Mit Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir das Buch von Joseph Scholmer: „Die Toten kehren zurück", erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1954. Kürzungen erfolgten im Einverständnis mit dem Autor.
Moireddin
Eines Morgens werden unserer Brigade zwei Gefangene zugeteilt, die erst einen Tag zuvor die Lager-Quarantäne beendet haben. Wir beriechen die Neuen. Sie sind im vergangenen Sommer verhaftet und erst vor kurzem von einem Tribunal verurteilt worden, beide zu fünfundzwanzig Jahren. Lim den einen, einen Ukrainer aus der Nähe von Kiew, sammeln sich seine Landsleute. Er lebte dort auf einer Kolchose. Als die deutsche Armee 1941 die Ukraine besetzte, wurde er von den Deutschen verhaftet, weil er Mitglied der bolschewistischen Partei war. Es ergab sich, daß man einen harmlosen Bürger vor sich hatte. Man ließ ihn eine Loyalitätserklärung unterschreiben und schickte ihn nach Hause. Das war nichts Besonderes. Zahlreiche Verdächtige wurden damals festgenommen und wieder entlassen, wenn sie sich als unverdächtig erwiesen.
Fast zehn Jahre später, im Jahre 1950, sind alle Sowjetbürger verhaftet worden, die, wie er, während der Okkupation von den Deutschen verhaftet und wieder entlassen worden waren. Alle, so berichtet unser Ukrainer, sind zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Der andere ist ein kleiner untersetzter Sechzigjähriger mit einem guten, ruhigen Gesicht. Er ist offensichtlich hilflos. Als die Arbeitsgeräte verteilt werden, drängt er sich nicht nach einem guten Werkzeug, und als wir zur Arbeit abmarschieren, ist er im Besitz der schlechtesten Schaufel, die im Depot vorhanden war. Er trägt sie nicht auf der Schulter wie die anderen, sondern in der Hand. Er hat mit Sicherheit niemals in seinem ganzen Leben eine Schaufel getragen, geschweige denn mit ihr gearbeitet.
Der Brigadier teilt uns zur Arbeit ein. Zu viert werden wir hinter der „Banja“ Schlacke laden und auf kleinen Schlitten zu einem Baracken-neubau fahren.
Der Alte beginnt zu schaufeln. Er ist voll guten Willens, aber er hat offensichtlich noch nie geschaufelt. Sein Partner Dazuk, ein LIkrainer, lacht:
„Sieh mal, wie der Jude arbeitet.“
Er ist Antisemit, wie viele LIkrainer, wenn auch keiner von den Pogromhelden, die sich ihrer Erschießungen öffentlich rühmen.
„Gib ihn mir“, sage ich Dazuk. „Nimm dafür meinen Litauer.“ Der Litauer ist ein besserer Arbeiter. Dazuk ist einverstanden. Ich sage zu dem Alten auf russisch:
„Kommen Sie zu mir, wir arbeiten zusammen.“
„Bitte sehr!“
Wir laden unser Faß voll Schlacke und ziehen den Schlitten langsam bergaufwärts zu dem Neubau. Der Alte atmet schwer.
„Sind Sie krank?“
„Mein Herz ist schwach.“
Wir kippen das Faß aus. Ich schiebe den Schlitten in eine Ecke. Wir gehen in die 31. Baracke, in der ein Freund von mir als „Suschiltschik" (Heizer im Trockenraum) arbeitet.
„Hast du Tschai’ (Tee)?“
Wir bekommen zwei „Kruschki“ heißes Wasser. Der Alte kramt einen kleinen Beutel aus der Tasche.
„Nehmen Sie Zucker!“
Ich habe noch ein Stück Brot. Es ist ihm peinlich, Brot zu nehmen, aber schließlich nimmt er.
Nach einer Weile fragt er vorsichtig:
„Sind Sie Lette?“
„Nein, Deutscher.“
Er ist sichtlich schockiert. Ich weiß, was in diesem Augenblick in ihm vorgeht, und ich lasse ihm Zeit, sich ein wenig von dieser Eröffnung zu erholen. Nach einer Weile fragt er konventionell:
„Aus welcher Stadt kommen Sie?“
„Aus Berlin. Lind Sie?“
„Aus Odessa.“
Ich kenne die Pogrome der Jahre 1941/42 in Odessa aus den Erzählungen von Gefangenen, die in diesem Lager sind. Alle Juden, die nicht geflüchtet waren, wurden damals ermordet. Als nach der Besetzung der Stadt durch die sowjetische Armee die Überlebenden der jüdischen Gemeinde zurückkehrten, fanden sie die Massengräber ihrer Angehörigen. Natürlich kennt Moireddin diese Tatsachen in allen Details. Lind natürlich muß er allen Deutschen gegenüber voller Abneigung sein; denn es handelt sich nicht nur um die Juden von Odessa, es handelt sich um sechs Millionen Juden aus ganz Europa.
An diesem Tag sprechen wir nur sehr wenig miteinander. Wir beladen unsere Schlitten und ziehen sie an den Neubau. Ich sorge dafür, daß der Alte sich nicht übernimmt. Als wir uns verabschieden, sagt er, sich verbeugend, kurz: „Ich danke Ihnen.“
Am nächsten Tag mache ich ihn mit den Grundregeln des Lagerlebens bekannt:
Möglichst wenig arbeiten.
Möglichst viel essen. Soviel als möglich ausruhen.
Jede Gelegenheit benutzen, sich aufzuwärmen.
Sich nichts gefallen lassen.
Wenn jemand schlägt, sofort und ohne Bedenken Zurückschlagen.
„Ich habe noch nie einen Menschen geschlagen“, antwortet Moireddin.
„Wenn Sie hier schlagen, schlagen Sie keinen Menschen, sondern Scheusale. Sie werden es hier mindestens so schwer haben, wie die Deutschen. Wenn Sie einmal widerstandslos zugelassen haben, daß jemand Sie schlägt, werden Sie immer geschlagen werden.“
Nach einer Woche wird er zu einer Brigade versetzt, die „Paroda" lädt. Es ist eine schmutzige Arbeit. Ich sehe Moireddin täglich beim Schichtwechsel. Eines Tages ist er verschwunden. Ich frage Leute seiner Brigade und erhalte zur Antwort: „Moireddin hat fünf Tage , Bur‘!"
„Warum?“
„Er hat seinen Brigadier geschlagen!“
Und sie erzählen mir, was vorgefallen ist. Der Brigadier hat Moireddin angewiesen, auf dem Lastauto die von der Schüttelrutsche herabfallende „Paroda“ zu planieren. Das ist die schlechteste Arbeit. Er steht die ganze Schicht über in einer Staubwolke und ist am Ende der Schicht vollkommen verdreckt. Moireddin antwortet:
„Sie geben mir die schwerste und schmutzigste Arbeit. Ich bin mit zweiundsechzig Jahren der älteste Mann Ihrer Brigade. Nehmen Sie einen Jüngeren.“
Es folgt ein kurzer Wortwechsel. Der Brigadier gibt Moireddin einen Stoß, Moireddin läßt seine Schaufel fallen, faßt seinen Gegner mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, am „Buschlat" und wirft ihn rücklings auf die Schüttelrutsche. Dann ergreift er einen großen Parodablock, um ihn auf den Brigadier zu schleudern. Der Brigadier springt auf und flüchtet.
Dieser Zwischenfall wäre ohne Folgen geblieben, wenn der dienst-habende Offizier nicht von der Wache aus den Vorfall beobachtet hätte.
Er läßt Moireddin kommen:
„Warum haben Sie diesen Angriff auf Ihren Brigadier gemacht?“
„Ich lasse mich von niemandem anfassen.“
„Wenn er Sie anfaßt, brauchen Sie ihn nicht gleich auf die Schüttelrutsche zu werfen."
„Das ist meine Sache, nicht die Ihre!“
„Ich werde Ihnen beweisen, daß es auch die meine ist. Sie gehen wegen Gewalttätigkeit fünf Tage in den , Bur‘."
Am Abend wird Moireddin abgeführt. Als er wieder erscheint, mit einem Gesicht, das grau ist vor Müdigkeit und Erschöpfung, gratuliere ich ihm.
„Sie haben sich geschlagen wie Bar Koschba.“
Mit dieser Affäre ist Moireddins Ruf begründet: er ist einer, der sich nicht schlagen läßt. Man begegnet ihm mit Respekt. Sein Brigadier behandelt ihn mit erlesener Höflichkeit. Niemals wieder wird er ihn auffordern, eine schwere und schmutzige Arbeit zu machen. Als einige Tage später ein Rumäne auf die Juden schimpft, zögert Moireddin nicht, ihm mit aller Kraft einen Faustschlag auf die Nase zu versetzen.
Der Antisemitismus in den Lagern ist größer und radikaler als in der Schicht des deutschen Mittelstandes während des Dritten Reiches. Die Juden leben inmitten ihrer Henker. Da ist zum Beispiel der berüchtigte Katschenko, der für die Erschießung von Tausenden verantwortlich ist.
In der Schreinerei des Lagers arbeitet ein Rumäne. Eines Tages verjagt er einen Juden vom Ofen:
„Wenn ich dich 1941 in Odessa erwischt hätte, hättest du keine Gelegenheit mehr, deine jüdische Visage hier herumzutragen.“
Zwei Wochen arbeite ich Seite an Seite mit einem Weißrussen. Eines Nachts, in einer Arbeitspause, zieht er mich ins Vertrauen.
„Als die Deutschen kamen, haben wir alle Juden unserer Stadt zusammengetrieben und erschossen, dreizehntausend; eine gute Sache, nicht wahr?"
Er erwartet, daß ich ihm zustimme.
Ein ukrainischer Partisan erzählt:
„ 1942 kommt ein Jude zu uns in den Wald. Er denkt, wir sind rote Partisanen. , Ich will euch helfen, ich weiß, wo die Deutschen sind.'Wir haben ihm einen Strick um den Hals gelegt und ihm gesagt: , Wir werden dich jetzt hängen.'Er glaubte, wir machen Spaß. Wir haben ihm noch soviel Zeit gelassen, sich davon zu überzeugen, daß sein letztes Stündchen wirklich gekommen war. Dann haben wir ihn baumeln lassen.“
Eine Zeitlang schläft neben mir ein Rumäne. Auf meine Frage, weshalb er verhaftet ist, antwortet er:
„Ich habe vierundachtzig Juden erschossen.“
„Eigenhändig?“
„Mit einer Pistole. Dafür haben sie mir fünfundzwanzig Jahre gegeben. Ist das nicht eine Unverschämtheit?"
Früher arbeiteten viele mit der Gestapo und dem SD. Heute sind sie für die NKWD tätig. Katschenko zum Beispiel ist Chef eines Bauobjekts in der Stadt.
Eines Tages gibt es eine Schlägerei zwischen Katschenko und einem kleinen Juden aus Moskau. Katschenko ist ein Riese. Die Größenverhältnisse zwischen beiden sind ungefähr die gleichen wie zwischen David und Goliath. Dreimal geht der Jude Katschenko an die Kehle, dreimal wird er mit einem Fausthieb zu Boden geschlagen. Nach dem dritten Mal bleibt er bewußtlos liegen. Es ist ein Gesetz im Lager, daß niemand sich in eine Schlägerei einmischt. Abends geht der Jude zum Leiter des Arbeitsbüros, einem Offizier der Lagerverwaltung, der selber Jude ist. Zwischen beiden gibt es eine große Szene: „Meine Eltern, meine Geschwister, viele Freunde sind von diesen Katschenkos ermordet worden. Sie kennen die Greuel in Rowno, Gomel und Odessa genau so gut wie ich. Schämen Sie sich nicht, einen Mörder wie Katschenko, der Tausende von Juden auf dem Gewissen hat, zum Chef einer Baustelle zu machen, in der er sich herausnehmen kann, Juden zu schlagen? Wenn Katschenko könnte, würde er heute abend noch Sie und mich am höchsten Querbalken der Wache aufhängen." Der Offizier antwortet nicht. Katschenko bleibt in seiner Position. Er wird dort von der NKWD gehalten.
Die Einzelschicksale der Juden im Lager sind von einer Tragik, die ihresgleichen sucht. Nissenzweig zum Beispiel war früher Schauspieler in Warschau. Noch 1939 flüchtet er vor den deutschen Armeen. Er wird Mitglied des Ensembles des Jüdischen Theaters in Moskau, das den Sowjets nach dem Kriege zunehmend verdächtig wird. Einige Zeit nach den Sympathiebezeugungen für die unter den sowjetischen Juden populäre Gesandte des Staates Israel in Moskau, Frau Meyerson, wird das Theater geschlossen. Das gesamte Personal bis herunter zum Nachtwächter erhält zehn Jahre.
Zur Zeit der guten sowjetisch-amerikanischen Beziehungen erhält Odessa den Besuch eines amerikanischen Rabbiners. Dieser hat eine Reihe von offizellen und privaten Zusammenkünften mit Vertretern der jüdischen Gemeinde. Jahre nach seiner Abreise werden im Verlaufe einer breit angelegten und gründlichen Aktion nicht nur diejenigen verhaftet, mit denen der Rabbiner gesprochen hat, sondern auch deren Freunde, Verwandte und Bekannte. Der Prozeß läuft unter der Devise „Jüdischzionistische Spionage-Organisation“. Fast alle Beteiligten erhalten fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit. Moireddin ist ein Opfer dieses Prozesses, obwohl er den amerikanischen Rabbi nie gesehen hat.
In jedem Lager Workutas befinden sich zwei oder drei Mitglieder dieser „Verschwörung“. Ich lerne Becker kennen, den früheren Direktor einer Mittelschule in Odessa. Er hat mit dem Rabbi bei einer offiziellen Visite einige Worte gesprochen. Im Sommer 1953, nach dem Tode Stalins und der Rehabilitierung der wegen „Spionage“ angeklagten jüdischen Ärzte in Moskau, wird er zu einer nochmaligen Untersuchung nach Odessa geholt. Die Juden in den Lagern haben gewisse Hoffnungen: vielleicht wird man den Prozeß revidieren, vielleicht wird man auch hier die Unschuld der Verurteilten proklamieren.
Als Becker im Spätherbst 1953 zurückkehrt, berichtet er, daß sich nichts geändert hat. Der gleiche Untersuchungsrichter, die gleichen idiotischen Fragen, die gleichen perversen Anschuldigungen. Einzelne Juden aus diesem Prozeß haben schriftlich die Revision ihres Verfahrens beantragt. Sie erhalten wie alle anderen Gefangenen, die eine „Schaloba , eine Beschwerde, schreiben, die stereotype Antwort, daß sie zu Recht verurteilt worden sind. Eine der letzten Aktionen Stalins kurz vor seinem Ende ist eine wohl-überlegte Attacke gegen das Judentum. Die erste Maßnahme wird in der Öffentlichkeit kaum beobachtet. Die Armee erläßt einen Befehl mit folgendem Inhalt:
Sowjetische Bürger von Nationalitäten, die außerhalb der Sowjetunion einen eigenen Nationalstaat haben, werden für die mittlere und höhere Offizierslaufbahn nicht mehr zugelassen.
In diesem Befehl sind die Juden mit keinem Wort erwähnt. Von seinen Auswirkungen sind sie jedoch ebenso betroffen wie die Volksdeutschen, die Griechen, die Finnen und andere Völker, die von der Regierung für unzuverlässig gehalten werden. Die Durchführung dieses Befehls erfolgt strikt. Seit seinem Erlaß ist kein Jude mehr über seinen alten Rang hinausgekommen. Sie können es heute bis zum Leutnant bringen, nicht weiter. Kein Jude darf die Kriegsakademie besuchen. Der erste öffentliche Angriff ist der Prozeß Slansky, über den die „Prawda“ in den gleichen zynischen Formulierungen berichtet, wie sie 1936/38 über die Prozesse gegen die sowjetische Opposition berichtet hat. Der Prozeß kostet der Elite der tschechischen kommunistischen Partei das Leben. Er wird benutzt, um die erste große Propagandawelle gegen den Zionismus, den Staat Israel und das Judentum überhaupt in Gang zu bringen.
Die Juden ahnen mit dem geschärften Instinkt ihrer Rasse, daß die Angriffe gegen den Zionismus nicht zufällig sind, sondern den Beginn einer Kampagne bedeuten, die von Stalin sehr wohl überlegt ist. Tatsächlich erfolgt einige Zeit später die Veröffentlichung der Geständnisse prominenter jüdischer Ärzte, wie Wowsi, Feldman und anderer, die im Stil historischer NKWD-Geständnisse alle Verbrechen zugeben, die Stalin für zweckmäßig hält.
Welchen Sinn hatten diese Veröffentlichungen?
Stalin wußte sehr genau, wie schmal seine innenpolitische Basis war. Er wußte, daß seiner Diktatur die Zustimmung der Bevölkerung fehlte, von der die Regierung jeder Demokratie getragen sein muß. Er kannte den Antisemitismus der Sowjetunion, der mit den zunehmenden nationalen und sozialen Spannungen gleichfalls eine Zunahme erfahren hat, weil Bolschewismus und Judentum miteinander assoziiert werden. Stalin versuchte, durch einen Regierungsantisemitismus den gleichen politischen Effekt zu erzielen, den Hitler mit seinem Antisemitismus zu erreichen versuchte. Sein Antisemitismus war eine Konzession an die antisemitischen Massen, die er, bar eines anderen populären Programms, mit dem Appell an ihre niedrigen Instinkte hinter sich zu bringen suchte.
Tatsächlich war die Resonanz dieses offiziellen Antisemitismus in der Bevölkerung wie in den Lagern groß. Zum ersten Male wurden die antisemitischen Artikel der „Prawda“ von Gefangenen gebilligt, die dem Zentralorgan der Partei bisher stets ablehnend gegenübergestanden hatten. Die Pogromhelden von 1941/42 fühlten eine Konjunktur kommen, an deren Wiederkehr sie nicht mehr zu glauben gewagt hatten. Die politischen Offiziere erschienen in den Baracken und diskutierten die „Prawda“ -Artikel. Die „Nadsiratel", die Wachtposten, begannen, bei den täglichen Zählungen antisemitische Bemerkungen zu machen. Die Lagerverwaltung ist zu streng kontrolliert, als daß sie diese Äußerungen ohne stillschweigende, aber ausdrückliche Billigung oder sogar ohne direkte Anweisung tun könnten.
