„Gehorsam ist Prinzip. Der Mann steht über dem Prinzip." Moltke.
Fortsetzung
VI. Die abschließende Mission Dr. Müllers
Unser Bericht hat sich jetzt wieder mit der „anderen Gruppe“ der Militäropposition zu befassen und zwar mit ihrer Reaktion auf die Reaktion Halders. Was blieb der Gruppe Beck noch zu tun, nachdem ein Staatsstreich, also der Sturz des Regimes nicht mehr rechtzeitig, d. h. vor Beginn der Westoffensive zu erreichen war? Es konnte, zumal in der kurzen Zeit, nicht gegen oder ohne Halder die zu einer Aktion notwendige Truppe gefunden und organisiert werden, die man m i t Halder nicht hatte finden und bereitstellen können. Sollte die Gruppe Beck nun den Dingen ihren Lauf lassen? Sollte sie es insbesondere den römischen Gesprächspartnern, also dem Papst und der englischen Regierung überlassen, aus den Ereignissen selbst festzustellen, daß alle Worte, alle Gespräche, alle Versprechungen, alle Vereinbarungen vergebliche Mühe gewesen waren?
Die Militäropposition, damals für uns sichtbar in Oster vertreten, kam zu dem Entschluß, dem Papst und über ihn der englischen Regierung mitzuteilen, daß es nicht möglich sei, die vereinbarten Voraussetzungen zu erfüllen. Das erschien ihr als ein gebotener Akt der Loyalität gegenüber dem Papst, der sich mit Einsatz seiner hohen Autorität exponiert hatte für das „andere Deutschland“. Es erschien ihr als ein gebotener Akt der Loyalität gegenüber der englischen Regierung.
Dabei war auch die Erwägung ausschlaggebend, daß die Entwicklung weiterging, und daß die Militäropposition darauf Bedacht nehmen mußte, den ohnehin schwierigen Boden für künftige Friedensgespräche mit der englischen Regierung nicht völlig zu verderben
Nochmals: War Beck der Auftraggeber?
Müllers Darstellung Es taucht erneut die Frage auf, ob Generaloberst Beck als Auftraggeber auch für diese abschließende Mission Müllers anzunehmen ist, oder ob etwa für diesen Fall eine Extratour, z. B. eine Affekthandlung Osters, denkbar ist. Der Arbeitskreis kann hierzu nur das wiederholen, was er über die Stellung Becks zur ganzen Mission Müllers bereits dargelegt hat
Ein spezielles Zeugnis steuerte die Aussage der Frau v. Dohnanyi vor dem Arbeitskreis bei. Diese berichtete aus ihrer Erinnerung: Die abschließende Mission Müllers sei nicht etwa nur einmal im Kreise Oster besprochen worden, sondern immer, „wenn es wieder einmal brenzlig wurde“ d. h„ wenn der Angriffstermin nahezurücken schien. Auf die Frage, ob auch Beck davon gewußt und es gebilligt hat, erwiderte Frau v. Dohnanyi: „Er hat es auch gewünscht. Beck hat sehr stark das „Später“ in den Vordergrund gestellt". Die Zeugin glaubte, Becks Standpunkt — immer nach den Erzählungen ihres Mannes — dem Sinne nach in folgender Form wiedergeben zu können: „Wir können uns mit dieser Sache (Neutralitätsverletzung) nicht identifizieren. Man muß wieder einmal anknüpfen können. Dazu müssen die Leute (Vatikan, England) wissen, mit wem sie es zu tun haben, daß es ein anständiges Deutschland gibt, das verhandlungsfähig ist“. Die Zeugin versicherte, daß dieses Wort immer eine gewisse Rolle gespielt hat.
Müller selbst schildert mit seiner Aprilreise nach Rom die vorhergegangenen Erwägungen in folgender Form:
„Der Auftrag oder Wunsch von Beck hat folgende Gesichtspunkte gehabt:
Erstens klarstellen, daß das keine Scheinverhandlungen waren. Sich so verhalten, daß, wenn eine Stockung in der Offensive eintritt oder sonst etwas, dort die Friedensverhandlungen wieder möglich werden, (da alle Beteiligten einschließlich Becks — übrigens auch Hitler — die Blutopfer der Offensive um ein vielfaches höher einschätzten als sie tatsächlich waren.
Zweitens im Hinblick auf „Venloo" hundertprozentig klarstellen: Es wird angegriffen. Damit die vorangegangenen Gespräche nicht etwa als Tarnspiel oder sonst etwas erscheinen!
Drittens: Gerade wegen „Später“ klare Distanzierung von der Neutralitätsverletzung gegenüber Belgien und Holland.
Das waren die Hauptpunkte, die zwischen Oster, Dohnanyi und mir formuliert wurden, bei Dohnanyi noch einmal besprochen wurden und die dann dazu geführt haben, daß ich in Rom ungefähr — fast wortgetreu — erklärt habe: Diese Verhandlungen können nicht mehr mit den entsprechenden Aussichten fortgesetzt werden. Die Generale können sich leider nicht zum Handeln entschließen (ich habe in Parenthese auf das geglückte Norwegen-Unternehmen hingewiesen). Hitler wird angreifen und der Angriff steht bevor."
Es ist also auf einen nunmehr bevorstehenden deutschen Angriff im Westen und es ist auch auf die dabei zu gewärtigende Neutralitätsverletzung hingewiesen worden. War das Landesverrat? War es, wenn nicht subjektiv, so doch objektiv Landesverrat?
Die Mission Müllers ist nach Auffassung des Arbeitskreisesein politisch begründeter und nur politisch zu rechtfertigender Entschluß gewesen. Dabei ist zu bedenken, daß die Westoffensive in der Luft lag, daß sie das Tagesgespräch in aller Welt bildete und daß der Massenaufmarsch nahezu der ganzen deutschen Armee im Westen selbstverständlich kein Geheimnis geblieben war. Die englischen und französischen Staatsmänner und Heerführer müßten auf dem Mond gelebt haben, wenn sie nicht nachgerade jeden Tag mit dem Vordringen dieser Heeresmassen gerechnet hätten. Sie hatten ihren Nachrichtendienst in Deutschland (von einer dieser Stationen wird im folgenden noch berichtet werden) und in den Nachbarländern. Ihre Diplomaten und die der neutralen Mächte waren nicht blind und nicht taub. Zum Überfluß hatte das offiziell verbündete Italien nicht verfehlt, die Westmächte und im besonderen Belgien bereits mehrfach auf die akute Gefahr hinzuweisen. Das Tagebuch des italienischen Außenministers Ciano u 0) verzeichnet solche Hinweise wiederholt mit genauer Tagesangabe und mindestens für einen Fall beruft es sich auf einen Auftrag Mussolinis, der dabei gelegentliche Eifersucht Inhaltsverzeichnis Sie lasen zuletzt:
Einleitung: Standort und Methode der Untersuchung I. Die Situation im Herbst 1939 Das deutsche Volk beim Kriegsbeginn Die Militäropposition nach Kriegsbeginn Primäre Sorge: Die kämpfende Truppe Doppelgleisigkeit — Vertauschte Rollen II. Die Gruppe um Halder Terminkalender Generaloberst Halder Der degradierte Generalstab Halder zum Widerstandsrecht Zeit gewonnen . . .
Die „Arbeitsgruppe“
Frontreisen Stülpnagel Canaris Großcurth Denkschriften und Kommentare — Putschpläne Rede Hitlers und Reaktion der Generale Halder und Brauchitsch Halder und Fromm Erstes Fazit III. Die Gruppe Beck Generaloberst Beck Die Kernfrage der verantwortlichen Führung Abwehr — Canaris Hans Oster Aussage Heinz Aussage Schacht Aussage Frau v. Dohnanyi Resume: Beck als Zentralfigur IV. Die römischen Friedensgespräche Vorbemerkung zur Quellenkritik Der Leitgedanke Josef Müller Der Papst vermittelt Müller und „Abwehr"
Aufträge und Berichterstattung Die römischen Gesprächspartner Der Zwischenfall von Venloo Eine andere „Panne"
Das Ergebnis der römischen Gespräche Der X-Bericht Die Bedeutung der „Friedensgrundlagen"
Die Parallelaktion Hassell V. Die Reaktion im Generalstab Mehrere Versionen Brauchitsch lehnt ab — ein hoffnungsloser Fall Halders Kritik am X-Bericht Kritik der Kritik Unbegreifliche Verzögerung Bilanz: Die Voraussetzungen wurden nicht erfüllt Halders Tragik Soldat des Widerstandes In dieser Ausgabe:
VI. Die abschließende Mission Dr. Müllers Nochmals: War Beck der Auftraggeber?
Müllers Darstellung:
Landesverrat?
Die entscheidende Frage: Wann wurde der Angriffstermin festgesetzt?
Tatsachen und „Angabe"
„Brauner Vogel“
Klares Fazit VII. Das Problem Oster Das Zusammenspiel Oster — Sas Am Abend des 9. Mai 1940 Bewertung des Tatbestandes Rechnung mit ungewissen Größen Wußte Beck?
Eine Gewissensentscheidung für Oster und — seine Beurteiler Maßgebendes Kriterium VIII. „Seelöwe"
IX. Ausländische Nachrichtendienste Cianos aufschlußreiche Tagebücher Ein polnischer Zeuge Dreieck Berlin-Oberschlesien—London Die kritischen Maitage und ihre Fachkritik Nachspiel in Holland Nutzanwendung Schlußbetrachtung und Verärgerung gegenüber dem verdächtig groß werdenden Bundesgenossen abreagierte. Zum Teil berief sich Ciano auch noch auf Informationen Ribbentrops, die dann durch ihn zur Kenntnis der Gegenseite gebracht worden sind. Es ist weiter daran zu erinnern, daß Belgien und Holland im November 1939 ganz eilig eine Friedensvermittlung anboten und zwar aus keinem anderen Grund als deshalb, weil sie schon damals die wohl begründete Sorge hatten, daß ein Einfall in ihre Länder unmittelbar bevorstehe
Die abschließende Mission Müllers wurde, wie gesagt, in den letzten Apriltagen 1940 durchgeführt. Sie beanspruchte eine besonders gründliche und gewissenhafte Untersuchung durch den Arbeitskreis aus einem speziellen Grunde, der recht eigentlich den Anstoß zur ganzen Arbeit des Arbeitskreises gegeben hat. Dr. Müller wurde der Verrat militärischer Geheimnisse und damit eine besonders schwere Form des Landes-verrats vorgeworfen: er habe damals nicht nur allgemein von einem „bevorstehenden Angriff“ gesprochen, sondern sogar den genauen Angriffstermin — den 10. Mai — genannt. Der Vorwurf, schon früher gelegentlich im politischen Tageskampf lautgeworden, erhielt dann Gewicht, als er im bayerischen Landtag ausgesprochen wurde und als er sich auf eine Darstellung des deutschen Widerstandes durch den englischen Schriftsteller Colvin
Römische Gewährsmänner, die im Winter 1939/40 Gesprächspartner Müllers waren, bestätigten im wesentlichen dessen Darstellung. Sie betonten naturgemäß, daß sie nicht jedes einzelne Wort der zwölf Jahre zurückliegenden Gespräche im Gedächtnis haben. Aber zwei private Äußerungen aus diesem Kreis mögen registriert werden: „Idi wußte nur so viel, daß etwas kommt und unmittelbar bevorsteht", und „Für midi war es nicht klar, ob es sich bei dem bevorstehenden Angriff um einen Angriff auf die Schweiz oder auf Belgien oder gegen beide Länder handelt. Holland stand für midi außerhalb jeder Erwartung“
Die entscheidende Frage: Wann wurde der Angriffstermin festgesetzt?
