können. Vor ein paar Nächten ist ein aus Richtung Workuta kommender Spezialgefangenentransport langsam an unserem Schacht vorübergefahren. So ein Zug besteht aus etwa fünfzig zweiachsigen, verschlossenen Güterwagen; Telefonleitungen gehen von Waggon zu Waggon, auf Dächern und Puffern hocken Posten mit Maschinenpistolen, der Kohlenbunker der Lokomotive ist mit einem Maschinengewehr garniert. Hinter den schmalen, vergitterten Fenstern sind die Köpfe der Gefangenen sichtbar.
„Otkuda, woher?“ fragen unsere Leute.
„Karaganda.“
Der Zug nimmt langsam die große Schleife, die zum Schacht 7 führt, und hält dort auf einem Abstellgleis. Am nächsten Tag fahren die Waggons leer zurück.
Drei Tage später bricht der Streik in Schacht 7 aus. Die Karaganda-Leute haben ihn ausgelöst.
Die Gefangenen des Bezirkes Karaganda leben unter etwas günstigeren klimatischen und allgemeinen Bedingungen als die in Workuta. Vor allem fehlt in Karaganda der lange und mörderische Winter des Polarkreises. Als der Mangel an Arbeitskräften durch die Zunahme von Bauobjekten und die zunehmende Invalidisierung der Gefangenen in Workuta sich verschärfte, entschloß sich die MGB-Zentrale in Moskau, einen Nachschubtransport aus Karaganda nach Workuta zu schicken. Dieser setzte sich aus Gefangenen zusammen, die in Karaganda unter halbfreien Bedingungen gelebt hatten; sie hatten dort meist Bauarbeiten verrichtet. Auch die Anwerbung für Workuta erfolgte auf freiwilliger Basis. Man versprach den Leuten bessere Bezahlung als in Karaganda und die Ansiedlung als Freie.
In Workuta nun wurden diese Gefangenen nach ihrer Ankunft in eines der üblichen Regimelager übergeführt; ihre Lebensbedingungen unterschieden sich in nichts von denen der alten Workuta-Gefangenen. Lind von einer Ansiedlung als Freie konnte schon deshalb keine Rede sein, weil dafür keinerlei praktische Voraussetzungen vorhanden waren.
Darauf verweigerten die Karaganda-Leute in ihrer ungeheuren Enttäuschung zum Zeichen des Protestes vom Tag ihres Eintreffens ab jede Arbeit. Als ihnen offiziell mitgeteilt wurde, daß sich die Verwaltung der Schachtlager Workuta an irgendwelche Zusagen, die in Karaganda vielleicht gemacht worden seien, nicht halten könne, versuchten sie mit Erfolg, auch die alte Lagerbelegschaft gegen die Verwaltung aufzustacheln. Sie fanden eine allgemeine Situation vor, die für einen Erfolg mehr als vielversprechend war. Die alte Schachtbelegschaft erklärte sich mit den Karaganda-Leuten solidarisch. Nach wenigen Tagen schon befand sich der Schacht 7 im Generalstreik. Weder die Schachtgesellschaft noch die Kommados der Bauobjekte außerhalb des Lagers gingen zur Arbeit. Vom Schacht 7 griff der Streik dann auf den Schacht 14/16 und den Schacht 29 über.
Der Schacht 6, der Schacht unseres Lagers, sollte der vierte sein, der sich dem Streik anschloß.
* Einige Gefangene in unserem Lager, die den Schacht 7 kennen, weil sie dort Jahre hindurch gelebt haben, schildern seine Atmosphäre.
„Sein Charakteristikum ist eine Mischung von guter Intelligenz und robusten, energischen, einfachen Menschen.“
Die Atmosphäre des Schachtes 7 ist anders als die unsre. Sie entspricht etwa der des Schachtes 9/10. Die Menschen sind härter, es ist eine Auslese der Entschlossenen. Als unsere Verhafteten später aus der „Peresilka" zurückkehren, wohin sie zum Verhör durch die Kommission Maslennikow gebracht worden waren, erfahren wir die Vorfälle im Schacht 7. Die Belegschaft wählte ein offizielles Streikkomitee, dessen Forderung an die Lagerverwaltung lautete: Entsendung eines Bevollmächtigten des Ministerrats der UdSSR oder des Politbüros. Sie wollen direkt und unmittelbar ihre Forderungen vortragen können und lehnen es ab, mit irgend jemand zu verhandeln, der nicht aus dem Kreml kommt.
Die Verhandlungen der Lagerkommandantur, die Gefangenen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen, verlaufen ergebnislos. General Derewianko erscheint und versucht, in einem „Meeting" den Streik bei-zulegen. Die Gefangenen benutzen das „Meeting" für ihre eigene Propaganda. Ein Sprecher tritt auf und fragt den General, ob die Forderung der Streikenden: Entsendung eines Bevollmächtigten des Kreml, erfüllt wird. Als er verneint, löst der Sprecher das „Meeting“ auf mit der Begründung: „Wir haben mit Ihnen nichts zu verhandeln, wir wollen mit einem Verantwortlichen aus Moskau selbst sprechen.“
Ein zweiter Versuch verläuft ähnlich. Dann wird der Schacht, wie alle Lager, umstellt und eingekreist.
Die Forderungen der Gefangenen, durch ihre einzelnen Streikkomitees vorgebracht oder von einzelnen auf Befragen geäußert, gruppieren sich im wesentlichen um den gleichen Mittelpunkt: Aufhebung oder wesentliche Herabsetzung der verhängten, meist jahrzehntelangen Strafen. Die Formulierungen, die dabei von einzelnen Gruppen gebracht werden, differieren sehr. Einige z. B. verlangen die Revision aller politischen Verfahren, einschließlich der Urteile. Andere fordern einfach eine wesentliche Herabsetzung der Strafmaße, ohne sich über die juristische Form Gedanken zu machen. Wiederum andere fordern die Ansiedlung als „Freie", wobei sie bereit sind, in Workuta zu bleiben. Ja, sie sind sogar bereit, als „Freie“ weiter in den Schächten zu arbeiten, bis eine neue Basis für die Kohlenförderung dadurch geschaffen wird, daß man entweder in der Sowjetunion durch propagandistisch geschickte und finanziell verlockende Angebote Arbeitskräfte gewinnt oder die Komsomolzen für ein „Dienstjahr“ im Norden verpflichtet. Am drastischen äußerten sich die Mitglieder einer Baubrigade, die am zweiten Streiktag von einem Soldaten aufgefordert wurden, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sie stellten die einfache Frage:
„Ist der Zaun schon weg?“ und erklärten, nicht eher arbeiten zu wollen, bis der Zaun aus Stacheldraht und Wachtürmen beseitigt sei.
Das Gros der Gefangenen ist sich von vornherein darüber klar, daß die Regierung ihre Forderungen in vollem Umfang niemals akzeptieren wird. Sie denken an irgendeinen Kompromiß: Anrechnung der Strafe im Verhältnis 1 : 3 oder 1 : 5, beginnend mit dem ersten Strafjahr. Nur wenige Gefangene sind sich darüber klar, daß die sowjetische Regierung gar nicht in der Lage ist, sich auf eine — noch so unvollständige — Erfüllung solcher Forderungen einzulassen.
* Schon kurz nach Beginn des Streiks erläßt die Verwaltung der Regime-lager folgende Anordnung:
1. Die Gefangenen werden nachts nicht mehr eingeschlossen. 2. Die Gitter vor den Fenstern sind zu entfernen.
3. Die Nummern auf dem linken Ärmel und dem rechten Hosenbein sind abzutrennen.
4. Jeder Gefangene hat das Recht, statt wie bisher zwei Briefe jährlich, ab sofort monatlich einen Brief an seine Angehörigen zu schreiben.
5. Mit Genehmigung des Chefs der Regimelager von Workuta, General Derewianko, dürfen Gefangene, deren Arbeitsleistung und Führung zufriedenstellend sind, auf ihren Antrag und unter Befürwortung durch den Chef des Lagers einmal jährlich den Besuch von Angehörigen empfangen. 6. Anträge auf Revision des Untersuchungs-und Gerichtsverfahrens können von jedem Gefangenen an den Vorsitzenden der speziell aus Moskau entsandten Kommission, General Maslennikow, gerichtet werden.
Diese Anordnung wird am zweiten Streiktag nachts durch Spezial-kurier der Regimelagerverwaltung Workuta bekanntgegeben. Die Gefangenen beginnen, mit Vergnügen und unter Anwendung ihres gesamten Vokabulars an Schimpfworten die schweren Eisenschienen, mit denen die Barackentüren verschlossen werden, aus den Angeln zu drehen. Die Gitter werden abgerissen, die Nummern entfernt. Was die Besuchsmöglichkeiten betrifft, so begreifen die Gefangenen sehr wohl, daß es sich um eine Konzession ohne praktische Bedeutung handelt. Wer von den Angehörigen ist in der Lage, auf eigene Kosten über eine Entfernung von dreitausend und mehr Kilometern, aus der Ukraine, den Ostsee-Staaten oder aus Sibirien über den Polarkreis hinauszureisen, um für drei Tage einige Stunden täglich ein Familienmitglied zu sehen?
Zum letzten Punkt endlich: die Gesuche etwa eines Drittels der dreitausendfünfhundert Gefangenen des Lagers des Schachtes 6, die gemäß dieser Ankündigung an den Generalobersten Maslennikow oder den Generalstaatsanwalt der Sowjetunion, Rudenko (ehemals sowjetischer Ankläger in Nürnberg), gestellt wurden, sind bis auf einen einzigen Fall mit der stereotypen Formulierung abgelehnt worden:
„Ihr Gesuch vom soundsovielten wurde geprüft. Ihre Verurteilung ist zu Recht erfolgt. Es besteht keine Veranlassung, eine Revision des Verfahrens durchzuführen. Nach Verbüßung der Strafe werden Sie entlassen werden.“
Die Lager sind ein wesentlicher Bestandteil des industriellen Lebens der Sowjetunion. Ihr Sektor ist die Grundstoffindustrie. Gefangene, die in den Industrieministerien tätig waren, schätzen, daß die Hälfte der sowjetischen Kohlenproduktion und etwa SO Prozent der Holzerzeugung Gefangenenarbeit ist. Die sowjetische Industrie basiert auf der Arbeit der Gefangenen. Es ist der Regierung unmöglich, das System der Lager in einem schnellen Prozeß aufzulösen oder auch nur zu lockern, sie würde damit die Industrie aufs schwerste erschüttern. In der Frage der politischen Gefangenen ist sie in ihrem eigenen System gefangen; sie kann die Lager nicht abbauen, deshalb versucht sie Verbesserungen in den Lagern durchzuführen, um die Unzufriedenheit der Gefangenen zu mildern und die Spannungen zu entschärfen.
Aber noch von einem anderen Gesichtspunkt aus können die Gefangenen nicht entlassen werden.
Wenn die Sowjets ihre Industrie schnell entwickeln und vergrößern wollen — und dies geschieht mit allen Mitteln — dann muß sie die Arbeiterschaft auf einem niedrigen Lebensstandard halten, um den Arbeitsertrag wieder in industriellen Neuanlagen investieren zu können. Sobald die Regierung beginnt, das unbeschreiblich niedrige Lebensniveau eines großen Teils der Arbeiterschaft zu verbessern, sinkt der Anteil, der für die Verbreiterung der industriellen Basis vorgesehen ist. Die Regierung steht vor der Alternative: entweder den Standard der Massen zu heben auf Kosten der schwerindustriellen Produktion oder aber die industrielle Entwicklung voranzutreiben auf Kosten des Standards der Bevölkerung. Bisher hat sie sich stets für das letztere entschieden.
Selbst wenn die sowjetische Regierung die Absicht hätte, eine umfassende Amnestie mit Freilassung der politischen Gefangenen durchzuführen, so würde sie — in Workuta jedenfalls — eine solche Maßnahme gar nicht verwirklichen können. Alle Entlassenen müßten weiter hier im Norden bleiben, wenn die Schächte nicht zum Erliegen kommen sollen. Zur Zeit aber leben die Gefangenen zu siebzig, achtzig, hundert, hundert-zwanzig zusammengepfercht in einer Lagerbaracke. Sollten sie entlassen werden, so würde man ihnen die Forderung, als „Freie“ mit ihren Familien zusammenzuleben, nicht mehr verwehren können. Selbst wenn man nur fünfzehntausend Gefangene — also vielleicht ein Zehntel der heute hier arbeitenden — entlassen und je zwei Gefangenen mit ihren Angehörigen ein einziges kleines Zimmer geben wollte, müßten siebentausendfünfhundert Zimmer erbaut werden, ein Programm, dessen Realisierung unter den augenblicklichen technischen Voraussetzungen Jahre in Anspruch nehmen würde.
Schon jetzt reicht der Neubau von Wohnungen in Workuta bei weitem nicht aus, auch nur die dringendsten Anforderungen zu befriedigen. Die größten Wohnungen in Workuta sind Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen plus Küche, in denen die MGB-Aristokratie der zentralen Regimelagerverwaltung wohnt. Der Chef eines Lagers, eines Schachtes, ihre Stellvertreter und Offiziere, bewohnen bestenfalls Zwei-Zimmer-Wohnungen. Der einfache Soldat oder Sergeant des Lagerinnendienstes, dessen Tätigkeit etwa der eines deutschen Gefängnisbeamten entspricht, besitzt mit seiner Familie nie mehr als ein kleines Zimmer.
Das Wachpersonal ist in Kasernen untergebracht, deren Geräumigkeit und Hygiene z. T. noch schlechter sind als die der Gefangenenbaracken.
Die Sowjetregierung kann also die Lager allein deshalb nicht auflösen, weil sie für das Leben von Zehntausenden in Freiheit gesetzten Gefangenen nicht die Wohnbasis schaffen kann.
Schon heute ist sie nicht einmal in der Lage, die wenigen Gefangenen unterzubringen, die nach Verbüßung ihrer Strafe als arbeitsunfähige Invaliden entlassen werden. Diese Unglücklichen sollen, wie alle anderen Entlassenen, im Rayon Workuta angesiedelt werden; es ist ihnen verboten, bei ihren Angehörigen in anderen Gebieten der Sowjetunion zu leben. In Workuta aber bleiben sie ohne die unterstützende materielle Basis einer Familie. Sie werden niemals einen der Ihren auffordern können, ihretwegen den Süden aufzugeben, um ihn mit den barbarischen Lebensbedingungen des Nordens zu vertauschen. Die Zahl der Altersheime in Workuta ist gering, und diese wenigen sind überfüllt. So bleibt der Sowjetregierung nichts übrig, als diese Invaliden über den Endtermin ihrer Strafe hinaus weiter im Lager zu belassen, weil die Lebensverhältnisse hinter dem Stacheldraht, so dürftig sie auch sein mögen, ein Weiter-vegetieren ermöglichen, während die Freiheit für diese Arbeitsunfähigen identisch sein würde mit Verwahrlosung, Hunger und Tod. Umgekehrt könnte die sowjetische Regierung, der in der Frage der Arbeitskräfte tatsächlich die Hände gebunden sind, leicht einen Beweis ihres „guten Willens“ geben, indem sie diese arbeitsunfähigen Invaliden nicht nur aus den Lagern, sondern überhaupt aus der Arktis entläßt.
* Kein Gefangener zweifelt daran, daß Stalin einen solchen Streik ohne Rücksicht auf Ausfälle der Produktion, Zerstörung in den Schächten und Menschenleben hätte zusammenschießen lassen, und die Unsicherheit der neuen Regierung wird durch nichts besser illustriert als durch ihre Art, auf den Streik zu reagieren.
Im Bewußtsein der Gefahr, die dieser Streik für das System bedeutet, geht sie mit den mildesten Methoden vor. Die Kohle Workutas beliefert Leningrad, das Herz der sowjetischen Industrie, mit den großen Werken der Feinmechanik, der Elektrotechnik, der Optik, des Motorenbaues.
Die Leningrader Industrie ist die differenzierteste und empfindlichste der Sowjetunion. Ihre Arbeiterschaft ist an revolutionäre Traditionen gewöhnt. Wir haben in den Lagern zahlreiche Arbeiter aus den Großbetrieben Leningrads, die uns über die Stimmung berichtet haben. Es gärt unter der Oberfläche. Eine Desorganisation der Industrie infolge Ausfalls der Kohlelieferung würde die Arbeiterschaft in ihren antisowjetischen Tendenzen ermutigen. Es besteht die Gefahr, daß der Streik von Workuta sich wie eine Welle über das industrielle Herz Zentralrußlands ausbreitet. Wir haben erlebt, welches Fanal der 17. Juni für die Sowjetunion bedeutete. Lim wieviel größer muß der Eindruck sein, den der Streik in Workuta im Lande macht.
Die Methoden, mit denen der Streik von Seiten der Regierung behandelt wird, sind gekennzeichnet durch Rücksicht und Unsicherheit. Man ist im Kreml irritiert, man weiß nicht, was los ist. Ohne Zweifel ist man fest entschlossen, den Streik abzuwürgen, aber man versucht, alles zu vermeiden, was zu einer Verschärfung der Situation führen könnte. Man will keine Explosion, man bemüht sich, die Revolte versanden zu lassen.
Auf die ersten Nachrichten, die über Derewjanko nach Moskau gelangt sind, tut die Regierung das einzig zweckmäßige; sie entsendet eine Kommission, die den Auftrag hat, ihr schnell ein vollständiges Bild von der Situation in Workuta zu geben.
Eine große, aus etwa dreißig Offizieren bestehende Kommission trifft im Flugzeug auf dem kleinen Flugplatz von Workuta ein. Ihr Chef ist Generaloberst Maslennikow, zweifacher Held des Großen Vaterländischen Krieges, Inhaber des Lenin-Ordens. Seine Kommission ist ohne jede Vollmachten, sie hat nur informatorische Aufgaben. Ihren Sitz nimmt sie in einem kleinen Lager in unmittelbarer Nähe des Schachtes 8. wohin man nun die „Rädelsführer“ und überhaupt alle verhafteten Streikenden bringt.
Ein Deutscher, der nach drei Wochen aus diesem Lager zurückkehrte, erzählte mir:
„Wir wurden behandelt wie rohe Eier, brauchten nicht zu arbeiten, wurden normal verpflegt und nahmen den ganzen Tag Sonnenbäder.