In der „Stolowaja" hörten die Juden Bemerkungen wie folgende:
„Bald werden wir euch Gelegenheit geben, Jehova zu sehen.“
„Die Himmelspforte ist für euch schon weit geöffnet.“
„Sucht euch die Pfosten aus, an denen ihr hängen wollt!“
Die Gedanken der Gefangenen sollten von den eigentlichen Problemen abgelenkt werden, und bei einigen wurden sie abgelenkt.
Der Tod Stalins macht diesem zynischen Spiel ein Ende. Die Juden sind für den Augenblick gerettet. Aber kann die neue Regierung nicht eines Tages wieder von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Massen der Sowjetunion von den Kernproblemen der Politik mit den Methoden der „Schwarzen Hundert“ abzulenken? Alle Voraussetzungen für eine Wiederholung des Stalinschen Experimentes sind gegeben: die Massen der Sowjetunion sind weiter antisemitisch, und die neue Regierung ist nicht weniger skrupellos als Stalin.
Die Juden selbst haben auf diese Situation mit einer Reihe von Witzen reagieit, in denen der antijüdische „Neue Kurs“ Stalins unübertrefflich gezeichnet wird.
Ein Jude und ein Hauptmann der NKWD wohnen im gleichen Hause. Nach den Veröffentlichungen über die Verschwörung der jüdischen Ärzte begrüßt der Jude den Hauptmann jeden Morgen, wenn sie zur gleichen Zeit zur Arbeit gehen, mit den Worten: „Guten Abend, Herr Hauptmann.“
Am dritten Tag dieser Begrüßung sagt der Hauptmann zu dem Juden:
„Ich verstehe Sie nicht, es ist jetzt neun LIhr vormittags, aber Sie begrüßen mich mit . Guten Abend'.“
Der Jude antwortet:
„Jedesmal, wenn ich Sie sehe, Herr Hauptmann, wird mir schwarz vor den Augen.“ — Ein jüdischer Ingenieur, der das Technikum absolviert hat, bewirbt sich um eine Anstellung in einer Fabrik. Der Direktor antwortet:
„Die Fabrik braucht dringend Ingenieure. Bitte, füllen Sie die üblichen Personalbogen aus, wir werden Sie sofort einstellen."
Der Jude schreibt wahrheitsgemäß in die Rubrik „Nationalität“: Jude. Am nächsten Tag wird ihm eröffnet, daß die Stelle inzwischen anderweitig besetzt ist. Der Versuch, in einer zweiten Fabrik unterzukommen, endet mit dem gleichen Ergebnis. In der dritten Fabrik beantwortet der Jude die Frage nach der Nationalität mit „Inder“. Er wird angestellt. Nach einigen Tagen läßt der Direktor ihn rufen:
„Ich möchte Sie zum Abendessen bitten. Wir haben in unserem Betrieb noch einen Inder. Sie werden sich sicher freuen, daß Sie Gelegenheit haben, mit Ihrem Landsmann die Sprache Ihrer Heimat zu sprechen.“
Es ist unmöglich, diese Einladung abzusagen. AIs er mit dem anderen Inder bekanntgemacht wird, gebraucht er in seiner Verzweiflung über die bevorstehende Katastrophe eine hebräische Floskel, die dem russischen „Job twoju matj“) * entspricht. Der Inder antwortet auf hebräisch ebenfalls mit „Job twoju matj“. Der Direktor schließt sich auf hebräisch an. Alle drei sind Juden.
Gleichzeitig lösten sich allmählich die Bande der jüdischen Familien und Gemeinden, in denen es bis dahin einen engen Zusammenhalt gegeben hatte. Der religiöse Faktor, früher ein Hindernis gegen Demoralisierung und Verwahrlosung, war gefallen. Auch unter den Juden machte sich jene Demoralisierung im öffentlichen wie im privaten Leben breit, die heute das Kennzeichen des sowjetischen Systems ist.
Ein besonders drastisches Beispiel für die zugespitzten Konsequenzen, die sich aus der Verbindung eines Teils des Judentums mit dem Bolschewismus ergeben, ist die Geschichte der Juden in Litauen. Nach dem ersten Weltkrieg hatte die litauische Regierung eine ähnliche Gesetzgebung geschaffen, wie sie den Zarismus in bezug auf die Juden gekennzeichnet hat: begrenzte Zulassung zum Studium und Einschränkung der kommerziellen Betätigung.
„Nur im Exportgroßhandel“, berichten mir Litauer, „waren bei uns die Juden noch tätig, weil wir Störungen zu befürchten hatten, wenn wir sie auch dort eliminiert hätten. Nach der Besetzung Litauens durch die Sowjets im Jahre 1940 gingen die Juden mit wehenden Fahnen in das Lager der Bolschewisten über. Zahlreiche hohe Funktionäre der neuen sowjetisch-litauischen Verwaltung, des staatlichen Handels waren Juden. Die Maßnahmen gegen die litauische Bevölkerung, die Deportationen, sind zum Teil von Juden durchgeführt worden. 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen, haben die Litauer alle Juden erschossen, die nicht geflüchtet waren.“
Ich habe mit Litauern gesprochen, die an diesen Erschießungen beteiligt waren. Sie wurden mit derselben brutalen Vollständigkeit durchgeführt wie in den übrigen, von den Hitlerarmeen okkupierten Ost-gebieten. „Sie wimmerten und schrien und boten uns ihr Gold an, aber wir haben sie erschossen und mitsamt ihrem Gold ins Grab geworfen.“
1944 kehrte die sowjetische Armee nach Litauen zurück, mit ihr viele Juden, die 1940 geflüchtet waren. Die Gräber, die sie vorfanden, waren nicht geeignet, Frieden zu verbreiten. Es entbrannte jener Partisanenkrieg, der etwa drei Jahre angedauert hat und der mit einer Schonungslosigkeit geführt wurde, die ihresgleichen sucht.
Wenn die Gespräche auf den Zusammenbruch der Sowjetunion kommen, so wird von den Gegnern des Judentums, seien es Litauer, Ukrainer oder Polen, immer wieder erklärt:
„Wir werden dafür sorgen, daß kein Jude der Sowjetunion diesen Zusammenbruch überlebt."
Die nichtkommunistischen Juden der Sowjetunion befinden sich in einer der tragischsten Situationen, die die Geschichte des Judentums überhaupt kennt. Sie haben den Antisemitismus eines großen Teils der Bevölkerung gegen sich, der die Juden schlechthin mit dem Bolschewismus identifiziert. Von dieser gleichen bolschewistischen Regierung aber werden sie zu Jahrzehnten Zwangsarbeit verurteilt. Sollte das System bestehen bleiben, so werden sie bis an das Ende ihres Lebens in Lagern sitzen; sollte es zusammenbrechen, so werden sie mit ihm untergehen. Die Juden der Sowjetunion wissen, daß nach den Pogromen Hitlers, die sechs Millionen Juden das Leben gekostet haben, bei einem Zusammenbruch des Bolschewismus ein zweiter Pogrom bevorsteht, den von den vier Millionen Juden der Sowjetunion nur wenige überleben werden. Dieser Pogrom wird sich vollziehen, ehe ausländische Einflüsse hindernd wirksam werden können. Ihre Situation ist verzweifelt, und sie sehen der Zukunft der nächsten Jahre mit einem Pessimismus entgegen, in den sich die gleiche vage Hoffnung mischt, die viele deutsche Juden noch 1933 empfunden haben: „Vielleicht wird es doch noch gut gehen!“ Sie sehnen sich nach Ruhe und Geborgenheit, nach einem Stück Land, das sie in Frieden bebauen können und das ihre Kinder ernährt. Ihre Träume kreisen um Israel, das Land ihrer Väter. In ihren Gesprächen sind sie am Jordan, in Jerusalem, am See Genezareth. Ein polnischer Jude erzählt von Tel Aviv, das er 1938 besucht hat. Er ist ein Bote aus einem Land, das sie nie betreten werden. Als er von einer Theateraufführung „Rahel und Jakob"
berichtet, stehen ihnen Tränen in den Augen.
Die sowjetischen Juden haben den Schock, den die schrecklichen Pogrome während der deutschen Okkupation in ihnen auslösten, nicht verwunden. In den Schilderungen über die Ereignisse in ihrer Heimat bricht immer wieder das Entsetzen durch über die Dinge, die sich dort abgespielt haben. Manche von ihnen haben die Pogrome überlebt. Ein Jude zum Beispiel, nicht prononciert jüdisch aussehend und einen ukrainischen Namen tragend, flüchtete aus seinem Dorf. Es gelang ihm jedoch nicht, die Linien der Front nach Osten zu durchqueren. Er ließ sich in einem Ort nieder, in dem niemand ihn kannte. Er sagte sich: „In der Höhle des Löwen bin ich am sichersten“, und wurde unter einem deutschen Kommandanten Bürgermeister dieses Dorfes. Niemand kam auf den Einfall, daß er Jude sein könnte. Er wurde Zeuge der Massenausrottung aller Juden seines Bezirks, von der, wie üblich, weder Säuglinge noch Frauen noch Greise ausgenommen wurden. Als die Sowjets das Gebiet wieder besetzten, verurteilten sie ihn wegen seiner Tätigkeit als Bürgermeister zu zehn Jahren Zwangsarbeit.
Ein anderer Jude war Mitglied der jüdischen Polizei im Warschauer Ghetto. Es gelang ihm zu entfliehen. Fünfundzwanzig Jahre, weil er Polizist war.
Wenn man die Juden fragt, warum sie vor den Deutschen nicht rechtzeitig geflohen sind, so pflegen sie zu anworten:
„Wir haben das, was sich nach der Besetzung abspielte, für unmöglich gehalten."
Sie hatten die Deutschen in Erinnerung als ein Volk mit liberalen Traditionen, in dem die Juden den Platz einnahmen, den sie durch Intelligenz und Fleiß erarbeitet hatten. Sie sind nicht geflohen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß ein Volk mit den Traditionen von Goethe, Schiller und dem Humanismus des größten Massenmörders fähig sein würde, den die Geschichte der Juden kennt. Es ist fast unmöglich, ihnen die Ursache dieser Katastrophe zu erklären. Es ist unmöglich, ihnen begreiflich zu machen, daß dieser Antisemitismus, ein Antisemitismus der Regierung, im deutschen Volk fast ohne Resonanz war, jene kleinbürgerliche Schicht ausgenommen, in der der Nationalsozialismus eine seiner Wurzeln hatte.
Moireddin hat mir gestanden, daß ihn zu Beginn seines Aufenthalts im Lager immer schauderte, wenn er einen Deutschen sah.
„Ich sehe meine Verwandten und Freunde vor mir, wehrlos umringt von den hochgewachsenen, blonden, mit Maschinenpistolen bewaffneten Deutschen."
Erst allmählich legen sich diese Empfindungen.
Eines Tages mache ich Moireddin mit einem Deutschen bekannt, mit dem er sich im Laufe der Zeit langsam anfreundet. Nach einigen Monaten frage ich Moireddin:
„Wie finden Sie Schulz?“
„Er ist ein guter Mensch.“ — „Sind Sie dessen ganz sicher?“
„Erstens spüre ich es instinktiv — außerdem habe ich zahlreiche Beweise.“
„Können Sie sich vorstellen, daß Schulz einmal SS-Hauptsturmführer der Leibstandarte Adolf Hitler war?“
Er ist 1918 geboren. 1935 läßt er sich als Siebzehnjähriger, 1, 90 m groß, blond, blauäugig und dem Ideal eines nordischen Recken entsprechend, für die SS-Leibstandarte Adolf Hitler, die persönliche Garde des Führers, anwerben. Er ist ein tüchtiger Soldat und avanciert schnell. Er macht den Polenfeldzug mit und wird wegen Tapferkeit dekoriert. Mitte Mai 1940 erhält er bei den Kämpfen in Belgien einen Schuß durch die Wirbelsäule. Er bleibt wie durch ein Wunder am Leben, ist aber fast ein Jahr gelähmt. Er hat Zeit nachzudenken, dennoch vermag dieses Nachdenken nicht die Treue zu seinem Führer zu erschüttern.
Der Zusammenbruch, den er in Prag erlebt, ist gleichzeitig der Zusammenbruch seines Weltbildes. Die Greuel des Dritten Reiches, die er nicht hat sehen wollen, kommen ihm unwiderstehlich zum Bewußtsein. Er lernt die ersten Juden kennen. Er stellt fest, daß sie Menschen sind. Heute sagt er von Hitler:
„Er hat mich verführt und mißbraucht.“
Moireddin ist ähnlich schockiert wie damals, als er hörte, daß ich nicht Lette, sondern Deutscher bin. Ich bin neugierig, wie er reagieren wird.
Aber seine Beziehungen zu Schulz gehen ungestört weiter. Er ist auf meine Mitteilung nie zurückgekommen.
Schießlich hat Moireddin einen deutschen Bekanntenkreis, zu dem er freundschaftliche Beziehungen unterhält. Gelegentlich wundert er sich über sich selbst:
„Wenn ich mit Ihnen sprech'“, sagt er auf deutsch mit jiddischem Akzent, „mir ist, als wenn ich sprech'mit Jidden.“
* Wie alle Neuankömmlinge, so hungert auch Moireddin. Es ist für seinen deutsch-jüdischen Bekanntenkreis technisch kein Problem, ihn mit zu ernähren, aber es ist Moireddin peinlich, sich Brot schenken zu lassen. Er hat nie in seinem Leben Gaben angenommen, und die Selbstverständlichkeit, mit der ein Gefangener dem anderen hilft, ist ihm fremd.
Moireddin besitzt ein Paar Lederschuhe, wie sie von den Amerikanern während des Krieges in großen Mengen an die Sowjetunion geliefert wurden. Es sind Schuhe von bester Qualität. Sie sind im Lager unter Brüdern 50 Rubel wert. Man schlägt Moireddin vor, diese Schuhe zu verkaufen. Moireddin ist einverstanden. Er weiß nicht, was Schuhe im Lager kosten. Man nennt ihm einen Preis, der weit über dem Durchschnitt liegt. Täglich erhält er einen „Pajak“ Brot. So bezieht er ein Jahr lang Brot für seine Schuhe, ohne zu merken, daß es sich um eine Hilfsaktion für ihn handelt. Er hungert nicht mehr, und er hat nicht mehr das Gefühl der Demütigung derer, die es nur schwer ertragen, beschenkt zu werden. Selber ungeschickt in Geschäften, hat er zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.
Die Nationen
Im Schachtlager 9/10 befinden sich ungefähr dreieinhalbtausend Gefangene. Ihre Zahl verschiebt sich gelegentlich um 100— 200 nach oben oder unten, wenn auf Anweisung des zentralen Arbeitsbüros in Workuta Arbeitskräfte für dringliche Objekte in andere Schächte abgegeben werden müssen oder neue Bauobjekte in der Stadt die Überführung von Gefangenen aus anderen Lagern in unseres erforderlich machen. Das Lager ist typisch für Workuta hinsichtlich seiner Größe sowie in seiner nationalen Zusammensetzung.
Von den dreitausendfünfhundert Gefangenen des Lagers 9/10 sind ungefähr siebzehnhundert Ukrainer. Die anderen großen nationalen Gruppen sind: Litauer (etwa 800), Letten (300), Russen (300) und Deutsche (120 Reichs-und 70 Volksdeutsche), Esten (200), Juden (70). Aber das sind nicht alle. Die Liste der im Lager 9/10 lebenden Nationen sieht ungefähr so aus: Fünfundzwanzig Armenier, zum Teil Auslandsarmenier aus Ägypten oder Griechenland, die nach 1945 der sowjetischen Repatriierungspropaganda erlegen sind.
Dreißig Grusinier; wenn man sie hört, ist man überzeugt, daß Stalin der einzige grusinische Kommunist ist.
Zwanzig Polen, hauptsächlich Leute der polnischen Widerstandsorganisationen gegen die Gestapo während des Krieges.
Zwanzig Rumänen. Sie haben zum Teil der „Eisernen Garde“ Codreanus angehört.
Fünfzehn sowjetische Griechen.
Zehn Ungarn, meist ehemalige junge Offiziere, die nach der Besetzung Ungarns durch die Sowjets in Widerstandsorganisationen gearbeitet haben. Einige von ihnen kennen Mindszenty.
Etwa zehn Österreicher, unter ihnen einige ehemalige Schutzbündler, die nach dem sozialdemokratischen Aufstand 1934 emigrierten.
Acht Chinesen, ehemalige Mitglieder der Armee Tschiang-Kai-Tscheks.
Sechs Japaner. Fünf Gefangene sind aus Finnland, drei aus Jugoslavien, zwei aus Südkorea.
Zwei Gefangene stammen aus Nordiran, das die Sowjets . zeitweise besetzt hatten. Sie gehörten der iranischen Verwaltung an und sind mit den gleichen Methoden, mit denen die Sowjets auch in Berlin Menschen verschleppen, gewaltsam entführt worden.
Zwei Gefangene vertreten Holland.
Frankreich ist durch einen seiner Bürger vertreten, der den Fehler begangen hat, nach dem Krieg in der Sowjetzone zu bleiben. Ein Amerikaner: ein junger Journalist, Kommunist, der freiwillig in die Sowjetunion gegangen ist und wegen Kontaktes zur amerikanischen Botschaft in Moskau, die nur identisch sein konnte mit „Spionage“, fünfundzwanzig Jahre erhalten hat.
Ein Tibetaner, namens „Babai“. Er stammt aus Zentraltibet und besitzt dort einige Dutzend Yaks und achthundert Schafe. Mit fünf Frauen, zwanzig Kindern und seinen Verwandten, insgesamt einer Sippe von fünfzig Menschen, durchzog er Tibet von der indischen Grenze bis zur mongolischen Volksrepublik. Eines Tages tauchte ein sowjetischer Panzerspähwagen auf und verhaftete ihn wegen „Spionage“. „Babai“ kennt nicht die Namen seiner Kinder, wohl aber die Namen aller Yaks und seiner prominenten Hammel. Er ist kompromißloser Antibolschewik, weil die Panzerwagenleute seinen besten Hammel geschlachtet, am Spieß gebraten und verzehrt haben.
Dann gibt es Angehörige fast aller Völker der Sowjetunion: Kasachen, Usbeken, Moldowaner, Kirgisen, Tadschiken, Turkmenen, Baschkiren, Mongolen, Mordwinen, Tataren, Jakuten und Tscherkessen.