Gegenüber der Frage „Verrat des Angriffstermins“? lag das Schwergewicht der Gesamtuntersuchung bei der sehr viel näher liegenden Frage: Wann wurde denn überhaupt der Angriffstermin des 10. Mai festgesetzt? Kann ihn Müller gewußt haben? Kann er ihn Ende April verraten haben? Diese Frage wurde einer Klärung zugeführt, die schlechthin unanfechtbar ist. Die Tagebücher von Jodl und Halder liegen vor. Sie zeigen klar, was man am 1. Mai 1940 wissen und was man nicht wissen konnte.
Im Tagebuch Jodls steht zum 27. April: „Der Führer äußert die Absicht den „Fall Gelb“ (Westoffensive) zwischen dem 1. und 7. Mai zu starten". Das war erstens nodi kein fester Entschluß und zweitens noch kein Terminbefehl. Die vorgesehene Auslösung des „Falles Gelb“ sollte also zwischen dem 1. und 7. Mai erfolgen. Die Terminsetzung ist aber in dieser ganzen Zeitspanne, hauptsächlich wegen der Wetterbedingungen, die für den Großangriff ungeeignet erschienen, in Wirklichkeit nicht erfolgt.
Es steht also fest: Am 30. April war noch kein Angriffstermin festgesetzt. Es war nur vorgesehen, daß der Angriff zwischen dem 1. und 7. Mai erfolgen soll. Selbst wenn wir annehmen wollten, daß Müller diese Absicht Hitlers — einstweilen immer nur eine Absicht — bekannt geworden sei, und wenn wir weiter annehmen wollten, daß er dieses Wissen in Rom preisgab, dann könnte er nur vom „ 1. bis 7. Mai", nicht aber vom „ 10. Mai“ gesprochen haben. Wenn er aber dennoch damals den 10. Mai (in prophetischer Sehergabe, aus der berühmten Intuition heraus oder aufs Geradewohl?) genannt haben sollte, dann hätte er zwar zufällig den richtigen Termin erraten und „verraten", aber er hätte nach der Sachlage vom 30. April die Gegenseite irregeführt. Und eine leichtfertige, falsche Terminangabe — damit mußte Müller rechnen — hätte die ganze Wirkung und den ganzen Sinn seiner Mission aufgehoben, hätte ihre Wirkung sogar ins Gegenteil verkehren können.
Wir folgen weiter dem Tagebuch Jodls, soweit es Einträge über den Angriffstermin enthält: „ 2. Mai: Der Führer befiehlt Sonnabend, den 4. Mai den Beginn des Angriffs. Alles muß in Bereitschaft sein, die Operation für den „Fall Gelb“ für den darauf folgenden Tag, wenn befohlen, zu beginnen. 3. Mai: Nach der Wettervoraussage entscheidet der Führer, daß der X-Tag “ 5) nicht vor Montag, den 6. Mai sein wird.
4. Mai: Führer bestimmt Dienstag, den 7. Mai als X-Tag
5. Mai: Der Führer hat Begründung für „Fall Gelb“ beendet. Mittwoch der 8. Mai ist als A-Tag bestimmt. 6. Mai: Ausführliche Befehle für den 8. Mai für A-Tag sind ausgegeben. Stichworte Augsburg und Danzig.“
Wir sehen: am 4. Mai erscheint erstmals eine konkrete Terminbezeichnung (7. Mai). Aber schon am nächsten Tag, 5. Mai, wird der. bezeichnete Termin um einen Tag, also auf den 8. Mai hinausgeschoben. Am 6. Mai spricht Jodl erstmals von ausgegebenen Befehlen und zwar „für den 8. Mai als Angriffstag“, wobei die Stichworte „Augsburg“ den Aufschub, „Danzig“ das Angriffssignal bedeuten. Diese Befehle sind nach der Aktenlage nur an die Oberbefehlshaber der drei Wehrmacht-teile, aber darüber hinaus noch nicht an die Truppe gelangt. Hier ist festzuhalten: Wer echte Termine verraten wollte, konnte am 4. Mai nur den 7. Mai, am 5. und 6. Mai nur den 8. Mai bezeichnen. Vom 10. Mai ist bis dahin weder in den Überlegungen der höchsten Befehlsstelle noch gar in Befehlen die Rede.
Im übrigen klappte es auch für den 8. Mai nicht.
Jodl trägt weiter am 7. Ma
Im übrigen klappte es auch für den 8. Mai nicht.
Jodl trägt weiter am 7. Mai ein: „Wetter unbestimmt und deshalb wird der für morgen geltende Befehl umgestoßen. Nächste Entscheidung 8. Mai bis 12 Uhr mittags."
Mit dem 7. Mai ist die Zeitspanne abgelaufen, die laut Jodls Eintrag vom 27. April für den Angriff vorgesehen war. Sie ist abgelaufen, ohne daß der Angriff stattgefunden hätte.
Da es Versionen gibt, nach denen unter dem 7. Mai nach Rom der Angriffstermin des 10. Mai übermittelt worden sein soll, muß ausdrücklich festgestellt werden, daß der Übermittler auch an diesem Tag einen bis dahin noch nicht festgesetzten Termin nicht bezeichnen, sondern daß er wieder nur auf gut Glück eine Kombination geben konnte — eine jener vielen Kombinationen, wie sie damals Tag für Tag vor allem von Unberufenen aufgestellt worden sind und bisher immer wieder durch die nicht erfolgten Tatsachen widerlegt worden waren. Zuzugeben ist, daß es in der ersten Dekade des Monats Mai nicht mehr allzu riskant war, mit solchen Kombinationen als Prophet aufzutreten. Denn einmal mußte es ja jetzt stimmen.
Richtig ist: Der Angriffstermin des 10. Mai wurde — unter Vorbehalt — noch am 7. Mai festgesetzt. Aber das kann erst am Nachmittag, wahrscheinlich sogar erst am späteren Abend erfolgt sein. Denn das Tagebuch Jodls enthält am 7. Mai noch keinen Hinweis auf den 10. Mai, es verzeichnet sogar, daß die Entscheidung erst am 8. Mai fallen werde. Und erst unter dem 8. Mai verzeichnet Jodl: „Der Führer will nicht länger warten. Der Feldmarschall
Es ist hervorzuheben, daß selbst der zweite Befehl noch den Vorbehalt enthält hinsichtlich des Stichwortes. Erst das Stichwort konnte die Auslösung d. h.den Angriff bewirken und dieses Stichwort sollte erst im Laufe des 9. Mai bis spätestens 21. 30 Uhr gegeben werden.
Auch erst für den 9. Mai enthält das Tagebuch Halders einen Eintrag, der sich auf den soeben wiedergegebenen Befehl mit dem Angriffs-termin 10. 5 bezieht. Das Stichwort „Danzig“ ging am 9. Mai 22. 15 Uhr der Befehlsstaffel des OKH, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Fahrt ins Aufmarschgebiet befand, zu
Tatsachen und „Angabe“
Der Originalität halber sei erwähnt: Es bräuchte gar nicht nach dem „Verräter" des Angriffstermines gesucht zu werden, denn es gibt einen, der diese Rolle für sich in Anspruch nimmt. Dem Arbeitskreis lag in Photokopie ein in französischer Sprache abgefaßtes Bekenntnis vor. Es ist im Jahre 1945 verfaßt und an den französischen Nachrichtendienst gerichtet. Nun haben im Jahre 1945 nicht wenige ihre Heldenleistungen im Widerstand entdeckt und je nach Geschick und Geschmack gehörig aufgeputzt. Wenn sie es außerdem vor einem ausländischen, damals noch feindlichen Nachrichtendienst getan haben, dann geschah es ad usum delphini. Sind aus diesen Gründen schon Aussagen vor Spruch-kammern in jenen Jahren nur mit großer Vorsicht von Historikern zu verwerten, so gilt das erst recht für Zeugnisse einer vermeintlichen Selbstverherrlichung, die allerdings in der irrigen Voraussetzung gegeben wurden, daß auch in späteren Jahren die Geschichtsforschung nicht mehr in der Lage sein werde, zwischen Wahrheit und „Angabe“ zu unterscheiden. Im gegebenen Fall erübrigte es sich für den Arbeitskreis, eine weitere kritische Prüfung des bezeichneten Dokumentes vorzunehmen — weil eben auch von dieser Seite ein Angriffstermin am 30. April oder am 7. Mai noch nicht „verraten“ werden konnte, da er noch nicht festgesetzt und noch nicht einmal präzise vorgesehen war. „Brauner Vogel“
Grundsätzlich gilt das Gleiche für ein Telegramm des belgischen Botschafters in Rom (beim Vatikan oder Quirinal?), das unter dem Namen „Brauner Vogel“
Da in den letzten Apriltagen Dr. Müller in Rom war und sich des oben behandelten abschließenden Auftrages entledigte, wurde das Telegramm — in der Version mit dem Angriffstermin des 10. Mai — auf die Informationen Müllers an den Vatikan und auf deren Weitergabe an den belgischen Botschafter (hier natürlich nur an den Botschafter beim Heiligen Stuhl) zurückgeführt. Und es wurde daraus sehr schnell die Schlußfolgerung gezogen, hier sei sogar der „dokumentarische Beweis“ für den Verrat des Angriffstermines durch Dr. Müller erbracht. Die ganze Angelegenheit erledigt sich schon im Grunde dadurch, daß der Angriffstermin des 10. Mai, selbst wenn eine solche Version in dem besagten Telegramm sich befunden haben sollte, am 30. April nicht verraten worden sein kann, weil er erst am Abend des 7. Mai festgesetzt worden ist.