Am zweiten Tag wurde ich zur Vernehmung zu einem Offizier der Kommission gerufen. Er war höflich und sachlich. Er fragte mich nach Personalien, Strafmaß und nach dem Grund, weshalb ich nicht arbeiten wolle. Ich sagte ihm, daß ich vollkommen unschuldig zu fünfzehn Jahren verurteilt sei. Er schrieb sich dies alles auf einen großen Bogen, der vor ihm lag; dann konnte ich gehen. Ähnlich wie mit mir sind sie mit allen Gefangenen verfahren. Offenbar wollten sie nur wissen, was los war, weiter nichts.“
Die Kommission arbeitet ungefähr acht Tage lang und fliegt wieder weg, ohne irgendwelche Anordnungen zu hinterlassen.
Eines Tages hören wir, entfernt, aber deutlich — aus der Richtung der vor uns liegenden drei Schächte 7, 14/16 und 29 — heftiges Feuer aus Maschinenpistolen und Gewehren. Noch wissen wir nicht, in welchem Schacht diese Schießerei sich abspielt. Am gleichen Tage abends geht einer der beiden Chirurgen unseres Lagers, Blagodatow, auf „Einzeletappe“. Er ist eine Woche abwesend. Nach seiner Rückkehr erfahre ich das dramatische Geschehen im Schacht 29.
Dort haben die Gefangenen nicht nur die Arbeit verweigert. Die Aktion begann damit, daß die Gefangenen in einer öffentlichen Kundgebung eine eigene Lagerführung wählten, in der alle größeren nationalen Gruppen vertreten waren. Diese Lagerführung begab sich zum Kommandanten des Lagers und teilte ihm mit, daß die Gefangenen die Verwaltung des Lagers ab sofort in ihre eigenen Hände nähmen. Sie garantierten ihm, daß die Ordnung aufrecht erhalten bliebe, und forderten ihn auf, seine Offiziere und Soldaten zur Vermeidung unnötiger Komplikationen aus dem Lager zurückzuziehen.
Dies geschah. Eine Lagerpolizei aus Gefangenen wurde aufgestellt. Die im Karzer wegen Arbeitsverweigerung oder anderer nicht krimineller Delikte sitzenden Gefangenen wurden befreit. Die notorischen Spitzel des Lager-MGB wurden zu ihrer eigenen Sicherheit in den Karzer eingesperrt und von der Lagerpolizei bewacht.
Es wurde eine Bestandsaufnahme der Lebensmittel vorgenommen, die einen Vorrat für vier Wochen ergab. Neue, erhöhte und für alle Gefangenen einheitliche Lebensmittelrationen wurden festgesetzt. Das freie Magazin verkaufte seine Vorräte an die Gefangenen. Der Erlös wurde dem Lagerkommandanten übergeben. Fünf Schweine aus der Schweinemästerei, in der die Küchenabfälle ihre Verwertung finden, wurden geschlachtet. (Die unmittelbare Folge davon war, daß im Lager des Schachts 6 als erste Maßnahme der Verwaltung bei Beginn unseres Streiks die Schweine vor dem Appetit der Gefangenen in Sicherheit gebracht wurden.)
Auch hier waren die Forderungen der Gefangenen im wesentlichen die gleichen wie in den anderen Lagern: Beseitigung des Stacheldrahts, Revision der Verfahren, Verminderung der Strafmaße. Aber die neue Lagerführung lehnte es ab, mit lokalen Instanzen aus Workuta zu verhandeln. Sie verlangte als Verhandlungspartner einen bevollmächtigten Vertreter des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei oder der sowjetischen Regierung. Zwei Versuche des Generals Derewjanko, in einem öffentlichen Meeting die Gefangenen umzustimmen, scheiterten;
im Gegenteil, die Meetings wurden von der Lagerführung dazu benutzt, die Moral der Streikenden zu festigen.
Inzwischen wurde das Lager von einer militärischen Formation umzingelt. Bunker wurden armiert, Granatwerfer aufgebaut. Da keine der beiden Parteien Konzessionen machte und ein Kompromiß zwischen den Forderungen der Gefangenen und dem Angebot der Regierung sich als unmöglich erwies, trieb die Entwicklung ihrer gewaltsamen Lösung entgegen. Am nächsten Tag wird der Chirurg Blagodatow in den Schacht 29 geholt. Zwischen diesen beiden Ereignissen spielte sich folgendes ab:
Nach Abschluß der militärischen Vorbereitungen für die „Eroberung“ des Lagers unter dem persönlichen Befehl des General Derewjanko — wir sahen nachts viele Lastkraftwagen mit Infanterie in Richtung der streikenden Schächte rollen — forderte ein Parlamentär im Namen des Generals die Gefangenen auf, sich zu ergeben. Dieser Parlamentär, ein Offizier, benahm sich so provozierend, daß er von den Gefangenen verprügelt wurde. Nochmals wurden die Gefangenen durch Lautsprecher zur Kapitulation aufgefordert. Aber sie weigerten sich; sie versammelten sich am Lagertor, faßten sich unter und bildeten auf diese Weise eine dichte Phalanx. Rufe wurden laut:
„Schießt doch! Es ist besser, zu sterben, als dieses Leben länger zu ertragen.“
Die LIkrainer sangen ihre Freiheitslieder. Nun gab Derewjanko den Befehl, das Lager zu stürmen. Die Tore wurden von den Soldaten eingedrückt. Die am Tor massierten Gefangenen boten den Maschinen-pistolen ein bequemes Ziel. „Als ich in das Lager kam", erzählte mir Blagodatow, „fand ich dort etwa zweihundert noch lebende Verwundete vor, meist Schwerverletzte mit Bauch-und Brustschüssen. Unter den Verwundeten waren etwa ein Dutzend Deutsche. Vierundsechzig Opfer der Schießerei waren sofort tot, darunter vier Deutsche. Von den Verwundeten waren viele nicht mehr zu retten, einmal weil die Toleranzgrenze für Wundinfektionen bei allen schon überschritten war, zum anderen, weil weder genügend Instrumente, noch Operationsmöglichkeiten, Verbandsmaterial und Fachkräfte vorhanden waren.
Wir operierten eine halbe Woche lang Tag und Nacht. Wir taten, was wir konnten, aber täglich starben noch Verwundete an deh Folgen ihrer Verletzungen."
• Das Lager des Schachts 6 streikt noch nicht; vorsichtshalber werden jedoch militärische Maßnahmen genau wie in den anderen Lagern auch bei uns getroffen. Die Soldaten der Division liegen in Alarmbereitschaft. Eines Nachts fangen sie an, das Lager mit Maschinengewehrnestern zu umgeben. Sie fühlen sich wie in einem Manöver, das durch unseren Streik unfreiwillig für sie ausgelöst worden ist. AIs sie mit den Maschinengewehren fertig sind, werden Granatwerfer herangeschafft. Zwei Tage später sind die Vorbereitungen abgeschlossen. Noch arbeitet unser Schacht, aber die Stimmung entwickelt sich langsam in Richtung des Streiks.
„Was werden die Soldaten machen, werden sie schießen?“ Es gibt viele Diskussionen. Man einigt sich in folgendem Resume: In der augenblicklichen Lage, die die politische Moral der Truppen noch nicht zu zersetzen vermag, werden die Soldaten schießen, sofern es ihnen befohlen wird. Die Streikleitung wird beschließen, den Streik so zu führen, daß unnötiges Blutvergießen vermieden wird.
Dieser Krieg, der kein Krieg ist, wird den Soldaten langweilig. Sie liegen in der Tundra und suchen sich vor Myriaden von Stechmücken zu schützen. Die Tundra ist sumpfig, zeitweise regnet es, und die Schützenlöscher, die sie sich gegraben haben, stehen voll Wasser. Man hört sie über nasse Füße fluchen.
Das Lager des Schachtes 6 gehört, wie schon berichtet wurde, zu den verhältnismäßig friedlichen Lagern in Workuta. Es scheint fraglich, ob es sich überhaupt dem Streik anschließen wird. Tatsächlich dauert es vom Eintreffen der ersten zuverlässigen Informationen über den Ausbruch des Streiks in anderen Lagern noch etwa eine Woche, bis die psychologischen Voraussetzungen für den Streik im Schacht 6 geschaffen worden sind und der Streik auch hier beginnen kann. Diese Woche benötigen die illegalen Widerstandsgruppen des Lagers, um den Streik unmittelbar vorzubereiten.
Während dieser Woche versucht die NKWD mit einer Serie von Gerüchten, die den Gefangenen ins Ohr geblasen werden, die zunehmende Streikbereitschaft zu paralysieren.
Es wird erzählt:
Eine umfassende Amnestie steht unmittelbar bevor. Durch den Streik schaden die Gefangenen sich selbst, sie verärgern die Regierung und stören die Vorbereitungen der Amnestie. Jeder Streikende wird einem Sondertribunal übergeben, das ihn zu weiteren fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Dieses Gerücht verfehlt nicht seine Wirkung auf alle, die nur noch wenige Jahre abmachen müssen oder kurz vor ihrer Entlassung stehen.
Die Streikenden der anderen Schächte sind nach Workuta transportiert und dort standrechtlich erschossen worden. Das wirkt auf alle, die an ihrem Leben hängen. Aber das Gerücht zerplatzt, als nach einigen Tagen auf der Straße eine große Kolonne von Verhafteten aus Workuta zum Schacht 7 zurückkehrt. Die Zurückkehrenden winken und rufen:
„Damoi! damoi! Nach Hause, nach Hause! In der Peresilka ist alles überfüllt, sie haben keinen Platz mehr für uns.“
So erfahren wir, daß die Streikenden in die „Peresilka“ abtransportiert werden.
Jedem Streikenden wird die Postverbindung mit den Angehörigen gesperrt. Das ist ein moralischer Druck von vielen Atmosphären.
AIs die NKWD trotzdem den Eindruck einer für sie ungünstigen Entwicklung hat, verhaftet sie vorbeugend einige Gefangene, die sie für fähig hält, eine führende Rolle im Streik zu spielen: drei Russen und zwei Juden. Diese Verhaftung ist für das Spitzelsystem im Lager typisch. Die russischen Spitzel hatten nur die Möglichkeit, über Russen und Juden Aussagen zu machen, an die eigentliche, aus LIkrainern und Litauern bestehende Streikleitung sind sie nicht herangekommen.
Zu den allgemeinen Maßnahmen der NKWD gehört die strenge Isolierung der einzelnen Schächte. Zu normalen Zeiten wird der Kontakt zwischen den Schächten durch Etappen aufrecht erhalten, die bei Verschiebungen von Arbeitskräften von Schacht zu Schacht Informationen überbringen. Diese Etappen sind vollständig eingestellt. Eine weitere Kontaktmöglichkeit ist die gemeinsame Arbeit von Brigaden aus verschiedenen Lagern auf den gleichen Bauobjekten, wie Eisenbahn, Straße oder Kiesgrube. Auf diese Art ist es möglich, zwischen den Lagern eine reguläre Korrespondenz der Interessierten durchzuführen. Die Mitteilungen werden an gewissen vereinbarten Stellen deponiert, wo sie dann von der anderen Brigade übernommen werden. Auch diese Möglichkeit des Kontaktes wurde unterbunden. Die Außenbrigaden stellen ihre Arbeit -ein.
Die erste konkrete Mitteilung über den Streik im Schacht 7 und die von dort ergehende Aufforderung an den Schacht 6, mitzustreiken, erfolgte über das Personal der Eisenbahn. Ein Arbeiter aus einer Rangiergruppe, deren Lokomotive die mit Kohle beladenen Waggons aus der nördlichen Schachtgruppe abfährt, sagt den Leuten der „Pogruska" -Brigade, von der die Kohleverladung durchgeführt wird:
„Ich soll euch sagen, daß ihr bald anfangt. Schacht 7 erwartet, daß Schacht 6 sich dem Streik anschließt.“
In der Nacht erteilt das illegale Streikkomitee, in dem LIkrainer und Litauer führend sind, den Befehl, am nächsten Morgen mit dem Streik zu beginnen. Die Chefs der einzelnen Nationalitätengruppen verständigen ihre Leute. Es ergeht Anweisung, zum „Raswod“ an der Wache nicht anzutreten, sondern sich nach dem Frühstück in die Baracken zurückzuziehen. Wie üblich wird um fünf Uhrgeweckt. Die Gefangenen kleiden sich an und gehen in die „Stolowaja". Während sie essen, riegeln Soldaten den Rückweg zu den Baracken ab und zwingen die Gefangenen zum „Raswod" an die nahegelegene Wache. Die Gefangenen wagen keine Tätlichkeiten gegen die Posten. Die Posten ihrerseits wissen, daß irgend-welche Angriffe auf die Gefangenen selbst die Situation unter Umständen auf die Spitze treiben könnten. Sie sind höflich, aber bestimmt. Es gelingt ihnen, die gesamte erste Schicht am Lagertor zu versammeln. Jetzt setzt die Aktion der Offiziere ein, die den Versuch machen, die Streikenden einzuschüchtern und zur Aufnahme der Arbeit zu veranlassen. Die Streikenden werden einzeln aufgerufen und gefragt, ob sie zur Arbeit gehen werden oder nicht. Wer die Arbeit verweigert, wird an den Eingang der Wache geführt und verbleibt zunächst dort. Die Arbeitswilligen — eine kleine Gruppe, hauptsächlich aus technischem Personal bestehend — werden zu einer Kolonne formiert und marschieren zum Schacht hinüber. Schließlich gelingt es den Bemühungen der Offiziere, noch eine zweite stärkere Gruppe aus dem Lager in den Schacht hinüberzubringen.
Im Schacht weigern sich die Gefangenen, ihre Arbeitskleidung in Empfang zu nehmen. Die Zahl der „Nadsiratel", der Posten im Schacht-gelände, ist verstärkt worden. Sie versuchen, die Gefangenen zur Arbeit zu bewegen. Wer sich weigert, wird in ein Zimmer geführt, in dem ein MGB-Staatsanwalt sitzt.
„Warum wollen Sie nicht arbeiten?“
Die Gefangenen antworten ausweichend. Die meisten sagen: „Weil die anderen auch nicht arbeiten!“
Der Staatsanwalt sitzt hinter einem dicken Buch, das zwei Spalten hat: eine für arbeitswillige, eine für nicht arbeitswillige Gefangene. Er versucht, die Gefangenen zur LInterschrift in einer der beiden Spalten zu veranlassen. Die Gefangenen haben das unbehagliche Gefühl, daß der Staatsanwalt sie in jedem Fall hereinlegen will und weigern sich. Manche verbergen sich im Schachtgelände, und die Posten machen Jagd auf sie.
Am Abend erzählt mir mein Freund Serjoscha:
„Ich habe den ganzen Tag Räuber und Gendarm gespielt.“
Nach den Erfahrungen des Vormittags weigert sich die Nachmittagsschicht, zum Essen in die „Stolowaja" zu gehen. Die Brigaden lassen das Brot abholen und leben im übrigen von den bescheidenen Vorräten an Zucker, billigen Bonbons oder Margarine. Die Litauer verteilen, was sonst nie geschieht, von ihrem Speck auch an Nicht-Litauer — ein außerordentliches Symptom für die Solidarität der Litauer mit den anderen Nationen.
Nach einer Stunde erscheinen drei Posten, um zur Arbeit aufzurufen.
Sie sind höflich. Man hat ihnen befohlen, einen Versuch zu machen, die Brigaden zur Arbeit zu überreden. Sie unterziehen sich dieser Aufgabe, obwohl sie wissen, daß sie keinen Erfolg haben werden. Die Gefangenen verstehen, daß die Posten im Auftrag des Kommandanten handeln; die Posten wiederum verstehen, daß die Gefangenen die Situation der Posten verstehen.
So entwickelt -sich ein Gespräch nach behutsamen Spielregeln. Kein Soldat fragt nach den Gründen des Streiks, kein Gefangener macht provozierende Bemerkungen. Die Baracke weigert sich zu arbeiten — gut.
Die Soldaten warten eine Weile, ohne sich weiter im Sinne ihres Auftrags zu bemühen. Die Gefangenen verstehen, daß sie nicht wieder sofort zur Kommandantur zurückkehren können. Sie haben Anweisung, zu überreden; die Überredung besteht jedoch darin, daß sie schweigen.
Die Gefangenen bieten Hocker zum Sitzen an, die Soldaten lehnen ab. Das geht wieder zu weit. Schließlich schieben sie sich zur Tür und sehen eine Weile in die Weite. Die „Lagerboulevards“ sind leer. Hinter den vergitterten Fenstern der Baracken sind die Gesichter der Eingeschlossenen zu sehen. Sie winken und lachen. Aus den anderen Baracken kehren die Posten ebenfalls ergebnislos zurück.
„Nu, ladno“, sagt der Posten, legt den schweren Eisenriegel vor die Tür, schließt ab und geht zur Kommandantur zurück. Es ist warm in der Baracke. Sämtliche Fenster sind geöffnet. Die Gefangenen liegen mit entblößtem Oberkörper auf ihren Betten. Manche lesen, andere schlafen, wieder andere trinken „Kipjatok“. Langsam wird die Schwüle unerträglich. Drei Ukrainer heben das Fenster des „Umywalnik“ aus, reißen das Gitter aus dem Rahmen und klettern hinaus, zehn, zwanzig, dreißig und mehr folgen. Sie setzen sich in die Sonne und betrachten die Tundra.
Noch immer arbeitet der Schacht 7 nicht. Dann kommt Mironenkow, „Starschij-Sergeant" bei den „Blauen“, und kontrolliert Türen und Fenster der Baracken auf ihre Sicherheit hin. Als er an der Notausgangstür der Nachbarbaracke klopft, um festzustellen, ob sie tatsächlich verschlossen ist, öffnet sich die plötzlich von innen und eine Stimme fragt:
„Was gibt es Neues?“
„Job twoju matj“, flucht Mironenkow. Er stellt fest, daß sämtliche Nägel von innen gelockert sind und die Vernagelung der Tür nichts weiter ist als eine Attrappe. Er geht in die Schlosserei, holt sich ein Dutzend langer Nägel und beginnt, die Tür der Baracke zuzunageln.
Dann wendet er sich an uns.
„Wie seid ihr hier herausgekommen?“
Jemand sagt ihm:
„Wir waren draußen, aber die Tür ist verschlossen, wir können nicht wieder hinein."