Zwei Gefangene stammen aus der Nähe von Workuta. Sie sind Komis. Als ich sie frage, warum sie nicht längst ausgerissen sind, antworten sie mit Überzeugung:
„Es hat keinen Zweck, man kommt doch nicht durch.“
* Von den etwa siebzehnhundert Ukrainern in unserem Lager stammen 70— 80 Prozent aus der Westukraine, die bis 1939 zu Polen gehörte. Ihre Metropole ist Lemberg, ukrainisch: Lwow.
Das Überwiegen der Westukrainer hat mehrere Gründe. In der Ost-ukraine hatten die Sowjets bereits einige Jahrzehnte Zeit, die politische Opposition zu dezimieren oder auszurotten. Dieser Politik der radikalen sozialen und nationalen Unterdrückung sind Millionen Ukrainer zum Opfer gefallen, deren genaue Zahl sich nur ungefähr ermitteln läßt, insgesamt jedoch, nach vorsichtigen Schätzungen alter Ukrainer, Zeugen der Entwicklung seit 1917, um sechs Millionen liegen dürfte. Es handelt sich um jene zahlreichen Bauern, die im Rahmen der Kolchosierung verhaftet oder deportiert wurden. Eine Katastrophe von außerordentlichem Ausmaß ist jene Hungersnot im Jahre 1932, der allein in der Ukraine zusätzlich etwa 3 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Ich habe noch Augenzeugen dieser Jahre gesprochen.
„Wir hatten keine Ernte, wegen der Trockenheit. Die Regierung gab aber auch kein Getreide, damit wir etwas zu essen hatten. Schließlich versuchten wir zu fliehen, in Rayons, in denen vielleicht mehr zu essen war als bei uns. Da ließ die Regierung alle Bezirke des Hungers mit Truppen umstellen. Keiner konnte heraus. Und fast alle sind verhungert.“
Bis 1941 hat die Regierung nichts unversucht gelassen, die Ukraine zu sowjetisieren. Der Erfolg dieser jahrzehntelangen Bemühungen zeigte sich im Sommer 1941, als die Ukraine eine geschlossene Bereitwilligkeit zeigte, mit der Waffe gegen die Unterdrücker von gestern zu kämpfen. Es erwies sich jedoch, daß Hitler nicht in der Absicht gekommen war, die Ukraine zu befreien, sondern das System der sowjetischen Unterdrückung durch sein eigenes zu ersetzen.
„Unser Land“, sagte mir ein ukrainischer Offizier, „war bereit, fünf Millionen Soldaten für den Kampf ggen den Bolschewismus zu stellen, ausgebildete, erstklassige Kämpfer, entschlossen, den Bolschewismus so gründlich zu vernichten, wie nichts sonst auf dieser Erde. Mit diesen fünf Millionen würde es weder den Rückzug vor Moskau noch die Niederlage in Stalingrad gegeben haben. Der Bolschewismus gehörte bereits der Geschichte an. Aber natürlich mußten diese fünf Millionen wissen, daß sie für die Freiheit ihres Vaterlandes kämpften und nicht für eine neue Form der Sklaverei.“
Sie entschlossen sich, Partisanen zu werden, Partisanen gegen zwei Fronten, gegen die Sowjets und gegen die Deutschen. Durch nichts kann die Tragik ihrer Situation besser charakterisiert werden. Sie kämpften, solange sie konnten, heroisch, jahrelang, in einer Lage, deren Kennzeichen die politische und militärische Ausweglosigkeit war.
Heute ist ihre Einstellung zu den Deutschen nicht unfreundlich, aber reserviert. Zu gründlich sind sie von ihnen im letzten Kriege enttäuscht worden. Die Behandlung der von Hitler deportierten ukrainischen Zwangsarbeiter in den deutschen Fabriken ist nicht vergessen. Die sowjetische Propaganda hat die günstige und bequeme Chance, der Ukraine ein dunkles Bild vom Westen zu malen, nicht versäumt. Aber es handelt sich nicht nur um die Enttäuschung des zweiten Weltkrieges, auch die des ersten lebt noch in der Erinnerung fort. Damals ist die Ukraine ebenfalls von den Deutschen besetzt worden. Das System war zwar anders, aber die Politik war die gleiche.
Die Ukrainer haben begriffen, daß es sich nicht um Hitler allein handelte. Es handelt sich um die Grundeinstellung der deutschen Ostpolitik.
„Gut“, sagen diese Leute in ihren Diskussionen, „wir sehen, daß ihr die Dummheiten begreift, die von den Deutschen während der beiden Weltkriege in der Ukraine gemacht worden sind, einmal unter Wilhelm, dann unter Hitler. Wer aber garantiert uns, daß eine deutsche Regierung in einer ähnlichen Situation — angenommen, der Westen macht den Krieg gegen die Sowjets, den wir brauchen, um befreit zu werden — nicht zum dritten Mal die gleiche Politik betreibt: die Fortführung einer KolonialPolitik'?“ Die Ukrainer wissen, daß Deutschland und die Ukraine Handelspartner sein könnten, die sich im Austausch landwirtschaftlicher und industrieller Produkte ideal ergänzen. „Im Augenblick“, sagen sie, „ernährt die Ukraine den Bolschewismus. Ohne unser Getreide könnte Stalin nicht leben, das hat der Krieg bewiesen. Nachdem Hitler die Ukraine besetzt hatte, waren sie am Verrecken.“ Es ist verständlich, daß die Sympathien der Ukrainer heute aus zwei Gründen den Amerikanern gehören:
„Erstens sind die Amerikaner die einzigen, die überhaupt in der Lage sind, mit den Sowjets fertig zu werden; zweitens sind sie in gar keiner Weise daran interessiert, uns die Autonomie nicht zu geben. Sie haben genügend Beweise geliefert dafür, daß sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker respektieren. Es besteht keine Veranlassung, anzunehmen, daß sie bei uns andere Prinzipien anwenden werden.“
Die Westukrainer sind unversöhnliche Feinde der Sowjets, weil sie, wenn auch unter polnischer „Unterdrückung“, die Freiheiten des Westens kennen. Sie wissen zu schätzen, was diese Freiheiten bedeuten. Ihre Intelligenz hat zu einem Teil in Westeuropa studiert. Sie kennt Prag, Zürich, Paris und Berlin. Die Politik, die heute von den Sowjets in der Westukraine betrieben wird, ist nichts weiter als eine Wiederholung der Maßnahmen, von denen ihre Politik gegen die Ostukraine seit 1917 gekennzeichnet ist. Eine der ersten rücksichtslos durchgeführten Maßnahmen war die Kollektivisierung der Landwirtschaft. Die westukrainischen Bauern wurden ihres Bodens beraubt und gegen ihren Willen in Kolchosen gepreßt. Die Aktion ging gegen den Widerstand der ganzen Bevölkerung vor sich. Sie endete mit eine; Massendeportation von „Kulaken“ und „Saboteuren“.
Eine weitere Aktion richtete sich gegen die westukrainische Intelligenz, die heute fast ausnahmslos in den Lagern sitzt. Man hat Lehrer, Ärzte, Juristen und die Mitglieder des früheren Verwaltungsapparates verhaftet, die den politischen Kopf des ukrainischen Volkes bildeten.
Trotzdem sind die Resultate der Sowjetisierung der Westukraine nicht erfolgreicher als die Politik gegen die Ostukraine in den Jahren bis 1941.
Die beste Zeit der alten Westukraine war die unter den Habsburgern.
Es ist rührend, alte Bauern aus Galizien von dem Kaiser Franz Joseph erzählen zu hören. Sie haben bei den k. u. k. Dragoner-und Husaren-regimentern gedient. Der Erzherzog Franz war Chef des Regiments. Jeder konnte zu ihm gehen und eine Bitte vorbringen. Er klopfte einem auf die Schulter und sagte, er werde mit dem Hauptmann reden. Lind wenn jemand einen Streit hatte, mit einem Nachbarn zum Beispiel wegen eines Streifens Acker, und das Bezirksgericht entschied zu seinen Ungunsten, dann konnte er an den Kaiser Franz Joseph schreiben und ist nie ohne Antwort geblieben. „Und wie ist es heute? Sie nehmen dir deinen ganzen Hof, und du kannst schreiben, so viel du willst, kriegst nicht einen Quadratmeter zurück. Und wenn du dich weigerst, mit deinem eigenen Pferd, das dir nicht mehr gehört, deinen alten Boden für die neuen Herren zu pflügen, kommst du für fünfundzwanzig Jahre ins Lager.“
Gemeinsam gehen sie zugrunde, die wenigen Alten, die den Kaiser Franz Joseph noch gekannt haben, und die Jungen, die 1941 noch Kinder waren. Die Sowjets haben die Blüte der westukrainischen Jugend nach Workuta deportiert, nicht nur die Männer, auch die Mädchen und Frauen.
Die Ukraine erwartet den Krieg, von dem sie weiß, daß sie ohne ihn ihre Autonomie niemals erhalten wird. Dieser Krieg wird viele Opfer fordern. Aber die Ukrainer sind bereit, diese Opfer zu bringen, weil sie erkannt haben, daß es einen anderen Weg zur Freiheit ihres Landes nicht gibt.
Am Tage der Erhebung werden zahllose Partisanen die vergrabenen Waffen in die Hand nehmen, und die Ukraine wird sich in einen einzigen Herd des Aufstandes verwandeln.
„Waffen brauchen wir, Waffen, nichts weiter“, sagen sie immer wieder.
„Alles andere werden wir selbst besorgen.“
Wer sie kennt, weiß, daß es ihnen ernst ist.
Manchmal treibt der Wind in ruhigen Nächten die Melodien ukrainischer Lieder aus den Kiesgruben an den Ufern der vereisten Workuta herüber. Dort, in nur einigen hundert Metern Entfernung, arbeiten die Schwestern, Bräute und Frauen unserer ukrainischen Kameraden. Von den hoch gelegenen Baracken aus ist der Schein der Feuer zu sehen, an denen sie sich in der arktischen Nacht wärmen. Sie singen Volkslieder.
Ihre hellen, starken Soprane vereinigen sich zu einem Chor, der in schwermütigen Weisen einen Soldaten besingt. Er ist ausgezogen, für sein Vaterland zu kämpfen. Lange, lange ist er in der Fremde. Eines Tages aber wird er siegreich wiederkehren, und sein Mädchen, das auf ihn gewartet hat, wird ihn mit Blumen bekränzen.
In der Sowjetunion kursiert folgendes Sprichwort: „Lenin hat die Revolution gemacht mit jüdischen Köpfen, russischer Dummheit und lettischem Schwert.“
Die Tapferkeit der sagenhaften roten Divisionen Trotzkis ist den Letten, die heute in den Lagern Workutas sitzen, ein wenig peinlich. Aber nicht geringer war die Tapferkeit jener ebenso sagenhaften 19. lettischen Division, die sich an der Ostfront während des letzten Krieges gegen die Sowjets schlug, um schließlich im Kurlandkessel in Gefangenschaft zu geraten. Wer ihr angehört hat, sitzt heute genau so im Lager wie die letzten Überlebenden der alten lettischen revolutionären Bewegung, ein alter mehr als siebzigjähriger Arzt zum Beispiel, Freund von Lazis und Peters, die mit Dserschinskij die Tscheka begründet haben, ein Mann, der Lenin und Trotzki noch persönlich kannte. Heute, an seinem Lebensabend, ist er nicht weniger Antibolschewist als die jungen Soldaten aus den lettischen Formationen des letzten Krieges.
Die politischen Beziehungen zwischen Sowjets und Letten haben ihre erste Prägung in den Jahren des Bürgerkrieges zwischen Weiß und Rot erfahren, in denen der junge lettische Staat sich der Bolschewisten in schweren Kämpfen zu erwehren hatte. Die Innenpolitik Lettlands war zwei Jahrzehnte hindurch gekennzeichnet durch einen konzessionslos antikommunistischen Kurs. Als die Sowjets im Jahre 1940 das Land besetzten, begannen sie unverzüglich mit der Verschleppung von Persönlichkeiten, die ihnen gefährlich erschienen und von denen sie annehmen mußten, daß sie den Aufbau eines „Demokratischen Systems“ stören würden. Dennoch blieb ihnen bis zum Sommer 1941 nicht genügend Zeit, jene Basis in Lettland zu schaffen, über die sie heute zweifellos verfügen, dank einer Politik, die durch zwei Faktoren gekennzeichnet ist: die Deportation etwa der Hälfte der lettischen Bevölkerung nach Sibirien bzw. Zentralasien, und den Import von einigen Millionen Russen nach Lettland. In Riga zum Beispiel, einer Stadt von früher dreihundert-tausend Einwohnern, wohnt heute eine Million Russen. Letten, die, wegen antisowjetischer Tätigkeit verurteilt, in den letzten Jahren in Workuta angekommen sind, berichten, daß die Stadt ein vollkommen russisches Bild angenommen hat. In den Schulen überwiegt die russische Sprache. Die Aufführungen in den Theatern erfolgen zumeist in Russisch. Die Russifizierung, die sich bei dem zu großen nationalen Komplex der fünfzig Millionen Ukrainer als unmöglich erwiesen hat, die bei den vier Millionen über die ganze Sowjetunion zerstreuten Volksdeutschen in der nächsten Generation vollzogen sein wird, ist in Lettland in vollem Gange. Ehen zwischen Lettinnen, die wegen ihrer Schönheit bekannt sind, und Russen werden um so häufiger, als es durch die Deportationen, von denen meist Männer betroffen werden, an lettischen Männern fehlt.
Politisch gilt für die Letten das gleiche wie für die Westukrainer: sie sind immun gegen den Kommunimus, weil sie in einem System gelebt haben, dessen Vorzüge sie nicht zu vergessen vermögen.
Die Letten sind deutschfreundlich. Ihrer jungen Generation sind die Jahre der Unterdrückung durch die baltischen Barone, die 1917 einen Teil der Letten in die Rote Armee getrieben hat, nicht mehr als eine historische Erinnerung. Nachdem sie die Güter der früheren Oberschicht aufgeteilt hatten, haben sie mit der enteigneten Minderheit in Frieden gelebt. Sie waren nicht, wie die Ukrainer, in zwei Kriegen das Objekt deutscher „Ostpolitik“. Sie hatten nicht, wie die Litauer mit dem Memelgebiet, einen neuralgischen Berührungspunkt mit Deutschland.
Fast alle Letten sprechen deutsch. Viele haben in Deutschland studiert oder sind während des Krieges dort gewesen. Der hohe Prozentsatz der Intelligenz, die gewohnt ist, politische Probleme sachlich zu betrachten, schafft einen engen Kontakt zwischen ihnen und den Deutschen. Sie haben weniger Nationalismus als die anderen. Es fehlen die geographischen Streitpunkte, die ihn hätten entzünden können. Darin unterscheiden sie sich vorteilhaft von den Litauern zum Beispiel, die bereit sind, wegen Wilna ganz Polen mit Feuer und Schwert zu verwüsten, den Polen, die aus dem gleichen Grunde mit den Litauern das gleiche machen würden, und den Ukrainern, die weder den Polen noch den Russen ihre nationale Unterdrückung vergessen können.
Lettland hat in den Jahren vor seiner Besetzung durch die Sowjets enorme Fortschritte gemacht, von denen die Letten nicht ohne Stolz, aber ohne Überheblichkeit berichten. Sie hatten sich Dänemark als Vorbild genommen, und wenn die Affären der internationalen Politik die Entwicklung ihres Landes nicht in so unglückliche andere Bahnen gelenkt hätten, würden sie heute fast den Standard Dänemarks erreicht haben.
* Mein Nachbar auf der Pritsche ist ein Este aus Dorpat, der perfekt deutsch spricht. In der Ablehnung des Bolchewismus stehen die Esten den Letten nicht nach. Mein Nachbar spricht kein Wort russisch, das ist unter den Esten, die nicht zur Intelligenz gehören, keine Ausnahme. Ich frage ihn, wie lange er schon im Lager ist. — „Sechs Jahre.“
„Und warum haben Sie nicht Russisch gelernt?“
„Ich will nicht.“
Ihre Antipathie gegen die Sowjetunion geht so weit, daß sie es ablehnen, die „Staatssprache“ zu erlernen. Mein Este arbeitete früher im Schacht. Dort ist es unvermeidlich, daß er sich mit den anderen Mitgliedern der Brigade verständigen muß. Er ist ein guter Arbeiter, der für die Brigade wichtig ist. Sie wollen ihn nicht an eine andere Brigade verlieren, die ihm vielleicht besser gefällt.
„Wie verständigt ihr Euch?“
„Auf estnisch. Was für die Arbeit nötig ist, sagen die Russen auf estnisch; sie haben es gelernt, was wollen sie sonst machen?“
Die Esten sind die besten Arbeiter des Lagers. Die Arbeitsamkeit ist eine der Grundeigenschaften dieses Volkes. Sie sind wortkarg, fleißig und genügsam. Ihr Zusammenhalt mit der Heimat ist eng und gut organisiert. Die Litauer ausgenommen, erhalten sie mehr Speck als alle anderen Nationen.
Unter den Republiken der Sowjetunion ist Estland relativ wohlhabend. In den Briefen an Stalin, die regelmäßig auf der ersten Seite der „Prawda“ mit der Überschrift „Dorogoi towarischtsch Stalin", Teurer Genosse Stalin, veröffentlicht werden, in denen die Republiken oder Kolchosen über die Ergebnisse ihrer „Planerfüllung“ berichten, ist von nichts so häufig die Rede wie von estnischen Kühen. Als einzige Republik der Sowjetunion verfügt die estnische SSR über Kühe, die mehr als sieben-tausend Liter Milch jährlich geben. Das ist kein Verdienst des Systems der Kolchosierung, es sind die Reste einer Landwirtschaft, die bis 1940 eine nicht weniger intensive Entwicklung erfahren hat als die Lettlands und Litauens, und die zu ruinieren den Sowjets trotz der Kolchosierung nicht gelungen ist. Und es ist der angeborene Fleiß seiner Bürger, die dem Sowjetsystem zugute kommt.