Es soll aber diesem Bericht nicht vorenthalten werden, was der Arbeitskreis zur Klärung der in jedem Falle eigenartigen Angelegenheit „Brauner Vogel" unternommen hat. Zunächst ist unbestritten, daß das nach der Funkaufnahme besonders interessierende Telegramm nach dem Einmarsch in Belgien nicht in den Akten der belgischen Regierung aufgefunden worden ist. Ein „Dokument“ im strengen Sinne ist also gar nicht vorhanden. Es könnte beiseite geräumt worden sein. Aber in dem offiziellen Werk, das deutscherseits aus den belgischen Akten über alles, was sich vor Kriegsbeginn und unmittelbar nach dem Krieg in Belgien zugetragen hat, zusammengestellt worden ist, findet sich ebenfalls nicht der geringste Hinweis auf ein Telegramm, das am 1. Mai mit der bewußten Warnung in Brüssel eingegangen wäre. Ebenso ist nach einer dem Arbeitskreis zugegangenen Mitteilung des Kgl. Niederländischen Staatsarchivs in Amsterdam in den gesamten Forschungen der niederländischen Untersuchungskommission über die Vorgänge vor und bei Kriegsausbruch, über die Abwehrvorbereitungen usw., von diesem Telegramm nirgends die Rede. Man müßte doch wohl annehmen, daß eine offizielle Meldung wie diese durch die belgische Regierung informativ wenigstens nach England weiter gegeben worden wäre. Auch hier ist eine solche Information nicht eingegangen
Selbstverständlich hat das Telegramm sowohl im Amt Ausland-Abwehr wie bei der Gestapo und beim SD größtes Aufsehen erregt. Die Tagebuchaufzeichnungen Jodls nehmen auch, zwar nicht auf das Telegramm, aber doch auf seinen Inhalt Bezug. Da der Gestapo nicht geheim geblieben war, wer ins Ausland reiste, wußte sie, daß Dr. Müller gerade zum fraglichen Zeitpunkt in Rom war. Wohl konnte sie auch damals noch nicht ohne weiteres zupacken; aber wenn sie den Verdacht gegen Dr. Müller ernst nahm — und von ihrem Standpunkt aus hätte sie es wahrlich tun müssen —, dann hätte sie gewiß eine Kraftprobe starten können. Sie hat es nicht getan. Sie hat nicht einmal drei Jahre später, als sie endlich Müller in ihre Gewalt bekam und als der Prozeß gegen ihn vor dem Kriegsgericht inszeniert wurde, dieses Telegramm zum Gegenstand der Anklage gemacht. Warum? Am „guten Willen“ der Himmler und Heydrich, gegen Canaris und seinen ganzen Kreis loszuschlagen, hat es schon damals nicht gefehlt. War das scheinbar so beweiskräftige Telegramm nicht die beste Gelegenheit zum Schlag? Oder war es auch für Gestapo und SD doch nicht so beweiskräftig? War die Gestapo hier in ihrem Urteil vorsichtiger als die, die heute auf ihren Spuren Beschuldigungen erheben?
Der Arbeitskreis hat zu dieser Sache den Oberst a. D. Rohleder, den zuständigen Gruppenleiter III F des Amtes Ausland-Abwehr, gehört. Er hat eingehend über die fachgerechte und absolut korrekte Behandlung des Telegramms berichtet. Der Arbeitskreis hat mit ihm auch die nahe-liegende Frage einer Fälschung erörtert. Speziell diese Frage wurde weiter mit Funksachverständigen besprochen. Weder-von Rohleder noch von den Funksachverständigen kann die Möglichkeit der Fälschung ausgeschlossen werden. Beachtlich ist allerdings der Einwand Rohleders: Wenn das Reichssicherheitshauptamt diese Fälschung gemacht oder bestellt hat, dann könnte es das nur getan haben, um sogleich zuzuschlagen. Wozu aber der Wirbel, wenn der Schlag dann doch nicht erfolgt ist? Es ist anzunehmen, daß der „Braune Vogel“ auch künftig aus der Belletristik und speziell aus jenen „dokumentarischen Tatsachenberichten“ nicht verschwinden wird, die weder mit Dokumenten noch mit Tatsachen viel zu tun haben. Aber wenn nicht das Originaltelegramm noch auftaucht und wenn nicht einwandfreie Zeugnisse auch vor der historisch-kritischen Prüfung standhalten, wird von der Geschichtsforschung her das Kapitel „Brauner Vogel“ bis auf weiteres abgeschlossen bleiben. Nur eines muß man auch hier wieder hinzufügen: Es kann keinesfalls bei weiteren Aktenfunden etwas herauskommen, was einen am 29. /3O. April erfolgten Verrat des Angriffstermines vom 10. Mai beweist.
Klares Fazit Soweit die hier schwer angegriffene Person Dr. Josef Müller in Betracht kommt, ist die klare Feststellung zu treffen:
Josef Müller hat der Gegenseite den „bevorstehenden Angriff“ mitgeteilt. Er hat es im Auftrag der Militäropposition getan, um seinen Verhandlungspartnern zur Kenntnis zu bringen, daß dem „anständigen Deutschland“ die Erfüllung der vereinbarten Voraussetzungen nicht möglich war. Die Wertung dieser Handlungsweise wird die Leitgedanken seiner Auftraggeber, wie oben dargelegt, zu berücksichtigen haben
Der Angriffstermin stand zu dem Zeitpunkt, zu dem Josef Müller in Rom war, noch nicht fest. Dr. Müller kann also den Angriffstermin nicht bezeichnet haben.
Abschließend soll noch folgender Hinweis gegeben werden: Vatikan und Vatikan ist zweierlei. Der Vatikan, mit dem Dr. Müller die römischen Gespräche geführt hat, ist die höchste Spitze — nicht in Person, aber in ihrer Autorität.
Daneben gibt es im Vatikan wie in jeder großen Regierungs-und Verwaltungszentrale viele, die ein Amt haben oder amtlich ein-und * ausgehen. Auch diese fungieren für weitere Kreise mit mehr oder minder Recht als „Vatikan“ oder „vatikanische Kreise“. Nur haben sie keine offizielle und keine autoritative Bedeutung — und sie haben sie auch dann nicht, wenn die Empfänger von Informationen aus diesen „vatikanischen Kreisen“ irrtümlicherweise für die offizielle Stellungnahme des Vatikans oder gar für die persönliche Meinung des Papstes halten, was nur eine nicht weiter verbürgte Privatäußerung eines einzelnen ist.
Zur Kennzeichnung der Situation am Vorabend der Westoffensive mag endlich eine dem Arbeitskreis übermittelte Aussage eines deutschen Journalisten dienen, der am 9. Mai in Aachen weilte und den Abendzug zur Rückfahrt nach Essen benützte. Ihm wurde bereits am Bahnhof Aachen von einem dortigen Bekannten erzählt, daß nach Angaben von Bahnbeamten es „morgen früh“ losgehe und daß „die Truppen bereits im Anmarsch auf die belgische Grenze sind“. Und im Zuge Aachen-Essen war der im Gange befindliche Vormarsch zum Angriff das allgemeine Gespräch. Was hier also die „Spatzen von den Dächern pfiffen“, sollte wenige Kilometer entfernt unbekannt geblieben sein?
Wenn bis zum 7. Mai der Angriffstermin des 10. Mai nicht verraten werden konnte, weil er bis dahin weder festgesetzt noch vorgesehen war, so gilt dies selbstverständlich auch für Oster. Er kann bis dahin auch keinerlei Informationen über diesen Termin an irgendwelche Leute gegeben haben, die ihn etwa hätten weitergeben können oder wollen. Das geht zudem ganz zweifellos aus der schon früher zitierten Aussage seines vertrauten Mitarbeiters, des späteren Oberstleutnants Heinz, hervor.
Heinz hat nämlich am 7. Mai Geburtstag. Er kann sich glaubhaft sehr gut an die Umstände erinnern, unter denen er in jener Zeit der Höchst-spannung 1940 den Tag beging. Er berichtete, daß am Abend des 7. Mai neben anderen Freunden Oster in seine Wohnung kam. Oster, dessen Gedanken um nichts anderes kreisten, als darum, ob die Westoffensive nun stattfindet oder ob sie noch irgendwie verhindert werden kann, hat an jenem Abend nichts darüber verlauten lassen, wann der Angriff erfolgen werde. So wie die beiden Männer zueinander standen, hätte es Oster sicher nicht unterlassen, zu sagen, daß jetzt alle Zweifel behoben sind und daß die Klärung — wenn auch im befürchteten Sinne — erfolgt ist, sofern er es selbst gewußt hätte. Erst am 8. Mai hat Oster die Information über den Termin des 10. Mai erhalten und er hat sie augenblicklich mit Heinz besprochen, der seinerseits wieder — entsprechend einer Vereinbarung — das Stichwort an den ihm befreundeten Prinzen Wilhelm von Preußen (den ältesten Kaiserenkel) weitergab, dessen einzige Sorge dabei war, rechtzeitig zum Angriff an die Front, zu seiner Kompanie, zu kommen.