Mironenkow prüft das Gitter des „Umywalnik", das provisorisch wieder eingesetzt ist; es fällt ihm auf die Arme. Jemand ruft:
„Paß auf, daß nicht auch das Fenster herausfällt.“
Mironenkow nimmt das Fenster heraus.
„Dawai“, sagt er. „Alles wieder einsteigen.“
Die Gefangenen steigen in den „Umywalnik“ zurück. Mironenkow holt sich Nägel, und versucht, das Gitter zu befestigen. „Das hättest du nicht gedacht“, sagt jemand, „daß du mal arbeiten muß, nicht war, und wir tun gar nichts.“
Es ist eine „russische“ Atmosphäre, in der dieser Nachmittag verläuft, wie eine Komödie von Ostrowski.
In der Baracke der „Ventilation“ ist man weniger friedlich. Die „Ventilation“ ist eine Brigade, die im Schacht aus technischen Gründen dringend gebraucht wird. Alle Schächte Workutas führen Methan, Schacht 6 sogar in erheblichen Mengen. Die Ventilation muß in Gang bleiben, wenn der Schacht betriebsfähig bleiben soll. Deshalb ist die Aufforderung, die Arbeit aufzunehmen, dringlicher als in anderem Brigaden. Es erscheinen nicht drei Posten, sondern sieben. Die Gefangenen verhalten sich ablehnend. Einer der Posten versucht, im Rahmen der Diskussion einen Gefangenen am Bein vom Bett zu ziehen. Augenblicklich stürzen sich die Nachbarn des Liegenden auf den Soldaten. Einige kräftige Faustschläge weisen ihn in seine Grenzen.
„Ihr habt kein Recht, einen von uns anzufassen.“
Die Stimmung wird bedrohlich; die sieben beschließen, sich zurückzuziehen. Nach einer halben Stunde erscheinen der Stellvertreter des Kommandanten und der Stellvertreter des „Opernopolnomotschiks“. Der Zufall will es, daß beide Chefs sich im Urlaub befinden.
Es entspinnt sich eine Unterhaltung, die in den Formen ihrer Höflichkeit grotesk ist und die Situation der Regierung, als deren Repräsentanten und in deren Auftrag die beiden sprechen, unübertrefflich kennzeichnet. Der Tenor der Überredung der beiden Offiziere ist väterlich. Sie sprechen mit den Gefangenen wie mit ungehorsamen Kindern.
„Haben wir nicht alles für euch getan? Denkt an die schrecklichen Jahre bis 1948. Neue Baracken haben wir für euch gebaut. Das Essen ist verbessert. Werdet ihr vielleicht von uns schlecht behandelt? Wer kann sagen, daß ich mal jemand geschlagen habe?
Ihr müßt verstehen, der Schacht hat seine Norm, wir müssen diese Norm erfüllen. Wenn ihr jetzt nicht arbeitet, werdet ihr später alles aufholen müssen.“
Die beiden kennen die Mentalität der Gefangenen. Sie drohen nicht.
Tatsächlich ist der Stellvertreter des Lagerkommandanten ein Mann, der im Gegensatz zu Schilin von niemandem gehaßt wird. Sie versuchen, an die Anständigkeit der Gefangenen zu appellieren. Die Gefangenen begreifen, daß der Stellvertreter des Kommandanten in einer schwierigen Situation ist. Vielleicht hängt seine Existenz davon ab, daß es ihm gelingt, diesen Streik in seinem Lager beizulegen. Vielleicht hat ihm Herr Derewjanko telefonisch erklärt:
„Sieh zu, daß du den Streik beendest, sonst bist du nicht qualifiziert für eine weitere Laufbahn.“
Die „Ventilations-Brigade“ bleibt hart. Ein Ukrainer sagt: „Wir haben nichts gegen Sie, wir wissen, daß Sie nie geschlagen haben, daß die Situation im Lager sich verbessert hat, daß wir keinen Hunger mehr haben. Aber all das ist kein Grund, damit einverstanden zu sein, daß wir fünfundzwanzig Jahre hier sitzen sollen. Der Streik richtet sich nicht gegen Sie. Er geht um andere Dinge. Wir sind mit unseren Kameraden solidarisch. Wir streiken für eine grundsätzliche Sache."
Der Stellvertreter des Kommandanten verläßt die Baracke ohne Erfolg.
* Von den 13 Regimelagern Workutas haben sich fünf dem Streik angeschlossen. Die anderen wurden gehindert, hauptsächlich wegen der Gegenmaßnahmen, die von der MGB auf Grund der Erfahrungen in anderen Schächten getroffen wurden. Zunächst wurde jeder Schacht einmal hermetisch abgeriegelt, so daß die üblichen Verbindungen über die Arbeitskommandos zu anderen Schächten sofort abrissen. Außerdem versuchte das MGB gewisse Täuschungsmanöver. Im Schacht 6 z. B. ließ das MGB die Kipploren drei Tage lang leer die Halde hinauffahren, um in den anderen in optischer Reichweite liegenden Schächten den Eindruck hervorzurufen, daß der Schacht 6 noch arbeite. Die drei Frauen-lager Wortukas streikten ebenfalls nicht, hauptsächlich, weil das politische Bewußtsein der meisten Frauen sich für eine planmäßige Streik-aktion als doch nicht ausreichend erwies, obwohl es gerade bei den Frauen bemerkenswerte Einzelfälle von Arbeitsverweigerung gab.
Schacht 11 wird mit Gefangenen belegt, die in den streikenden Schächten verhaftet wurden und von der Masse der übrigen Gefangenen isoliert werden sollen. Andere werden in den Zentralisolator gebracht, ein großes aus Holz erbautes Zellengefängnis im Schacht 1. Sie leben im Schacht 11 unter besonderen, verschärften Bedingungen bei zwölfstündiger Arbeitszeit und Lebensmittelrationen, die unter der allgemeinen Lagernorm liegen. Sie verdienen kein Geld, dürfen ihren Angehörigen nicht schreiben und sind ohne Zeitung und Radio. Sie werden unter Bewachung von den Baracken zum Speisesaal, vom Speisesaal zum Schacht und nach der Arbeit wieder zurückgeführt. Die Baracken sind dauernd verschlossen. Ihre Fenster sind vergittert.
Der Schacht 11 bleibt einige Monate Straflager. Die Streikenden fördern nur den Bedarf an Kohle, der für den inneren Lagerbetrieb unbedingt nötig ist.
Im Spätherbst wird der Schacht 11 wieder in ein normales Lager zurückverwandelt. Viele der Streikenden werden auf andere Lager verteilt, andere bleiben. Teile der alten Belegschaft kehren zurück. Die Verwaltung der Regimelager ist der Überzeugung, daß diese Monate unter barbarischen Lebensbedingungen genügt haben, die Streikenden weich zu machen. Aber sie irrt sich. Die Streikenden sind hart geworden, und die Arbeitsverweigerungen gehen in den neuen Lagern weiter. Erneut beginnt die Unruhe unter den Gefangenen um sich zu greifen. Im November 1953 wird der Schacht 11 erneut zum Straflager erklärt und mit Arbeitsverweigerern aus allen Schächten belegt.
* Am Abend des zweiten Streiktages habe ich ein langes Gespräch mit Amstislawskij. Er ist ein typischer Vertreter der sowjetischen Funktionärsschicht: Parteikommunist, ohne eigene Meinung, ausgestattet mit dem physiologischen Maß politischer Korruptheit. Es gibt im Lager vielleicht ein halbes Hundert solcher Staatstreuer: ehemalige Funktionäre der Partei oder des staatlichen Verwaltungsapparates, ehemalige Offiziere, Ingenieure oder Techniker. Es ist amüsant, sie zu sehen; sie sind konsterniert. Zum erstenmal wird in der Sowjetunion gestreikt. Der Streik ist eine Atombombe auf ihr politisches Bewußtsein, die bewußte und absichtliche Auflehnung gegen den Staat erscheint ihnen unerhört. Sie sind unsicher; wer weiß, was morgen sein wird. Sie fürchten, in Zwischenfälle zu geraten; heimlich lassen sie die Verwaltung ihre Ergebenheit wissen. Ich frage Amstislawskij:
„Wie finden Sie den Streik? Ist es nicht eine wunderbare Sache? Denken Sie, daß Leningrad mitstreikt, wenn die Nachricht dorthin gelangt?"
„Ticho, Ticho, leise, leise“, sagt er, „niemand darf uns hören.“
Er schweigt, dann stöhnt er; er ist erschüttert.
Ich fahre fort:
„Sie sehen, in der Sowjetunion werden dieselben Methoden des Klassenkampfes eingeführt werden wie im Kapitalismus! Würde Ihnen das nicht passen?“
Er ist ehrlich-erschrocken. Alles ist für ihn neu, fremd und unwahrscheinlich. Er kennt die Sowjetunion nicht wieder; Meuterei erschüttert ihre Grundfesten. Dieses System erschien so stabil; plötzlich aber zeigte es die gleiche Brüchigkeit, die den Systemen des Westens zugeschrieben wird.
In der „Prawda“ haben wir von dem heroischen Streik der französischen Bergarbeiter gelesen. Sie erhalten Glückwunschadressen der Gewerkschaften und der kommunistischen Parteien. Man sammelt für sie, man schickt ihnen Geld und Lebensmittel. Und jetzt bricht ein Bergarbeiterstreik aus in einem Lande, das seine Entstehung den revolutionären Prinzipien von Marx verdankt, das gegründet worden ist, um die Unterdrückung der Bergarbeiter zu beseitigen und ihre menschliche Würde zu garantieren.
Ich kann es mir nicht versagen, die Funktionäre nach ihren Eindrükken zu befragen. Sie sind verstört. Die Basis ihrer Weltanschauung ist ihnen entzogen. Alles, was sie auf den Parteischulen gelernt haben, hat seinen Sinn verloren.
Ein ehemaliger Oberst der sowjetischen Armee, früherer Metallarbeiter, ist während des letzten Krieges in Gefangenschaft geraten und dafür mit zehn Jahren bestraft. Seine Brigade weigert sich, zur Arbeit zu gehen.
Er wird zur Lagerverwaltung bestellt. Man erklärt ihm: „Wir erwarten von Ihnen, daß Ihre Brigade die Arbeit nicht verweigert.“
Er kommt in seine Baracke zurück und redet beschwörend auf seine Leute ein.
„Wir können die Arbeit nicht niederlegen. Schließlich leben wir in einem Lande, das die Ausbeutung des Menschen durch den Kapitalismus überwunden hat.“
Seine Leute brechen in Gelächter aus.
„Sicher ist die Ausbeutung durch den Kapitalismus überwunden, aber was an ihre Stelle getreten ist, ist schlimmer als jeder Kapitalismus.“
Der Streik ist ausschließlich von Gefangenen durchgeführt worden.
Er wurde von den „Freien“, soweit sie nicht zur sowjetischen „Aristokratie“ gehörten, unterstützt. Diese Freien, die entweder früher selbst Gefangene waren und nach ihrer Entlassung in den gleichen Schächten nun in leicht gehobenen Positionen als Bohrer, Vorarbeiter, Sprengmeister beschäftigt werden, sind auf der Seite der Streikenden. Der Polizeiterror, der auf sie ausgeübt wird, ist jedoch so groß, daß sie es nicht wagen können, selber zu streiken. Jedem von ihnen würden für einen solchen Versuch fünfundzwanzig Jahre sicher sein. Außerdem besteht keine sachliche Notwendigkeit für sie zu einer Beteiligung am Streik:
auch ohne sie ruht die Arbeit im Schacht. Sie versäumen jedoch nicht, ihre Sympathie in jeder möglichen Form auszudrücken. Am ersten Tag, als die Posten im Schachtgelände Jagd auf Gefangene machen, um sie vor den Staatsanwalt zu schleppen, helfen sie den Flüchtenden, sich zu • verbergen. Sie bringen Tabak, Zeitungen und Verpflegung. Andere geben Geld. Sie hoffen nicht weniger als wir auf einen Zusammenbruch des Systems. Sollte es zu einem Aufstand kommen, so werden sie fraglos die Verbündeten der Aufständischen sein.
* Von den etwa fünfzehnhundert Bergarbeitern im Lager des Schachtes 6 sind insgesamt etwa siebzig Streikbrecher. Sie rekrutieren sich aus den überzeugten Kommunisten, aus den „Desjatniki", den Oberaufsehern, einzelnen Brigadieren und Leuten des technischen Personals.
Die Streikenden versuchen nicht, die Verräter an ihrer Sache von der Arbeit abzuhalten. Wenn die Gruppe der Arbeitswilligen sich an der Wache sammelt, wird sie von Posten besonders gesichert. Die Visagen sind charakteristisch; sie haben schlechte Physiognomien, in ihnen steht die Moral der Korruption geschrieben.
Zu Beginn des Streiks hatte die NWKD die Arbeitswilligen aus den Baracken herausgezogen und in zwei Baracken konzentriert. Vielleicht befürchtete sie Tätlichkeiten der Streikenden gegen die Verräter, vielleicht dachte sie, durch den Aufenthalt in den Baracken und entsprechende Diskussionen könne der Arbeitswille der Streikbrecher gebrochen werden. Als man begriff, daß den Streikbrechern nichts geschah, wurden sie in die Baracken zurückverlegt, wo sie von niemand beachtet werden. Sie tun ihre Arbeit und werden ignoriert. Zwei Wochen nach Beginn des Streiks in Lager 7 stellt der General ein Ultimatum an die Streikenden dort:
„Entweder verlassen die Streikenden das Lager und begeben sich in die Tundra, oder das Lager wird im Sturm genommen.“
Um Blutvergießen zu vermeiden, beschließen die Streikenden, sich dem Befehl Derewiankos zu fügen. Die Tore werden geöffnet; eine lange Kolonne von Gefangenen verläßt das Lager. In einigen hundert Metern Entfernung werden sie wie eine Schafherde eingekreist. Einzeln defilieren sie am Lagerkommandanten, dem Chef der NKWD, seinen Offizieren sowie ihrem Anhang von Spitzeln vorüber. Mit Hilfe der Spitzel werden alle Streikenden eliminiert, bei denen auch nur die Spur des Verdachtes bestehen könnte, daß sie am Streik führend beteiligt sind. Die Ausgesonderten, etwa vierhundert bis fünfhundert Menschen, werden auf Last-kraftwagen verladen und abtransportiert. Das Gros wird ins Lager zurückgetrieben. Tatsächlich ist bei dieser Aktion das personell an sich unbekannte Streikkomitee miterfaßt; die aktivsten Elemente fehlen Die Masse ist führerlos, die Moral des Streiks ist gebrochen. Am nächsten Tage beginnt der Schacht wieder zu arbeiten.
* Am dritten Tage des Streikes im Lager 6 wird gegen Mittag von den „Nadsiratel" plötzlich bekannt gegeben, daß in wenigen Minuten auf dem Platz vor dem Klubhaus ein „Meeting“ stattfindet, auf dem General Derewjanko das Wort ergreifen wird. Schnell haben sich über tausend Menschen um einen kleinen Tisch versammelt, hinter dem zwei Stühle aufgebaut sind. Der General erscheint mit dem Lagerkommandanten, ohne weitere Begleitung. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, mittelgroß, stämmig, mit vollem, graumelierten, kurz geschnittenem Haar und einem intelligenten, breiten, russischen Gesicht. Er trägt eine elegante Uniform, seine goldenen Schulterstücke funkeln in der Sonne.
Noch wissen wir nicht, daß er erst gestern die Streikenden des Schachtes 29 hat zusammenschießen lassen.
Das Gemurmel der Gefangenen verstummt. Der General hält eine dem Inhalt nach sehr gerissene Ansprache in väterlichem Ton. Er kennt seine „Muschiki“.
„In den letzten Tagen haben sich in einigen Lagern Ereignisse abgespielt, deren Auswirkungen gegn die Interessen aller anständigen Genossin sind. Gewissenslose Provokateure haben die arbeitswilligen Genossen aufgewiegelt, die Arbeit zu verweigern und in Streik zu treten.
Dadurch werden nur Unruhe und Nachteile für die Lager geschaffen.
Ihr selbst wißt am besten, wie sehr die Verwaltung sich bemüht hat und bemüht, die Lage zu verbessern. Sie läßt die schlechten alten Baracken abreißen und baut neue, größere und bessere. Ein neues Ambulatorium ist gebaut worden. Große neue Krankenstationen werden eingerichtet. Es gibt weder Dystrophie noch Skorbut. Das Brot steht in der „Stolowaja" auf den Tischen herum. Ihr könnt nehmen, so viel ihr wollt, niemand braucht mehr zu hungern. Dabei ist das alles erst ein Anfang. Weitere Verbesserungen werden folgen. Der materielle Wohlstand unseres Vaterlandes wächst rasch, auch in den Lagern. Die Summen, die euch für eure Arbeit ausgezahlt werden, werden von der Regierung erhöht werden. Es ist unklug von euch, daß ihr euch von einzelnen Aufwieglern und Provokateuren habt hinreißen lassen, die Arbeit niederzulegen. Damit behindert ihr selbst die Verbesserungen, die für euch geschaffen werden sollen. Ich weiß, daß ihr nicht schuldig seid. Schuld sind jene Feinde des Volkes und der Sowjetmacht, die euch aufgehetzt haben.
In den anderen Lagern haben diese schmutzigen Individuen bereits ihre gerechte Strafe bekommen; auch hier wird dies geschehen.
Seid vernünftig! Nehmt die Arbeit morgen wieder auf! Macht euch selbst keine Schwierigkeiten! In den anderen Schächten ist die Sache schon zu Ende. Es ist zwecklos für euch, weiterzumachen.
Wer hat den Wunsch, etwas zu sagen?“
Ein Gefangener meldet sich.
„Sie können“, sagt der General, „nur in eigener Sache sprechen, nur für sich persönlich.“
Der Gefangene trägt seinen Fall vor.
Der General antwortet:
„Schreiben Sie ein Gesuch!“
Der Mann antwortet:
„Ich habe im Verlauf von zwei Jahren schon sieben Gesuche geschrieben. Sie sind entweder abgelehnt oder gar nicht beantwortet worden.“
„Schreiben Sie ein Gesuch an mich persönlich, heute noch! Ich werde eine sofortige Bearbeitung veranlassen.“
Der Gefangene sagt:
„Spassibo.“ „Danke.“
„Wer hat noch Fragen?“ sagt der General.