In vielen von ihnen bricht ein schwedischer Einschlag durch. Sie sind hochgewachsen, blond und blauäugig, die Nachfahren schwedischer Einwanderer aus einer Zeit, die mit Karl XII. ihr Ende gefunden hat. Die Stärke mancher Esten ist sagenhaft. Mein Nachbar erzählt mir folgende Geschichte:
Ein estnischer Bauer bemüht sich, einen schweren Wagen, dessen Pferd er ausgespannt hat, einen steilen Berg hochzuziehen. Ein Vorübergehender fragt ihn, warum er den Wagen selber ziehe, statt das Pferd ziehen zu lassen. Er antwortet: „Wie kann ich meinem Pferd zumuten, meinen Wagen hier heraufzuziehen, wenn ich ihn selber kaum ziehen kann?“
* Ihr Kern ist finnisch-ugrisch. Sie sind mit den Finnen ebenso verwandt wie mit den Komis, den Ureinwohnern dieser nördlichen Tundra, und den Ungarn. Und die Wurzeln vieler Wortstämme, der Zahlen etwa, haben sie mit ihren Vettern gemeinsam. Später habe ich einmal einen Esten, einen Finnen, einen Ungarn und einen Komi miteinander bekannt gemacht. Niemand von ihnen wußte um die Verwandtschaft ihrer Nationen. Als ich sagte, daß sie Vettern seien, glaubten sie an einen Scherz. Aber dann ergaben sich in einem kurzen Gespräch fünfzig Wörter, die in allen vier Sprachen fast identisch waren. Und sie quittierten mit Erstaunen und Lächeln die Verwandtschaft aus einer Zeit, in der sie vor vielen tausend Jahren irgendwo in den Steppen Asiens eine gemeinsame Familie waren.
Die Intelligenz ist gebildeter als die Durchschnittsintelligenz westeuropäischer Länder. Sie ist in einem kleinen Land — und darin unterscheiden sie sich nicht von Lettland oder Litauen — stets gezwungen, sich alle großen Kultursprachen zu erschließen. Die Jugend der Hauptstadt Tallinn (Reval) hatte früher die Auswahl zwischen estnischen, deutschen, englischen und französischen Gymnasien. Die Regierung war klug genug, die großen wissenschaftlichen Traditionen, die die LIniversitätsstadt Dorpat mit den deutschen Universitäten verbinden, nicht zu zerstören, sondern zu pflegen.
Im Lager sind die Esten beliebt wegen ihrer Ruhe, ihrer Arbeitsamkeit und ihrer kompromißlosen Antipathie gegen die Sowjets. Kein Este läßt sich schlagen. Man erzählt in den Lagern Workutas einen Vorfall, der sich kurze Zeit vor meiner Ankunft auf einem Bauobjekt in der Stadt abspielte.
Ein russischer Oberaufsehen, ein Freier, hat eine Auseinandersetzung mit einer jungen Estin. Er schlägt sie. Am nächsten Tage begibt sich das Mädchen in seine kleine Baubude. Sie riegelt die Tür ab und sagt ruhig zu ihm: „Wenn du an Gott glaubst, so bete jetzt dein letztes Gebet. Ich werde dich erschlagen dafür, daß du mich geschlagen hast.“
Dann zieht sie ein Beil unter ihrem „Buschlat" hervor. Statt zu beten, stürzt der Russe sich auf sie. Das Mädchen entstammt einer Familie von Bauern. Sie weiß mit der Axt umzugehen und spaltet ihm den Schädel mit der gleichen Sicherheit, mit der sie früher die Holzscheite auf ihrem Hof gespalten hat.
Was wollen die Sowjets mit einem solchen Volk anfangen? Die Deportation ist der einzige Versuch, mit ihnen fertig zu werden. Sie deportieren sie also. Zwischen der Besetzung im Jahre 1940 und der Juni 1941 sind etwa zweihunderttausend nach Sibirien gewandert. Die Zahl der seit 1944 „Evakuierten“ entspricht der Hälfte der Bevölkerung, die früher etwa 1, 1 Millionen zählte.
Unter den Litauern meiner Brigade sind zwei junge Lehrer. Wie viele unserer Kameraden aus den baltischen Ländern interessieren sie sich für die Probleme Europas. Als Gegenleistung erzählen sie von Litauen. Sie sind von jenem Selbstbewußtsein, das in allen baltischen Ländern die junge Generation auszeichnet und eine erstaunliche Entwicklung in Gang gebracht hat, von der im Westen nur wenig bekannt ist. Sie erläutern mir die sozialen Prinzipien ihres staatlichen Lebens, die zum Fortschrittlichsten gehören, was in Europa geschaffen worden ist.
Die Anfänge Litauens fielen in die Zeit des Zusammenbruchs des zaristischen Rußlands. Ihre ersten Versuche einer staatlichen Selbständigkeit ließen sie in Verhandlungen treten mit einem Herzog von Urach, der Monarch von Litauen werden sollte. Der Herzog war einverstanden und begann litauisch zu lernen. Als er es perfekt sprach, brach die Novemberrevolution aus, die alle Fürstenhäuser Deutschlands entthronte. Im Zuge der allgemeinen Demokratisierung beschlossen die Litauer ebenfalls, eine Republik zu werden. Sie schlugen sich mit den Bolschewisten herum, mußten zähneknirschend zulassen, daß die Polen Wilna besetzten, und machten sich dann an den Aufbau ihres Landes. * Ihre führenden Leute waren, wie fast die ganze Bevölkerung des Landes, römisch-katholisch. Sie hatten Gelegenheit, den Bolschewismus aus nächster Nähe zu studieren. Aber sie taten mehr. Sie dachten darüber nach, wie man im eigenen Lande einer ähnlichen Entwicklung vorbeugen könne. Sie fanden, es genüge nicht, fromm zu sein, den sozialen Frieden zu predigen, sich auf die Enzykliken der Päpste zu berufen und im übrigen den Dingen ihren gottgewollten Lauf zu lassen. Sie kamen zu dem Ergebnis, man müsse Litauen sozial so stabil wie irgend möglich machen. Einige Jahre nach dem ersten Weltkrieg verwirklichten sie eine Bodenreform, in deren Verlauf jeder Bauer soviel Land erhielt, wie er mit seiner Familie zum Leben brauchte, im Durchschnitt etwa zehn Hektar. Sie schufen damit einen bäuerlichen Mittelstand, der in auskömmlichem Wohlstand lebte und mit der technischen Verbesserung der Landwirtschaft zunehmend wohlhabender wurde.
Sie machten diese Bodenreform mit katholischen Argumenten, gegen den Willen des Vatikans, und bezogen sich dabei auf die Enzyklika „Rerum novarum“ und die sozialen Bestrebungen von Leo XIII.
Als ich den beiden Lehrern von den sozialen Zuständen unter der italienischen Landarbeiterschaft erzähle und sie mit einem Deutschen zusammenbringe, der diese Zustände genau kennt, weil er sie während des Krieges studiert hat, sind sie erschüttert. Die litauische Regierung hat ihrem Bauernstand stets alle Aufmerksamkeit angedeihen lassen. Im Zuge der Entwicklung begannen die litauischen Bauern sich auf die Produktion von Speck und Gänsen zu spezialisieren. Diese wurden hauptsächlich nach Deutschland exportiert. Eines Tages verbot Hitler den Import litauischer Gänse nach Deutschland. Es war zu der Zeit, als die litauisch-deutschen Beziehungen sich verschlechterten und die Besetzung von Memel vor der Türe stand.
Die Regierung entschloß sich zu rigorosen Maßnahmen. Ein Teil der Gehälter ihrer Beamten und Angestellten wurde in Gänsen ausgezahlt. Die Armee, keine große Armee, aber immerhin ein Kontingent von einigen zehntausend Menschen, konsumierte ein halbes Jahr lang ausschließlich Gänse. Viele Litauer, die jetzt im Lager sind, dienten damals ihre Rekrutenzeit ab.
„Die Gänse hingen uns zum Halse heraus“, erzählen sie. Bei solchen Erzählungen sitzen die Russen mit offenem Munde da. Einmal frage ich die Sowjetbürger einer ganzen Brigade, Westukrainer, Litauer, Letten und Esten ausgenommen, wieviel Gänse jeder von ihnen in seinem Leben gegessen hat. Das Resultat war folgendes: die Arbeiter unter ihnen hatten nie eine Gans gegessen. Die Bauern, jetzt Kolchoniki, hatten bis zu den Jahren der Kolchosierung Gänse gegessen, später nicht mehr.
Die litauische Gans ist ein politisches Symbol geworden. Wenn die Brigadiere einen Litauer beschimpfen, weil er nicht arbeitet, hört man nicht selten:
„Gänse fressen könnt ihr, aber arbeiten wollt ihr nicht!“
Die Litauer freunden sich langsam mit mir an und beginnen, sich um mein Seelenheil zu sorgen. In ihrem eigenen Leben spielt die Religion eine so große Rolle, daß sie sich nicht vorstellen können, wie ein Mensch ohne die Kraft und die Tröstungen der Kirche leben kann. Eines Tages fragen mich die beiden Lehrer, ob ich nicht den Wunsch habe, an einem Gottesdienst teilzunehmen.
„Wenn Sie wollen, können Sie regelmäßig die Messe hören.“ Dieses Angebot ist ein Ausdruck des Vertrauens, das sie in mich setzen. Es ist weiter ein Beweis persönlicher Zuneigung, die zu enttäuschen ich mich nicht entschließen kann. So erkläre ich mich einverstanden, einmal, um meine litauischen Freunde nicht zu kränken, zum anderen aus einer Neugier, das religiöse Leben dieser modernen Katakomben kennenzulernen.
Der Gottesdienst findet in einem stillgelegten Stollen des Schachtes statt, etwa zweihundert Meter unter der Oberfläche. In dieser Nacht beenden die beiden Lehrer und ich unsere Arbeit vorzeitig. Ich verstehe, daß alles mit dem Brigadier verabredet ist: er hat uns zu Arbeiten eingeteilt, mit denen wir um vier LIhr früh fertig sein können.
Um diese Zeit verlassen wir den Holzplatz und gehen zum nahen Schachteingang. Die Förderung läuft auf vollen Touren, unaufhörlich kommen die Waggons mit Kohle nach oben. Niemand kümmert sich um uns. Wir gehen am Förderband vorbei und steigen in die Tiefe. Durch belebte Gänge gelangen wir in einen toten Scitenstollen, der in einer kleinen Krypta endet. An der Rückwand bildet in halber Höhe ein Brett den Altar. An den Wänden hängen zwei Bergwerkslampen, auf dem Altar brennen zwei kleine Kerzen. Es sind etwa zwanzig Menschen versammelt, von denen ich die meisten nicht kenne. Alle stehen schweigend dort, in Gebet versunken. Sie fühlen sich sicher. Hier unter sind keine Kontrollen durch die Wachen zu befürchten. Kein Soldat, der sein Leben liebt, wagt sich unter Tage. * Aus der Gruppe der Betenden löst sich ein Gefangener, der sich von den anderen in nichts unterscheidet: er trägt die gleiche schwarze Kleidung der Bergarbeiter. Ein zweiter folgt ihm: der Ministrant. Auf dem Altar wird ein kleiner Kelch aufgestellt. Rechts liegt ein schmales Missale.
Eine stille heilige Messe beginnt. Der Ministrant läutet mit einem kleinen Glöckchen zur Wandlung. Der Priester hebt eine Hostie, die Gläubigen knien nieder und schlagen an ihre Brust. Einige nehmen den Leib des Herrn. Dann segnet uns der Priester, und wir entfernen uns wortlos, wie wir gekommen sind.
Monate später habe ich Gelegenheit, den Kelch zu sehen. Es ist ein Miniaturkelch aus getriebenem Silber, von Gefangenen hergestellt, etwa zwei Zentimeter hoch und ein Zentimeter im Durchmesser. Die Tücher, die ihn bedecken, sind von ähnlichen Dimensionen. Die Oblaten werden in legalen Paketen aus Litauen geschickt und gelten den Posten, jungen sowjetischen Heiden, die nie eine Oblate gesehen haben, als „litauisches Brot“. Der Meßwein, den freie Litauer, die im Schacht arbeiten, herein-geschmuggelt haben, stammt aus der Krim. Wenn in den Magazinen der Stadt kein Wein zu haben ist, gewinnen die Litauer ihn, indem sie Rosinen vergären.
Die Priester im Lager haben besondere Vollmachten, die ihnen erlauben, ihre Tätigkeit zu tarnen. Ich erfahre, daß zu Ostern mehr als vierhundert Litauer die Sakramente empfangen haben. Der Priester hat das Recht, die Hostie seinen Gläubigen in die Hand zu geben, weil es ihm unter den Bedingungen des Lagerlebens nicht möglich ist, allen die Kommunion in der üblichen Form zu spenden. Jemand drückt den Kommunikanten eine Schachtel Papyrossi in die Hand; aber diese Schachtel enthält nur sechs Papyrossi statt zwölf. Die andere Hälfte der Schachte] ist ausgefüllt mit einem sauberen Leinenlappen, der den Leib Christi enthält. In die Hostie teilen sich vier Menschen. Alles vollzieht sich ohne Priester.
Eines Tages trinken Serjoscha und ich Tee mit den Japanern. Als Tisch dient eine alte Kiste, Stühle werden durch Holzscheite ersetzt. Einige „Kruschki“ haben wir uns geliehen. Eine große Konservendose ersetzt den „Samowar“.
Die fünf Japaner sind Fischer von Japans nördlicher Insel Hokkaido, die mit ihrem Kutter bei Sturm in die sowjetische Dreimeilenzone vor Sachalin getrieben wurden. Ein Küstenfahrzeug brachte sie auf und eskortierte sie nach Wladiwostok. Hier wurden die Fischer der „Spionage“
beschuldigt und zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach einer Etappe von mehr als drei Monaten quer durch Sibirien über Irkutsk, Krasnojarsk, Nowosibirsk, Omsk, Swerdlowsk, Molotow, Kirow und Kotlas trafen sie verhungert und abgerissen in Workuta ein. Drei von ihnen sind Anfang zwanzig. Der Schiffsjunge ist sechzehn Jahre alt, der Kapitän einunddreißig. Lächelnd und unter vielen Verbeugungen nehmen sie auf ihren Holzscheiten Platz, ein Teeritual zelebrierend, das ich nicht beherrsche und gegen das ich bestimmt fortwährend verstoße. Ich komme mir vor wie ein Böotier in Athen, sie aber sind von vollkommener Diskretion und übersehen alle Verstöße gegen das Zeremoniell mit höflicher Nachsicht.
Sie sprechen kein Wort deutsch, ich verstehe kein Wort japanisch. Die Konservation entwickelt sich in der Sprache internationaler Gestikulationen, vermischt mit Russisch, von dem wir alle nur die Anfangsgründe beherrschen.
Ich frage sie gestikulierend, warum sie damals vor Sachalin nicht geflohen seien. Der Kapitän antwortet: „Bumm!" und beschreibt mit den Händen das Aufsteigen einer großen Fontäne.
Die Sowjets haben also mit einer Kanone geschossen.
„Schena? Frau?“
Nur der Kapitän hat eine Frau. Die anderen sind unverheiratet. Ich frage, ob der „Japonskij natschalnik", der Chef Japans, der Ministerpräsident, etwas zu ihrer Befreiung unternommen habe.
„Ne snajet. Er weiß nicht“, sagt der Kapitän.
„Der Ministerpräsident denkt“ — er imitiert sehr anschaulich einen Ertrinkenden — „wir sind ertrunken.“
„Schreiben?“
„Njet!"
Wie die Deutschen sind sie ohne Verbindung mit der Heimat. Ein russischer Kamerad hat mir von den Japanern erzählt. Er gehörte der Armee an, die Sachalin besetzte. Nach ihrer Kapitulation hat er Kriegsgefangenenlager bewacht.
„Sie lagen auf ihren Pritschen in drei Etagen, ihre Baracken waren noch überfüllter als die unseren. Aber niemals ein lautes Wort; nur ein leises Summen war zu hören, nichts weiter. Sie hungerten damals nicht weniger als wir hier, aber niemand stahl, sie ließen ihr Brot offen auf ihren kleinen Schränkchen liegen. Versuch das mal bei uns! Du wirst dich wundern.
Kaum läßt du das Brot eine Minute aus dem Auge, schon ist es verschwunden.“
Besonders imponierte dem Russen das Fehlen jeder Verwilderung im Umgang mit Frauen.
„Wenn bei uns auf der Straße zum Beispiel eine Frau an einer Kolonne vorübergeht, fallen mindestens zwanzig Bemerkungen, in denen ungefähr alle Schweinereien enthalten sind, die Männer über Frauen sagen können. Der eine spricht über ihre Beine, der andere über das Gesicht, der dritte über den Hintern. Mindestens zehn sagen, daß sie mit ihr schlafen möchten." Er hat recht: in den Gesichtern russischer Frauen liegt immer Abwehr. Sie spüren das offene und ungehemmte Begehren, das sie umgibt, gerade in der Reichweite von Gefangenen. Auf Sachalin das Gegenteil:
Eine Japanerin begegnet einer Kolonne von Gefangenen: Alle verbeugen sich feierlich. Sie ihrerseits verbeugt sich ebenfalls tief. Niemals fällt eine Zote; ihre Erziehung ist besser als die unsere.“
Ich frage den Kapitän, wann er wieder zu seiner Frau zurückfahren wird.
„Woida nada! Krieg ist nötig. Bumm, bumm!“
Er hat seine Lage verstanden.
* Zu Beginn meines Aufenthaltes im Lager 9/10 habe ich wenig Kontakt mit den Russen. Die Deutschen, die Ukrainer und die Balten warnen mich. Es gibt unter ihnen zu viele Spitzel. Auch im Lager sind sie die Repräsentanten der großrussischen Unterdrückung.
Die Russen ihrerseits verhalten sich mir gegenüber ebenfalls zurückhaltend; erst langsam komme ich ins Gespräch mit ihnen. Später erst wird sich herausstellen, daß unter ihnen eine illegale Elite arbeitet, die in ihrer Konspiration nicht schlechter ist als die nationalen Gruppen und in ihrer politischen Zielsetzung differenzierter.