VII. Das Problem Oster
Das Zusammenspiel Oster—Sas Nichts lag Oster ferner, als andere zur Weitergabe einer festen Terminangabe anzustiften und dabei sich selbst mitsamt dem Informator, also Oster, möglicherweise zu kompromitieren. Es kann ihm nichts ferner gelegen sein, weil er einen so gravierenden und gefährlichen Schritt — selbst unternahm und dabei auf fremde Hilfe nicht angewiesen war. Oster hat den Angriffstermin sowohl der Norwegenoffensive (9. April), wie den des 10. Mai dem ihm befreundeten niederländischen Militärattache Oberst, später General, Sas mitgeteilt. Es erschien dem Arbeitskreis nicht nötig, bezüglich der Preisgabe des Norwegentermins verschiedene Versionen näher zu untersuchen. Denn für beide Angriffs-termine enthalten die der Öffentlichkeit übergebenen Akten der niederländischen Enquetekommission sehr eingehende Aussagen des (nachher tödlich verunglückten) Obersten Sas aus dem März 1948
Sas war bereits im Jahre 1936 Militärattache in Berlin gewesen und hatte damals die Bekanntschaft von Oster gemacht. Dann wurde er nach dem Haag zurückberufen, leitete dort eine Zeitlang die Operationsabteilung des Generalstabes und wurde schließlich im Frühsommer 1939 — alsbald nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland — erneut als Militärattache nach Berlin entsandt. Dort nahm er sofort die alte Verbindung zu Oster wieder auf. Es entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen. Wir fassen die Aussagen von Sas über das, was er von Oster hörte, zusammen: Bereits im Oktober 1939 wurde er darüber informiert, daß der deutsche Generalstab mit Plänen für eine Besetzung der Niederlande beschäftigt sei. Sas hatte übrigens schon von sich aus diese Befürchtung geäußert. Damals sagte ihm Oster: „Mein lieber Freund, Du hast recht, jetzt ist auch Holland an der Reihe“. Kurz vor dem 8. November erhielt Sas durch Oster die erste Termininformation. Es wurde ihm — für den Augenblick ganz richtig — der 12. November genannt und Sas ist mit dieser Meldung sofort persönlich nach dem Haag gefahren. Mit der schon geschilderten Wirkung, daß man allmählich den eigenen Militärattache im Haag nicht mehr ganz ernst nahm. Am 3. April 1940 erfuhr Sas durch Oster, daß für den 9. April die Besetzung von Dänemark und ein Überfall auf Norwegen zu erwarten sei. Er informierte natürlich zuerst die eigene Regierung, da er es für möglich hielt, daß die Nordinvasion gleichzeitig mit der Westoffensive gestartet würde. Sas hat dann durch seinen dänischen Kollegen und den ihm bekannten norwegischen Gesandtschaftsrat Stang sich bemüht, die beiden unmittelbar bedrohten Länder zu unterrichten. Während die wichtige Information in Kopenhagen ankam, hat sie Oslo offenbar nicht erreicht — wie Sas vermutet, weil Stang ein Quisling-Anhänger war und mit den Deutschen sympathisierte. Es lag nahe, daß von dieser Seite her die deutschen Stellen umgehend eine Information über die Terminpreisgabe empfingen und verständlicherweise sofort alle Hebel in Bewegung setzten, um die Informationsquelle zu entdecken.
Diese Nachforschungen wurden auch Oster bekannt, und er war sich ohne weiteres darüber klar, in welcher Gefahr er schwebte. Aber das hat ihn nicht abgehalten, mit Sas weiter engste Fühlung zu halten. Am 3 Mai sprach er erneut mit Sas. Er konnte ihm noch keinen Termin nennen, aber er ließ ihn nicht im Zweifel, daß es sich nur noch um Tage handeln könne. Da aber Sas in freundschaftlicher Offenheit von den erheblichen Schwierigkeiten berichtet hatte, in die er durch die wiederholte Angabe von dann nicht stattfindenden Terminen nachgerade geraten war, empfahl im Oster selber, an diesem Tag, also am 3. Mai, noch keine Meldung zu geben, weil der Termin ja tatsächlich noch immer nicht endgültig feststand. Oster sagte ihm: „Sie haben so viele Unannehmlichkeiten in Holland gehabt, Sie glauben es Ihnen doch nicht. Warfen Sie erst noch einmal, lind schauen wir, was weiter geschieht
Am 4. Mai erhielt Sas ein Telegramm des Außenministers aus dem Haag mit der Mitteilung, daß auch im Vatikan auf die Möglichkeit einer Invasion hingewiesen worden sei. Sas wurde nun sogar um eine erneute Meldung gebeten. Auf seinen Vorschlag hin meldete der holländische Gesandte dem Haag, daß die Invasion für „Mitte der nächsten Woche“ — der Mittwoch war der 8. Mai — zu erwarten sei.
Am Abend des 9. Mai 1940
Am Donnerstag, 9. Mai, traf sich Sas abermals mit Oster und zwar um 7 Uhr abends. Zu dieser Stunde teilte Oster mit, daß die Sache nun im Lauf sei, daß die Befehle für den folgenden Tag ausgegeben seien und daß Hitler nach der Westfront abreise. Oster fügte aber hinzu:
„Es besteht immer noch eine Möglichkeit, daß die Sache verschoben wird. Wir haben es jetzt bereits dreimal erlebt. Lassen Sie uns deshalb noch einmal warten. 1/210 Uhr (abends) ist die kritische Stunde. Wenn nach 1/210 Uhr kein Gegenbefehl erteilt worden ist, dann ist es endgültig aus". Oster und Sas aßen dann zusammen zu Abend. Dabei erzählte Oster, daß wegen der Terminpreisgabe im Norwegenfalle eine große Untersuchung eingeleitet worden sei. Der Verdacht sei — zum Glück für Oster — auf den belgischen Militärattache gefallen, der in Verbindung mit „katholischen Kreisen" im OKW gestanden haben soll. Oster bemerkte dazu: „Also haben wir unsere Karten gut gemischt“. Um 1/210 Uhr abends gingen dann Sas und Oster zum OKW. Sas wartete draußen in der Dunkelheit. Nach 20 Minuten kam Oster zurück und sagte: „Mein lieber Freund, jetzt ist es wirklich aus. Es sind keine Gegenbefehle gegeben. Das Schwein (= Hitler) ist abgefahren zur Westfront. Jetzt ist es endgültig aus. Hoffentlich sehen wir uns nach dem Krieg wieder". * Sas eilte, so schnell er konnte, in seine Gesandtschaft, wohin er auch den belgischen Militärattache bestellt hatte. Er gab diesem die letzte Information und stellte seinerseits sofort telephonische Verbindung mit dem Kriegsministerium im Haag her, die er nach etwa 20 Minuten erhielt. Sein Gesprächspartner war ein ihm gut bekannter Offizier. Ihm sagte Sas: „Brief 210 erhalten“. Der vereinbarte Code lautete: „Brief 200" bedeutet die Invasion und die beiden letzten Ziffern bezeichneten den Tag der Invasion. Etwa eineinhalb Stunden nach diesem ganz knappen Telephongespräch wurde Sas vom Chef des Aufklärungsdienstes Ausland im holländischen Generalstab angerufen. Dieser sagte — „mit mehr oder weniger Zweifel in der Stimme": „Ich habe sehr schlechte Nachricht von Dir über die Operation Deiner Frau gehört. Hast Du nun alle Ärzte gesprochen?“ Sas war begreiflicherweise sehr erregt darüber, daß er, nachdem er schon das letzte Mal offen über das Telephon gesprochen hatte, durch den erneuten Anruf (natürlich konnte der deutsche Abhördienst jedes Wort aufnehmen) bloßgestellt wurde. Sas erwiderte daher: „Ich verstehe nicht, daß Du mich unter diesen Umständen noch belästigst. Du weißt es jetzt. An der Operation ist nichts mehr zu ändern. Ich habe mit allen Ärzten gesprochen. Morgen früh, bei Tagesanbruch, findet es statt". Das war immerhin so deutlich, daß auch die mithörenden Deutschen keinen Zweifel mehr haben konnten, was gemeint war. Zweifel hatten nur noch — die Holländer. Weshalb denn auch die Folgen, die man von einer solchen Preisgabe des Angriffstermines für die deutschen Truppen an der Front zu befürchten hatte, merkwürdigerweise nicht eingetreten sind. Es ist also unrichtig, daß durch das Verhalten Osters „viele Tausende deutscher Soldaten umgekommen" seien. Es müßte vielmehr erst nachgewiesen werden, daß deswegen überhaupt ein einziger Soldat das Leben oder seine gesunden Glieder verloren hat. Aber das kann für die Beurteilung dieses Falles nicht ausschlaggebend sein. Es kann um so weniger ausschlaggebend sein, als Oster offensichtlich sehr bewußt mit einer so ernsten Möglichkeit gerechnet hat.
Wir haben also den Tatbestand: Oster hat die Angriffstermine des 9. April (Norwegen) am 3. April und des 10. Mai (Westfront) am 9. Mai abends dem niederländischen Militärattache bekanntgegeben. Wie ist dieser Tatbestand zu erklären, wie ist er zu beurteilen?
Bewertung des Tatbestandes Es gab, es gibt und es wird weiterhin selbst unter denen, die unbeirrte Gegner des nationalsozialistischen Regimes waren und alle Unzulänglichkeiten des Widerstandes einschließlich der Militäropposition beanstanden, viele geben, die das Verhalten Osters sehr entschieden verurteilen. Das gilt insbesondere für Soldaten, für alte Berufssoldaten, die ein Leben lang ihrem soldatischen Ideal gedient haben, wie für einfache Landser. Für sie alle stellt das Verhalten Osters einen flagranten Landesverrat dar. Selbst wer nach allen Schilderungen über den Charakter Osters und über seine geradezu triebhafte Vaterlandsliebe überzeugt ist, daß höchstens von einem objektiven, aber nicht von einem subjektiven Landesverrat die Rede sein kann (weil Oster, „die Absicht, dem Wohl des Reiches zu schaden", gefehlt hat), der wird zumeist auf das bestimmteste erklären, daß er für seine Person selbst im größten Haß gegen Hitler einen solchen Schritt nicht hätte tun, nicht hätte mit seinem Gewissen vereinbaren können.
Was waren die Motive für dieses bedenkliche, mindestens sehr anfechtbare Verhalten?