Ein Deutscher meldet sich.
„Warum gestattet man uns nicht, zu schreiben?“
„Ich wundere mich, daß Sie noch nicht geschrieben haben. Die Regierung hat ihre Erlaubnis prinzipiell schon gegeben."
„Wann werden wir in unsere Heimat fahren?“
„Alle Ausländer, auch die Deutschen, werden in der nächsten Zeit in ihre Heimat übergeführt werden. Ich denke, daß Sie bis Ende August schon abtransportiert sind. Hat noch jemand Fragen?“
Niemand meldet sich mehr.
Das Streikkomitee hat entweder keine Zeit gehabt, in den wenigen Minuten zwischen Ankündigung und Beginn einen Redner für dieses zweifellos mit Absicht überraschend einberufene „Meeting“ zu stellen, oder es hat darauf verzichtet, noch einen Mann als Redner zu exponieren, da es wußte, daß nach der Wiederaufnahme der Arbeit in den anderen Schächten auch im Schacht 6 der Streik nicht mehr zu halten sein würde.
Am gleichen Tag schreiben einige der Deutschen Briefe an ihre Angehörigen. „Der General selbst hat es erlaubt.“
Die Briefe liegen drei Monate ungelesen beim Zensor und werden dann zurückgegeben.
Bis Ende August werden wir alle nach Hause fahren?
Als wir am 10. Dezember 195 3 zu neun Deutschen aus dem Schacht 6 auf die Reise gehen, lassen wir noch hundertzwölf deutsche Kameraden im Lager zurück. Die letzten vierzehn von ihnen — darunter Studenten der Berliner Freien LIniversität, der Hochschule für Politik oder der Technischen Universität — sind im Frühjahr 19 5 3 verhaftet worden und Ende November in unserem Lager eingetroffen. Im ganzen Rayon Workuta leben in den Regimelagern jetzt noch etwa dreitausend Deutsche. Und Wortuka ist nur ein Rayon. Wer weiß genau, wie viele solcher Rayons es in der Sowjetunion gibt?
Vorübergehend haben die Gefangenen aufgehört, nach den realen Möglichkeiten eines Erfolges zu fragen. Sie sind von ihrem Streik wie berauscht. Eine jahrelang aufgestaute Spannung entlädt sich. Für alle Beteiligten ist dieser Streik die erste Widerstandsaktion, etwas Unerhörtes, nicht einmal im Traum für möglich Gehaltenes.
Die Einsichtigen freilich ahnen, daß dieser Aktion der äußere Erfolg noch versagt bleiben muß.
Am Abend treffe ich Gribowski, den emeritierten „Spez“ der revolutionären Arbeit. Er hat in seinem Leben zahllose Streiks organisiert, mit der gleichen Passion, mit der andere Menschen Boxkämpfe, Pferderennen oder Auktionen organisieren. Dieser Streik ist der erste Streik seines Lebens, dessen Strudel sich um ihn dreht, ohne daß er dafür verantwortlich zeichnet. AIs Ausländer und ehemaliger „Roter steht er ganz außerhalb jener nationalen „weißen“ Gruppen, die den Streik durchführen.
Er sitzt auf einer Bank vor seiner Baracke, die immer noch imposante Ruine eines Revolutionärs, und dreht behutsam eine Zigarette -aus Machorka und dem obligaten Fetzen „Prawda“ -Papier.
„Nun, Towari schtsch, was halten Sie vom Streik?
Während die „Prawda" sich langsam in blauen Dunst verwandelt, wendet sich sein verwittertes Gesicht mir zu, seine blauen Augen, die in den fünf Jahren „Lubjanka“ trübe geworden sind, sehen mich ironisch an, und er zitiert den berühmten Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen."
Dieses Vaterland der Werktätigen, dessen Politbüro auf den revolutionären marxistischen Traditionen thront, wie eine Stammfischrunde auf ihren Sitzkissen, ist eine Mißgeburt des Sozialismus. Und der alte Revolutionär, dessen Lebensabend ein Beweis ist für die Richtigkeit des Satzes, daß die Revolution ihre eigenen Kinder frißt, hat den Sinn für die historische Ironie des Streiks nicht verloren.
„Was denken Sie über den Streik?"
„Ich kann Ihnen nur sagen, was Sie ohnehin selbst gut genug wissen.
Wir kommen doch beide“ — anzügliches Augenblinzeln — „aus dem gleichen Kindergarten des dialektischen Materialismus.“
„Stellen Sie sich vor", sage ich, „Sie hätten diesen Streik organisiert . . ."
„Wenn das hier mein Streik wäre“, unterbricht mich Gribowski, „dann sähe die Sache anders aus, darauf können sie sich verlassen!“
Vielleicht hat er recht, vielleicht auch nicht. Man muß immerhin bedenken, dieser Streik ist ein Streik unter ganz besonderen Bedingungen. Er darf nicht mit europäischen Maßstäben gemessen werden. Viele Faktoren, die einen Streik in den „Ländern der kapitalistischen Ausbeutung“ kennzeichnen, fehlen hier völlig: die öffentliche Entscheidung der Arbeiterschaft für oder gegen den Streik; die öffentliche Wahl eines Streik-komitees, das sich gewöhnlich aus den aktivsten Elementen zusammensetzt; die Proklamation der Streikforderungen; die Streikerfahrung der Gewerkschaften. Es ist ein geheimer Streik, ein Streik der „Unterirdischen“. In jeder Hinsicht sind die Bedingungen dieses Streiks, der unter den Augen des MGB vorbereitet und durchgeführt werden muß, sehr viel schwerer. Dazu kommt freilich noch, daß alle Streikenden ohne Streikerfahrung sind; sie streiken zum erstenmal in ihrem Leben. Sie haben, wie Gribowski fachmännisch konstatiert, die Streikerfahrung etwa der Arbeiter des Frühkapitalismus, der Chartisten oder der russischen Arbeitergruppen um 1880 herum. Nicht einer der Leute, die den Streik führen, hat wahrscheinlich jemals einen Streik auch nur miterlebt, gesclweige denn mitgemacht. oder gar angeführt. Die Technik des Streiks ist erst an Ort und Stelle erstmalig entwickelt worden, in jedem Lager selbständig und ohne Kontakt und Erfahrungsaustausch mit den Nachbarlagern, so daß jedes Lager seine eigene Technik'entwickelte und der Streik in den Lagern einen zum Teil völlig verschiedenen Verlauf nahm.
Natürlich sind Fehler gemacht worden.
In keinem Schacht haben die illegalen Streikführungen jene Form entwickelt, die in der Geschichte aller Streiks sich stets als die wirkungsvollste erwiesen hat, den Streik am Arbeitsplatz, den Sitzstreik. Sie haben alle Auseinandersetzungen um den Streik sich im Lager abspielen lassen, statt sie in den Schacht selbst zu verlegen. Dort hätte der Schwerpunkts des Streiks liegen müssen, und zwar aus folgenden sehr einfachen Gründen:
Der Schacht ist das ausschließliche Reservat der Gefangenen. Niemals wagt es ein Wachtposten, ein Offizier oder ein MGB-Beauftragter, in das Dunkel der Gänge und Stollen hinabzusteigen — aus Furcht, nicht mehr lebend herauszukommen. Im Schacht hätte sich auch eine offene und wirksame Propaganda für den Streik durchführen lassen. Kleine „Meetings“ wären möglich gewesen, die im Lager wegen des Spitzel-systems nicht hatten stattfinden können. Lind die aktivsten Gruppen der Streikenden hätten sich jener zentralen technischen Einrichtungen bemächtigen können, des Förderaufzuges etwa oder der Sammelstelle für die Loren, von denen aus eine Kontrolle über den ganzen Schacht leicht und wirkungsvoll durchzuführen gewesen wäre.
Das Verbleiben der Streikenden im Lager gab der MGB-Verwaltung die Möglichkeit, die aktiven Elemente des Streiks ausfindig zu machen, zu isolieren und abzutransportieren, eine allgemeine Einschüchterungspropaganda zu betreiben, durch Versprechungen und Gerüchte die Moral der Streikenden zu erschüttern und den Streik schließlich durch eine Summe von Maßnahmen abzuvürgen.
In diesem wichtigsten organisatorischen Fehler zeigte sich zweifellos die Linerfahrenheit der Streikleitungen am deutlichsten. In anderen Punkten haben die Kaders der Widerstandsgruppen erstaunlich gute Arbeit geleistet und gewissermaßen eine Feuerprobe bestanden. Vor allem aber haben die Ereignisse gelehrt, daß man einem Aufbegehren der Gefangenen von oben sehr viel vorsichtiger begegnet,1s man eigentlich erwarten könnte, weil durch ein riesiges Blutbad nur der Fortgang der Produktion gestört werden würde.
* Das Ende des Streiks kommt mit der gleichen gespenstischen Geräuschlosigkeit wie sein Anfang. Am Abend poltern die ersten beladenen Kohlenwaggons von den Nachbarschächten an uns vorbei. Der General hat recht, die anderen Schächte arbeiten wieder. Die Streikenden im Lager des Schachtes 6 begreifen, daß sie an das Geschehen in den anderen Schächten gebunden sind. Allein können sie nicht weitermachen.
In den leisen Gesprächen, die in den Baracken der Streikenden geführt werden, setzt sich die Auffassung durch, daß der Streik beendet werden müsse. Die Gefangenen sind bedrückt. Es war eine gute Stimmung für den Streik. Er war so populär! Selbst invalide Muschiki krochen aus ihren Baracken und sagten:
„Gebt's ihnen, Jungs, gebt's dieser verdammten Regierung! Keine Tonne Kohle für den Plan.“
Jetzt seufzen sie:
„Wir hatten gedacht, ihr würdet so lange streiken, bis sie den Zaun wegnehmen.“
Eine Welle der Depression geht durch die Baracken. Was kann man noch tun, um die Sache zu retten? Nichts, gar nichts. Jeder denkt an die fünfundzwanzig Jahre Haft, die über fast alle hier wie eine Norm verhängt sind, und die nun wieder mit tödlicher Unerbittlichkeit vor ihm stehen. Die Gefangenen liegen nachts auf ihren Strohsäcken und denken: „Was könnte man nur tun?"
Als am anderen Morgen um fünf Uhr das Trompetensignal zum Wecken ertönt, erheben sie sich und begeben sich zur Arbeit. Niemand bleibt zurück, als wäre der Streik nie gewesen. War es nur ein schöner Traum?
Konnte es überhaupt anders ausgehen? Die Sowjetregierung verfügt über den stärksten innenpolitischen Machtapparat der Welt; eine Armee, die zahlenmäßig größer ist als jede andere; eine Sicherheitspolizei, über deren Ziffern niemand etwas weiß, eine Miliz, halbmilitärische Formationen. Konnte der Streik anders ausgehen als ohne wesentliche Konzessionen der Regierung?
Nun ist er zu Ende, die Schächte liefern wieder Kohle. Die Versorgung Leningrads ist nicht länger gefährdet.
Was bleibt von der ganzen Aktion?
• Das wichtigste Resultat ist die Tatsache, daß der Streik überhaupt stattgefunden hat. Er hat bei den Gefangenen und in der Bevölkerung ein starkes Echo geweckt. Zwei Monate später arbeiten im Schacht 6 junge Praktikanten einer Leningrader Bergbauakademie.
„Wir erfuhren sehr schnell, daß bei euch gestreikt wurde“, erzählen sie. „Der Ausfall an Kohle machte sich sofort bemerkbar. Bei uns gibt es keine Vorräte, es gibt nur den Plan. Und jeder weiß, wie empfindlich so ein Plan ist."
Der Streik von Workuta wird schnell populär in Leningrad. Was das Zugpersonal erzählt, wird fleißig kolportiert. Immer mehr Einzelheiten werden bekannt. Die Leningrader in den Lagern bekommen nach einiger Zeit vorsichtige Anfragen in den Briefen ihrer Angehörigen.
Der Streik ist die erste sichtbare, geschlossene Demonstration gegen die Regierung seit dem Aufstand der Matrosen von Kronstadt im Jahre 1921. Er hat den Nimbus von der Unangreifbarkeit des Systems zerstört, denn dieses System ist angreifbar, sobald sich seine Arbeiterschaft derselben Methoden des Klassenkampfes gegen die soziale Oberschicht bedient wie außerhalb der Sowjetunion und ihrer Satelliten. Mehr noch: die industrielle Produktion der Sowjetunion ist wegen ihres Planungssystems weitaus empfindlicher für jede Störung. In den Händen des Millionenheeres der Zwangsarbeiter befinden sich die wichtigsten Positionen der Rohstoffindustrie (allein etwa fünfzig Prozent der Kohlenförderung und annähernd achtzig Prozent der Holzgewinung). Ein Streik, der nicht nur Workuta, sondern alle Rayons der MGB-Lager erfaßte, würde das ganze Gebäude der sowjetischen Wirtschaft in seinen Grundfesten erschüttern. Die Voraussetzungen für einen Streik sind unverändert geblieben. Die Strafen der Gefangenen sind nicht reduziert worden; eine generelle Amnestie ist nicht erfolgt. Nach wie vor leben die Zwangsarbeiter von Workuta wie die in allen anderen Lagergebieten der Sowjetunion hinter Stacheldraht. Darum wird der Kampf weitergehen. Nach Beendigung des Streiks haben die illegalen Gruppen angefangen, die gemachten Fehler zu analysieren. Sie haben aus den Fehlern gelernt und ihre Konsequenzen gezogen.
Erwartungen und Enttäuschungen
Im Sommer 1953 war die Situation für einen Zusammenbruch des Bolschewismus günstiger denn je zuvor in den letzten dreißig Jahren; sie war einmalig. Alle Voraussetzungen für den Zusammenbruch waren gegeben: in dreißig Jahren hat Stalin eine Opposition gegen das System geschaffen, die ihresgleichen sucht in der Geschichte Rußlands.
Die bäuerliche Opposition ist heute breiter und stärker als im Jahre 1917, und die Parole „Das Land den Bauern“ hat ihre ungeschwächte Zugkraft. Der Haß der Bauern gegen das System ist nicht weniger groß als der Haß gegen die alten Die Bauern haben begriffen, Gutsbesitzer.
daß sie um die Frucht der Revolution, für die sie ihr Blut vergossen haben, betrogen worden sind.
Seit Beginn des ersten Fünf-Jahres-Planes hat sich in der Sowjetunion ein breites Industrieproletariat entwickelt, das unter Lebensbedingungen zu existieren gezwungen wird, die denen des Frühkapitalismus der eüropäischen Arbeiter entsprechen. Die Grundeinstellung dieser Arbeiterschaft gegen das System ist ablehnend. Sie ist sozial unzufrieden. Sie empfindet die „Diktatur des Proletariats" als eine Diktatur gegen sich selbst.
Die Nationalitätenpolitik der Leninschen Ära ist verlassen. Seit Beginn der Unterdrückung der Griechen (ab 1937), der Deutschen (ab 1939), der baltischen Völker (ab 1940), der Ukrainer, hat sich in der Sowjetunion eine breite nationale Opposition gebildet, deren Ziel der Sturz des Systems ist.
Ein Faktor, mächtiger als die andern, ist das System der Straflager, in dem sich etwa fünfzehn Millionen Gefangene befinden. Sie sind die wichtigste Voraussetzung für den Aufbau der sowjetischen Industrie. Die Lager sind der Sammelpunkt für die Opposition aller Richtungen und Schattierungen. In den Diskussionen der Gefangenen untereinander formt sich das Zukunftsbild eines neuen Rußland.
Die Elemente der inneren Spannung des Zarismus, die zur Oktoberrevolution von 1917 geführt haben: der ungelösten Agrarreform und die ungelöste soziale Frage der Arbeiterschaft, haben sich vermehrt um zwei wichtige Faktoren: die Schaffung einer starken nationalen Opposition und die Existenz der Straflager.
Die heutige Situation ist die gleiche wie die des Sommers 1941, in dem der Krieg gegen die Sowjetunion begann. Unter Ausnützung der bestehenden sozialen und nationalen Spannungen wäre es für Hitler leicht gewesen, in Verbindung mit einer militärischen Intervention das sowjetische System zu stürzen. Sein „Befreiungsprogramm“ hätte etwa so aussehen müssen: 9 1. Nationale Autonomie für die Völker der Sowjetunion, .
2. „Das Land den Bauern“, 3. die Betriebe den Gewerkschaften, 4.freie demokratische Wahlen für eine neue Regierung.
Ich erinnere mich einer Unterredung im Januar 1945 mit einem Mitglied des zivilen Stabes von Wlassow. Er und seine Freunde waren 1944 wegen ihrer Sympathien für die Westmächte von der Gestapo verhaftet worden und befanden sich im Gefängnis Plötzensee, wo ich als Gefangener Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen. Er schilderte mir die Tragödie der Versuche, Hitler von seiner „Kolonialpolitik“ abzubringen. Er entwickelte mir jenes Programm, das für den eventuellen Einfall in die Sowjetunion zahllose Male durchdacht, formuliert und in Memoranden an die „Ostsachverständigen“ herangetragen worden war, bis zu dem Augenblick, da der Angriff auf die Sowjetunion begann und die militärischen und zivilen Stellen des „Dritten Reiches" auf die Annahme weiterer Ratschläge verzichten zu können glaubten.
Als Hitler begriff, welche Fehler gemacht worden waren, und sich entschloß, die Konstituierung der Wlassow-Armeen zuzulassen, war das '. Spiel politisch bereits verloren. Ich fragte den Russen damals: „Was gedenken Sie in Zukunft zu tun?“
Er hätte mir eine lange Rede halten können. Er verzichtete darauf, sondern sagte lediglich:
„Wir werden es mit den Amerikanern noch einmal versuchen.“
Auch heute noch sind die Amerikaner die große Hoffnung der Völker Rußlands, die während des Krieges eine anschauliche Demonstration des amerikanischen Industriepotentials erhalten haben. Noch heute laufen auf den Straßen der Sowjetunion die dreiachsigen Studebackers, die der Traum jedes sowjetischen Chauffeurs sind, stabiler als jene Neu-konstruktionen, mit denen die sowjetische Industrie in den Jahren nach dem Kriege herausgekommen ist.