Soldaten und Offiziere
Die Bewachung der Lager ist Verbänden von MWD-Truppen anvertraut. Sie sind rotbemützt und heißen im Lagerjargon die „Roten“, im Gegensatz zu den „Blauen“, die organisatorisch nichts mit ihnen zu tun haben, sondern ausschließlich die innere Lagerverwaltung durchführen. Die „Blauen" sind eine Art von Gefängnisbeamten, die im Lager selbst aus sicherheitstechnischen Gründen stets unbewaffnet sind. Sie haben Offiziere, die im täglichen Kontakt von den Gefangenen beeinflußt werden. Unter ihnen haben die Gefangenen ihre Freunde. Sie sind bei den Widerstandsgruppen genau bekannt. Schon jetzt wissen die Lager, mit wem sie im Ernstfall rechnen können, wer gegen sie sein wird und wer schwankend ist.
Sie wohnen mit ihren Familien in den Dörfern, die das Lager umgeben. In den kurzen Sommermonaten sehen wir ihre Frauen mit blassen und rachitischen Kindern, die mit Höhensonne zu versehen der technische Standard der Sowjetunion nicht ausreicht. In den letzten Jahren haben die Gefangenen für die Offiziersfamilien kleine Wohnungen gebaut, zwei Zimmer mit Küche. In ihnen leben sie mit ihrem bescheidenen Mobiliar, das nie aus mehr besteht als einigen Bettstellen, Kisten und Stühlen. Eines Tages war ich Hilfsarbeiter bei drei Maurern, die den Ofen eines Oberleutnants ausbesserten. Obwohl wir Gefangene waren, bewirtete seine Frau uns nach alter russischer Sitte. Als sie den „Schtschi“ verteilte, reichte ihr Geschirr nicht aus. Sie hatte nur zwei Schüsseln, eine für ihren Mann und eine für sich selbst. Sie leben etwa wie die Arbeiter, die von Marx in seinen Analysen des englischen Frühkapitalismus beschrieben sind.
Die „Roten“ sind kaserniert. Es handelt sich zum Teil um junge Soldaten, die ihre reguläre Dienstzeit abdienen. Das Zahlenverhältnis zwischen Gefangenen und „Roten“ ist etwa 12 : 1. In Workuta selbst befindet sich eine in Bereitschaft liegende Eingreifreserve, von denen Teile bei Fluchtversuchen usw. eingesetzt werden. 1951/52 bauten Gefangene des Jagers 9/10 in der Stadt einen Kasernenkomplex für etwa tausend Soldaten.
Diese militärischen Formationen ist die normale Miliz hinzuzuzählen, die den Sektor der „Freien" in Workuta überwacht. Die Gesamtzahl der Bewaffneten, die den Rayon Workuta gegen Erhebungen und Aufstände sichern, dürfte etwa zwölftausend betragen.
Schwerer zugänglich als die Masse der Soldaten ist die Gruppe der Sergeanten und „Starschi Sergeanten“, deren Schulterstücke die schmalen Querstreifen tragen. Es sind die kleinen Aufpasser über uns wie über ihre eigenen Leute.
Aus ihnen wiederum rekrutieren sich die Offiziere. Mit ihnen haben wir am wenigsten zu tun. Wir sehen sie bei den Revisionen und Kontrollen, die sie über die Sicherheitsmaßnahmen des Lagers ausüben. Zu den Offizieren der „Roten" haben die Gefangenen kaum Kontakt. Es sind ausgewählte Kader; in ihnen liegt die Garantie für die Sicherheit der Lager in Workuta. Hin und wieder werden wir mit einzelnen von ihnen bekannt, wenn sie ihre Dispositionen treffen, einen neuen Wachtturm aufstellen, einen Zaun ausbessern oder das Vorgelände des Lagers von Gestrüpp säubern lassen.
Die Gruppe der „Zuverlässigen“ ist kaserniert. Wenn sie zu ihren Schießständen gehen, um sich im Pistolenschießen zu üben, sehen uns ihre finsteren genormten Gesichter abweisend an. Ebenso wie sie spüren wir, daß es zwischen ihnen und uns keine andere Möglichkeit gibt, als die, zu vernichten oder vernichtet zu werden.
Bei einer morgendlichen Arbeitsverteilung erhält meine Brigade den Befehl, in der „Division" zu arbeiten.
Die „Division“ liegt ungefähr sechshundert Meter vom Lager entfernt. Sie besteht aus einem Block mit den Schlaf-und Aufenthaltsräumen für etwa zweihundertfünfzig Soldaten.
Die Soldaten sind meist jung, den aktiven Jahrgängen angehörend, die hier oben ihre mehrjährige Dienstpflicht leisten. Es sind unkomplizierte Burschen, im Grunde genau so Gefangene der Tundra und Opfer der Kälte wie wir selbst. Der Dienst im Norden kommt einer Verbannung gleich. Ihr Leben besteht aus Wachdienst, Exerzieren und gelegentlichen Besuchen der Kinos in Workuta, zu denen sie in kleinen Kolonnen geführt werden.
Die Gebäude der „Division“ bilden einen Hof, der den Exerzierübungen gewidmet ist. Dort lernen sie, was Rekruten in aller Welt lernen: rechtsum, linksum, Gewehr über, Gewehr ab, ganze Abteilung kehrt, hinlegen, Sprung auf marsch-marsch und grüßen. Sie reagieren mit der Mischung aus Gehorsam und stummer Resistenz, mit der die Rekruten der ganzen Welt auf die Befehle ihrer Sergeanten reagieren.
Von Zeit zu Zeit sehen wir sie kleine Kriegsspiele durchführen; eine Gruppe verteidigt einen der kleinen Bunker, die den Flugplatz Workuta sichern, eine andere erobert ihn im Sturmangriff. Als erster läuft ein „Geroi", ein Held, mit einer kleinen roten Fahne. Ihm folgen die jungen „Muschki" mit lautem „Urreh, urreh". Sie überwältigen die Besatzung des Bunkers und ziehen mit den Gefangenen triumphierend ab. Bei den Schießübungen bauen sie kleine dunkle Scheiben im Schnee auf. Das Peitschen der Schüsse hält in den Gefangenen das Bewußtsein wach, für wen diese Rekruten gedrillt werden. Heute sind Kopfscheiben ihr Ziel, morgen können sie selbst es sein.
Die Frage, wie sich die Soldaten im Kriegsfälle verhalten werden, kehrt in den Gesprächen stets wieder:
„Werden sie auf uns schießen, oder werden sie nicht schießen? Werden sie mit uns gemeinsame Sache machen?“
Die Regierung kennt die Gefahr einer Solidarisierung zwischen Bewachern und Bewachten. Sie verbietet den Soldaten strengstens jede Unterhaltung mit den Gefangenen. Trotzdem kommt es immer wieder bei zahlreichen Anlässen zu Gesprächen, die ein bezeichnendes Licht auf die Mentalität der Soldaten werfen.
Ein gefangener LIkrainer bittet zum Beispiel den Posten um Feuer. Sie sprechen drei Worte miteinander, dann fragt der Gefangene:
„Bist du aus Saporoschje?"
„Natürlich bin ich aus Saporoschje, du auch?"
„Ich habe dort zwölf Jahre gewohnt.“
Es entspinnt sich ein langes Gespräch. Es endet damit, daß der Posten aus Saporoschje dem Gefangenen aus Saporoschje seinen ganzen Machorka-Vorrat in die Hände drückt. Die beiden sprechen fünfmal über „Saporoschje", beim sechsten Male sagt der Soldat:
„Lange werdet ihr nicht mehr sitzen, bald kracht der Laden zusammen." Der Gefangene begreift; dies ist ein historischer Moment. Der Bewacher ist in Wirklichkeit ein Freund. Er tut einige Züge aus seiner Zigarette. Dann fragt er:
„Werdet ihr uns helfen?“
Der Soldat nickt:
„Ja, wir helfen.“
Der Gefangene fragt weiter:
„Seid ihr viele, die helfen werden?“
„Es wird ausreichen.“
So beginnt eine heimliche Zusammenarbeit zwischen den Unterdrückten und denen, die unterdrücken sollen. Die NKWD kann sie daran nicht hindern. Es gibt viele Gespräche und viele Saporoschjes.
Manche von ihnen, ehemalige „Komsomolzen“, sind ablehnend, wenn sie nach Workuta kommen. Ihre Antipathie gegen die Gefangenen jedoch legt sich bald. Sie stellen fest, daß auch Gefangene Menschen sind. Die allgemeine Atmosphäre ihrer Kameraden, die schon jahrelang im Norden sind, überträgt sich auf sie und demoralisiert sie. Nach einem halben Jahr ist der verhetzende Effekt einer jahrzehntelangen politischen Erziehung durch den einfachen Umgang mit den Gefangenen bei vielen aus-
gelöscht.
Es kommt nicht selten vor, daß die Posten auf Außenkommandos Brot und Tabak für die Gefangenen einkaufen. Es ist selbstverständlich, daß sie auch ihren letzten Tabak mit ihnen teilen.
Niemals habe ich erlebt, daß ein Soldat dem Gefangenen die Bitte um Feuer abgeschlagen hat. Häufig kommt es vor, daß die Gefangenen mehr zu rauchen haben als die Soldaten. In solchen Fällen finden sie nichts dabei, Tabak von Gefangenen zu nehmen.
Nur einmal habe ich erlebt, daß ein Gefangener, der sich in der Nähe der „Sapretnaja Sona“ aufhielt, von einem nervösen Posten erschossen wurde.
Lager 6
Eines Nachts, während ich vor meinem Ofen sitze, klopft es ans Fenster der Baracke. Die Türen sind nachts verschlossen, um den Verkehr der Baracken untereinander zu unterbinden und den Illegalen ihre Arbeit zu erschweren. Ein Läufer des Büros nennt meinen Namen und sagt:
„Fertigmachen zur Etappe.“
Die Überführungen von einem Lager in ein anderes werden meist nachts und immer überraschend vorgenommen, wobei die Listen der zu Überführenden bis zum letzten Augenblick sorgfältig geheimgehalten werden. Auf diese Weise will die NKWD ihren Gefangenen die Möglichkeiten einer vorbereiteten Verständigung erschweren. Sie sollen keine Mitteilungen aus einem Lager in ein anderes mitnehmen.
Die Reisevorbereitungen nehmen nur zwei Minuten in Anspruch. Ich rolle meinen Strohsack zusammen, binde die Decke mit einer Schnur auf ihm fest und stecke den Löffel in die Tasche. Das ist alles. Nach einer halben Stunde wird die Tür von einem Soldaten aufgeschlossen. Ich verabschiede mich von meinen Bekannten. In der „Banja“ warten schon fünfzig Kameraden. Wir werden durchsucht und anschließend zum Lager-tor gebracht. Dort warten Lastautos. Wir klettern hinauf. Drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Konvois bewachen uns. In der fahlen Dämmerung der Polarnacht rollt das Auto über die langsam ansteigende „Awtostrada“ (Autostraße), der Stadt entgegen.
Mehr als anderthalb Jahre habe ich diese Stadt nicht mehr gesehen. An der Peripherie stehen die großen Bauten der Jahre 1951 und 1952. Workuta ist rapide gewachsen.
Der Wagen nimmt die Straße, die zu den Schächten der nördlichen Rayons führt. Rechts liegt der „Cholodilnik", den unser Lager gebaut hat, ein Riesenkühlhaus mit sechs Etagen, in dem Platz ist für den Inhalt mehrerer Güterzüge. Niemand weiß, was in diesem Kühlhaus eingelagert wird. Lebensmittelvorräte für den Kriegsfall? Auf dem riesigen, von gigantischen, auf fünfundzwanzig Meter hohen Masten montierten Reflektoren erleuchteten Verschiebebahnhof strömen die Waggons mit Kohle aus allen Schächten Workutas zusammen.
Dann fahren wir an den Lagern vorüber, die den alten Gefangenen bekannt sind: Schacht 3, „Sangorodok“, und Frauen-Lager „Predschachtnaja“. Schließlich biegen die Wagen zu einem Lager ab, das etwa vierhundert Meter von der Straße entfernt liegt. Vor der Wache verstummen die Motoren. Aus dem nahen Schacht schiebt sich eine Kolonne Gefangener heran. Ich sehe Gesichter von Bekannten, die früher im Schacht 9/10 waren. Wir stehen vor dem Lager des Schachtes 6.
Wir werden ausgeladen und in die „Banja“ geführt. Nach dem Baden landen wir in einer großen Baracke, die vollkommen leer ist und in der wir uns bequem niederlassen können.
Während wir in der „Banja“ waren, ist hier eine Etappe ausgezogen, die mit dem gleichen Lastwagen, mit dem wir gekommen sind, zum Schacht 9/10 zurückfährt. Sie haben Invalide gebracht und nehmen Gefangene der mittleren Arbeitskategorie zurück.
Die Zahl der Invaliden differiert in den einzelnen Lagern. Im Lager des Schachtes 6 waren Ende 1953 unter einer Belegschaft von dreitausendfünfhundert Gefangenen etwa siebenhundert Invalide, die als Arbeitskräfte für den Produktionsprozeß nicht mehr in Frage kamen.
Man muß diese Armee des Elends gesehen haben! Körperlich ruiniert durch Jahre und Jahrzehnte einer Haft unter barbarischen Bedingungen, schlecht bekleidet, zahnlos, in überfüllten Baracken zusammengepfercht, tuberkulös, herzkrank, fast sämtlich unter hohem Blutdruck leidend, der charakteristischen Krankheit des Nordens. Jede Woche werden einige von ihnen in der Tundra verscharrt. Die ältesten unter ihnen sind siebzig bis achtzig Jahre alt; sie sind die Überlebenden von Hunderttausenden, die während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren in Workuta krepiert sind. Die Invaliden sind für dieses Regime nicht mehr gefährlich. Sie sind alt und krank. Sie haben nur noch den einen Wunsch, vor ihrem Tode noch einmal ihre Angehörigen zu sehen. Fast jeder von ihnen hat eine Familie, eine Frau, Söhne, Töchter oder Enkelkinder. Von ihnen würde er ausgenommen werden. Die sowjetische Regierung brauchte diese Unglücklichen nur zu entlassen. Mit der Entlassung wäre sie sogar in den meisten Fällen der Verpflichtung enthoben, Geld für die Verpflegung Unproduktiver auszugeben. Aber sie entläßt niemanden! Warum eigentlich? Ich erinnere mich einer kurzen Bemerkung, die im Jahre 1946 ein sowjetischer Offizier des Sicherheitsdienstes machte, als ich ihn fragte, ob es notwendig sei, in der deutschen Ostzone in so großem Umfang Verhaftungen vorzunehmen.
„Ich wundere mich über Ihre Frage“, sagte er. „Wissen Sie nicht, daß wir, bei uns wie bei Ihnen, diese ganze alte Generation vernichten müssen, wenn wir den Kommunismus aufbauen wollen?“
Die einzige Arbeit der Invaliden besteht darin, einander zu begraben.
Eines Tages bin ich einer Beerdigung zugeteilt. Die Brigade besteht aus fünfzehn Invaliden, drei Konvois und der Leiche. Der Tote erwartet sein Begräbnis in einer Holzkiste hinter einem kleinen Schuppen des „Santschasti“. Man hat ihn seziert. Diese Sektion ist der Ersatz für eine Prozedur, die früher allgemein in den Lagern üblich war. Damals starben täglich zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig und mehr Menschen. Wenn sie am Morgen auf ihren Schlitten an der Wache erschienen, die Füße nach der einen Seite, die Köpfe nach der anderen, so war es für den wachhabenden Offizier unmöglich, jeden einzelnen auf seinen wirklichen Tod hin zu prüfen. Die Wachtposten bedienten sich deshalb eines ebenso einfachen wie wirksamen Verfahrens. Sie schlugen mit einem schweren Hammer jedem Toten den Schädel ein. Wer nicht tot war, wurde dort ein Toter.
Heute sind die Wachen höflicher. Wenn der Sarg auf den Schultern von sechs Gefangenen an der Wache erscheint, wissen sie, daß er eine Leiche enthält. Trotzdem überzeugen sie sich, wenn auch ohne Hammer. Der Sargdeckel ist offen; sie sehen die Zeichen der Sektion. Erst wenn die Posten den Toten inspiziert haben, darf der Sarg zugenagelt werden. Die Beerdigungen finden statt ohne Rücksicht auf Kälte oder Schneesturm. Die Lagerordnung enthält einen Befehl, daß jeder gestorbene Gefangene binnen vierundzwanzig Stunden zu beerdigen ist.
Wie jene Prozedur mit dem Hammer, so entstand dieser Befehl in der gleichen Zeit, in der die lebenden Gefangenen versuchten, ihre Toten in der Baracke zu belassen, um deren Rationen so lange als möglich mitzuempfangen. Manchmal, erzählen die Alten, stanken sie schon, wenn sie abgeholt wurden.
Das Lagertor schließt sich hinter uns.
„Wperjod, vorwärts“, sagt der diensthabende Sergeant. Wir stapfen durch den Schnee zwischen Stacheldraht und den Hütten der „Freien“. Der „Friedhof“ liegt etwa sechshundert Meter vom Lager entfernt. Mitten in der Tundra werden Löcher gegraben. Der Sarg wird ohne Zeremonien hineingeworfen. Ein Gebet wird nicht verrichtet, das Endender Prozedur und der Abschied an den Toten ist ein „Job twoju matj, damoi!", der geläufige russische Fluch mit dem Zusatz „nach Hause“.