Oberstleutnant a. D. Heinz darf in diesem Falle wohl als verlässiger Interpret der Gedanken seines Freundes Oster gelten. Er berichtet, daß auch diese hier umschriebene Frage zwischen ihnen und zwar nicht nur unter vier Augen, sondern überhaupt im engeren Kreis oft erörtert worden sei. Je mehr sich bei Oster die Überzeugung durchsetzte, daß der Westangriff nicht mehr zu verhindern sei — zumal seit der negativen Reaktion Halders auf das Ergebnis der römischen Gespräche —, desto mehr beschäftigte sich Oster mit der Frage, was nun weiter kommen könne. Wir wissen, daß außer Beck auch ein größerer Teil der Generalität, der Armee-und Heeresgruppenführer im Westen dem Angriff mit ernster Sorge entgegensah, daß den Franzosen eine viel stärkere Widerstandskraft zugeschrieben wurde, daß mit einem baldigen Erstarren der Front wie im Jahre 1914 und dabei mit sehr bedeutenden Blutverlusten bei einem Angriff auf die Maginotlinie gerechnet wurde. Darin aber, sah Oster — wie wohl der ganze Kreis um Beck — auch eine neue Chance. Er glaubte, von diesem zunächst befürchteten unglücklichen Verlauf der Operationen im Westen ein Gutes für die Wendung der Dinge im Sinne der Militäropposition erwarten und — gestalten zu können. Die Rechnung ging dahin, daß Halder und sogar Brauchitsch und noch so mancher andere, die bisher zwar mitkritisierten, sich aber zum Absprung nicht entschließen konnten, dann leichter und schneller zum Entschluß kommen würden. Heinz entwickelte den Gedankengang wie folgt: „Wir treten im Westen an, treffen auf einen vorbereiteten Feind. Die Offensive wird abgeschmiert. Sie kostet, sagen wir einmal, 40 000 Tote. Hierauf entschließen sich die Oberbefehlshaber und der Chef des Generalstabes, die „Aktion" durchzuführen. Hitler wird gestürzt. Wir können einen Aufruf an die Welt erlassen: So hat der deutsche Offizier auf diesen Rechtsbruch geantwortet. Wir wollen jetzt in sauberen Grenzen einen Frieden schließen.“ Es war also neben dem ethisch-politischen und politisch-theologischen Moment der Eidesverletzung, des Verrates, noch ein ganz konkreter Anlaß, diesen sogenannten Verrat zu begehen, durch die mit den römischen Gesprächen vorliegenden Zusagen gegeben. Die Rechnung ging dahin, daß man am Ende des Krieges nicht drei oder fünf Millionen Tote und ein zerstörtes Reich haben wollte, sondern wohl Zehntausend oder Zwanzigtausend oder Dreißigtausend Tote, daß man aber dabei das Reich und die Zukunft retten konnte.
Rechnung mit ungewissen Größen Diese Rechnung operierte allerdings mit mehreren recht unsicheren Größen. Es war schon keineswegs ausgemacht, ob die „aktive Gruppe" der Militäropposition (Halder) wirklich aktiv werden würde, wenn es im Westen schlecht gehen sollte. Denn dann wog doch die Gefahr für das Reich bei einem Umsturz noch erheblich schwerer als vorher. Alles, was die römischen Gespräche für einen Friedensschluß in Aussicht gestellt hatten, war ferner ausdrücklich und sehr betont an die Voraussetzung geknüpft: „Keine Westoffensive". Wenn das aber schon Halder und seiner Gruppe nicht genügte, wer gab ihnen dann trotz Westoffensive eine Garantie, daß die französische Armee nicht den inneren Umsturz dazu benützen würde, um ihrerseits die Kraft zu einer größeren Offensive zu finden?
Zuzugeben ist eines: Der Ausgangspunkt war die richtige Erwägung, daß die Westoffensive den Weltkrieg erst effektiv machte, daß auf lange Sicht die deutsche Kraft einem Weltkrieg (mit Amerika als Feind) nicht gewachsen war. Der Militäropposition ging die Sorge sehr nahe, daß die Polengreuel bei weiteren vorübergehenden Waffenerfolgen ähnliche Entartungserscheinungen auch in anderen besetzten Ländern erwarten ließen, daß dadurch der deutsche Name und die deutsche Ehre immer noch mehr mit Schande bedeckt werden und daß am Ende eine Haßwelle von der ganzen Welt her Deutschland überschwemmen und verschlingen werde. Die Militäropposition hätte an sich selbst, sie hätte am „anderen Deutschland" überhaupt verzweifeln müssen, wenn sie im Angesicht der unvermeidlichen Westoffensive nicht alle Gedanken, man kann vielleicht sogar sagen, alle Phantasie auf das eine Ziel eingestellt hätte, im jeweiligen Stadium der Dinge immer noch das Bestmögliche aus ihnen herauszuholen, immer noch so viel wie möglich a Schlimmeren zu verhindern. Ob man Osters Tat verstehen oder billigen kann oder nicht — richtig ist jedenfalls: Wenn selbst Zehntausende von Toten an der Westfront schon im Frühjahr 1940 die Aussichtslosigkeit des Weltkrieges auch einem großen Teil der Generalität klar gemacht hätten, dann wären Millionen von Toten (urd Kriegsgefangenen) und die weitgehende Zerstörung des Reiches uns erspart geblieben.
Wußte Beck?
Noch einmal erhebt sich die Frage: Hat Beck gewußt? Hat er das Verhalten von Oster gekannt oder gar genehmigt? Man wird hier ganz besonders vorsichtig in der Beurteilung sein müssen. Oberstleutnant Heinz ist aus der schon näher gekennzeichneten genauen Kenntnis der • 0
Beziehungen Oster—Beck der Überzeugung, daß Oster auch in diesem Falle keine Geheimnisse vor Beck gehabt hat und nicht ohne Kenntnis und ohne Zustimmung von Beck gehandelt hat. Pfarrer Bethge, Schwager Dohnanyis, dauernd im vertrauten Umgang mit Dohnanyi, erinnerte sich der vorangegangenen Unterhaltungen über die Frage der Terminpreisgabe, wobei er persönlich unter Hinweis auf die Gefährlichkeit des Unternehmens dringend abriet. Er berichtete dem Arbeitskreis über Unterhaltungen im Kreise Oster, in denen der Gedankengang entwickelt und überprüft wurde, daß man mit den meisten Offizieren über ein so außerordentlich schwieriges Problem nicht einmal sprechen geschweige, daß man sie zum Handeln mitreißen könne. Immer wieder fiel dabei nach Bethge die Äußerung: „Der Einzige, der hier wie ein Zivilist denken kann, ist Beck“. In diesem Zusammenhang erklärte Bethge, daß die Beziehungen Oster-Beck „dauernd und — ohne abzureißen — eng“ gewesen sind. Ebenso ist Frau v. Dchnanyi überzeugt, daß nichts „Prinzipielles ohne Beck getan“ worden ist. Sie unterstreicht diese Überzeugung mit dem Hinweis, auf viele eingehende Gespräche mit ihrem Mann (dieser war Reichsgerichtsrat!), der dann zu dem Schluß gekommen ist, daß ein Putsch nicht ohne Verbindung mit dem Ausland durchgeführt werden könne (im Hinblick auf „das Später“) und der expressis verbis nicht nur einen Hochverrat, sondern im Zusammenhang mit ihm auch Akte des „Landesverrates“ für gerechtfertigt und für unvermeidlich erklärt hat.
Wenn nan annehmen will, daß Beck auch die Terminpreisgabe durch Oster gekannt und gebilligt hat
Eine Gewissensentscheidung für Oster und — seine Beurteiler Auch nach diesen Untersuchungen wird das letzte Urteil über Oster in das Gewissen des Einzelnen gestellt sein.
Hier soll neben der Frage, was durch eine derartige Terminangabe an ernsten Gefahren für die kämpfenden deutschen Soldaten heraufbeschworen werden konnte, auch eine andere Frage gestellt werden: Was konnte durch die Terminangabe positiv für Deutschland und seine Zukunft erreicht werden? Die Beantwortung dieser Frage wird immerhin ein erhebliches Gewicht in die Waagschale werfen.
Es ist abermals Bezug zu nehmen auf die für die britische Regierung so kritische Publikation von J. Londsdale Bryans
Der Herausgeber der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte fügt dieser Publikation
Wir stehen jetzt an einem weiteren Orientierungspunkt: Wenn die Militäropposition in ihrem heißen Bemühen, Deutschland und Zentral-europa einen Zusammenbruch ohne gleichen zu ersparen, zuweilen falsch gehofft und falsch gerechnet hat, dann hat sie es nicht nur gegenüber „aktiven“ Mitspielern (Halder), von denen sie mehr erwartete, als diese nach ihren seelischen Kräften leisten konnten, getan. Sie hat auch gegenüber dem Ausland falsch gerechnet, das an immerhin recht wichtigen Stellen Loyalitätsbeweise des „anderen Deutschland“ nicht auf das Aktiv-konto eines Leistungswillens für das gemeinsame Europa, für die rechtsstaatliche Idee und die abendländische Kultur buchte, sondern auf das Passivkonto eines „Verrats" am eigenen Volke. Man muß es Halder zugute halten, wenn er. in diesem Zusammenhang an die alte Weisheit (Napoleons) erinnerte, daß die Welt zwar den Verrat, wo er ihr nützt, schätze, aber den Verräter nicht achte.
Das ist, wie sich auch hier wieder zeigt, keine Theorie, sondern eine Erfahrungstatsache. Es kann nicht dazu beitragen, diejenigen von der Richtigkeit des Osterschen Verhaltens zu überzeugen, die vielleicht gefühlsmäßig schon nicht mitkommen. Es muß allerdings . entgegengehalten werden, daß die Welt ja auch einmal sehr stark an die „Kollektivschuld“ des deutschen Volkes geglaubt und in den Nürnberger Prozessen zunächst einmal die Kollektivschuld großer Gruppen, darunter des deutschen Generalstabes unterstellt hat, zu dessen Erziehern und hervorragendsten Vertretern Männer wie Beck und Halder gehört haben. Inzwischen begann diese Welt doch einzusehen, daß es ein glatter Widersinn ist: auf der einen Seite dem deutschen Volk im allgemeinen und den führenden militärischen Kreisen im besonderen den Vorwurf zu machen, daß sie das System nicht gestürzt und daß sie eine entartete Führungsschicht nicht am Kriegsverbrechen und an vielen einzelnen Kriegsverbrechen gehindert haben, und auf der anderen Seite Aktionen der Militäropposition gegen eben dieses Regime auch noch als „Verrat“ an einer vaterländischen, also an einer guten Sache moralisch zu diskriminieren. Noch sind wir nicht so weit, daß die ganze Welt diesen Widersinn voll erkannt hat. Konnte doch selbst ein Mann wie Salvador de Madariaga noch im Herbst 1953128) unter der Überschrift „Diskussion mit Deutschen“ folgendes schreiben: „Alle Deutschen müssen sich klar werden — wie das manche, vielleicht die Mehrheit schon heute tut —, daß die böse Kraft, die auch hinter jenen stand, die Dresden bombardierten, daß diese böse Kraft in Wirklichkeit von Hitlers schwarzer Seele ausging. Hitler hat Dresden zerstört und Potsdam und alle die anderen Städte, deren Untergang Deutschland und Europa heute beklagt. Hitler zerstörte Europa.“ Darin wird man Madariaga durchaus zustimmen. Er fügte aber hinzu: „Und die deutschen Generale und Professoren erlaubten ihm dieses Zerstörungswerk. Diesen Sachverhalt wollen wir fest ins Auge fassen, damit er sich nicht wiederhole.“ Man wird gegen di'ese unhaltbare Schlußthese mit Erfolg nicht angehen können, wenn man auch weiterhin im eigenen Volk die Absichten der Militäropposition moralisch diskriminiert.