Die Situation des Sommers 195 3 ist gekennzeichnet durch eine nationale Opposition breiten Ausmaßes, durch eine zunehmende Opposition in den Betrieben, durch eine Unzufriedenheit der Intelligenz und der studentischen Jugend sowie eine an Explosion grenzende Gärung in den Straflagern. Mit dem Tod Stalins hat der Druck der Diktatur nachgelassen, ohne daß die inneren Spannungen gemildert worden wären.
Die Opposition ist breit, aber latent: sie kann nicht wirksam werden dank eines einzigartigen Polizeisystems, es fehlt ein breiter, illegaler, in einem autoritären Staat unmöglicher Apparat, der sich über kleine Gruppen hinaus in der Sowjetunion genau so wie bei Hitler niemals hat entwickeln können. Es fehlt die Unterstützung des Auslandes, das von der Möglichkeit einer innenpolitischen Opposition und einer Beeinflußung der sowjetischen Innenpolitik keine Informationen ünd falsche Vorstellungen hat.
Die inneren Spannungen der Sowjetunion haben eine weitere Zunahme erfahren durch die Existenz der Satellitenstaaten, in denen nach sowjetischem Muster eine schmale Oberschicht die Masse der Bevölkerung unterdrückt.
Das Grundprinzip der sowjetischen Propaganda beruht auf einer einfachen Taktik: sie nutzt die demokratischen Möglichkeiten des Westens, seine inneren Gegensätze und die Unfähigkeit seiner Politiker aus. Seit Beendigung des Bürgerkrieges hat das Terrain der Auseinandersetzung stets außerhalb der Sowjetunion gelegen. Voraussetzung für einen Erfolg des „kalten Krieges“ ist, daß das Schlachtfeld der Auseinandersetzung aus dem „kapitalistischen Westen“ in die Sowjetunion verlegt wird und die Sowjets sowohl propagandistisch, subversiv und militärisch mit ihren eigenen Waffen angegangen werden.
Die hermetische Abschließung der Grenzen der Sowjetunion muß mit den Mitteln, die dem Westen zur Verfügung stehen, durchbrochen werden. Das Ziel aller Aktionen muß sein, in der Sowjetunion selbst, in der alle Voraussetzungen gegeben sind, eine Situation zu schaffen, die der des 17. Juni in Mitteldeutschland entspricht, die sich hier aber auf Grund einer Reihe von technischen, geographischen und anderen Voraussetzungen in einen Bürgerkrieg verwandeln würde.
Im gleichen Augenblick, in dem 'diese Aktion einen breiten Umfang annimmt, ist die Sowjetunion innenpolitisch gebunden und außenpolitisch so gehandicapt, daß sie militärische Aktionen gegen den Westen nicht riskieren kann. Die Sowjets müßten alle Anstrengungen machen, mit den Dingen im Innern fertig zu werden, und würden es sich nicht leisten können, außenpolitische Aktionen auszulösen.
Die Pläne der Widerstandsgruppen in den Lagern können zwangsläufig nur begrenzten geographischen Charakter haben. Jedes Lager denkt zunächst in seinen Grenzen und in den Grenzen seiner Nachbar-lager. Die am weitesten vorgeschobene Zone ihres Denkens und ihrer Vorstellungen ist der Rayon Workuta. Ihre Pläne jedoch sind typisch für sämtliche Regime-Lager der Sowjetunion. Wenn Gefangene aus den südlichen Rayons, aus den Waldlagern von LIchta und Inta, aus Karaganda oder den Lagern des Fernen Ostens kommen, ergibt sich, daß die Vorstellungen der Gefangenen und ihre Pläne dort die gleichen sind wie in Workuta. Die Gedanken der Workutaner, ihre Vorstellungen, ihre Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen sind die aller Gefangenen der Sowjetunion. Ihre Bereitschaft, sich gegen die Sklavenhalter des Kommunismus zu schlagen, ist die Bereitschaft von fünfzehn Millionen.
Sie beginnen, ihre Macht zu spüren, sie fühlen ihre Kräfte wachsen.
Es ist Sache des Westens, das Vertrauen, das die Gefangenen in ihre eigenen Handlungen haben, zu stärken und sie anzufeuern. Es ist notwendig, in der Öffentlichkeit auf die Brüchigkeit des Systems hinzuweisen und die neuralgischen Punkte des Systems zum Diskussionsgegenstand der Weltmeinung zu machen.
Die Pläne des Westens sollten dahin gehen, in den Gefangenenlagern, die das Herz der sowjetischen Rohstoffindustrie darstellen, Erhebungen und Streiks auszulösen. Um die Durchführung des Streiks braucht sich niemand zu kümmern: sie würde von den Widerstandsorganisationen selbst besorgt werden. Alle Voraussetzungen sind gegeben, um in den Lagern entlang der Eismeerküste von Archangelsk bis zur Beringstraße einen Streik auszulösen. Es fehlt nur das zündende Fanal aus dem Westen. Es würde genügen, Flugblätter abzuwerfen. In den Gesprächen mit den politischen und militärischen Experten der Widerstandsgruppen sind ihre Wunschbilder immer wieder formuliert und ausgesprochen worden. Das Resume dieser Unterhaltungen kann in folgenden Forderungen zusammengefaßt werden:
Abwurf von Flugblättern, die in den Regime-Lagern zum Generalstreik auffordern.
Abwurf von Waffen, Funkgeräten, Sprengstoffen, Sanitätsmaterial und Lebensmitteln. Diese Aktion nicht nur in Workuta, sondern in allen Waldlagern entlang der Eisenbahn nach Süden.
Schaffung zahlreicher Partisanentrupps, die in der Lage sein würden, die Eisenbahn, die mehr als zweitausend Kilometer nach Süden führt, an beliebigen Stellen zu unterbrechen.
Schaffung einer autonomen, von Moskau unabhängigen Republik, die den gesamten riesigen Waldkomplex des nördlichen europäischen wie asiatischen Rußlands umfassen würde. Wenn die Gefangenen mit Waffen versehen sind, ist sie unangreifbar. Weder mit Panzern noch mit Artillerie oder Flugzeugen kann sie beseitigt werden.
Intensive Radiopropaganda für die Völker der Sowjetunion. Aufruf der Bauern mit der alten traditionellen Parole: „Das Land den Bauern!“ eine Aufwiegelung der Betriebsarbeiterschaft mit der Parole: „Der Arbeiterschaft die Betriebe!“
Proklamierung der nationalen Autonomie der Ukraine, der baltischen Staaten, der kaukasischen Völker, der zentralasiatischen Völker und der Völker des Fernen Ostens.
Schaffung von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Sowjetunion mit einer Verschärfung der Spannung zwischen den Kadern der Armee einerseits und den Völkern der Sowjetunion andererseits.
Sturz der Regierung.
Freie, unabhängige Wahlen zur Konstituierung demokratischer Regierungen in allen Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs.
Fünf Monate später, im November 195 3, trifft im Lager des Schachts 6 eine Gruppe von vierzehn Berlinern ein, meist politisch aktive Studenten der Westberliner Hochschulen, die zum Teil bis April 195 3 noch in Freiheit waren. Sie haben als Untersuchungsgefangene der NKWD den 17. Juni in den Berliner Gefängnissen Karlshorst oder Lichtenberg erlebt. Sie berichten von dem Schock, den der 17. Juni für die Sowjets bedeutete, von ihrer Verwirrung und Ratlosigkeit. Sie erzählen:
„Plötzlich tauchten kriegsmäßig ausgerüstete Truppen auf, die das ganze Gefängnis besetzten. Sie lagen Tag und Nacht in Alarmbereitschaft. In der Ferne hörten wir Schüsse. Aus dem Verhalten der Soldaten und den Sicherheitsmaßnahmen war zu ersehen, daß man mit einem Sturm auf die Gefängnisse rechnete. Wir wurden in wenigen Zellen eng zusammengepfercht, ohne Rücksicht darauf, daß dies bei Untersuchungsverfahren gegen Gruppen streng verboten ist. Die freigemachten Zellen wurden mit den Verhafteten des 17. Juni belegt. Später sind wir wieder auf andere Zellen verteilt worden und waren mit den 17. -Juni-Leuten bis zum Abtransport, mit einigen von ihnen bis Workuta zusammen.“
Ein Teil der Verurteilten des 17. Juni ist im Spätherbst und Winter nach Workuta transportiert worden. Niemand von ihnen landete im Schacht 6, aber ihren Zellen-und Transport-Kameraden war es möglich, ein detailliertes und authentisches Bild von den Ereignissen zu geben.
Ich war Zeuge eines Interviews, das drei Studenten einem politisch interessierten Russen und führendem Mitglied einer Widerstandsgruppe gaben. Er fragte:
„Welche Forderungen hatten die Streikenden des 17. Juni?“
„Zunächst wollten sie die Annulierung der erhöhten Arbeitsnormen und die Auszahlung der Löhne nach früheren Normen. Außerdem Senkung der Lebenshaltungskosten.
Schon am nächsten Tag forderte die gesamte sowjetische Besatzungszone einheitlich folgende Punkte:
Freie Wahlen, Freilassung der politischen Gefangenen, Auflösung der deutschen NKWD und der Volkspolizei, Senkung der Normen, der Steuern und Preise, Abschaffung der Zonengrenzen, Rücktritt der alten Regierung und Wahl einer neuen durch ein unabhängiges Parlament."
Der Russe ist zufrieden.
„Gute Forderungen. Bei uns fehlt zusätzlich nur noch die Autonomie der einzelnen Völker der Sowjetunion. Sonst können wir alles übernehmen.“ Frage: „Hat der Westen einen Streik wie den des 17. Juni für möglich gehalten?“
„Nein, alle sind überrascht worden.“
Frage: „Hatte der Westen für den Fall des Todes Stalins ein Programm?“ „Was für ein Programm?“
„Das Programm einer umfassenden propagandistischen, diplomatischen, moralischen und öffentlichen, und, falls das alles nicht ausreichen sollte, einer militärischen Offensive?"
„Nein!“
„Warum nicht?“
Die Antwort der Studenten:
„Niemand befaßt sich damit.“
„Niemand weiß überhaupt, was in der Sowjetunion los ist.“
„Keiner weiß im Westen, was hier gespielt wird.“
Frage: „Hat es eine Erklärung von Eisenhower zu den Ereignissen des 17. Juni gegeben?“
„Nein!“
„Auch später, nicht als die Aktion zu übersehen war?“
„Nein.“
„Was hat Churchill gesagt?“
„Nichts.“ „Haben die Alliierten in Berlin den Aufstand materiell unterstützt?“
„Nein.“
Die Abwesenheit Reuters in den entscheidenden Juni-Tagen ist dem Russen aus einem Bericht der „Literaturnaja gazeta" bekannt.
Frage: „Warum ist Reuter nicht zurückgekommen?“
Zwei Studenten wissen nichts. Der dritte hat mit einem Teilnehmer des 17. Juni gesprochen, der nach dem Aufstand nach Westberlin flüchtete, aber bei einem späteren heimlichen Besuch in seiner Ostberliner Wohnung verhaftet wurde. Dieser Mann hat dem Studenten erzählt, daß die Amerikaner Reuter an der Rückkehr nach Berlin gehindert haben.
„Warum?“
„Weil sie fürchteten, es könne zu einem Kriege kommen.“
„Aber nach allem, was sie aus den NKWD-Gefängnissen erzählen, fürchteten die Russen ebenfalls einen Krieg! Jede Partei hat also Angst vor der nicht vorhandenen Courage der anderen.“ — „Aus den Berichten der sowjetischen Presse haben wir entnommen, daß in Westberlin und Westdeutschland Rundfunksender im Dienst der Allierten gegen die Sowjets arbeiten.“
„Das stimmt.“
„Haben diese Sender sich zum Sprecher der Aufständischen gemacht?“
„In welchem Sinne?“
„Haben sie zum Beispiel am Abend des ersten Tages, als die Ereignisse sich übersehen ließen, den Generalstreik für die Ostzone proklamiert und die Forderungen der Streikenden auf Generalstreik usw. durchgegeben?“ Die Studenten antworten übereinstimmend:
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Wir wissen es nicht!“
„Vielleicht weiß ich es“, sagt der Russe. „Die Sender unterstehen der Kontrolle ihrer Regierungen, nicht wahr? Natürlich haben sie am 17. Juni bei den Regierungen gefragt, wie sie sich verhalten sollen. In den Regierungen sitzen Beamte. Zu ihrem Beruf gehört, daß sie immer Angst haben vor den Aufständen des Volkes, auch wenn sie sich im andern Lagei abspielen.“
Zwei Monate später erfahre ich in Berlin die volle deprimierende Wahrheit. Es ist gut, daß sie in Workuta nie bekannt geworden ist.
Frage: „Sind die Mitteilungen der „Prawda“ richtig, daß die Regierung Adenauers ein Ministerium hat, das sich speziell mit der Ostzone befaßt?“ „Das ist richtig.“
„Was hat der Minister am 17. Juni unternommen?“
Die Studenten können sich nicht erinnern, gehört zu haben, daß der Minister in Erscheinung getreten ist.
Frage: „Was haben die westdeutschen Arbeiter gesagt oder die Gewerkschaften? Sind die Westberliner Arbeiter herübergekommen, um den Ostberliner Arbeitern zu helfen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
Achselzucken.
Frage: „Hat die Westberliner Gewerkschaftsleitung die Arbeiter Westberlins nicht aufgefordert, den Arbeitern Ostberlins zu helfen?“
„Darüber ist nichts bekannt.“
„Hat man in Berlin oder in den westlichen Hauptstädten gewußt, daß ein länger dauernder Streik auf die Volksdemokratien und die Sowjetunion selbst übergegriffen und in Verbindung mit einer schnellen Aktion des Westens wahrscheinlich das ganze Regime der Sowjetunion zum Einsturz gebracht hätte?“
„Daran denkt niemand im Westen."
„Was hat der Westen also gemacht“, fragt der Russe abschließend, »außer daß er den 17. Juni mißverstanden hat?“
Niemand antwortet.
Frage: „Welche Konsequenzen haben sich für den Westen aus dem 17. Juni ergeben?“
„Das wird euch,“ sagen die Berliner Studenten, „eine Etappe von Leuten erzählen, die jetzt gerade verhaftet werden. Bis zum Sommer 1954 werdet ihr die Antwort bekommen.“
Die Deutschen haben die einzige Konsequenz gezogen, zu der sie fähig sind: sie haben die Toten begraben und mythisiert. Jede Epoche ihrer unglücklichen Geschichte der letzten vierzig Jahre hat historische Tote: von den Toten von Langemarck über die der Feldherrnhalle und des 20. Juli geht es zu denen des 17. Juni. Auch nach dem 17. Juni haben sie nicht begriffen, daß in der Sowjetunion und in den Satelliten-staaten ein neues „Proletariat“ herangewachsen ist, das den gleichen Gesetzen der „Expropriierung" unterworfen ist, die Marx in seinen Analysen des Frühkapitalismus beschrieben hat. Das System des Ostens ist ein System mit umgekehrten Vorzeichen, die Grundgesetze seiner Ökonomie gleichen denen jener Jahrzehnte, in denen die Industriestaaten des Westens, die Fundamente ihrer wirtschaftlichen Entwicklung legten. Diese Entwicklung lief unter den gleichen Symptomen, die das Charakteristikum der sowjetischen Arbeiterschaft von heute ist: lange Arbeitszeit, geringe Entlohnung, soziale Unzufriedenheit. Sie war insoweit humaner, als sie darauf verzichtete, ein Heer von Zwangsarbeitern mit absoluter Freiheitsberaubung zu schaffen. Das Wort von Marx: „Die Fabrik ist ein Zuchthaus, aus dem der Arbeiter abends nach Hause entlassen wird, um morgens wieder dorthin zurückzukehren“ hat in dem Staat, der in seinem Namen gegründet wurde, seine volle Berechtigung. Endlich haben diese Sklaven sich erhoben, in Berlin, Workuta, Narilsk und in Sibirien, nicht anders als die Chartisten in England oder die Arbeiter der Pariser Kommune. Sie sind bereit und entschlossen, ihre Oberschicht zu stürzen. Aber sie bedürfen der Hilfe durch den Westen.
Das Groteske in der Situation der „kapitalistischen“ Oberschicht des Westens liegt darin, daß sie sich zum Sturz der kommunistischen Oberschicht der Sowjetunion der gleichen Arbeiterklasse bedienen muß, mit der die Sowjets ihrerseits im Westen zu operieren versuchen. Sie muß den Spieß der Marx’schen Analyse umdrehen, nichts weiter!
Der 17. Juni hat unter den „Proletariern“ der Sowjetunion jene Resonanz ausgelöst, die man dem Westen gewünscht hätte, aber es wäre falsch anzunehmen, daß die Sowjets diese gleichen Symptome unbeachtet gelassen haben. Man kann sicher sein, daß Moskau den 17. Juni sehr viel gründlicher analysiert hat als Washington, Bonn oder London.
Die Zeit wird erweisen, ob der Prozeß des Bewußtwerdens ihrer eigenen sozialen Kraft in den Völkern der Sowjetunion vom Westen her dadurch beschleunigt werden kann, daß der Westen selber diese Forderungen formuliert und sich mit ihnen identifiziert. Es ist notwendig für ihn, ein klares, nationales und soziales Programm zu haben, dessen Inhalt die Forderungen aller LInterdrückten jenseits des Eisernen Vorhangs ist und in dessen Kern die Formulierungen des 17. Juni zu stehen hätten.
Der Ablauf der Ereignisse in Berlin und Workuta hat vieles gemeinsam. Er unterscheidet sich jedoch grundsätzlich darin: in Berlin haben die Sowjets sehr bald geschossen, in Workuta endete der Streik erst nach Wochen. Moskau war sich bewußt, daß ein Streik im Herzen der Sowjetunion, dem man mit den gleichen rigorosen Berliner Methoden begegnet wäre, sehr viel gefährlichere Konsequenzen nach sich gezogen hätte als der Aufstand in Deutschland. Diese Stadt an der Peripherie eines Dschingiskhan-Reiches konnten man notfalls räumen, Workuta nicht.
Der Streik in Workuta konnte im Sommer 195 3 aus den Lagern auf die Industrie des Landes überspringen. Eine brutale militärische Niederwerfung hätte das Fanal zu einem Massenaufstand sein können, dessen Konsequenzen nicht abzusehen waren. Die Geduld, mit der die Sowjets den Streik abwürgten, war nicht die Geduld einer Macht, die sich stark fühlt.