An diesem Morgen ist es besonders kalt. Die Kolonne arbeitet sich durch hohe Schneelawinen. Am Friedhof sind alle erschöpft. Man macht eine Pause, man will rauchen. Soldaten und Wachtposten drehen sich Zigaretten. Aber der Zufall will es, daß niemand über Streichhölzer verfügt. Man ist verzweifelt. Was tun? Schließlich empfiehlt ein Gefangener, aus Watte Feuer zu reiben, eine Technik, die fast alle Russen beherrschen. Jemand zerrt aus seinem „Buschlat" eine Handvoll Watte und dreht sie zu einer fingerdicken Rolle zusammen. Aber man braucht eine Unterlage, auf der die Watte gerollt wird, und ein Brett, mit dem sie gerollt wird. Beides fehlt. In der Tundra kann keine Watte gerollt werden. Aber da gibt es den Sarg, dessen Deckel eine ausgezeichnete Unterlage bildet. Freunde des Toten haben dem Kommando ein Kreuz mitgegeben. Das Kreuz wird mit Hilfe einer Hacke demontiert. Sein Querbalken ersetzt das Brett. Ein Russe reibt die Watte, ein anderer sagt tröstend zu dem Toten:
„Brauchst keine Angst zu haben, Batja, wir wollen auf deinem Sarg nur ein bißchen Feuer machen.“
Und ein anderer fügt hinzu:
„Wenn er bei uns wäre und statt seiner einer von uns im Sarg, dann würde er auch rauchen wollen.“
Nach zwei Minuten qualmt die Watte, die Raucher sind zufrieden. Ein Teil des Kommandos beginnt, daß Grab auszuheben. Der Boden ist hart. Der Zufall will es, daß zwei große Felssteine mitten im Bezirk des Grabes liegen, die die Arbeit verzögern. Das Kommando friert. Man wechselt einander ab bei der Arbeit, nicht aus Fleiß, sondern um sich zu erwärmen. Schließlich sagt ein Gefangener:
„Es wäre gut, ein Feuerchen zu machen.“
Niemand hat. etwas dagegen. Mit einer Hacke wird das Kreuz in Stücke und Späne zertrümmert. Für einen Europäer würde es unmöglich sein, aus einer brennenden Zigarette Feuer anzublasen, für die Russen aber ist das kein Problem. Nach zehn Minuten brennt ein „Feuerchen“, um das die Gefangenen abwechselnd hocken, um sich die Hände zu wärmen. Nach drei Stunden ist das Grab auf der vorschriftsmäßigen Tiefe. Der Sarg fällt mit einem dumpfen Knall hinein.
„So, , Batja', nun hast du Ruhe, brauchst dich nicht mehr über deinen Brigadier zu ärgern."
Sie haben es eilig, in die wärmenden Baracken des Lagers zurückzukommen. •
Jedes Lager hat seine spezifische Atmosphäre, die in den einzelnen Lagern außerordentlich verschieden sein kann. Sie ist vesentlich abhängig von der Zusammensetzung der Gefangenen. Der Schacht 9/10 zum Beispiel besteht zu etwa 40% aus sogenannten „Katorschane“, das sind Gefangene, die vom Gericht ausdrücklich zu „Katorga", zu Zuchthaus, verurteilt worden sind. Sie tragen ihre Nummer auf dem Rücken statt auf dem Ärmel, sind zumeist in den Jahren 1943 bis 1947 verurteilt und gehörten zu den Überlebenden einer Gefangenenarmee von Hundert-tausenden, die damals infolge der unzulänglichen Lebensbedingungen in Workuta untergegangen ist. Zum großen Teil sind es Menschen, die sich durch einen besonders hohen Grad der Vitalität auszeichnen: sie sind am Leben geblieben, weil sie zäh und hart waren. Das Leben der vergangenen Jahre hat sie brutalisiert; Rücksichtslosigkeit und Härte, auch in persönlichen Dingen, sind für sie bezeichnend.
Die Lager, die einen größeren Anteil von „Katorschane“ haben, sind von Seiten des MGB besonders gesichert. Sie haben eine strengere innere Lagerdisziplin, einen größeren Spitzelapparat und ein dichteres äußeres Bewachungssystem, das sich schon in der Zahl der Postentürme ausdrückt.
Im Schacht 6 befinden sich nur „Sakljutschonnije“, das heißt, normale Lagergefangene. Die Atmosphäre hier ist verhältnismäßig zivil und friedlich. Während zum Beispiel im Schacht 9/10 Schlägereien zwischen den Gefangenen bei geringfügigen Anlässen, zum Beispiel wegen eines Tisch-platzes im Speisesaal, eines Schemels oder einer Schlafstelle nicht selten sind, pflegt es im Schacht 6 kaum solche Zwischenfälle zu geben. Die Seitenlängen des Lagerzauns betragen sechshundert Meter, das Lager ist nur von vier Türmen gesichert, zusätzlich hat die Wache ihren üblichen eigenen Turm.
Die deutsche Kolonie gleicht in ihrer zahlenmäßigen und politischen Zusammensetzung etwa der des Schachts 9/10. Es gibt einige Prominente: da ist der frühere Justitiar der Opelwerke, Vertreter der General-Motors in Deutschland während des Krieges, Heinrich Richter; der ehemalige I c beim Militärbefehlshaber in Frankreich, Dr. Leo, ein Rechtsanwalt aus Leipzig, der sich entsprechend der Traditionen seiner Heimatstadt mit Buchbinderei in der Lagerbibliothek beschäftigt; ein Berliner Anwalt, Dr. Vogel, der als Jurist im Stabe von Admiral Canaris tätig war und dafür acht Jahre erhalten hat, das Minimum für Unschuldige. Er wird im Mai 195 3 vor den Stacheldraht entlassen. Die NKWD erlaubt ihm weder in Workuta zu leben, wo er sich als Chauffeur, Friseur oder Nachtwächter hätte durchbringen können, noch etwa als Weichenwärter der Eisenbahn tätig zu sein. Als Angehöriger des Geheimdienstes, mit dem er als Jurist nichts zu tun hatte, wird er weder mit der Berija-Etappe im Juni 1953 noch auch mit der Dezember-Etappe nach Deutschland entlassen. In der Freiheit ist seine materielle Situation sehr viel schwieriger als hinter dem Stacheldraht. Eine soziale Fürsorge für „gesellschaftlich nicht produktive Elemente“ existiert nur auf dem Papier. Ohne Familie ist er den Widerwärtigkeiten des sowjetischen Lebens in vollem Umfange ausgeliefert.
Wieder finde ich einige Verurteilte aus dem Sachsenhausen-Prozeß, einige Sozialdemokraten und zwei ehemalige Kommunisten.
Die beiden Kommunisten sind aus der Prominenz der alten KPD.
Als Dimitroff im'März 193 3 verhaftet wird, findet die Polizei in seinen Papieren Quittungen über hohe Summen, die mit dem Decknamen „Bruno“ unterzeichnet sind. Dimitroff hat diesen „Bruno“ in der Untersuchung nicht preisgegeben. Der einzige Zeuge, der die Zusammenhänge kennt, schweigt ebenfalls. Während das Reichsgericht sich vergeblich bemüht, den Komplex „Bruno“ zu klären, schafft der gleiche „Bruno“ das Material über den Reichstagsbrandprozeß nach Paris, in eine der damaligen Zentralen der kommunistischen deutschen Emigration. Einige Zeit darauf erscheint das Braunbuch.
Hinter „Bruno“ verbirgt sich der Sohn einer alten Köpenicker Sozialistenfamilie. Sein wirklicher Name ist Franz Gribowski. Der Vater ist Sozialdemokrat, der Sohn wird Kommunist. Nach Abschluß seines Studiums arbeitet er als Ingenieur im Außendienst großer deutscher Elektrofirmen. Niemand weiß, daß diese Tätigkeit nur die Tarnung ist für eine ausgedehnte Arbeit im Dienst der Komintern.
Im Rahmen dieser Tätigkeit erhält er im Januar 193 3 den Auftrag, größere Summen, Zuschüsse an die kommunistische Partei Bulgariens aus den geheimen Fonds der Komintern, nach Sofia zu transportieren. Er empfängt das Geld von Dimitroff und stellt eine Quittung aus, die er mit seinem Parteinamen „Bruno“ unterzeichnet.
Im Herbst 193 3 hat Wilhelm Pieck eine sichere Zuflucht in Saarbrücken gefunden. 1934 geht er nach Brüssel. Gribowski arbeitet als Kurier zwischen den noch in Deutschland tätigen illegalen Gruppen der KPD und dem emigrierten Zentralkomitee. Die illegale Arbeit ist ihm vertraut. Der militärische Apparat der KPD, dem er mehr als zehn Jahre angehört hat, war schon zur Zeit der Weimarer Republik sorgfältig getarnt und brauchte nach der Machtergreifung Hitlers nicht erst auf die Illegalität umgestellt zu werden. 1934 wird Gribowski aufgefordert, Deutschland zu verlassen und ins Ausland überzusiedeln. Er lehnt es ab, sich in Sicherheit zu brin-gen. Er hat die hoffnungslose Atmosphäre der kommunistischen Emigration kennengelernt, ihre Intrigen, die durch nichts gerechtfertigte Arroganz ihrer Führung und die Borniertheit ihrer politischen Analysen. Er zieht es vor, an der illegalen Front in Deutschland zu arbeiten.
Als die Gestapo dann im Jahre 193 5 in Solingen eine Geheimdruckerei aushebt, in der die illegale „Rote Fahne“ hergestellt wird, verhaftet sie auch Gribowski. Sie stellt fest, daß er Mitglied des Zentralkomitees der KPD gewesen ist, aber es gelingt Gribowski, den gesamten Komplex seiner-militärischen Geheimarbeit zu verbergen. Er verbüßt einige Jahre Zuchthaus und wird anschließend in ein Konzentrationslager übergeführt.
Er hat Zeit, über die Politik des Kreml in Deutschland nachzudenken, eine Politik unfähiger und verantwortungsloser Bürokraten, die nichts versäumt haben, um durch die Dummheiten ihrer „Generallinie“ die Zusammenarbeit der Arbeiterparteien unmöglich zu machen, die Voraussetzungen für die Erhaltung der Republik zu zerstören und schließlich Hitler in den Sattel zu helfen. Er begreift, daß die Arbeit „idealistischer“
Mitglieder zynisch mißbraucht worden und dem Kreml nichts gleichgültiger ist als das soziale Schicksal der deutschen Arbeiterschaft.
1941 wird Gribowski entlassen. Er kehrt nach Köpenick zurück und lebt dort unter Gestapo-Aufsicht. Hier erlebt er den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“. Und was ihm an drastischer Anschauung des sowjetischen „Marxismus“ noch fehlte, wird ihm von der „Roten Armee“ überzeugend und klassisch demonstriert.
In Köpenick entdecken ihn alte Freunde, die unversehrt und ausgeruht aus der Moskauer Emigration zurückkehren. Die Kader der Partei sind schwach, es fehlt an Menschen. Wilhelm Pieck läßt seinen alten Genossen kommen und bietet ihm eine führende Position in der politischen Polizei, der damaligen Keimzelle des heutigen Staatssicherheitsdienstes. Gribowski lehnt ab. Er entschuldigt sich mit Krankheit. Wilhelm Pieck bietet ihm einen Aufenthalt in einem Sanatorium der Krim. Gribowski hat Ausflüchte. Schließlich begreift Pieck, daß die Krankheit eine politische Ursache hat. Bis zur Verhaftung durch die MGB vergehen noch einige Wochen. Dann wird Gribowski im Flugzeug nach Moskau gebracht. Hier folgen die üblichen Jahre Lubjanka. 1950 taucht er im Lager des Schachtes 7 von Workuta auf, verurteilt zu der obligaten „Norm“ von fünfundzwanzig Jahren. 1952 wird er in das Lager des Schachtes 6 übergeführt.
Dort lebt er im Ghetto der Invaliden, in einer der ältesten Baracken des Lagers. Sie ist überfüllt mit arbeitsunfähigen Häftlingen, die nur noch eine Aussicht vor sich haben: das Grab in der Tundra.
* Der Gegentypus ist ein hoher Funktionär der Gestapo, ein Mann mit dunkler Vergangenheit. In den Jahren nach 193 3 hat er eine Gestapo-Schule absolviert und dort Arabisch gelernt. Noch vor dem Kriege geht er nach Marokko und verheiratet sich mit einer Maurin. Nach Ausbruch des Krieges beginnt er eine subversive Tätigkeit im Rücken der englischen Armeen. Die Engländer setzen einen Preis auf seinen Kopf und verurteilen ihn angeblich in Abwesenheit zum Tode. Tatsache ist, daß er sich nach der Kapitulation in die Ostzone begibt, weil er Veranlassung hat/den westlichen Alliierten aus dem Wege zu gehen. Die Sowjets erwischen ihn und geben ihm, da er nie gegen sie gearbeitet hat, nur fünfzehn Jahre.
Er simuliert Epilepsie; in den acht Jahren, die er sich in den Händen der NKWD befindet, hat er nicht einen Tag gearbeitet. Das Gesicht ist von kalter, grausamer Schönheit, seine Psyche jenseits der Grenzen des Normalen. Seine Rolle ist ausgespielt. Was ihm bleibt, sind Erinnerungen an eine Zeit, von der er nicht glauben kann, daß sie nie wiederkehrt. Er lebt noch im Dritten Reich, und seine Träume gehen in die Jahre zurück, in denen er vom „Führer“ empfangen wurde.
* Am Nachmittag erscheint Serjoscha und sagt mir:
„Ich bin heute untersucht worden.“
„Mit welchem Resultat?“
„Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich stehe auf der Liste für TEZ.“
Das ist schlecht! TEZ, Baustelle eines neuen riesigen Elektrizitätswerkes, ist eines der übelsten Lager von Workuta. Kleine, überbelegte Baracken, kein Lazarett, kein Magazin, schwerste Bau-und Erdarbeiten, schlechte Verpflegung, Skorbut.
Wir müssen genau wissen, was mit Serjoscha los ist. Er hat noch dreißig Rubel, ich selber besitze noch zwanzig. Ich gehe zum Chef des Arbeitsbüros, einem Gefangenen, und drücke ihm fünfzig Rubel „Lapa" (Trinkgeld) in die Hand.
„Was ist mit Serjoscha, geht er auf Etappe oder nicht?“
Der Chef blättert in einer Liste.
„Er geht morgen zum TEZ.“
„Können Sie veranlassen, daß er hier bleibt? Ich zahle Ihnen dafür hundert Rubel!“
„Das ist nicht möglich! Die Liste ist vom , Natschalnik Olpa‘ bereits unterschrieben. Ich kann nichts mehr ändern.“
„Was empfehlen Sie zu tun?“
„Es gibt nur eine Möglichkeit: er muß ins Lazarett. Wenn er morgen transportunfähig im Stationar liegt, bleibt er zurück und wird von der Liste gestrichen.“ , Ich verabschiede mich und erzähle die ganze Sache Serjoscha.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ins Stationar zu kommen. Ich kann ihm das Wadenbein brechen, das ist eine sichere und harmlose Sache, aber sie ist zu schmerzhaft. Man könnte Milch injizieren, um Fieber zu erzeugen. Aber das ist mit technischen Schwierigkeiten verbunden: Spritze besorgen, Milch suchen. Außerdem ist in einer Stunde schon „Powerka". Dann schließen sie die Baracken ab, und man kann nicht mehr heraus Wir überlegen. Schließlich frage ich Serjoscha:
„Glaubst du, daß du einen Schlaganfall spielen kannst?“
„Was muß ich da tun?“
„Ich werde dir alles genau erklären!“
„Wird es Erfolg haben?“
„Wenn du alles machst, was ich dir sage — sicher. Außerdem werden sie dich später invalidisieren,“
„Gut, ich werde versuchen.“
Die „Powerka“ geht vorüber. Um zehn Uhr liegt die Baracke im Schlaf. Ich wecke Serjoscha. Wir setzen uns in die „Suschilka", und ich beginne, ihm ein Privatissimum über Apoplexie zu halten. Ich fange an mit einer kurzen Übersicht über Anatomie und Phsyiologie des Gehirns. Dann erkläre ich ihm das Wesen des apoplektischen Insultes, beginnend mit einer populären Pathogenese. Er stellt zahlreiche Zwischenfragen. Wir schweifen ab, um schließlich bei der Symptomatologie zu landen: Bewußtseinsverlust, röchelndes Atmen, Speichelfluß, Incontinentia. Ich erkläre ihm die Deviation conjugee der Augen und die schlaffen Lähmungen der Extremitäten. Serjoscha begreift alles. Gegen ein Uhr nachts beginnen wir mit den Proben. Serjoscha legt sich auf eine große Kiste und spielt Schlaganfall. Dazu röchelt er vorzüglich. Ich korrigiere seine Fehler. Wir arbeiten systematisch die ganze Nacht. Morgens gegen vier beherrscht er das Arsenal der Symptome. Dann braue ich einen Tee aus drei Litern Wasser und 25 Gramm Tee. Bis fünf Uhr hat Serjoscha den Tee getrunken. Er wird reichlich Wasser lassen. Eine Viertelstunde später winkt er mich an seinen Strohsack:
„Was soll ich machen? Meine Blase platzt gleich.“
„Kannst du dir das Pissen nicht noch eine Viertelstunde verkneifen?“ — „Ausgeschlossen!“
Er hängt sich seinen „Buschlat" um und geht austreten. Um halb sechs, nachdem die ersten Leute der Nachtschicht zurückgekommen sind, fasse ich ihn an seinem großen Zeh und gebe das verabredete Signal zum Aufstehen. Dann verlasse ich die Baracke, um Holz zu holen und ihm das Spiel seines Zusammenbruchs zu erleichtern. Als ich nach zehn Minuten zurückkehre, liegt er auf dem Strohsack von Wolodja und röchelt grauenerregend. Seine Augen sind fast geschlossen, die Lippen verzogen. Schaumiger Speichel dringt aus den Mundwinkeln. Einige Leute, die eben aus der Nachtschicht zurückgekommen sind, erzählen aufgeregt: Serjoscha ist aufgestanden, offenbar, um auszutreten. Dann ist er plötzlich unter der Lampe zusammengebrochen. Der Nachtfeldscher ist schon benachrichtigt. Ich beuge mich über Serjoscha und fühle seinen Puls. Er liegt um 140 herum. Ich murmele: „Gut! Mach weiter so!“
Und ich ziehe midi zurück, um meine Öfen zu kontrollieren.
Der Nachtfeldscher erscheint, fühlt ebenfalls den Puls und setzt eine bedenkliche Miene auf. Serjoschas Penis hängt aus der Unterhose. Plötzlieh beginnt er Wasser zu lassen. Der Strahl, ein Symptom von äußerster Bedenklichkeit, benetzt die Wattehose des Feldsdiers. Es ist erstaunlich, was eine menschliche Niere in kurzer Zeit leistet. Serjoscha, der sich eben erst entleert hat, gibt schon wieder einen halben Liter Wasser von sich. Er röchelt wie ein Sterbender. Der Feldscher läßt den diensthabenden Arzt holen. Das dauert zehn Minuten. In dieser Zeit sammelt Serjoscha weiter Lirin, und als der Arzt erscheint, reicht der neue Vorrat aus, auch die Wattehose des Arztes zu besprengen. Das Röcheln verfehlt seinen Eindruck nicht, der Lirin tut ein übriges. Auf einem Schlitten wird eine Bahre gebracht. Die sowjetischen Jünger des Hippokrates heben den halb-seitig gelähmten Serjoscha vorschriftsmäßig hoch und betten ihn auf den Schlitten. Als sie draußen sind, kommt Wolodja von der Nachtschicht, der Besitzer des Strohsacks, den Serjoscha eingenäßt hat, und beginnt zu schimpfen.