Maßgebendes Kriterium Für die Beurteilung des einzelnen Falles einer solchen Terminpreisgabe wird jedenfalls immer ein sehr maßgebendes Kriterium gelten müssen: Ein solches Verhalten im Kriege kan überhaupt nur dann vertretbar sein, wenn der Nachweis vorliegt, daß eine gemeine Gesinnung auszuschließen ist, daß kein persönlicher Vorteil und keine Spekulation auf spätere persönliche Vorteile irgendeine Rolle gespielt haben können, daß der schwere Entschluß nicht aus einer Affektstimmung, auch nicht aus der Haßgesinnung gegenüber dem Terrorsystem entsprungen ist, sondern aus einer strengen Prüfung im Gewissen. Die hier gebotenen Zeugnisse bieten nach Auffassung des Arbeitskreises die bezeichneten Voraussetzungen in einem hohen Grade.
VIII. , Seelwe”
Die Tätigkeit der Militäropposition in dem Zeitabschnitt, der mit der Westoffensive 1940 eingeleitet wurde, liegt an sich bereits jenseits des Zeitraumes, dem diese Darstellung gewidmet ist. Das gilt auch für die Operation „Seelöwe", d. h. für die Planungen einer deutschen Invasion in England. Nun ist auch in diesem Falle — gegen Dr. Josef Müller — der Vorwurf erhoben worden, daß die Militäropposition Angriffstermine via Vatikan an die Engländer gelangen ließ. Aus den zum Teil schon vorliegenden Ergebnissen der Untersuchungsarbeiten des Arbeitskreises für die Folgezeit kann Nachstehendes vorweg genommen werden: 1. England hatte nach der Kapitulation Frankreichs mit der Möglichkeit einer Invasion ernsthaft zu rechnen. Das lag in der Luft. Es bedurfte keines englischen Agenten und keines deutschen Zwischenträgers, um England auf diese naheliegende Gefahr aufmerksam zu machen. Aus den Memoiren Churchills ist mit zahllosen Einzelheiten zu entnehmen, daß in den Sommermonaten 1940 seine Aufmerksamkeit und seine Tat-kraft auf nichts anderes konzentriert war als darauf, eine deutsche Invasion unmöglich zu machen. 2. Ein Angriffstermin für die Invasion ist deutscherseits im Jahre 1940 niemals festgesetzt worden, kann also ebenfalls nicht verraten worden sein. Es lagen nur terminmäßige Weisungen für die Ausarbeitung von Operationsplänen vor.
3. Die Historiker stehen heute vor der Aufgabe zu prüfen, ob die deutsche militärische Führung, ob im besonderen die Führung des Heeres in jenen Sommermonaten die Invasion ernsthaft für möglich gehalten und ernstlich bis in alle Konsequenz betrieben hat. Sie steht sogar vor der Frage, ob Hitler selbst mit vollem Ernst und mit der bei ihm in solchen Fällen bekannten Vollkraft die Invasion betrieben hat. Schon heute liegt übrigens der Nachweis vor, daß der erste Entschluß Hitlers zum Angriff auf — Rußland am — 31. Juli 1940 gefaßt worden ist
4. Die Interessenten der Dolchstoß-Legende in Deutschland werden sich daher voraussichtlich umstellen müssen. Sie werden nicht mehr den Verrat von Terminen, den es nicht gegeben hat, zu unterstellen haben, sondern den Verrat der mangelnden Ernsthaftigkeit deutscher Invasionsvorbereitungen zu unterstellen und — zu beweisen haben.
IX. Ausländische Nachrichtendienste
Was wir im folgenden der Darstellung der Untersuchungsergebnisse für den Zeitraum Kriegsbeginn 1939 bis Westoffensive 1940 anzufügen haben, berührt die Militäropposition nur mittelbar. Gegen sie richten sich hauptsächlich die Vorwürfe, daß wesentliche militärische Geheimnisse dem'Feinde preisgegeben worden seien. Dabei wird, worauf wir wiederholt schon hingewiesen haben, meistens übersehen, daß die damaligen Kriegsgegner aus sehr vielen Quellen schöpfen konnten. Einen großen Teil dieser Quellen, insbesondere ihres eigenen Nachrichtendienstes kennen wir heute noch nicht.
Cianos aufschlußreiche Tagebücher Hier aber ist noch einmal auf die aufschlußreichen Tagebücher des italienischen Außenministers, Graf Ciano
Attolico
1. daß der Angriff auf Holland in Vorbereitung ist, und Holland sich nicht an seine Neutralität hält;
2. daß Rußland in Schweden und Bessarabien mehr oder weniger freie Hand bekommen hat;
3. daß Deutschland einen Krieg mit Rußland voraussieht; 4. daß die Fortsetzung des Krieges der einzige Gedanke ist, den sich Hitler für die Zukunft macht.“ 26. 12. 1939: Gespräch mit Mussolini, nimmt Bezug auf eine angebliche Rede des Prager Vize-Bürgermeisters Dr. Pfitzner, der für Deutschland nicht nur Südtirol und Triest, sondern die ganze Po-Ebene gefordert haben soll. „Der Bericht über die Rede des Vize-Bürgermeisters von Prag hat ihn gegen die Deutschen noch mißtrauischer gemacht. Jetzt zum ersten Mal wünscht er offen eine deutsche Niederlage, und da Marras, Militärattache in Berlin, aus guter Quelle Nachrichten über den bevorstehenden Einfall in Holland und Belgien sendet, fordert mich der Duce auf, die beiden diplomatischen Vertreter vertraulich in Kenntnis zu setzen.“ 30. 12. 1939: „Lange Unterredung mit Maria von Piemont
Ich ließ durchblicken, daß nach unseren neuesten Nachrichten diese Sache äußerst wahrscheinlich sei. Sie will unverzüglich König Leopold benachrichtigen. Wir vereinbaren, daß ich ihr durch Vertrauensleute alle Mitteilungen, die ich erhalte, zukommen lassen würde.“ 2. 1. 1940: „Ich informiere den belgischen Gesandten über die Möglichkeit eines deutschen Angriffs gegen die Neutralen. Vor zwei Monaten sagte ich ihm, daß ich das nicht für wahrscheinlich hielt: heute habe ich ihm gesagt, daß mich neue Informationen zu einer Änderung meines früheren Urteils gebracht haben. Er war sehr beeindruckt.“ 9. 1. 1940: „Colijn, Ex-Präsident des niederländischen Ministerrats, ist nach Rom gekommen, um unsere Meinung über die Lage kennenzulernen ... Ich sage Colijn, daß man für den Augenblick nur abwarten und zusehen kann Und sich bewaffnen. Sich-maximal bewaffnen. Colijn hat gesagt, daß er jede Möglichkeit eines deutschen Sieges ausschließe. Ich habe ihn verstehen lassen, daß ich auch so denke.“
11. 1. 1940: „Attolico berichtet über langes Gespräch mit Ribbentrop ...
In der Umgebung Görings spricht man von neuem von einer unmittelbar bevorstehenden Offensive.“ 16. 1. 1940: . Brief der Prinzessin von Piemont: sie dankt im Namen ihres Bruders für alles, was ich für ihn getan habe. Ich glaube, daß die Warnung rechtzeitig gegeben wurde. Auch heute telegraphiert Attolico, daß der Angriff gegen Belgien nicht nur wahrscheinlich, sondern vielleicht sogar unmittelbar bevorstehend ist. Und Attolico ist ein sehr gewissenhafter Berichterstatter.“ 6. 2. 1940: „Unterhaltung mit dem General Carloni, der aus Deutschland zurückkehrt.. . Man bereitet eine große Landoffensive vor, aber man wird sie nicht vor Ende April, nach Beginn des Tauwetters, beginnen können."
29. 2. 1940: „Aus mehreren Quellen wird bestätigt, daß sich Deutschland zur Offensive an der Westfront bereit macht. Doch dürfte die Offensive noch nicht unmittelbar bevorstehen. In der Umgebung von Göring spricht man von Ende März, ein Monat, der im Aberglauben Hitlers eine große Rolle spielt.“ 10. 3. 1940: Ribbentrop in Rom. Er spricht in arrogantem Ton folgende Worte: „In wenigen Monaten wird das französische Heer vernichtet, und die paar Engländer, die auf dem Kontinent geblieben sind, werden Kriegsgefangene sein.“
20. 4. 1940: „Hessen 1353) hat mir gestern von der unmittelbar bevorstehenden Offensive gesprochen und hat mir erzählt, Hitler beschuldige das schlechte Wetter, das ihn daran gehindert habe, seinen Geburtstag in Paris zu verbringen.“
Die weiteren Tagebucheinträge bis zum 10. Mai enthalten zwar mehrfach Hinweise auf die bevorstehende Offensive, aber keine Hinweise auf spezielle Informationen. Die Auszüge lassen jedenfalls erkennen, daß Ciano Informationen über die Offensive einmal durch den geschwätzigen „Reichsleiter" der NSDAP, Dr. Ley, dann wiederholt „aus der Umgebung Görings“, durch den Prinzen von Hessen, der als Vertrauensmann Hitlers fungierte, und auch durch Ribbentrop erhalten hat, ferner daß er solche Informationen — einmal sogar auf ausdrückliche Weisung Mussolinis — an die bedrohten Länder weitergegeben hat. Das Motiv war bei Mussolini eine gelegentliche Anwandlung von Verärgerung und Eifersucht gegenüber Hitler, bei Ciano das nachhaltige Ressentiment darüber, daß Italien im August 1939 (Zusammentreffen mit Hitler in Salzburg) durch den Entschluß Hitlers zum Krieg überrascht und überfahren worden ist 136).