Der Boden unter dem Kreml schwankte, aber die Seismographen des Westens haben keinerlei Erschütterungen registriert. Sie vollzogen sich in der Soziologie und nicht in der Atomphysik.
Abschied
Am frühen Morgen des 9. Dezember 195 3 sucht K. mich in meiner Baracke auf. o „Wissen Sie schon, daß Sie auf einer Liste von neun Deutschen stehen, die auf Etappe gehen sollen?“
„Nein, ich weiß nicht!“
Während ich mich nach den Quellen seiner Information erkundige, erscheint S., der auch auf dieser Liste steht. Er hat seine eigenen Erkundigungen eingezogen, die mit denen von K. übereinstimmen. Es besteht nun kein Zweifel mehr: an einem der nächsten Tage gehen neun Deutsche aus dem Lager des Schachtes 6 auf Transport, und ich bin einer von ihnen. Es ist uns klar, daß diese Etappe in die Freiheit führen kann. Ich erinnere mich einer ähnlichen Situation im März 1945. Damals war ich Gefangener der Gestapo im Berliner Polizeipräsidium Alexanderplatz.
An einem Morgen, es mochte um die gleiche Zeit sein wie jetzt, führte mich ein Wachtmeister in die Zentrale, wo mich ein Zivilist erwartete, der mich nach Namen, Vornamen, Geburtstag sowie dem Tag meiner Verhaftung fragte und meine Antworten mit den Angaben verglich, die er von einem Zettel ablas. Er überzeugte sich, daß beides übereinstimmte, und sagte dann trocken:
„Ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß Sie mit dem heutigen Tage entlassen sind.“
Damals wunderte ich mich noch, in welcher Gelassenheit die Seele verharrte, und wie wenig mich diese Mitteilung berührte, die mich befreite von den Bombenangriffen, deren Detonationen das Berlin jenes Frühjahrs Tag und Nacht erschütterten, von Hunger, Kälte, Läusen und der Gefahr, in den letzten militärischen Konvulsionen der Metropole noch das Leben einzubüßen.
Heute jedoch bleibt mir wenig Zeit zum Nachdenken. Der Läufer des Natschalnik Tschis erscheint: „Die neun Deutschen sofort zum Natschalnik." Wie üblich, überstürzt sich alles. Wir gehen in die Kaptjorka und erhalten neue Wattekleidung, Filzstiefel, Unterwäsche, Fußlappen. Zum ersten Male in diesen dreieinhalb Jahren Lager erhalte ich eine neue Garnitur.
Das Schmerzlichste ist der Abschied von den Freunden. Wir fahren, und sie bleiben. Ich kenne ihr Leben so gut wie mein eigenes. Wir sind eine Familie, deren Mitglieder keine Geheimisse mehr voreinander haben. Es ist nicht üblich, zu klagen. Jeder pflegt das Schwere in den Stunden der Einsamkeit mit sich selbst abzumachen. Lind ich weiß, daß sie von diesem Abschied bedrückt sind, auch wenn sie kein Wort darüber verlieren.
Es bleibt keine Zeit, die Kameraden in den Baracken aufzusuchen.
Es ist auch unnötig. Wie ein Lauffeuer hat sich im Lager die Nachricht von unserem Transport herumgesprochen. Bald kommen die ersten, um sich zu verabschieden.
Moireddin bringt ein Säckchen mit zwei Dekaden Zucker, seine Ration, die er vor einigen Tagen empfangen hat. Mehr, als er hier mit einer selbstverständlichen Gebärde auf den Tisch legt, besitzt er nicht. Ich mache eine Bewegung, halb Ablehnung, halb Resignation.
„Ich habe Ihnen nie ein Geschenk machen können, weil ich nichts zu verschenken hatte , sagt er in ruhigem Ton, der keinen Widerspruch duldet.
„Aber heute werden Sie mir nichts abschlagen, nicht wahr? Sie wissen nicht, wie lange Ihre Reise dauert.“
Er sieht mich an, mit klaren Augen, deren braune Iris schon vom grauen Rand des Alters gesäumt ist. Er schweigt, wir verstehen uns auch ohne Worte. Er muß gehen, seine Brigade sammelt sich zum „Raswod“ der zweiten Schicht. Er drückt meine Hand, sieht mich ein letztes Mal voll an, wendet sich ab und geht langsam davon, der zeitlose Rabbi seines Volkes und die Verkörperung seiner Tugenden, groß geworden in den Traditionen der Schwarzen Hundert, gejagt von den Pogromen Petljuras und der Weißen, zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt von einem System, für das er mehr als dreißig Jahre als Chemiker gearbeitet hat, und das sich nicht scheute, seine drei Söhne auf dem Altar des „Vaterländischen Krieges“ zu opfern.
Dann stehen wir eine Weile an der Wache, umringt von Abschied nehmenden Kameraden. Ein Posten beendet das Gespräch.
„Es ist genug gesprochen worden.“
Letztes Händedrücken.
„Macht's gut.“
Wir sitzen und warten zwei Stunden. Schließlich wird uns mitgeteilt, daß wir erst am nächsten Morgen fahren. Auch das wundert niemanden mehr. Wir nehmen unsere Habseligkeiten und begeben uns in die Barakken zurück.
Diese letzte Nacht verbringe ich bei Gerhard, der mir näher steht als alle andern. Wir sitzen in einer winzigen Suschilka und trinken Tee.
„Ich wünsche Ihnen, daß Sie nach Hause kommen. In der augenblicklichen Situation ist das im Bereich des Möglichen. Vielleicht machen die Sowjets eine billige Geste der Konzilianz, um eine günstige Atmosphäre für die Berliner Außenministerkonferenz zu schaffen.“
„Was kann ich für Sie tun, wenn ich nach Hause kommen sollte?“
„Gar nichts“, antwortet er. „Ich bin 1947 verhaftet worden. Meine Eltern waren alt. Ich bin ihr einziges Kind. Sie hingen sehr an mir und werden meine Verhaftung kaum überlebt haben. Meine Frau ist damals in einer durch meine Verhaftung desolaten wirtschaftlichen Situation zurückgeblieben. Sie hat vier kleine Kinder. Sie hat niemals mehr etwas von mir gehört. Für sie wie für meine Eltern bin ich gestorben. Vielleicht hat sie sich — und im Interesse der Kinder wäre das zu hoffen — ein Leben mit einem anderen Manne aufgebaut. Ich kann nur hoffen, daß die Wunde, die mein Verschwinden für sie bedeutet, nach sieben Jahren vernarbt ist. Jedenfalls wünsche ich ihr das. Jede Frau, die ihren Mann liebt, wird auf ihn warten, ein, zwei, drei, vielleicht fünf Jahre und länger, aber sie muß wenigstens wissen, daß er lebt und eine, wenn auch noch so kleine Chance hat, zurückzukommen.“
Er macht eine Pause, zündet sich eine Papyros an und fährt fort: „Wir sollten die Dinge ohne Sentimentalitäten betrachten. Nehmen wir an, sie hat sicher nicht leichten Herzens — ein neues Leben begonnen, in dem ich den mir gebührenden Platz einer schmerzlichen Erinnerung einnehme. Wenn sie nun erfährt, daß ich noch lebe, so würde diese Mitteilung nichts als Verwirrung bringen. Alte Wunden würden unnötig aufgerissen.
Was ich Ihnen sage, ist nicht das Resultat einer heute abend improvisierten Überlegung. Ich habe darüber sehr oft nachgedacht und bin immer nur zu diesem Resultat gekommen. Das Tribunal hat mir fünfundzwanzig Jahre gegeben. Meine Strafe endet 1972. Alle Leute, die bisher auf Etappe gegangen sind — die ersten vom Juni dieses Jahres und die neun von heute —, sind Menschen, die unschuldig sind. Ich aber gehöre zu denen, die wirklich gegen die Sowjets gearbeitet haben, und nach der bisherigen Praxis besteht keinerlei Veranlassung, anzunehmen, daß solchen Gefangenen auch nur eines von den fünfundzwanzig Jahren erlassen wird.“
Er schließt mit einer resignierten Handbewegung.
„Ich bitte Sie also, nichts zu unternehmen.“
* Wir verlassen das Lager am späten Vormittag mit dem „Schwarzen Raben“, der ein Dutzend verschließbarer Käfige enthält, in deren jedem ein Gefangener Platz findet. Die Käfige sind schon besetzt. Wir werden in einen schmalen Raum gepfercht, der sich hinter dem Chauffeur befindet. Durch das kleine Fensterchen in der Tür können wir nach draußen sehen.
Der Wagen rumpelt über die holprige Straße, die von den nördlichen Schächten nach Workuta führt. Wir durchqueren die Stadt und biegen in die Straße ein, die hinter den Schächten 1 und 9/10 langsam abfallend zum Fluß hinunterführt. Hier kenne ich jeden Meter Boden. Auf dieser Straße habe ich einen ganzen Winter täglich acht Stunden Schnee geschaufelt, bei jeder Kälte und in jeder „Purga“. Wir fahren am Zentral-Isolator vorüber, einem großen, zweistöckigen Holzbau. Die Fenster sind mit Blenden versehen. Die gleichen Blenden sichern die Gefängnisse in Berlin, Eisenach, Wladiwostok, in Warschau, Moskau, Sofia, Prag und Budapest.
Das Auto fährt an der Wache des Schachtes 9/10 vorüber, vor der ich zahllose Male gewartet habe, frierend, hungrig und erschöpft, wenn meine Brigade am späten Nachmittag von der Arbeit in das Lager einrückte. Dann rollen wir über die Holzbohlen der Straßenbrücke, die neben der massiven Eisenbahnbrücke über die Workuta führt. Der Wagen schiebt sich im ersten Gang die Straße hinauf. Unterhalb des Schachtes 8 liegt jetzt die Peresilka von Workuta. Vor ihrem Tor halten wir. In einer Baracke der Peresilka liegen etwa neunzig Kameraden aus den anderen Schächten. Sie warten zum Teil schon einige Tage. Ich treffe drei Kameraden aus meinem alten Schacht 9/10, einen anderen aus dem Schacht 40, mit dem ich im Sommer 1950 nach Workuta gefahren bin. Der Abend vergeht mit Gesprächen über unsere Schicksale und die unserer zahlreichen gemeinsamen Bekannten. In bezug auf die Rückkehr nach Deutschland sind die Meinungen zurückhaltend: Wait and see.
Am Abend werden wir einzeln aufgerufen. In einem kleinen Zimmer sitzt ein mongolischer Kapitän des MGB, der unsere Personalien aufs genaueste mit den Angaben vergleicht, die wir ihm machen. Er fragt:
„Kakoi srok byl?" Welche Strafe war?"
Heißt das: die Strafe ist zu Ende?
Dann geben wir die neuen Filzstiefel ab, die wir gestern erst empfangen haben, und empfangen Filzstiefel zweiter Sorte. Auf Befragen erklärt der zuständige Leutnant:
„Ihr fahrt nach Hause. Was wollt ihr in Deutschland mit Filzstiefeln?
An der Grenze werden sie euch ohnehin abgenommen.“
Niemand glaubt ihm.
In der Nacht werden wir geweckt. Wir sammeln uns in einer langen Reihe vor der Wache. Wieder werden wir einzeln aufgerufen, treten durch das Tor und formieren uns vor der Wache zu einer neuen Kolonne. Wir marschieren in der Dunkelheit über Eisenbahnschienen zu einigen Waggons, die auf einem Nebengleis abgestellt sind. Aus den Dächern lugen kleine Schornsteine. Im ersten Waggon hören wir die Stimmen von Frauen. Irgend jemand will wissen, daß auch Frauen mit unserem Transport fahren. Wir werden zu je fünfzig auf je zwei Waggons verteilt. Es sind normale Sechzigtonner, in denen drei Reihen Pritschen übereinander eingebaut sind. In jedem Waggon zwei kleine Öfchen. Die Wände sind mit Eis beschlagen. Wir holen Kohle und Holz.
Das Holz ist naß. Der Ofen qualmt.
„Wir werden ihn schon in Gang kriegen“, sagt jemand. „Haben wir die halbe Welt in Brand gesetzt, werden wir schließlich auch diesen verdammten Ofen einheizen.“
Er reißt ein trockenes Brett von der Pritsche und beginnt es zu zerkleinern. Nach einer halben Stunde glüht der Ofen.
* In diesen Waggons fahren wir Tag um Tag nach Süden, angehängt an die Kohlen-und Holzzüge, die den Industriegebieten Zentralrußlands zustreben. Die Hälfte der Zeit etwa rollt der Zug, die andere Hälfte steht er auf den zahlreichen Ausweichbahnhöfen der eingleisigen Strecke, die von Workuta über zwölfhundert Kilometer bis hinunter nach Kotlas führt.
Die Tundra verläßt uns. An Stelle des niedrigen Gestrüpps tritt verkrüppeltes Kiefern-und Birkengehölz. Nach weiteren hundert Kilometern sind die Bäume zwei Meter hoch. Schließlich fahren wir eine Woche lang durch den Urwald des subpolaren Nordens. Die Bahnlinie, Lebensader für das Kohlenbecken von Workuta und jene endlosen Holz-reservate westlich des Ural, ist mit Transporten überlastet. Stundenlang warten wir auf den kleinen Bahnhöfen, bis die Züge aus dem Süden, die das Vorfahrtrecht haben, uns passieren. Man hat angefangen, die Strecke zweigleisig auszubauen. Wir durchfahren die Baustellen mit ihren Gefangenenbrigaden, auf denen Tag und Nacht gearbeitet wird. Riesige Bulldozers drücken das Unterholz beiseite, um Platz für den Kies zu schaffen, den die großen 5-Tonnen-Kipper heranfahren. Streckenweise sind die neuen Gleise schon gelegt.
Wir durchfahren Petschora, am Fluß gleichen Namens gelegen, nächst Workuta die wichtigste Zentrale des Nordens, mit ihren riesigen Eisenbahndepots. Der Zug rollt über die kilometerlange Brücke. An den Ufern liegen ausgedehnte Docks und Verladerampen für den sommerlichen Schiffsverkehr zum Eismeer. Dann steht der Zug auf dem Bahnhof LIchta. Aus den Lagern dieses Rayons sind viele Kameraden nach Norden gekommen, als die Regimelager eingeführt wurden. Wir durchfahren zahllose kleine Stationen mit ihren Peresilki, hinter denen jeweils Dutzende von Waldlagern liegen. Die Fenster der Dörfer sind hell erleuchtet. Niemand spart hier mit Elektrizität.
Wir kreuzen Kotlas und Konoscha, jene historische Station der Strecke Moskau—Archangelsk, auf der wir im Juni 1950 nach Workuta abgebogen sind, den riesigen Bahnhof Wologda und treffen am späten Abend in Moskau ein. Langsam umfahren wir die Stadt an ihrer Peripherie. Sie ist hell erleuchtet. In jedem Zimmer brennt Licht. Hinter jedem Fenster wohnt eine Familie. Lind ich erinnere mich der Erzählungen unserer „Moskowitschi“, unserer Moskauer:
„Das Charakteristikum dieser Stadt ist die Wohnungsnot.“
Unsere Waggons werden umrangiert. Am anderen Morgen rollen wir weiter, aber statt nach Westen, wie wir gehofft hatten, geht die Reise weiter nach Süden. Unsere Pessimisten gewinnen die Überhand: die Reise wird nicht nach Deutschland gehen. Schließlich dreht der Zug nach Osten ab. Die Zahl der Optimisten schmilzt auf ein Minimum zusammen. Und wir beginnen uns zu fragen, wieviel Jahre Lager uns noch bevorstehen. Am nächsten Tage werden wir auf einer kleinen Station im Donbaß ausgeladen. Der Ort heißt Almasnaja.
Das Sammellager besteht aus einem halben Dutzend zweistöckiger verwahrloster Wohnblocks, die von dem obligaten Stacheldrahtzaun umgeben sind. Es gibt eine Warmwasserheizung, aber sie funktioniert nicht. Die Räume sind kalt und nicht möbliert. Keine Matratzen. Eine Decke für jeden. Wir legen uns auf den Fußboden und fallen in den Schlaf der Erschöpfung.
Am anderen Morgen ispizieren wir dann unser Domizil. Die Wohnblocks bilden den Teil eines Dorfes, in dem die Bergarbeiter einer Kohlengrube wohnen, deren Förderturm den nahen Horizont überragt. Das Dorf liegt in einer jener flachen Talsenken, die typisch sind für die Landschaft des Donbaß. Es ist vor einigen Jahren von Baukommandos deutscher Kriegsgefangener errichtet worden, in der üblichen ebenso pathetischen wie geschmacklosen sowjetischen Architektur. Mit weniger Aufwand an Material hätte man hier in einer Landschaft, deren Weite keine Grenze kennt, eine Siedlung schaffen können, bei der Zweckmäßigkeit und Formschönheit sich harmonisch miteinander verbunden hätten, Statt dessen ist ein Komplex von Mietskasernen entstanden, die mit ihrem rot-braunem Verputz die Landschaft verunzieren und ihien Bewohnern alles vorenthalten, was eine Siedlung einfacher Ein-odei Zweifamilienhäuser mit einem Stück Garten an Vorzügen bietet.
Um Platz für das Sammellager zu schaffen, hat man die zivilen Bewohner dieses Blockes plötzlich evakuiert. Sie haben ihr bescheidenes Mobiliar nicht mitnehmen können, vermutlich, weil die zugewiesenen neuen Unterkünfte noch beengter waren als die alten.
Am ersten Abend ist uns offiziell erklärt worden, daß wir nach spätestens zwei Tagen weiterfahren. Niemand, der das Organisationstalent der Sowjets kennt, glaubt daran.
* Drei Wochen lang ist der Termin unserer Abfahrt von Tag zu Tag verschoben worden. Die Pessimisten beginnen schon, sich auf „Seitschas • auf „vorläufig und unbefristet" einzurichten.