„Du Hurenfritz, warum hast du ihn auf meine Matratze gelegt?“
„Mich geht die Sache gar nichts an“, sage ich. „Als er umfiel, war ich gar nicht in der Baracke."
„Warum regst du dich auf, Wolodja“, sagt ein Llkrainer, „in vier Wochen ist die Matratze bestimmt wieder trocken.“
Die anderen lachen. Alle wissen, daß Wolodja ein Spitzel ist. Sie gönnen ihm die bepißte Matratze.
Der Feldscher kommt zurück.
„Jemand muß noch helfen. Zu zweit kommen wir nicht durch.“
In der Nacht war „Purga“. Die Lagerstraßen sind unter Schneelawinen begraben. Erst nach sechs Uhr werden die Räumkommandos mit ihrer Arbeit beginnen. Wir wühlen uns mühsam durch drei riesige Schneewehen. Vor der Krankenbaracke sind wir in Schweiß gebadet. Arzt und Feldscher verschwinden in der Tür, um den Chef des Stationars zu wecken. Ich bleibe mit Serjoscha, der, Nase und Augen ausgenommen, vollständig unter Decken begraben ist, allein zurück.
„Du weißt, Serjoscha“, sage ich, „daß ich alles für dich getan habe. Daß ich dich aber selber noch ins Stationar habe bringen müssen, werde ich dir nicht vergeben.“
Serjoscha öffnet ein Auge, unterbricht sein Röcheln kurz und antwortet mit schiefem Mund:
„Du scheinst zu vergessen, daß ich dem Tode nahe bin."
Dann erscheint der Feldscher mit drei Sanitätern, die Serjoscha in das Stationar tragen. Ich kämpfe mich durch den Schnee in meine Baracke zurück.
Am Abend erzählt mir der Feldscher den weiteren Verlauf des Schlaganfalls. Zunächst hat man Serjoscha noch zwei Stunden in der „Ordinatorskaja", dem Behandlungszimmer, liegen lassen, weil er fast ununterbrochen urinierte. Dann wird er in eine „Palata“ gelegt, in die Ecke für Schwerkranke. Sein Zustand ist bedenklich. Er kann weder sprechen noch schlucken. Wenn die Ärzte ihn etwas fragen, lallt er kloßig vor sich hin. Da man befürchtet, daß der Flüssigkeitsmangel seinen Zustand verschlechtern könnte, macht man ihm Nährklistiere mit Glukose. Später erzählt mir Serjoscha, daß die Nährklistiere das Schlimmste an der ganzen Sache waren.
„Du weißt, wie gern ich Zucker esse. Lind ausgerechnet mir gießen sie jeden Tag dreimal einen halben Liter Zuckerwasser in den Arsch, wo ich keine Möglichkeit habe, was davon zu schmecken.“
Serjoschas Nachbar im Stationar ist ein Chinese, zuverlässig wie alle Chinesen in den Lagern. Er ist der Freund meines Freundes Ho-Tsching, der in meiner Baracke wohnt. Ich spreche mit Ho-Tsching; Ho-Tsching spricht mit seinem „Semljak", seinem Landsmann. Dann begebe ich mich abends an das Fensterchen der „Ubornaja" des Stationars. Der Chinese erscheint und flüstert:
„Alles geht gut.“
Ich antworte ihm:
„Sag ihm: heute und morgen nichts essen. Übermorgen ein wenig Milch. Nicht sprechen. Urin weiter auf die Matratze lassen.“
Am dritten Tag gestatte ich ihm zwei „Kruschki“ Milch. Dann eine Woche lang Milch in größeren Mengen. Nach acht Tagen beginnt er „Mannaja Kascha“ (Grießbrei) zu schlucken. Die ersten Vokale kommen wieder, unartikulierte erste Konsonanten folgen. Dann der erste, noch gestammelte und undeutliche Satz, der die Runde durch alle Stationare macht:
„Ja chotschu schitj. Ich will leben.“
Er wird leben. Die Chefs des „Santschastj" sind stolz auf die Erfolge ihrer Therapie. Als es ihm besser geht, legen sie ihn in eine kleine „Palata“ mit echten Apoplexie-Patienten. Was Serjoscha an Erfahrung fehlt, lernt er dort schnell und gründlich. Er hat genial gespielt.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meiner ärztlichen Praxis einen Schlaganfall gesehen zu haben, dessen Symptome so klassisch waren, wie die Serjoschas. — Einige Wochen später starb Stalin an einem nicht simulierten Schlaganfall.
Die Widerstandsgruppen
Bevor ich das Lager 9/10 verließ, hatte ich ein letztes kurzes Gespräch mit einem meiner russischen Freunde. Es war ein hastiger Abschied, wie jeder Abschied im Lager. In zwei Minuten verliert man Menschen, die einem näher stehen als Bruder und Schwester. Mein Freund sagte nur wenige Sätze:
„Es ist schade, daß wir dich verlieren. Wenn du willst, kannst du in dem Lager, in das du heute gehst, mit den dortigen Leuten weiterarbeiten. Du kannst ihnen viel nützen. Bist du einverstanden?“
„Ja.“
„Gut. Heute ist der 9. Dezember. Am 20. Dezember, abends um sechs Llhr, wartest du im Vorraum der Stolowaja. Jemand wird dich um Feuer für seine Zigarette bitten und dir eine Papyros anbieten. Du wirst antworten: Ich bin Nichtraucher. Der dich um Feuer bittet, ist dein Verbindungsmann; mit ihm wirst du arbeiten. Wenn am 20. Dezember niemand kommt oder wenn du selber verhindert bist, gehst du zwei Tage später noch einmal. Wenn wieder nichts ist, zwei Tage später das letzte Mal.“
Ich begreife: unter den fünfzig Menschen meiner Etappe befinden sich Mitglieder der illegalen russischen Gruppe. Ich kenne sie nicht und werde sie nicht kennenlernen. Sie überbringen diese Verabredung. Sie ist nur ein Vorschlag, den die Leute im neuen Lager nicht zu akzeptieren brauchen. Die zehn Tage zwischen meinem Eintreffen und der ersten Verabredung werden sie benutzen, um mich zu inspizieren und Informationen über mich einzuholen. Wenn ich ihnen nicht zusage, wird niemand zu dieser Verabredung erscheinen.
Am 20. Dezember stehe ich zur verabredeten Zeit im Vorraum der „Stolowaja“. Pünktlich um sechs Llhr tritt ein Russe herein. Er zählt vielleicht dreißig Jahre. Sein ruhiges, energisches Gesicht ist von typisch slawischer Prägung. Schon bevor er mich anspricht, weiß ich, daß er der Mann ist, mit dem ich arbeiten werde.
„Darf ich Sie um Feuer bitten?“
Er hält mir eine Papyros hin, ich sage die vereinbarte Antwort.
Er lächelt mich kurz an, zieht Streichhölzer hervor, zündet sich seine Zigarette an und sagt:
„Gehen wir.“
* Existenz und Arbeit zahlreicher illegaler Organisationen in den Regimelagern von Workuta sind für den Europäer, der sich das Vertrauen seiner neuen Kameraden erwirbt, vielleicht das erstaunlichste Phänomen. Alle Gruppen sind auf nationaler Basis aufgebaut. Denn nur die Angehörigen der eigenen Nation kennen sich so gut, daß sie zu beurteilen vermögen, ob bei einem Gefangenen die charakterlichen und politischen Voraussetzungen für die konspirative Arbeit gegeben sind. Im allgemeinen pflegt sich in diesen Gruppen die menschliche und politische Elite einer Nation zusammenzuschließen.
Die Gruppen sind Kaderorganisationen, zahlenmäßig mit Absicht schwach gehalten, um der Lager-NKWD möglichst wenig Anhaltspunkte zur Gegenarbeit zu bieten. Ihre Arbeit liegt auf politischem, informatorischem, sozialem und militärischem Gebiet.
Grundsätzlich ist sie mit der Arbeit vergleichbar, die von den illegalen Gruppen in den deutschen Konzentrationslagern 1933— 1945 geleistet worden ist, und die in ihrem tatsächlichen Umfang vor den aufsehen-erregenden Veröffentlichungen nach der Kapitulation Deutschlands vollkommen unbekannt war. Politisch ist es eine Arbeit mit umgekehrtem Vorzeichen: in den Lagern der Gestapo waren die Kommunisten an der Organisation der Gruppen wesentlich beteiligt, in den Lagern Workutas sind sie selber die Gastgeber. Die Zusammensetzung der Gefangenen in den deutschen Lagern war für die illegale Arbeit günstiger, weil der Prozentsatz an politisch bewußten und zur Aktivität bereiten Häftlingen größer war. Während des Krieges saß in den Lagern außer der deutschen innenpolitischen Opposition die Resistance aus zahlreichen Ländern Europas, in allen ihren nationalen und politischen Varianten eine Elite von hoher Qualifikation. In Workuta ist der Prozentsatz politisch bewußter Gefangener geringer; die politische Intelligenz ist zahlenmäßig schwächer. Zahlreiche Gefangene sind infolge der Abstumpfung durch die ermüdenden körperlichen Anstrengungen ungeeignet für eine politische Arbeit, die einen wachen Geist und eine ungebrochene seelische Spannkraft erfordert.
Wie sieht die praktische Arbeit aus?
In der nationalen Gruppe eines Lagers zum Beispiel ist der Sektor „Informationen“ einem ehemaligen Rechtsanwalt übertragen. Er ist Invalide. Als „Dnewalnij" einer Baracke verfügt er über genügend freie Zeit, aus Rundfunk und Presse politisches Nachrichtenmaterial zu sammeln und auszuwerten. Er liest nicht nur „Sa nowij sewer“ („Für den neuen Norden“), das in der Hauptstadt Syktywkar erscheinende Heimat-blatt der Komirepublik, nicht nur die „Prawda“ und „Iswestija", die „Komsomolskaja Prawda“, sondern auch die politischen Journale wie „Nowoje Wremja" („Neue Zeit“), den „Bolschewik" oder die „Literaturnaja Gaseta“ und andere Zeitschriften, die nur in die Lagerbibliothek gelangen und allgemein kaum zugänglich sind.
Er gibt in regelmäßigen Abständen Informationen und Kommentare, die in engem Kreis diskutiert werden und darüber hinaus in die politisch interessierte Lagerintelligenz gelangen. Er hat genügend politische Erfahrung, um den offiziellen Mitteilungen auch die Informationen zu entnehmen, die zwischen den Zeilen stehen, und er ist bemüht, seine Landsleute über die Entwicklung der innersowjetischen Situation ebenso wie der internationalen Lage zu unterrichten.
Außerdem wird versucht, Informationen aus den Übertragungen in russischer Sprache zu erhalten, die von den westlichen Radiostationen gesendet werden. Auch das ist in fast allen Lagern möglich. Der Plan der Bermudakonferenz zum Beispiel war wenige Tage nach seiner Veröffentlichung durch die Rundfunksender des Westens auch in den Workutalagern bekannt, lange, ehe Radio Moskau kommentierend dazu Stellung nahm. Für die Zuverlässigkeit dieser Auslandssendungen, die von außen kommen und häufig komplizierte konspirative Wege gehen, auf denen die Gefahr einer Sinnentstellung nicht ausgeschlossen ist, gibt es eine einfache Kontrolle der Bestätigung dieser Nachrichten durch Polemik oder Kommentare des sowjetischen Rundfunks.
Der militärische Leiter einer anderen Gruppe war Offizier der sowjetischen Armee. Er geriet in deutsche Gefangenschaft und wurde 1945 befreit. Die sowjetische Regierung gab ihm dafür, daß er sich hatte gefangennehmen lassen, zehn Jahre. Jetzt bearbeitet er die militärischen Fragen, mit denen die Widerstandsgruppen sich befassen. Er verfügt über genügend Helfer. In den Lagern leben zahlreiche Gefangene, die über eine Offiziersausbildung verfügen. Fast alle haben praktische Kriegserfahrung.
Die Arbeit dieser militärischen Spezialisten erstreckt sich vor allem auf die Fragen, die sich aus der Möglichkeit eines Krieges ergeben. Die Lager haben im Rahmen des Möglichen und der besonderen Situation ihre Vorbereitungen gründlich und vollständig getroffen.
Die Frage „Was geschieht im Falle eines Krieges?“ ist das zentrale, immer wiederkehrende Thema in den Gesprächen der Gefangenen. Sie wissen, daß sie ohne Krieg Workuta niemals verlassen werden. Deshalb ersehnen sie ihn. Andererseits ist ihnen klar, daß der Krieg für viele von ihnen das Grab in der Tundra bedeutet. Die Massakers, die im Sommer 1941 von der sowjetischen Regierung in den Lagern Workutas durchgeführt wurden, sind im Bewußtsein der Gefangenen lebendig. Noch existieren Zeugen aus jenen Tagen, die sich der Vorgänge erinnern.
Als die Offensive der Hitlerarmeen gegen die Sowjetunion begann, hat die NKWD in den Lagern Tausende von Gefangenen erschossen. Es handelte sich hauptsächlich um Verurteilte aus den großen Moskauer Prozessen der Jahre 1936— 1938, um Menschen, die wegen Trotzkismus oder Buchaninismus, wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Kreisen um Tuchatschewski, Gamarnik und andere verurteilt waren, um Menschewiken, um Mitglieder der nationalen Widerstandsbewegungen aus der Ukraine und den baltischen Staaten.
Einer jener Zeugen hat mir die Vorgänge, die sich damals im Schacht 8 abspielten, geschildert.
„Man rief mehr als hundert Mann zu einer Etappe auf und sagte ihnen, daß sie in ein anderes, südliches Lager übergeführt würden. Sie empfingen neue Garnituren. Dann marschierten sie ab, begleitet von nur wenigen . Konvois“. Abends brachte ein Lastwagen die Kleidungsstücke zurück. Man hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, die Erschießungen in irgendeinem südlichen Waldgebiet vorzunehmen. Im Verlauf der nächsten Tage sickerte es durch — einzelne Wachtposten, Teilnehmer der Exekution, erzählten davon — daß die Etappe einige Kilometer in die Tundra geführt, von einem dort im Hinterhalt liegenden Erschießungskommando umzingelt und erschossen worden war. Die NKWD gab sich auch gar keine Mühe, diese Tatsache zu verheimlichen. Die Erschießungen sollten . beruhigend“ wirken, und sie wirkten . beruhigend“.“
Heute ist den Widerstandsgruppen bekannt, daß bei den Lagerkommandanten versiegelte Befehle liegen, die am Tage der Mobilmachung geöffnet werden. In ihnen sind die Maßnahmen angegeben, die von der sowjetischen Regierung für den Fall eines Krieges vorgesehen sind. Enthalten diese Dokumente die Vollmacht, wie 1941 Erschießungen „zur Beruhigung der Situation“ vorzunehmen? Werden sich die Massen-exekutionen jenes Sommers in noch größerem Ausmaß wiederholen?
Idi bin oft gefragt worden, was sich während der letzten Phase des Krieges in Deutschland abgespielt hat. Haben die Alliierten versucht, die Gefangenen zu retten?
Was ist damals geschehen?
Aus Buchenwald werden kurz vor der Besetzung durch die Alliierten fünfzehntausend jüdische Gefangene abtransportiert. Sie haben fast ausnahmslos diesen letzten Marsch über die Straßen Thüringens und Sachsens nicht mehr überlebt. AIs weitere Aktionen ähnlicher Art bevorstehen, entschließt sich das illegale internationale Lagerkomitee von Buchenwald, über einen geheimen Sender die durch Thüringen im Vormarsch befindliche amerikanische Panzerarmee um schnelle militärische Hilfe zu bitten. Es gelingt, die Funkverbindung aufzunehmen. Zur Enttäuschung der Gefangenen, die in diesen Tagen mit Massenerschießungen durch die SS rechnen müssen, bleibt der Versuch erfolglos. Die Amerikaner, die von der Situation im Lager keine Ahnung haben, glauben, sie sollen in eine Falle gelockt werden.
Zur gleichen Zeit werden die Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme auf große Transportschiffe verladen. Sie sollen mit ihren Schiffen in der Ostsee versenkt werden. Aber die SS braucht sich um die Versenkung nicht mehr zu kümmern. Sie erfolgt durch britische Bomben-flugzeuge, die der Meinung waren, deutsche Truppentransporter auf der Flucht nach Dänemark vor sich zu haben.
In Dachau und Mauthausen sind in den letzten Monaten Zehntausende Häftlinge Entbehrungen und Epidemien erlegen.
Hat man versucht, diesen Unglücklichen zu helfen? Hat man ihnen wenigstens eine Chance gegeben, um ihr Leben zu kämpfen?
Nichts ist geschehen. In den Monaten der Eroberung Deutschlands, in denen eine astronomische Ziffer von Bomben auf Städte und Dörfer abgeworfen wurde, ist nicht eine einzige Maschinenpistole vom Himmel gefallen, mit der die Deutschen und die Ausländer in den Lagern jenen Beitrag zu ihrer Befreiung beisteuern konnten, den zu leisten Hunderttausende allein deshalb gewillt waren, weil sie ihr Leben noch in der letzten Phase des Krieges zu verlieren drohten.
Diese Versäumnisse sind typisch für den Mangel an Verständnis, mit dem die Alliierten der realen Möglichkeit gegenübergestanden haben, den Widerstandswillen der deutschen Konzentrationslager mit mehr als einer Million Gefangener im Kampf gegen den Nationalsozialismus auszunutzen. Zumindest in der Phase der Okkupation wäre es leicht gewesen, durch Abwurf von Waffen die zahlreichen Großlager in ebenso viele Aufstandsherde im Rücken der Hitler-Armeen zu verwandeln und das Leben von vielen tausend Gefangenen zu retten. Vergeblich haben die Gefangenen auf diese Hilfe gewartet.
Ich habe niemals gewagt, meinen Kameraden in Workuta die bittere Wahrheit jener Versäumnisse zu berichten, um ihnen nicht ihre letzte Hoffnung zu nehmen, an die sie sich in einer fast ausweglosen Situation klammern.