Ein polnischer Zeuge Die gegen die deutsche Militäropposition gerichteten Angriffe haben nun einen in Deutschland lebenden Angehörigen des polnisch-englischen Nachrichtendienstes aus der Vorkriegszeit und Kriegszeit veranlaßt, sich dem Arbeitskreis als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Der Arbeitskreis hat den Zeugen, dem hier der Deckname Sator gegeben sei, gehört. Er ist an die Vernehmung des Zeugen nicht ohne Voreingenommenheit herangegangen. Man befürchtete eine mehr oder minder romanhafte Darstellung zu erhalten, die sich allenfalls wieder mehr für die Belletristik als für die Geschichtsforschung eignen würde. Die vielstündige Vernehmung Sators und die eingehende Diskussion mit ihm hat den Arbeitskreis davon überzeugt, daß die Befürchtung nicht gerechtfertigt war. Wohl ging es über die Untersuchungsaufgabe des Arbeitskreises hinaus, die Darlegungen des Zeugen im einzelnen, soweit möglich, einer gründlichen Nachprüfung zu unterziehen. Die Diskussion selbst wurde aber dazu benützt, um alle Anhaltspunkte für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit Sators zu prüfen. Es wurden seine Aussagen auch unter „abwehrtechnischen" Gesichtspunkten erörtert. Es gibt hier eine Fülle technischer Einzelheiten, aus denen der Fachmann rasch ersehen kann, ob er es mit einem Laien, mit einem Dilettanten oder mit einem Angeber zu tun hat. Eine ganze Reihe von Fangfragen hat weder eine Unsicherheit bei dem Zeugen noch Widersprüche in seinen Angaben erkennen lassen. Seinen Darlegungen ist daher nach Auffassung des Arbeitskreises ein beträchtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit beizumessen. Das Ergebnis läßt sich vorweg dahin zusammenfassen, daß es dem polnisch-englischen Nachrichtendienst gelungen ist, den Angriffstermin des 10. Mai — wie schon vorher einen Hinweis auf den unmittelbar bevorstehenden Norwegeneinfall — zu erfahren und auf dem Funkwege nach London durch-zugeben. Der Informator saß nicht in der Wehrmacht, sondern im Reichspropagandaministerium. Sator ist 60 Jahre alt, geboren in dem seinerzeit zu Preußen gehörenden überwiegend polnischen Gebiet, daher auch im ersten Weltkrieg zur deutschen Wehrmacht und zwar zur Kriegsmarine eingezogen. Nach dem ersten Weltkrieg war er als Journalist tätig und er befaßte sich besonders mit Fragen der beiden Minderheiten in den Gebieten diesseits und jenseits der oberschlesischen Grenze. Dabei kam er — mehr oder minder zwangsläufig — in enge Verbindung zum polnischen Nachrichtendienst, der zu jener Zeit unter der Leitung von Oberst Tychon stand. Dieser polnische Nachrichtendienst arbeitete bereits vor dem zweiten Weltkrieg in gewissen Fragen freundschaftlich mit dem englischen Nachrichtendienst zusammen und nach der Sudetenkrise wurde auch der tschechische Nachrichtendienst in den „Kreis" einbezogen. Als 1939 die Möglichkeit einer deutsch-polnischen Krieges akut wurde, erfolgte vorsorglich eine organisatorische Koppelung des englischen und des polnischen Nachrichtendienstes. Die Leiter des polnischen N. D. rechneten ganz zutreffend für den Kriegsfall mit einer Besetzung Polens, insbesondere der grenznahen Gebiete, und es lag ihnen daran, das weitere Funktionieren ihres dort installierten Apparates sicherzustellen. Dafür war die Koppelung mit dem englischen Nachrichtendienst der nächstliegende, wenn nicht der einzige aussichtsvolle Weg. Um diese Zeit also wurde die Zusammenarbeit für den Kriegsfall durch englische Agenten (Nachrichtenoffiziere) in Krakau und Posen und im reichsdeutschen Kattowitz organisiert.
Dreieck Berlin—Oberschlesien—London Sator berichtet über die Zusammenarbeit folgende Einzelheiten:
„Wir wurden mit den in Deutschland anwesenden Agenten und Fachleuten in Verbindung gebracht. Unsere Zusammenarbeit wurde sehr straff durchgeführt. Als wichtigsten Verbindungsmann in Deutschland nannte man uns Egon Brandenburg, einen Mann, der es außerordentlich ernst nahm und, wie ich im Laufe der Zeit erfuhr, im Propagandaministerium, in der Presseabteilung, beschäftigt war. Wie ich weiter erfuhr, war er Halbjude. Dadurch, daß Brandenburg zum engeren Stab von Goebbels gehörte, hatte er Einblick in die internsten Dinge des Propagandaministeriums und konnte deshalb intimste Nachrichten über die Absichten der Reichsregierung und ihre Durchführung bringen. Die Verbindung zu ihm wurde durch Captain Best herbeigeführt, den gleichen englischen Agenten, der bei Venloo durch den SD verschleppt wurde und bis Kriegsende im KZ Sachsenhausen untergebracht war. Best erschien uns als einer der tüchtigsten Engländer im Nachrichtendienst. Meine Tätigkeit erstreckte sich hauptsächlich auf den Nachrichtendienst zwischen Polen und England, wo ich übrigens auch Bekannte hatte. Llnsere Zusammenarbeit mit Brandenburg begann bereits einige Monate vor Kriegsbeginn. Bezüglich des Angriffes auf Holland und Belgien hat er uns bereits drei bis vier Monate zuvor von den deutschen Angriffsabsichten der Wehrmachtführung Meldungen zur Weiterbeförderung übergeben. Die Engländer bezweifelten jedoch diese Meldungen und verlangten genaueste Angaben. Brandenburg gab daraufhin mehrere Angriffstermine bekannt; da diese aber nicht eintrafen, wurden die Engländer noch mehr stutzig. Ich habe persönlich seine sämtlichen Meldungen sofort nach England per Funk durchgegeben. Ich war der einzige, der einen schwimmenden Sender hatte und zwar in Oberschlesien in einem Ort an der Oder. Da ich über 100 Kilometer Flußstrecke hinweg meinen Standort ständig wechseln konnte, wurde ich von deutschen Peilstellen nicht erfaßt. Ich verlegte mich bei der Durchgabe stets auf kurze Mitteilungen.
Dieser Apparat war so eingerichtet, daß sämtliche Agenten im Notfall in Holland anlaufen mußten. Das Technische des polnischen Nachrichtendienstes war mit dem englischen vollkommen abgestimmt, da anzunehmen war, daß Polen von den Deutschen überrannt wird. Oberst Tychon, als Leiter des polnischen Nachrichtendienstes saß während des Krieges in England. Er war es, der uns seinerzeit sagte, daß wir für den Überrennungsfall alles nach England umlegen müßten, da nicht erwartet wurde, daß sich die Franzosen für die Polen verbluten werden. Bei der ersten Dienstbesprechung, die wir in Krakau etwa vier Wochen vor Kriegsbeginn hatten, wurde die technische Seite des gemeinsamen Nachrichtendienstes so geregelt, daß wir uns zum Schluß sagten, daß wir ja schon ganz in englischen Diensten stehen. So haben die Engländer das bereits in der Hand gehabt. Sämtliche polnischen Agenten, die etwas taugten, wurden den Engländern bekanntgegeben.''
Sator verfügte über zwei Sender und zwei Empfangsgeräte — „modernste Apparate" (nach dem damaligen Stand der Technik). Diese Apparate wurden, wenn sie nicht in Betrieb waren, im Abstellraum einer Fabrik verwahrt, deren Leiter ins Vertrauen gezogen war. Bei der Verwendung der Apparate — sowohl zur Durchgabe von Nachrichten, wie zum Empfang von Weisungen und Rückfragen — bediente sich Sator der Hilfe von einigen wenigen Vertrauensleuten aus den nationalpolnischen Kreisen der Oderfischerei. Für die Übermittlungen und den Empfang von Nachrichten aus und nach London standen einige Codes zur Verfügung, die jeweils gewechselt wurden. Sobald eine Meldung durchgegeben war, wurde der Standort sofort gewechselt. Die Verbindung mit Brandenburg wurde durch Kuriere (Agenten) aufrecht erhalten; nach entsprechenden Vereinbarungen wurden auch telephonisch (getarnt) Nachrichten von Brandenburg an Sator und die Zwischenagenten übermittelt. Unter den letzteren stellte sich ein wohlhabender Mühlenbesitzer zur Verfügung, der auch Auslandsgeschäfte tätigte und daher ohne aufzufallen, Telephongespräche „in Geschäften" führen konnte.
Brandenburg war nach Sators Darstellung nicht polnischer, sondern englischer Agent und wurde, wie gesagt, von Captain Best „geführt“ — bis zur Verhaftung von Best durch den SD nach dem Zwischenfall von Venloo (vgl. Fußnote 76). Von da an funktionierte die direkte Verbindung zwischen Brandenburg und dem englischen Nachrichtendienst in Holland nicht mehr gut. Brandenburg wurde daher auf Sator „umgelegt". Er hat in der Folge wohl ausschließlich über Sator seine Nachrichten weitergegeben. Das ist glaubhaft; denn wenn solche Nachrichten über mehrere Mittels-stellengeleitet wurden, dann war das ganze LInternehmen einmal komplizierter und zum anderen auch wesentlich gefährlicher.
Brandenburg war Halbjude, womit schon ein Motiv für seine Handlungsweise gegeben war. Ob Brandenburg zu anderen Kreisen der deutschen Opposition in Beziehung stand, konnte Sator nicht angeben Nach dessen Ansicht hatte Brandenburg keine unedlen, insbesondere keine eigennützigen Motive
Brandenburg schöpfte seine Informationen aus dem Propagandaministerium und war, ebenso wie seine englischen Auftraggeber, stärkstens interessiert an allen Maßnahmen, die dort im Zusammenhang mit geplanten Kriegsoperationen vorbereitet wurden. Dazu gehörte z. B. die Bereitstellung eines größeren Propagandaapparates, welcher der Truppe auf dem Fuße folgen sollte. Diese Vorbereitungsmaßnahmen gaben zweifellos bedeutsame Anhaltspunkte für die Richtung, die Ziele und auch für die Termine militärischer Operationen.
Brandenburg hat in einer Reihe von Meldungen auf das bevorstehende Norwegenunternehmen hingewiesen, hat aber hier keine präzisen Termine angegeben. Er soll Anfang April 1940 aus irgendwelchen dienstlichen Gründen nicht in Berlin gewesen sein. Offenbar wat auch die Aufmerksamkeit von Brandenburg (und seinen englischen Auftraggebern) sehr stark auf den großen deutschen Einfall in Belgien und Holland konzentriert. Hier setzten denn auch die Meldungen Brandenburgs schon im November 1939 ein. Da infolge der vielfachen Termin-verschiebungen die von ihm angekündigten Termine immer wieder nicht eintrafen, trat auf englischer Seite allmählich die gleiche Reaktion ein, wie sie schon der niederländische Oberst Sas bei seinen häufigen Termin-meldungen im Haag hervorgerufen hatte. Die Engländer wurden, wie Sator sagte, „stutzig“ und die Hauptsorge, die dann namentlich Anfang Mai in zahlreichen Rückfragen zum Ausdruck kam, war nicht so sehr die, daß sie von Brandenburg falsch bedient wurden, als die, daß Brandenburg selbst das Opfer einer Täuschung, einer Zwecktäuschung werden könnte. Es war, mit anderen Worten, die Sorge, daß Brandenburg durch falsche Informationen eine Falle gestellt werde.