Plötzlich aber wird Anweisung gegeben, die großen Kessel für den Küchenwaggon zu säubern. Dann erfolgt die Einteilung des Küchenpersonals. Man beginnt, die Listen der Waggonbesatzungen zusammenzustellen, und langsam sickert über das Organisationsbüro der Abreise-termin durch: „Wir fahren am 15. Januar." Es wird Zeit, daß wir starten. Wer noch Geld besaß, hat es in Lebensmittel umgesetzt. Die meisten haben angefangen, von ihrer Ration zu leben, und diese Ration ist klein. Man gibt uns die Norm für nichtarbeitende Gefangene, bei der man sich in wenigen Monaten mit tödlicher Sicherheit eine Dystrophie holt. Der Hunger, den wir seit zwei Jahren nicht mehr gespürt haben, beginnt wieder, und wenn wir ihn noch nicht empfinden, so nur deshalb, weil die Erwartung der Abreise ihn betäubt.
Als wir am 15. Januar das Lager verlassen, scheiden wir ohne Abschiedsschmerz. Der Zug mit seinen üblichen 60-Tonnen-Waggons, den gleichen, die uns von Workuta hierher gebracht haben, wartet auf einem Abstellgleis. Ein Lastauto bringt Matratzen und Gepäck. Die plombierten Waggons werden geöffnet. Wir entern durch die Türen. Erste Devise wie immer: Öfen in Gang bringen, Vorräte an Holz und Kohle beschaffen. Das Einladen dauert einige Stunden. Die Kranken müssen zum Teil liegend transportiert werden. Als der Zug sich endlich in Bewegung setzt, geht der Kurs nach Westen.
Am nächsten Tag halten wir auf einer kleinen Station der Ukraine.
Die Lokomotive nimmt Wasser und Kohle. Von der Transportleitung werden vierzig Minuten Aufenthalt angesagt. Wir steigen aus zu einem keinen Spaziergang um die Waggons. Es ist kalt.
Hans hat eine Einladung zum Tee im Waggon der Frauen. 1950 ist er im gleichen Transport mit Liselotte von Berlin nach Workuta gefahren, jetzt fahren sie gemeinsam zurück. Liselotte hat ihn eingeladen, sie will mit zwei Freundinnen einen „Fünf-Uhr-Tee“ geben.
„Geh mit“ sagt Hans, „mit drei Damen kann ich allein ohnehin keine Konversation bestreiten.“
Er faßt mich unter und dirigiert mich vor den Waggon der Frauen. Wir finden Jürgen als dritten Partner und steigen die Sprossen einer kleinen Leiter hoch in den Waggon der Amazonen.
Die Damen entpuppen sich als ehemalige Insassinnen des Frauen-lagers „Predschachtnaja". Wir waren in Workuta Nachbarn und lebten weniger als drei Kilometer voneinander entfernt. Sie arbeiteten auf den gleichen Objekten wie die Brigaden des Lagers des Schachtes 6, auf der Eisenbahn und in den Schneeschaufelkolonnen der Straße. Sie waren Holz-und Transportarbeiterinnen. Noch zeigen ihre schon wieder gepflegten Hände die Reste breiter Schwielen.
Sie haben die üblichen exzentrischen *nGgeefnaenschicksale. Christel ist die Tochter deutscher Eltern in Südafrika. Seit 1939 hat sich die Familie bemüht, nach Deutschland zu gelangen. Im Herbst 1944 trifft sie endlich ein, gerade rechtzeitig genug, um den Zusammenbruch zu erleben. Der Vater fällt den Sowjets in die Hände und verbringt drei Jahre im Konzentrationslager Buchenwald. Christel, perfekt in Englisch, wird Sekretärin einer Dienststelle der englischen Militärregierung in Berlin. 19 50 besucht sie eine Freundin in Potsdam. Zufällig gerät sie in eine Ausweiskotrolle. Spionage. Fünfzehn Jahre Zwangsarbeit.
Liselotte besitzt einen Modesalon in Ostberlin. Zu den Kundinnen gehört eine alte Freundin, Frau eines Offiziers der französischen Militärregierung Berlin. Was sonst als Spionage? Fünfzehn Jahre.
Kuni arbeitete an einem Drehbuch für die ostzonale Defa über das Problem verwahrloster Jugendlicher. Zu Studienzwecken lebt sie in Fürsorgeheimen der Ostzone. Sie erhält Einsicht in vertrauliche Akten. Eines Tages kommen die Sowjets dahinter, daß sie'in Westberlin wohnt. Es kann sich nur um einen Spionageauftrag handeln. Fünfzehn Jahre.
Sie erzählen von dem Leben in ihren Lagern. Sie haben Schneestürme, schwerste Arbeit, Erfrierungen, Stacheldraht und Kohlsuppen überstanden. Sie haben Waggons mit Holz abgeladen und Baumstämme gestapelt. Sie arbeiteten an der Gattersäge. Sie haben in den Katlowanen Workutas gefrorenen Lehm gesackt, Beton gemischt und Ziegelsteine vermauert. Sie haben Kanäle ausgeworfen, Kohle verladen und Achtzig Kilo-Säcke getragen.
Es wird ihnen nie mehr schlecht gehen. Jederzeit könnten sie ein Engagement als Erdarbeiterinnen annehmen. Die Emanzipation der Sowjetunion hat sie gehärtet und qualifiziert, einer ungewissen kapitalistischen Zukunft entgegenzufahren, vor der sie sich nicht fürchten, weil sie sich vor nichts mehr fürchten.
Wir trinken grusinischen Tee aus Aluminiumkruschki. Jürgen schenkt Kuni seine Pelzmütze aus weißem Persianer, die ihn in seinem Ural-Waldlager drei Monate ärztlicher Arbeit gekostet hat. Die Schapka verwandelt Kuni in eine Großfürstin. Wir taufen sie auf den Namen Anastasija.
Zwei Tage später läuft unser Zug auf dem Bahnhof Brest-Litowsk ein, der überfüllt ist mit Waggons aus den Volksdemokratien. Wir machen einen deutschen Eisenbahner ausfindig, der zur Begleitung des Zuges gehört, mit dem wir weiterfahren. Er ist für uns ein Wundertier, um das sich im Handumdrehen dreißig, vierzig Heimkehrer sammeln. Er kann unmöglich alle Fragen beantworten, die -an ihn gerichtet werden.
„Wann werden wir weiterfahren?“
„Wie lange dauert die Reise?“
„Wohin werden wir geleitet?“
„Sind die früheren Transporte entlassen worden, oder liegen sie in einem ostzonalen Lager?“
Schließlich schafft er sich mit einer Handbewegung Ruhe und sagte:
„Ihr werdet alle entlassen, sobald ihr nach Deutschland kommt, und wir fahren so schnell wie möglich, damit ihr bald in Deutschland seid,“
Unser Zug wird an eine Rampe gefahren, an deren gegenüberliegenden Seite deutsche Güterwaggons stehen. Wilhelm Pieck hat nicht einmal soviel Waggons, daß er uns in einem Personenzug abholen kann.
Wir ziehen um. Noch einmal Pritschen, Öfen, Anheizen. Am Nachmittag fährt der Zug an. Wiederum durchfahren wir, wie 1950, jenes Niemandsland, das die Grenzen der Sowjetunion hermetisch abschließt und die Bürger dieses Landes daran hindert, aus einem System zu flüchten, das für sie ohne Hoffnung ist. Der Bug fließt unter einer Eisdecke. Auf der Westseite erwartet uns polnische Grenzpolizei. Wir steigen aus und werden gezählt. Die Polen behandeln uns mit zurückhaltender Höflichkeit. Nach einer halben Stunde fahren wir weiter.
Wie groß ist der Unterschied zwischen Polen und der Sowjetunion!
Die Dörfer sind gepflegt. Statt zerfallender Hütten zahlreiche Neubauten aus rotem Ziegelstein. Sorgfältig bestellte Felder. Breite, solide Fahrwege. Fahrräder! Die Menschen nach europäischen Maßstäben ärmlich, im Vergleich zum sowjetischen Standard gut gekleidet.
Wir fahren die gleiche Strecke zurück, auf der ich 1950 nach Osten transportiert wurde: Warschau—Kutno-Posen. Die Nacht, in der wir durch Polen fahren, ist mondhell und klar. Unsere Waggontür ist ein wenig zurückgeschoben.
Drei Uhr nachts. Langsam fährt der Zug über die große Oderbrücke.
'Alle sind wach. Über die gleiche Brücke sind die meisten von uns nach Osten gefahren, vor fünf, sechs, sieben und mehr Jahren.
Wie wird die Heimat, von der wir so lange getrennt waren, uns begrüßen?
Der Zug hält. Die Schiebetüren des Waggons werden aufgerissen. Auf dem nächtlichen Bahnsteig Frankfurt-Oder postiert sich vor jedem Waggon ein Volkspolizist in olivfarbener Uniform mit, geschultertem Karabiner. Wir sind sechstausend Kilometer gefahren, zwar mit Konvois, aber doch ohne Maschinenpistolen. Auch die Polen haben uns diskret geleitet. In der Heimat aber empfängt uns ein Polizist mit Knarre. Jetzt wissen wir genau, daß wir in Deutschland sind.
„Auf wen willst Du denn schießen?“
„Was hast Du denn mit der Knarre vor?“
„Glaubst Du vielleicht, daß wir jetzt noch weglaufen?“
Der Volkspolizist antwortet:
„Na, ein bißchen Ordnung muß doch sein.“
Natürlich, ein bißchen Ordnung mit der Knarre muß sein. Wann in unserer deutschen Geschichte wäre sie nicht gewesen?
Dann ruft ein Offizier der Volkspolizei:
„In Doppelreihen antreten!“
Welch herrliches Kommando? Wie lange haben wir uns nach einer solchen Aufforderung gesehnt!
Der Volkspolizist ist weiter Objekt ironischer Bemerkungen. Eine Weile hört er sich schweigend alles an. Dann sagt er: „Idi tue doch auch nur meine Pflicht!“ Ausgezeichnet! Immer haben die Deutschen mit der Knarre nur ihre Pflicht getan. Im Augenblick zählen sie uns, ob auch keiner fehlt. Bis es stimmt, zählen sie einige Male.
„Einsteigen!“
Der Polizist mit der Knarre schließt hinter uns die Waggontür Allgemeine Depression.
„Das hätten wir uns doch anders gedacht.“
Nein, das habe ich mir nicht anders gedacht. Aber auch ich hatte mir nicht vorstellen können, daß unser Empfang von derart klassischen preußischen Formen sein würde.
Wieder fährt der Zug an, diesmal zu seiner letzten Etappe. Ungefähr eine Stunde später halten wir auf dem Güterbahnhof Fürstenwalde.
Keine Polizei mehr, keine Konvois. Wir steigen aus und sammeln uns.
Für die Kameraden, die in die Bundesrepublik fahren, steht auf dem Nachbargleis ein Sonderzug bereit, der sie über Eisenach an die Zonengrenze bringen wird.
„Wir haben alles für Sie,“ höre ich eine Schwester des Deutschen Roten Kreuzes sagen. „Sie können sofort frühstücken, Kaffee, Kakao, Tee, Schokolade.“
„Haben Sie auch Apfelsinen?“ fragt jemand scherzend.
„Mehr, als Sie essen können.“
Wir verabschieden uns.
„Glückliche Reise in den Kapitalismus!“
„Wir hoffen, ihr kommt bald nach.“
Wir sind frei! Zum ersten Male seit fünf Jahren können wir gehen, ohne daß Maschinenpistolen auf uns gerichtet sind. Kein Kommando:
„Ruki nasad!“, Hände auf den Rücken!
Sind wir wirklich frei?
An der Abfahrtsrampe des Güterbahnhofs stehen schwarze BMW-Limousinen der ostzonalen Produktion.
Vielleicht warten sie schon auf uns. Moskau hat uns entlassen, aber die hier setzen uns wieder fest.
Irgend jemand fordert uns auf, Lastwagen zu besteigen, die uns in das Entlassungslager transportieren werden. Wir ziehen es vor, zu Fuß zu gehen, nehmen unser Gepäck und pilgern genießerisch langsam über die breite Bahnhofstraße von Fürstenwalde.
Ich liebe diese brandenburgischen Provinzstädte nicht. Sie sind zu sehr verbunden mit Kasernen, Drill und Kommiß. Aber in der öden Leere dieser frühen Morgenstunde erscheint mir diese typisch brandenburgische Fürstenwalder Bahnhofstraße anziehender als der B* oulevard Saint Michel.
Das Entlassungslager ist ein großer, mit Draht umzäunter, unter Kiefern gelegener Komplex einstöckiger Holzbaracken. Am Tor stehen vier Volkspolizisten. „Sdrastwuitje, Towarischtschi! Seid gegrüßt, Genosf ce sen!
Sie sehen uns verduzt an, antworten aber nicht. Warum verstehen sie kein Russisch?
Wir werden auf einzelne Baracken verteilt. Die Berliner lassen sich in einem Tagesraum nieder, der mit Tischen, Bänken und Stühlen ausgestattet ist. Der Lautsprecher lädt zum Frühstück ein, aber ich bin ohne Hunger. Ich habe das Bedürfnis, allein zu sein. Ich verlasse die Baracke.
Fast fünf Jahre war ich unaufhörlich unter Menschen, wehrlos den Gesprächen einer Gemeinschaft ausgeliefert, die durch den Stacheldraht zusammengehalten wurde und aus der zu flüchten unmöglich war. Hinter den Baracken liegt ein kleines Waldstück. Unter Kiefern steht eine Bank.
Ich setze mich. Die Häuser jenseits der Straße sind noch dunkel. In den Kiefern rauscht der Morgenwind. Wie lange habe ich keinen Wald gesehen, sondern nur Gestrüpp, Moose und Flechten! Ich erinnere midi der einzigen Bäume Workutas. Sie stehen vor der „Stolowaja" des 6. Schachtes. Es sind Palmen, ihre Blätter sind aus Weißblech geschnitten. Wenn der Wind geht, klappern sie zu Ehren der Bestarbeiter, deren Tafel sie flankieren.
Ein kleiner Tümpel zu meinen Füßen ist gefroren. Es mögen einige Grad unter Null sein. Mir ist warm; ich bin an die Arktis akklimatisiert wie ein Renntier, das 25 Grad Kälte braucht, um sich wohl zu fühlen.
Ich sitze, und ich wundere mich, daß ich noch lebe. Langsam kommt mir zum Bewußtsein, daß ich vor den Schneestürmen gerettet bin. Die Kohl-suppe, die ich mehr als zweitausendmal gegessen habe, gehört der Vergangenheit an. Die Breitengrade der „Haferkascha" liegen hinter mir. In Zukunft werden alle Abende ohne „Powerka“ verlaufen. Kein Stacheldraht mehr, hinter dem die Schäferhunde ah ihren Führungsdrähten auf-und ablaufen, mit ihrem Geheul die Polarnacht durchdringend.
Keine Postentürme, keine Maschinenpistolen.
Ich beginne zu begreifen, daß ich an der Schwelle eines neuen Lebens stehe.
Ich kehre in meinen Tagesraum zurück. Auf einem großen, mit rotem Tuch ausgeschlagenen Tisch liegen Zeitungen und Broschüren. In der „Täglischen Rundschau“, dem Organ der sowjetischen Militärverwaltung in Ostdeutschland, steht ein langer Artikel: „Es gibt keine Schweigelager“.
Unser Transport zählt fünfhundert Menschen. Die meisten waren seit 194 5 in der Sowjetunion. Nicht einer von uns hat jemals schreiben können oder Nachricht von seinen Angehörigen empfangen dürfen. Wie soll man die Lager, in denen wir geschwiegen haben, benennen? Waren es keine Schweigelager? .
Auf dem Tisch liegt eine Broschüre von Maximilian Scheer: „Wer tot ist, kehrt nicht zurück“. Das ist bei Gott ein schöner Titel, ein wahrer Satz, der als Motto über allen Veröffentlichungen stehen könnte, die das TASS-Büro in der Frage der Verschleppten jemals vom Stapel gelassen hat. Aber das Kernproblem lautet anders. Es heißt: Wer ist tot?
Wir fünfhundert zum Beispiel sind in diesem Augenblick, am 21. Januar 1954, morgens um sechs Uhr, schon auf deutschem Boden, für unsere Angehörigen noch tot. Erst im Laufe des heutigen Tages und der nächsten Tage werden wir für sie wieder lebendig.
Wer ist denn tot, Towarischtschi Scheer? Lassen Sie sich von Ihren Auftraggebern eine Reiselizenz für die Sowjetunion ausstellen! Hier sind fünfhundert Menschen im Begriffe, wieder aufzuerstehen. Sie geben Ihnen Adressen mit nach Narilsk, Sachalin und Karaganda. Fahren Sie nach Workuta, und sprechen Sie mit den dreitausend Deutschen, die dort noch auf ihre Heimkehr warten. Und suchen Sie festzustellen, wie-viel Deutsche in den Eiswüsten und Tundren der Sowjetunion verstorben sind: eine Million, zwvei Millionen, drei Millionen?
Die Lautsprecheranlage gibt in allen Baracken bekannt: „Der Transport wird in den Speisesaal gebeten.“ Wir sind neugierig, wer uns begrüßen wird.
Die Begrüßung erfolgt schlicht und einfach durch den Lagerleiter selbst, einem gutgenährten Vierziger mit der typischen Physiognomie der AIlround-SED-Funktionäre.
„Freunde“, sagte er.
Er nennt uns nicht „Genossen“, denn er weiß, daß es unter fünfhundert Zuhörern nicht einen Genossen gibt. Er sagt nicht „Mitbürger“. Vielleicht ahnt er, daß die Mehrzahl dieses Transports in den nächsten Tagen aus der Ostzone in die Bundesrepublik flüchten wird. Er sagt nicht „Kollege“, denn er ist nicht unser Kollege. Er hat sich für „Freunde“ entschieden, das klingt warm und herzlich.
„Freunde! Im Namen, der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik begrüße ich Sie auf das herzlichste.“
Die Regierung hängt in Großphotos an den Wänden des Speisesaals und betrachtet ihre aus der Fremde heimgekehrten Söhne und Töchter. Diese betrachten ihrerseits ihren neuen „Freund“, den Lagerleiter, oder sie studieren mit unbewegten Gesichtern die überlebensgroßen Porträts Wilhelm Piecks, Otto Grotewohls und des „kleinen Lenin“ Ulbricht. Sie lassen die scheinheiligen Phrasen dieser pseudoherzlichen Begrüßung über sich ergehen und interessieren sich nur für eins: wann werden sie aus diesem Lager wieder entlassen?