* Die nationalen Widerstandsgruppen sind gekennzeichnet einmal durch ihre Gegnerschaft zum System, zum anderen durch ihre Ablehnung der Russen schlechthin. Die Ukrainer hassen die Russen aus den Traditionen einer dreihundertjährigen Unterdrückung. In den Polen ist die Erinnerung an die Aufstände des 19. Jahrhunderts noch so lebendig, als ob sie sich erst gestern abgespielt hätten. Die Feuer der Warschauer Erhebung von 1944 und ihr tragischer Zusammenbruch, den die Sowjets durch ihre zynische Passivität herbeigeführt haben, haben sie neu entzündet. Die baltischen Völker erinnern sich noch der russisch-zaristischen Unterdrückung, gegen die sie mühsam ihre Sprache verteidigen und ihre nationale Literatur entwickeln mußten. Sie sehen sich jetzt einem System gegenüber, das in der Masse seiner Funktionäre wiederum aus Russen besteht.
Die russischen Widerstandsgruppen selbst können zwangsläufig nicht antirussisch sein, ihre Opposition gegen das System resultiert aus der Forderung nach individueller Freiheit. Sie identifizieren sich mit den Grundprinzipien des sowjetischen Systems, soweit diese den Sozialismus betreffen. Sie anerkennen die Fortschritte, die auf sozialem Gebiet seit 1917 geschaffen worden sind, sie sind stolz auf die Erfolge der Industrie, auf die Fortschritte im Schulsystem und auf die Moskauer Universität; sie bejahen die Kollektivierung der Landwirtschaft. Was sie ablehnen, ist die Diktatur. Sie sind unbedingte Anhänger der persönlichen Freiheit, und sie sind dies kompromißloser als irgendein Verteidiger der individuellen Freiheit im Westen.
Bemüht, ein objektives Bild von der Situation des Westens zu erhalten, sind sie die einzigen, die systematisch und vorurteilslos an die Probleme des 20. Jahrhunderts herangehen. Ein Teil von ihnen hat Europa kennen-gelernt. Manche von ihnen kennen mehr-: 1941 gerieten sie als Soldaten der Roten Armee in deutsche Gefangenschaft. Vor die Wahl gestellt, in den Kriegsgefangenenlagern zu verhungern oder aber ihr Leben durch den Eintritt in die Wlassow-Armee zu retten, entschieden sie sich für letzteres. In den Divisionen Wlassows haben sie Deutschland, Holland, Frankreich und Italien kennengelernt. An der italienischen Front fielen einige von ihnen in amerikanische Gefangenschaft. Sie waren lange genug in den Vereinigten Staaten, um sich ein Bild von den dortigen Lebensvernältnissen zu machen. Damals hatte die Sowjetunion einen Vertrag mit der amerikanischen Regierung: alle Sowjetbürger, die in amerikanische Gefangenschaft geraten, werden wieder an die Sowjetunion ausgeliefert. Unsere Russen fahren über den Pazifik nach Wladiwostok. Zunächst sperrt man sie ein, aber die Armee braucht Soldaten. Zum zweiten-mal werden sie Soldaten der sowjetischen Armee, die inzwischen im Vormarsch durch Polen ist. Sie erobern Berlin; anschließend macht man ihnen den Prozeß. Sie bekommen wegen Landesverrats fünfundzwanzig Jahre. Über Amerika befragt, sagen sie:
Nichts gegen den Standard der amerikanischen Arbeiterschaft. Wir werden ihn erst in zwanzig, dreißig Jahren erreichen. Aber was wird, wenn bei ihnen jemand krank ist? Bei uns gehst du ins Ambulatorium, man hilft dir. Du bekommst dein Medikament und brauchst nichts zu bezahlen. Unsere Ärzte mögen schlecht sein, aber eines Tages werden sie nicht schlechter sein als die Amerikaner. Viele Medikamente taugen nichts, sie zu verbessern, ist eine Frage der Zeit. Wenn bei uns ein Kolchosnik einen begabten Jungen hat, so kann er ihn studieren lassen und bezahlt keine Kopeke.“
Diese junge Opposition ist groß geworden ohne die alten Traditionen der menschewistischen Ära oder der Prozesse von 1936/38. Die Probleme jener Jahre sind für die jungen russischen Sozialisten von heute Historie.
Es gibt in der Freiheit keine Überlebenden aus diesen Prozessen, aus deren Munde sie hätten erfahren können, um was es damals ging. Die Theorien Bucharins interessieren nicht mehr. Was die alten Menschewissen gedacht haben, hat für sie geschichtliche Bedeutung. Sie bejahen die Oktoberrevolution als einen fortschrittlichen Akt der Geschichte.
Sie bejahen das sozialistische Grundprinzip ihres Landes, aber sie verneinen seine Diktatur. In dieser Überzeugung sind sie einig: junge Studenten der Universitäten, Arbeiter aus den großen Betrieben, Techniker, Lehrer und Ingenieure.
Die Sowjetunion von heute hat keine breite, organisierte, in Zusammenhängen operierende russische Untergrundbewegung. Diese Opposition ist unmöglich in einem autoritären Lande, das den vollkommensten und größten Polizeiapparat der Geschichte besitzt. Die Oppositionellen existieren in zahlreichen kleinen Gruppen, die über die LIniversitäten, die Betriebe, die Städte und die wissenschaftlichen Institute verstreut sind. Sie betrachten sich mit Bewußtsein als die Nachfahren der heroischen russischen Opposition, deren Schicksal seit den Dekabristen war, nach Sibirien deportiert zu werden. Ohne Ressentiments gegen die Ukrainer, die baltischen Völker und andere propagieren sie ein Zusammenleben in Frieden, wissen aber, daß es großer Geduld und Mühen bedarf, dahin zu kommen.
Die russischen Widerstandsgruppen werden — obwohl selber nicht „national“ — zwangsläufig in die nationalen Kategorien des Lagerlebens hineingezogen: als Russen sind sie kompromittiert durch diejenigen ihrer Landsleute, die, sich mit dem System identifizierend, in zahlreichen bevorzugten Stellungen der inneren Lagerverwaltung arbeiten.
Auch hier ist das Lager eine „Sowjetunion im kleinen", deren „Regierung“ versucht, ihre Völker mit Hilfe der Russen zu beherrschen.
Nachdem Stalin den alten Kurs des revolutionären Marxismus verlassen hatte, schuf er systematisch und zielbewußt eine neue „Ideologie“ fern allen wirklichen Traditionen der Leninschen Politik seit 1917: den groß-russischen Imperialismus. Die Restaurierung der Geschichte des russischen Volkes, die Legitimierung der Zaren des 18. und 19. Jahrhunderts, die Erweckung der Traditionen von Suworow und Kutusow, die Überbetonung der wissenschaftlichen Leistung der russischen Gelehrten bilden ein geschlossenes, in Einzelheiten häufig groteskes Ganzes.
Der „Opernopolnomotschik" weiß sehr gut, daß diese Widerstandsgruppen existieren. Von Zeit zu Zeit wird eine von. ihnen ausgehoben. Er weiß zum Beispiel, daß die Gefangenen Sprengstoffe aus dem Schacht stehlen; aber er weiß auch, daß er als Sicherheitsoffizier nicht genug weiß. Seine Hauptwaffe im Kampf gegen die Widerstandsgruppen sind die Spitzel, die in der Sprache der Gefangenen „Klopfer“ heißen.
*
Unter den etwa dreitausendfünfhundert Gefangenen des Schachtes 9/10 betrug die Zahl der den Widerstandsorganisationen bekannten Spitzel ungefähr hundertzwanzig. Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Russen. Es wäre natürlich falsch, aus diesem Faktum auf deren minderwertigen Charakter zu schließen, der weder schlechter noch besser ist als der anderer Nationen. Daß die NKWD hauptsächlich mit Russen arbeitet, hat vor allem einen Grund: unter ihnen sind zahlreiche linientreue Kommunisten, die trotz ihrer Verurteilung keine Veranlassung sehen, dem System untreu zu werden. Auch im Lager bleiben sie politisch, was sie waren.
Ein Hauptmann der Grenztruppen zum Beispiel erhält wegen eines Dienstvergehens fünfzehn Jahre. Er wird deshalb kein Feind des Regimes. Der „Opernopolnomotschik“ läßt ihn kommen; sie besprechen sich. Eine Woche später ist der ehemalige Offizier Chef einer Baracke. Seine einzige Tätigkeit besteht darin, die Bewohner seiner Baracke zu bespitzeln, über die Besucher zu berichten und den Inhalt der Gespräche zu erfahren, die geführt werden.
Der Ic eines sowjetischen Regiments war in deutscher Kriegsgefangenschaft. Nach seinen Angaben ist es ihm dort gelungen, seine wirkliche Identität zu verbergen.. Von den Amerikanern befreit, kehrt er 1945 in die Sowjetunion zurück; fünfundzwanzig Jahre Zwangsarbeit, die jedoch seine politische Überzeugung nicht erschüttern.
„Ich bin zwar unschuldig, aber ich sehe ein, daß die Regierung sich sichern muß.“ Er wird oberster Verwaltungschef des „Santschastj", eine Art Krankenhausdirektor. Ein Leutnant der Schwarzmeerflotte erhält fünfzehn Jahre wegen „Teilnahme an einem antisowjetischen Gespräch“. Er hat nur zugehört; an der Unterhaltung war er selber unbeteiligt. Er hat es jedoch unterlassen, die Teilnehmer zu denunzieren. Der „Opernopolnomotschik" überträgt ihm die Aufsicht über die Fischküche.
Ein Leningrader Komsomolz hat zu einer illegalen Gruppe gehört, die „die Regierung stürzen" wollte. Fünfzehn Jahre. Er ist jung und politisch unerfahren. Es ist jedoch leicht für den „Oper“, den Jungen davon zu überzeugen, daß er „seine Schuld wiedergutmachen“ könne. Die Zusage, gegen die „Feinde des Kommunismus“ zu arbeiten, rettet ihn gleichzeitig vor der Arbeit im Schacht.
Unter den nichtrussischen Nationen finden sich weit weniger Menschen, die auf Grund ihrer früheren Überzeugung für Spitzeltätigkeit prädestiniert sind. Ehemalige ukrainische Parteikommunisten sind in den Lagern selten. Das gleiche gilt für die baltischen Völker. LInter den zweihundert Esten des Lagers 9/10 befand sich nur ein „Stukatsch", und auch das wurde noch von den übrigen als nationale Schmach empfunden. Das hinderte sie übrigens nicht, beste Beziehungen zu ihm zu unterhalten und über ihn den „Opernopolnomotschik“ laufend mit falschen Informationen zu versehen.
Unter den zweihundertfünfzig Letten waren drei Spitzel, unter den hundertzwanzig Deutschen vier.
Das Honorar für die Arbeit besteht meist darin, daß dem Spitzel eine möglichst leichte und einträgliche Arbeit zugewiesen wird. In den Hungerjahren 1950/51 war die Küche ein Reservat für „Stukatschi“. Der „Oper“ behielt sich ausschließlich das Recht vor, die Küche mit Personal zu besetzen. Die Chefs und Arbeiter der Handwerkerstuben, der „Banja“, der „Kaptjorka“ sind ebenfalls zu einem großen Teil „Klopfer“. Solange sie zufriedenstellend arbeiten, behalten sie ihre Positionen. Wird der „Oper“ unzufrieden mit ihnen, so verlieren sie ihre Stellung und werden beispielsweise in eine Brigade versetzt, die sich mit dem Säubern von Latrinen beschäftigt. Natürlich hat der „Stukatsch“ ein Interesse daran, aus dieser Brigade sobald als möglich wieder herauszukommen.
Über die Tätigkeit der Spitzel sind die Widerstandsgruppen im allgemeinen gut unterrichtet; in der Abwehr liegt ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Nicht selten sind Mitglieder der Widerstandsgruppen im Auftrage ihrer Führer als Spitzel für die NKWD tätig. So ist es möglich, in Erfahrung zu bringen, wofür der „Oper“ sich interessiert. Man kennt die Nachrichtenübermittlung an die NKWD-Offiziere, die selten direkt, sondern meist getarnt erfolgt. Jedes Lager hat einen „Jaschtschik dlja schalob", einen „Kasten für Beschwerden“. Der Kasten trägt eine Aufschrift mit den Adressen, an die diese Beschwerden gerichtet werden können:
Das Präsidium des Obersten Sowjets Das Politbüro der Bolschewistischen Partei Den Generalstaatsanwalt der LldSSR Den Staatspräsidenten Neuankommende und unerfahrene Gefangene versuchen immer wieder, durch eine „Schaloba" eine Revision ihres Verfahrens oder eine Milderung ihrer Strafe zu erreichen. Sie erzielen stets nur eine Bestätigung ihres Urteils. Trotzdem hat der „Jaschtschik dja schalobi", der allabendlich geleert wird, keine symbolische Bedeutung. Die Briefe, die in ihn fallen, tragen zwar die Aufschrift „An den Generalstaatsanwalt der UdSSR“, aber sie enthalten die mit einer Kennziffer versehenen Berichte der „Stukatschi“. Der Postbriefkasten für die Korrespondenz mit den Angehörigen dient dem gleichen Zweck. Alle Briefe an Angehörige werden unverschlossen eingeworfen, da ihr Inhalt vom Lagerzensor kontrolliert wird. Dieser Zensor ist sets ein Angestellter der NKWD, der unmittelbar mit dem „Oper“ zusammenarbeitet. Er findet in den Briefumschlägen die Spitzelberichte und gibt sie weiter. Die Verpflichtung der Spitzel wird stets vom „Oper“ persönlich vorgenommen. Ein ukrainischer Feldscher berichtete mir über einen solchen Versuch, ihn zu engagieren: „Ich wurde abends in die Kommandantur und in das Zimmer des , Natschalnik olpa‘, des Lagerkommandanten, gerufen. Dort erwartete mich der , Oper‘. Er bat mich, Platz zu nehmen, erkundigte sich nach meinem Befinden, wollte wissen, ob ich mit meiner Arbeit zufrieden sei, ob ich genug zu essen habe, ob ich Post von meinen Angehörigen erhalte. Natürlich war ihm alles genau bekannt. Dann machte er mir den Vorschlag, „ihm bei seiner Arbeit zu helfen'.
, Ich verstehe nicht, was Sie meinen,'antwortete ich.
, Sie verstehen sehr gut', sagte er. „Sie haben eine gute Position, eine Arbeit, die nicht schwer ist. Wenn die , Purga‘ geht, sitzen Sie im Warmen. Ein Wort von mir, und Sie verlieren alles. Sie gehen in die schlechteste Brigade, die der Schacht hat. Ich mache in ihren Akten einen Vermerk, daß Sie niemals mehr im „Santschastj“ verwendet werden. Idi kann Ihnen die Post für die nächsten drei Jahre sperren lassen!'
Ich sagte ihm offen, daß ich unter gar keinen LImständen als . Stukatsch'arbeiten werde und daß mir alle Konsequenzen aus dieser Weigerung gleichgültig sind.
. Denken Sie über mein Angebot nach! Vielleicht denken Sie in einem Monat anders. Dann können Sie sich jederzeit bei mir melden.'
Er ließ mich eine Erklärung unterschreiben, die mich zum Schweigen über diese Unterredung verpflichtete. Am nächsten Tag wurde ich aus dem . Santschastj'entlassen und einer Schachtbrigade zugeteilt, obwohl ich wegen eines Herzleidens nur mittlere Arbeitskategorie hatte. Seit diesem Vorfall, der schon zwei Jahre zurückliegt, bin ich ohne Nachricht von meinen Angehörigen."
Sobald ein Spitzel erkannt ist, ist er im wesentlichen ungefährlich. Es ergehen Warnungen an seine Umgebung, an die Baracke, in der er wohnt, an die Brigade, in der er arbeitet. Die Widerstandsgruppen sind nicht daran interessiert, ihren Gegenspieler, den „Oper“, wissen zu lassen, daß seine Agenten durchschaut sind. Er würde sie abberufen und andere einzuschleusen versuchen, deren Entlarvung häufig geraume Zeit erfordert.
Werden Spitzel verprügelt, so handelt es sich stets um Einzelaktionen von Gefangenen, die sich gegen jede politische Vernunft zu Tätlichkeiten hinreißen lassen. Wenn der „Oper“ sicher ist, daß ein Agent vor der breiten Öffentlichkeit des Lagers als „Stukatsch“ entlarvt ist, läßt er ihn in ein anderes Lager überführen, wo sein Kollege das gleiche Spiel mit ihm weitertreibt. Bei der gut funktionierenden Nachrichtenübermittlung zwischen den Lagern pflegen die Warnungen jedoch im allgemeinen nur wenige Tage hinter dem „Stukatsch“ im neuen Lager einzutreffen.
In besonderen Fällen werden Spitzel auf Beschluß der Widerstandsgruppen getötet. Einer der gefährlichsten „Klopfer" des Schachtes 9/10 wurde 1951 auf offener Straße mit einer Kreuzhacke erschlagen. Trotz umfangreicher, intensiver, fast ein Jahr andauernder Recherchen gelang es dem „Oper“ nicht, die Täter ausfindig zu machen.
Versuche, an einen anderen Spitzel heranzukommen, blieben lange Zeit vergeblich. Eines Tages war er so unvorsichtig, mit einem Lastenaufzug an einem Neubau hochzufahren. Der Monteur ließ ihn aus einer Höhe von vierzehn Metern samt der Plattform, auf der er stand, herunterfallen. Der „Stukatsch“ brach sich alles, was man bei einem solchen Sturz brechen kann: Wirbelsäule, Becken, Arme und Beine, blieb aber am Leben — als Krüppel —, eine drastische Warnung für alle, die sich gegen die ungeschriebenen Gesetze der Gefangenen vergehen. Um ihre Spitzel zu schützen, erließ die NKWD im Sommer 195 3 einen Befehl, dessen Kenntnisnahme jeder einzelne Gefangene in einem besonderen Dokument zu unterschreiben hatte:
Totschlag im Lager wird grundsätzlich mit dem Tode bestraft.
Wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt Anmerkung Dr. Joseph Scholmer, geb. 19. August 1913, Studium der Medizin an der Universität Bonn. Röntgenologe an der Universität in Leipzig. Nach dem Kriege arbeitete er in der Zentralverwaltung Gesundheitswesen der sowjetischen Besatzungszone, wurde 1949 von der NKWD verhaftet und wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Januar 1954 kehrte er aus Workuta in die Bundesrepublik zurück.