Die kritischen Maitage und ihre Fachkritik Die Häufung dieser Rückfragen brachte Anfang Mai 1940 eine beträchtliche Steigerung des Funkverkehrs zwischen den Engländern (über Holland) und Sator (in Oberschlesien) mit sich. Mit dieser Häufung wuchs aber auch die Gefahr für Sator. Begreiflicherweise geriet er dadurch selbst in die höchste Nervenanspannung. Nach seiner Darstellung kam von Brandenburg etwa drei Tage vor Angriffstermin — das wäre der 7. Mai gewesen — ein präziser Hinweis auf den 10. Mai. Nun gab es weitere Rückfragen vom englischen Nachrichtendienst an Sator, Rückfragen von Sator über die Zwischenstellen bei Brandenburg, alle unter dem Motto „Vorsicht vor Täuschung“. Brandenburg blieb aber diesmal bei seinem Datum. Daraufhin kam von London: „Ich glaube das nicht, weil Ihr als einzige Stelle das meldet.“ Und wieder: „Passen Sie auf, Sie werden vielleicht getäuscht, man wirft Ihnen Falschmeldungen zu, um Sie zu erwischen“. Der Hinweis aus London auf „die einzige Stelle" würde den Schluß zulassen, daß bis zum fraglichen Termin (7. oder 8. Mai) der englische Nachrichtendienst von keiner anderen Seite, also auch nicht von Rom eine Terminangabe für den 10. Mai zugegangen wäre. Am Vorabend des Angriffes, also am 9. Mai bestätigte und präzisierte Brandenburg seine Tenninangabe: „Tatsache morgen früh .
Sator berichtete weiter, daß er bereits im Sommer 1940 in Holland mit dem ihn „führenden" Vertreter des polnischen Nachrichtendienstes zusammengetroffen ist und daß man dabei immer wieder — sozusagen eine militärische Kritik nach der Schlacht — die Nachrichtengebung in den Tagen vor dem 10. Mai mit allem Drum und Dran durchgesprochen habe. Dabei sei immer wieder betont worden, daß man die über Sator vermittelte Terminangabe bis zuletzt auch englischerseits nicht ernst nehmen wollte, weil eben Brandenburg-Sator „die einzige Stelle“ mit einer solchen Meldung gewesen sei. Dabei wurde weiter die Absicht geäußert, daß England und Holland auf diese Termininformation wohl anders reagiert hätten, wenn sie sie ernst genommen hätten.
Nachspiel in Holland Es liegt die Frage nahe, wie denn Sator schon nach so kurzer Zeit nach Holland kommen konnte, was bekanntlich einem normalen Sterblichen in Deutschland keineswegs möglich wat. Sator war gleich nach Beginn des polnischen Krieges im Herbst 1939 durch die Gestapo verhaftet worden. Es war ihm geglückt, alsbald wieder herauszukommen, aber die Gestapo hatte ihn doch immerhin „vorgemerkt“, auch wenn es ihr nicht gelungen ist, Sator zu „fassen“. Sator meldete sich nun kurz nach Beginn der Westoffensive, unter Berufung darauf, daß er ja bereits im ersten Weltkrieg deutscher Soldat gewesen war, zum deutschen Militärdienst. Er machte eine Eingabe an Hitler und seine Bitte wurde auffallend rasch genehmigt. Er kam wieder zur Marine, wurde nach Kiel eingezogen und als man festgestellt und geprüft hatte, daß er sich in Funkangelegenheiten auskannte, wurde er als Signalmann auf dem Flaggschiff „Möve" beim Chef der Sicherheitsslottille für die Invasion eingeteilt. Sator bemerkte dazu: „Ich muß schon sagen, das war doch sehr leichtsinnig. Wenn Hitler gewußt hätte, wer sich da bewirbt, hätte er meinem Ersuchen sicher nicht stattgegeben. Ich wurde nämlich zur gleichen Zeit von der Gestapo in meiner polnischen Heimat gesucht. Das Flaggschiff „Möve“ lag in Rotterdam, von wo aus man mit der Schnellbahn nach Fladingen kommen konnte, wo sich mein polnischer Landsmann, Eduard Was, bei einem Holländer aufhielt. Infolge einer unglaublichen Vernachlässigung der Geheimhaltungspflicht konnte ich auf der Brücke des Flaggschiffes jederzeit Einsicht in das Signalbuch nehmen. Dieses enthielt außer den Signalcodes die genauen Standorte der Sicherungsschiffe für die Invasionsflotte.“
Sator hatte also ein Doppeltes erreicht: Erstens kam er nach Holland und konnte hier laufend — meist täglich — sich mit den dort befindlichen, ihm schon bekannten Funktionären des polnischen Nachrichtendienstes und mit ihren holländischen Vertrauensleuten treffen. Und er konnte mit ihnen nicht nur über vergangene Dinge sprechen, sondern ihnen auch noch laufend auf Grund seiner neuen militärischen Stellung, Klarheit über die Dinge, die jetzt die Engländer am allerstärksten interessierten, wie die Invasionsvorbereitungen, Bericht erstatten. Das war aber vielleicht zu schön, um ohne weiteres — für wahr gehalten zu werden. „Der englische Nachrichtendienst hielt die mich selber überraschenden Erkundungsmöglichkeiten auf dem Flagschiff und meine Angaben über das Invasionsunternehmen für sehr zweifelhaft, weil er nicht glauben konnte, daß die deutsche Kriegsmarine sich mit ihren Geheimsachen so lässig abschirmte. Ich konnte, wie gesagt, fast täglich nach Fladingen fahren, um dort zu berichten.“
Nach der Erinnerung von Sator wurde als letzter Termin, der für die Durchführung des Unternehmens „Seelöwe“ (Invasion) in Frage kam, der 10. Oktober 1940 bezeichnet.
Für Brandenburg wurde ein Aktenfund in den besetzten Gebieten zum Verhängnis. Er wurde 1941 verhaftet, dann zum Tode verurteilt und 1942 hingerichtet; seinen Partnern vom englisch-polnischen Nachrichtendienst war es noch gelungen, über das Gefängnispersonal mit ihm Verbindung aufzunehmen. Brandenburg soll sich klar darüber gewesen sein, daß er verloren war. Auch Sator wurde 1942 verhaftet. Man war dahinter gekommen, daß einiges bei ihm „nicht stimmte“, aber es genügte nicht, um ihm einen Prozeß zu machen. Er kam mit KZ und Zwangsarbeit davon. * Das Motiv Sators bei seinem Zeugenschaftsangebot und bei seiner Darstellung war unverkennbar. Er will sich den Ruhm der zuverlässigen „großen Meldung“ nicht nehmen lassen. Sie war bei einem National-polen eine durchaus legitime Angelegenheit und — ein Nachrichten-agent vom Fach hat auch seinen eigenen Fachehrgeiz. Es ist eine Frage für sich, wieweit sein Selbstgefühl im gegebenen Fall durch die Tatsachen wirklich gerechtfertigt ist d. h. wieweit der englische Nachrichtendienst über die Westoffensive auch aus anderen Quellen hinsichtlich des Termines ebenso gut bedient worden ist. Glaubhaft ist aber vor allem, daß Sator im Mai 1940 einen begründeten Stolz auf seine Meldung hatte und daß ihn deshalb alles, was an Zweifeln vorher oder später geäußerst worden ist, sozusagen an der Nachrichtenagentenehre gepackt hat.
Nutzanwendung Der Arbeitskreis wird auf diese Aussage voraussichtlich zurückkommen, wenn er in späteren Arbeiten das Thema „Invasion“ im Zusammenhang mit der Militäropposition behandeln wird. Für den hier erörterten Abschnitt, dessen Behandlung im Arbeitskreis zunächst abgeschlossen ist, ist das Zeugnis — mag man den Einzelheiten auch mit Vorbehalt gegenüberstehen — insofern von Belang, als es eine an sich nicht neue Tatsache an einem beachtlichen Beispiel illustriert: Das damals feindliche Ausland hatte Verbindungslinien nach Deutschland, unterhielt sie mit viel Geschick und empfing wertvolle Nachrichten, die Rückschlüsse auf militärische Planungen und Operationen zuließen. Diese Nachrichten kamen ihm aus dem weiten Bereich der „Zivilwelt“ zu, darunter auch aus Parteikreisen. Wer Sündenböcke suchen will, wird also auf ein „totales“ Blickfeld Bedacht nehmen müssen.
Schlußbetrachtung In der Geschichte der Militäropposition erscheint der 20. Juli 1944 als der dramatische Höhepunkt. Er war nur der dramatische Ausklang des fünften Aktes. Der Höhepunkt — der dritte Akt der Tragödie — scheint im Zeitabschnitt zwischen Kriegsbeginn und Beginn der Westoffensive zu liegen.
Wer im Abstand von eineinhalb Jahrzehnten jene Zeitspanne noch einmal an sich vorüberziehen läßt, wer die römischen Gespräche, ihre Ziele, die durch sie eröffneten Möglichkeiten und Voraussetzungen nüchtern würdigt, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen: Damals, schon damals entschied sich das deutsche Schicksal. Damals war es fünf Minuten vor zwölf Uhr. Mit der Westoffensive schlug es zwölf Uhr. Das Verhängnis, das damals nicht mehr aufgehalten werden konnte, konnte später erst recht nicht mehr aufgehalten werden. Am 20. Juli 1944 war der totale Krieg schon total verloren. Hier entschied sich nur mehr, daß dieser Krieg auch noch total zu Ende geführt wurde. Hier entschied sich, daß von jenem 20. Juli 1944 bis zum Ende mit Schrecken noch ein Vielfaches an Gut und Blut geopfert werden mußte — ein Vielfaches an dem, was ein Staatsstreich, zur rechten Stunde unternommen, selbst im schlimmsten Fall mit sich gebracht hätte