„Heute noch,“ antwortet ihr Freund, der Lagerleiter, „werden Sie die Reise in die Heimat antreten. Ein Postamt im Lager nimmt Telegramme entgegen, in denen Sie Ihre Angehörigen von Ihrer Ankunft benachrichtigen können." Sehr schön! Aber woher wissen wir, ob unsere Angehörigen noch leben? Wo sie wohnen? Unser „Freund" spricht, als kämen wir von einer Urlaubsreise zurück. Wir werden uns hüten, hier Telegramme aufzugeben. „In einer Stunde beginnt Ihre Einkleidung. Sie erhalten eine vollständige Garnitur: Anzug, Hemd, Mantel und Schuhe. Niemand darf das Lager in seinen Watteklamotten verlassen!" Warum nicht? Wir haben nichts gegen die Watteklamotten. Sie haben uns in vielen polaren Wintern gewärmt. Wir haben unter ihnen geschlafen. An ihren Ärmeln haben wir uns zahllose Male die Nase abgewischt. Wir lieben unsere Wattesachen. Sie sind unsere Uniform, die ehrenhafte Uniform der politischen Sträflinge.
„Sie erhalten fünfzig Mark."
Das ist wichtig. Wir werden auf unsere Freiheit trinken können.
„Zunächst werden die Berliner eingekleidet und entlassen."
Die Berliner sind sehr zufrieden, als Berliner respektiert zu werden.
Im Laufe des Vormittags vollzieht sich die Metamorphose des Transports. Wir häuten uns. In einer Ecke des Speisesaals liegen Mäntel, Anzüge, Hemden, Schuhe und Krawatten, nur giftgrüne Krawatten. Wahrscheinlich will die NKWD uns gleich wieder kennzeichnen.
Die Komplikationen des Lebens beginnen. Ich muß mich entscheiden zwischen einem grauen und einem braunen Anzug. Ich soll meine Kragenweite angeben, aber ich habe meine Kragenweite längst vergessen. Ich wähle einen Mantel, gegen dessen Länge Hans Einspruch erhebt: der Mantel sei zu kurz. Woher weiß ich, wie lang Mäntel zur Zeit getragen werden?
Die Frauen vollziehen ihren Verwandlungsprozeß mit Leidenschaft. Nachdem sie ihre Kleider, Mäntel und Dessous empfangen haben, verschwinden sie in den Baracken, um sich umzukleiden. Lind sie kommen nicht wieder zum Vorschein.
„Das neue Leben", sagt Hans, „fängt damit an, daß Du auf eine Frau wartest, die sich anzieht."
Dann sind wir auf dem Weg zum Bahnhof, den Entlassungsschein in der Tasche und unsere Säcke mit Gepäck auf der Schulter. Bis zur Abfahrt des Zuges bleibt uns noch eine halbe Stunde. Wir gehen in ein staatliches HO-Restaurant und trinken Schnäpse. Den ersten Schnaps auf die gute S-Bahn, die uns nach Westberlin bringen wird. Den zweiten Schnaps auf die guten Lokomotiven, die uns von Workuta nach Fürstenwalde gefahren haben. Den dritten auf die Lokomotivführer, den vierten auf die Heizer. Den fünften auf die Signale, die auf „Freie Fahrt" gestanden haben. Nach dem sechsten Schnaps müssen wir aufbrechen. Wir beziehen, wie es sich gehört, ein Abteil „Für Reisende mit Traglasten", hocken in einem Kreis auf unserem Gepäck und lassen eine weitere Flasche Curacao kreisen. Wir sagen politisch frivole Dinge in harmlosen Formulierungen, die nur versteht, wer selber im Lager war. Wir trinken auf die Gesundheit „unseres weisen Führers und Lehrers". Das ist die übliche Formulierung, die wir zahllose Male in der „Prawda" gelesen haben. Aber dieses Mal bezieht sie sich nicht auf Stalin, sondern auf Adenauer. Dann trinken wir auf Russisch und in Geheimformulierungen weiter auf den Bundespräsidenten, auf Eisenhower und Churchill, auf Dulles und Eden.
In Erkner steigen wir aus dem Dampfzug in die S-Bahn. Erkner-Potsdam steht an den Waggons. Die Endstationen dieser Strecke liegen in der Sowjetzone. Zwischen ihnen liegt Westberlin, die Oase der Freiheit. Dort werden wir aussteigen.
Wir haben aufgehört zu trinken. Die Wirkung des Alkohols läßt nach. An ihre Stelle tritt eine innere Erregung, die unaufhörlich zunimmt und gegen die wir uns nicht zu wehren vermögen. Die Groß-fürstin lehnt in einer Ecke des Abteils. Sie ist blaß und schweigsam und zittert.
Der Zug fährt durch den Sowjetsektor Berlins. Eine Station nach der anderen rollt vorüber. Berlin-Lichtenberg! Hier haben wir fast alle gesessen und auf den Abtransport in die Sowjetunion gewartet. Stalin-allee, Alexanderplatz, Friedrichstraße. Dann fahren wir langsam über den leeren Hafen an der Invalidenstraße. Seine schwarzen Wasser sind das Niemandsland, in dem die Sektorengrenze verläuft. Lehrter Bahnhof. Englischer Sektor. Wir sind gerettet! Wir gratulieren uns gegenseitig. Ich küsse die Großfürstin. Sie nimmt meine Hand und drückt sie stumm. Sie ist unfähig zu sprechen.
Bahnhof Zoo. Wir nehmen unser Gepäck und klettern aus dem Waggon und wissen dann nicht, was wir tun sollen. Wir stehen da mit unseren verdreckten Reisesäcken, die sechstausend Kilometer Transport hinter sich haben, umbrandet vom hastenden Verkehr des Bahnhofs, eine menschliche Insel ratloser Unentschlossenheit. Wir sind betäubt. Der Zug ist längst davorgefahren. Schon sammeln sich die Fahrgäste für den nächsten. Lind endlich entschließen wir uns zögernd, durch die Sperre zu gehen.
Wir müssen telefonieren und brauchen Westgeld. Ich sammle unser Ostgeld ein und tausche bei einem Makler. Für fünf Ostmark gibt es eine Westmark.
Wir geben unser Gepäck zur Aufbewahrung ab. Dann suchen wir das Postamt auf, um unsere Freunde zu benachrichtigen. Niemand von uns hat seine nächsten Angehörigen in Berlin, aber wir wissen, daß unsere Freunde uns aufnehmen werden.
Als ich die Zelle verlasse, finde ich die Großfürstin mit Liselotte auf einer Bank. Sie weinen. Sie haben sich an den Händen gefaßt, wie kleine Kinder, die schrecklichen Wirrnissen entronnen sind und angesichts ihrer Rettung nachträglich in Tränen ausbrechen. Neben ihnen sitzt ein alter Berliner und weint gleichfalls.
Der alte Mann hat sich zunächst nur nach der Ursache ihrer Tränen erkundigt. Vielleicht haben die Mädchen Liebeskummer? Sie erklären schluchzend, daß sie eben aus Workuta gekommen sind, aus der Sowjetunion, aus der Arktis.
„Heute sind Sie gekommen?"
„Ja, vor einer Viertelstunde!"
Dann sind auch ihm die Tränen gekommen. Ich ziehe einen nicht-benutzten sowjetischen Fußlappen aus weißem Flanell heraus, der eigentlich als Schal dienen sollte, und trockne den drei Weinenden die Tränen. Dann verlassen wir den Bahnhof und gehen langsam, Arm in Arm, an den Ruinen der Gedächtniskirche vorbei den hellerleuchteten Kurfürstendamm hinunter.
Epilog
Die Akklimatisation an das Leben beginnt damit, daß ich unfähig bin, zu schlafen. Abends nehme ich Luminal und morgens Brom. Die Eindrücke in Berlin, das Leben auf den Straßen, Menschen, Autos, Straßenbahnen und der Lärm einer Großstadt, durch den die Grabesruhe der Tundra abgclöst ist, — das alles erregt wie eine Riescnflasche Sekt. Die ersten acht Tage verlaufen in einer unaufhörlichen Abwehr gegen das Neue. Ich bin unfähig, eine Zeitung zu lesen oder in einem Buch zu blättern.
Wir alle sind seltsam bedürfnislos. Wir sehen die „bourgeoisen" Reichtümer der Zivilisation, Schokolade, Pralinen, Apfelsinen, Bananen, und haben das Geld, sie zu kaufen. Aber es genügt uns, die Dinge zu sehen; wir haben nicht den Wunsch, sie zu besitzen. Jahrelange Träume von einem Apfel erlöschen in dem Augenblick, in dem der Apfel zu haben ist. Die Frauen gleichen sich schneller an. Nach einem Besuch der Etablissements des „Make up“ sind sie nicht wiederzuerkennen. Drei Tage nach der Rückkehr kaufen die Großfürstin und Lisolette, neue Schuhe. Wer sie bei der Auswahl sieht, ahnt nicht, daß sie erst vor kurzem die kümmerlichen Erzeugnisse der Malenkow’schen Serienproduktion ausgezogen haben. Sie finden im ersten Geschäft keine Schuhe, die ihren Ansprüchen genügen. Wir besuchen ein zweites, schließlich ein drittes. Endlich finden sie, was dem verwöhnten Geschmack Workutanischer Holzarbeiterinnen entspricht.
Der Druck, der auf uns lastete, beginnt sich zu lösen, aber irgendwo in den Tiefen sind wir brüchig und angreifbar. Aus Instinkt meiden wir, was die Seele bewegt und erschüttert; wir besuchen kein Konzert und machen einen Bogen um die Theater.
Durch Zufall gerate ich in ein Kino, ohne zu wissen, welcher Film dort gegeben wird. Nach den ersten Szenen beginnt ein Heimkehrer-Schicksal abzurollen. Das Schicksal meiner zahllosen Kameraden steigt plötzlich vor mir auf. Ich sehe die Lager Workutas mit ihren Stacheldrahtzäunen, den schneeverwehten Baracken und der entsetzlichen „Purga". Ich sehe ihre Gesichter vor mir, in denen Erschöpfung, Verzweiflung, Stumpfheit und Hoffnung beieinander wohnen. Jetzt im Februar 1954 sind dort oben bis zu 50 Grad Kälte. Und ich sitze in einem Raum, der geheizt ist und dessen Ventilatoren mit leisem Summen für Lüftung sorgen. Ich bin unfähig, diesen Film weiter anzusehen. Ich spüre, wie unaufhaltsam die Beherrschung mich verläßt und daß ich in Tränen ausbrechen werde, wenn ich nicht die Flucht ergreife. Und ich verlasse das Kino.
In diesen Tagen tagt in Berlin die Konferenz der vier Außenminister. Täglich fährt Herr Molotow, einer unserer ehemaligen Gastgeber, in seinem Wagen die Potsdamer Chaussee herunter zum Kontrollrats-gebäude, um sich mit seinen westlichen Kollegen zu beraten. Wir sind nach Berlin gekommen in der Absicht, die Wahrheit über das, was wir erlebt haben, zu sagen, laut und deutlich und öffentlich und vor soviel Menschen wie möglich. Wir wollen den größten Saal mieten, über den Westberlin verfügt. Dort würden wir auftreten, zehn, zwanzig, dreißig, beliebig viele ehemalige Gefangene aus Workuta, Karagada oder Kalyma, die alle das gleiche erlebt haben. Man bedeutet uns, eine solche Aktion sei inopportun, geeignet, die Atmophäre der Konferenz zu stören. Man gibt uns zu verstehen, daß wir Unannehmlichkeiten haben werden. Man will die Sowjets nicht vergrämen.
Die Limousine Molotows rast mit hundertzwanzig Stundenkilometer über die Potsdamer Chaussee. Sie wird eskortiert von den Polizisten des gastgebenden Berlin. Wir haben den Wunsch, ihn zu begrüßen. Wir möchten ihm gern sagen:
„Sdrastwuitje, Towarischtsch Molotow! Kak wasche sdorowje?"
Aber wir haben keine Gelegenheit dazu. Er hat es eilig, mit seinen westlichen Kollegen über die Einigung Deutschlands zu verhandeln, von der offenbar nur er selber weiß, daß er sie nicht will.
Es geschehen noch andere Dinge. Eines Tages sind wir mit Freunden zu einem Mittagessen verabredet; die Großfürstin erscheint verspätet.
Sie ist aufgebracht; geschehen ist folgendes: Die Großfürstin hatte im Lager eine Freundin, die zum Tode verurteilt war. Nach sechs Monaten Aufenthalt in einer Todeszelle der Lubjanka, in der sie täglich auf ihre Erschießung wartete, wurde sie zu fünfundzwanzig Jahren Arbeitslager „begnadigt". Sie hatte in der Freiheit ihren Mann zurückgelassen, Kinder, eine alte Mutter. Sie ist ohne die Spur einer Hoffnung, jemals in das Leben zurückzukehren. Als die Großfürstin in die Etappe ging, erhielt sie von ihrer Freundin einen letzten Auftrag, den nämlich, ihre Angehörigen über ihr Schicksal zu benachrichtigen. Am Tage nach ihrer Rückkehr war der erste Gang zum Friseur, der zweite zu einem Konsulat, dem sie dieses letzte Vermächtnis übergab. Die Beamten hörten sie höflich an. Man notierte ihre Aussage. Sie wird ein zweites Mal wieder-bestellt und ein drittes Mal. Beim vierten Mal sagt ihr der Beamte, man müsse ihre Aussage mit einem Lügendetektor überprüfen. Nachdem man ihr zu verstehen gegeben hat, es sei besser, die Prozedur des Wahrheitstestes über sich ergehen zu lassen, fährt man sie in ein Spezialinstitut.
Ich frage die Großfürstin, was sie geantwortet hat.
„Man hat mir vierzig Fragen gestellt, ich habe vierzigmal gelogen."
Ich empfehle der Großfürstin, sich ihrer Persianerschapka zu entledigen, damit sie nicht weiter für eine sowjetische Agentin gehalten wird.
In diesen Wochen ist Berlin voller Journalisten und Sachverständiger.
Sie sind die Könige der öffentlichen Meinung. Täglich veröffentlichen sie in den Zeitungen lange Artikel über die intimen Probleme der Berliner Konferenz. Sie haben in Rußland gelebt und lesen seit Jahrzehnten die „Prawda“. Aber als ich mit ihnen bekannt werde, habe ich den Eindruck, sie sind Lebewesen von einem anderen Planeten. Ohne Zweifel sind sie in die Sowjetunion gefahren, aber nie in einem Stolypinskij.
Unaufhörlich schreiben sie über die Probleme des Ostens, aber im Grunde wissen sie von den entscheidenden Dingen so. viel, wie von der Vegetation der Tundra. Die Sachverständigen haben ein Monopol. Ihre Meinungen sind ebenso scharfsinnig wie gegensätzlich. Sie sind imstande, einen beliebigen Standpunkt einzunehmen und ihn mit beliebig vielen logischen Argumenten zu untermauern. Sie bringen diese Argumente vor mit der Unbekümmertheit von Menschen, deren Geist unbelastet ist von der Gabe, den Kern der Dinge zu sehen. Schon bevor Molotow denkt, wissen die Sachverständigen, was er denkt; daß sie es nicht aussprechen, geschieht aus Gründen der Diskretion. Aber hinterher erklären sie, warum er so gedacht hat. Sie hören die Flöhe Malenkows husten.
Als ich zum ersten Male das Wort „Bürgerkrieg“ fallen lasse, erschrecken sie. Die Möglichkeit eines Aufstandes oder einer bewaffneten Intervention liegt außerhalb ihres Horizonts. Daß es in den Lagern Widerstandsgruppen gibt, ist ihnen unbekannt. Woher sollten sie es auch wissen? Sie sind nie dort gewesen! Ihre Vorstellungen datieren aus längst vergangenen Zeiten, sie entspringen Denkkategorien, die unfähig sind, die Gesetze der sowjetischen Wirklichkeit zu begreifen. Wer, wenn sie nicht, hätte die Verpflichtung, dem Westen zu sagen, was wirklich ist!
In diesen Wochen habe ich viele Gespräche mit Menschen aller Art. Der einfache Mann von der Straße Versteht, um was es geht. Der Sachverständige versteht nicht. Wo in der Anatomie des Gehirns die Zentren für Klarheit und Präzision lokalisiert sind, fehlt bei ihm eine Windung.
Ich erinnere mich jener Jahre, in denen ich als „Sachverständiger“ in der Röntgenologie gearbeitet habe. Für meine nichtröntgenologischen Kollegen war ich ein Papst röntgenologischer Erkenntnis. Wenn ich gesprochen hatte, gab es keine Diskussion mehr: Roma locuta, causa finita. Manchmal gab es Filme, in denen ich selbst das Spiel der Schatten nicht zu deuten wußte. In solchen Fällen steht der Röntgenologe vor zwei Möglichkeiten; entweder sagt er: ich weiß nichts, oder aber er erzählt Dinge, von denen niemand merkt, daß sie nicht stimmen. Wenn er ehrlich ist, verliert er sein Ansehen als Sachverständiger. Wenn er schwindelt, bewahrt er sein Gesicht.
Ich verbringe einen ganzen Abend mit ihnen. Es ist eine Ansammlung scharfsinniger Köpfe, die sich mit nichts anderem befassen, als den Problemen der Sowjets. Aber sie sprechen eine andere Sprache. Es ist unmöglich, sich zu verständigen. In einem seiner Reisebücher erzählt Anatole France, wie er eines Tages ein Dorf in der Normandie besucht. Auf dem Dorfteich schwimmen einige hundert Enten.
„Übermorgen hat dieses Dorf das große Fest seines Schutzpatrons. Alle Enten werden geschlachtet und verzehrt werden. Da sie nicht wissen, daß sie verzehrt werden, ist ihre Situation nicht tragisch. Tragik besteht nur, wenn man um die Zukunft weiß, und die Weisheit des Lebens besteht darin, zu wissen und es wieder zu vergessen.“
In diesem Sinne ist die Situation der Sachverständigen nicht tragisch. Sie wissen nicht, daß sie verzehrt werden. Darin gleichen sie den Enten der Normandie.
Ende Anmerkung Dr. Joseph Scholmer, geb. 19. August 1913, Studium der Medizin an der Universität Bonn. Röntgenologe an der Universität in Leipzig. Nach dem Kriege arbeitete er in der Zentralverwaltung Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone, wurde 1949 von der NKWD verhaftet und wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Januar 1954 kehrte er aus Workuta in die Bundesrepublik zurück.