„Gehorsaiit ist Prinzip. Der Mann steht über dem Prinzip."
Moltke.
Fortsetzung
IV. Die römischen Friedensgespräche
Vorbemerkung zur Quellenkritik Bei der historisch-kritischen Klärung des Fragenkomplexes „Römische Friedensgespräche“ sah sich der Arbeitskreis außerordentlichen Schwierigkeiten gegenüber. Es liegen zwar nicht wenige Aussagen seitens unmittelbar oder mittelbar Beteiligter vor. Aber es galt, über die Hindernisse von Widersprüchen hinwegzukommen, die sich auf Termine, äußere Umstände und den Inhalt von Gesprächen, Verhandlungen, Berichten bezogen und mehrfach Wesentliches betrafen. Daß solche Widersprüche auftauchen, ist keineswegs verwunderlich, es liegt vielmehr in der Natur der Sache. Der Charakter des Unternehmens, das nicht weniger als die Herbeiführung des Friedens unter Beseitigung des diktatorischen Regimes in Deutschland zum Ziel hatte, schloß vernünftigerweise die Anfertigung und Aufbewahrung privater Aufzeichnungen über Einzelheiten aus; soweit solche Aufzeichnungen dennoch z. B. in Tage-buchform gemacht worden sind, mußten sie getarnt werden oder sich auf Andeutungen beschränken, die meistens Wesentliches verschwiegen oder verschleierten. Dokumentarisches Material aus der Zeit selbst steht daher — einstweilen — nur in geringem Umfang zur Verfügung. Die nachträglich (nach 1945) mündlich oder schriftlich gemachten Aussagen stützen sich fast ganz auf die Erinnerungen der überlebenden Beteiligten. Dabei waren und sind Gedächtnistäuschungen möglich, vielleicht unvermeidlich; unbewußt wird die Erinnerung durch inzwischen erfolgte Publikationen beeinflußt, — gar nicht zu reden davon, daß scheinbar unerklärliche Widersprüche in der Verschiedenheit der seinerzeitigen Standorte der Beurteilung begründet sind. Im Sturmschritt unserer Zeit ist es nicht bloß für die vergeßliche Masse, sondern auch für den einzelnen oft schwer, sich alle Umstände, die ganze Atmosphäre der nun 11/2 Jahrzehnte zurückliegenden Monate des ersten Kriegswinters 1939/40 wieder zum Bewußtsein zu bringen. Diese Atmosphäre aber ist ein Schlüssel für Verständnis und Würdigung. Dazu kommt, daß gerade bei den römischen Friedensgesprächen — höchst vertraulichen Gesprächen einer innerdeutschen Opposition mit ausländischen Kreisen — Bindungen an die Diskretion vorlagen und zum Teil heute noch wirksam sein müssen. Hierauf wird bei der Einzeldarstellung noch zurückzukommen sein.
Manche Aussagen zur Sache sind zweckbetont abgegeben worden, sei es zur eigenen Rechtfertigung gegenüber aktuellen Angriffen, sei es zur Verteidigung Dritter. Dabei muß insbesondere die ganze Problematik der sogenannten Entnazifizierung in den ersten Nachkriegsjahren beachtet werden. Damals wollte bekanntlich fast jeder irgendwie „Wider» stand“ geleistet haben. Jede Faust, die unter der Tyrannis im Sack gemacht worden war, ist als heroische Geste oder Tat aufgeputzt worden.
Die unausbleibliche Reaktion auf die Entnazifizierungspraxis brachte es mit sich, daß einige Jahre später sich auch die stimmungsmäßige Beurteilung des Widerstandes gewandelt hat. Anhänger Hitlers, aber auch solche Gefolgsleute, die nach ihrer Auffassung der Gehorsamspflicht keinerlei Widerstand geleistet haben, glaubten eine Rechtfertigung darin zu finden, daß sie — sozusagen im Gegenangriff — jede Widerstands-handlung gegen den „Führer“ als „Verrat“ und zwar als Verrat des Vaterlandes hinstellten und in die kriminelle Sphäre rückten. Daraus entwickelte sich allmählich eine Groteske: Nach wie vor wollten zwar mehr oder minder alle „dagegen“ gewesen, aber sie wollten beileibe nichts mehr getan haben. Sie wollten zwar noch immer den Pelz gewaschen, aber sie wollten ihn nicht mehr naß gemacht haben — aus lauter Sorge, daß das gute Stück Schaden leiden könnte. Parallel dazu entwickelte sich der radikale Wandel in der Beurteilung des deutschen Soldatentums durch weite Kreise des Auslandes.
Aus dem Gesagten mögen sich bereits manche, wenngleich gewiß nicht alle Widersprüche und Schwankungen in der Beurteilung, aber auch in der Darstellung der einzelnen Widerstandsaktionen erklären. So steht die historische Forschung vor der schweren Aufgabe, die Tatbestände von allem zeitbedingten Rankenwerk ihrer Darstellung zu befreien und sie in strenger Klärung so herauszuarbeiten, daß nicht zu viel abgeschnitten wird und daß doch zuverlässig all jenes „Drum und Dran“ abgelöst wird, das eben keine unbestrittene Tatsache ist.
Der Leitgedanke Was war der Ausgangspunkt der römischen Friedensgespräche? Immer wieder war es der Gedanke: Die Kriegsausweitung im Westen muß verhindert werden. Nun konnte aber die Militäropposition nicht einfach die Westoffensive durch einen Staatsstreich verhindern und alles Weitere der Zukunft überlassen. Sie hatte das selbstverständliche Bestreben und ganz gewiß auch die nationale Pflicht, sich nach Möglichkeit durch Fühlungnahme mit der Gegenseite dagegen zu versichern, daß der Umstürz von den Westmächten dazu benützt würde, um dem Reich und um dem künftigen Regime einen schweren Schlag zu versetzen. Noch war die Position Deutschlands stark genug, um solche Sicherheiten mit Aussicht auf Erfolg anzustreben. Man weiß, daß von ziviler Oppositionsseite im Winter 1939/40 Fühler nach England ausgestreckt worden sind °). Auch von der Militäropposition wurde an England gedacht und zwar deshalb, weil es gerade von der Militäropposition schon 1938 gewarnt worden war; nachdem infolge der Haltung Chamberlains (September 1938) die damaligen bitterernsten Voraussagen der Militäropposition sich erfüllt hatten, durfte man hoffen, nun auf englischer Seite mehr Verständnis zu finden, als im vorausgegangenen Jahr. Die Militär-opposition um Beck, für die auch hier nur Oster als Auftraggeber auftrat, wählte den Weg nach London über den Vatikan. Es ist von sekundärer Bedeutung, ob man zuerst an den Vatikan gedacht und dann den geeigneten Mittelsmann gesucht hat oder ob der Vatikan gewählt wurde, weil man den Mittelsmann hatte. Bereits im September 1939 wurde Oster der Name des Münchener Rechtsanwaltes Dr. Josef Müller genannt. Sehr schnell wurde Müller herangeholt. Er konnte bestätigen, daß er bereits seit Jahren und zwar vorwiegend in innerkirchlichen Angelegenheiten als Mittelsmann zwischen dem Vatikan einerseits und der katholischen Kirche in Deutschland oder auch in Österreich andererseits tätig war und daß er das Ohr des Papstes zu erreichen vermochte.
Daher wurde ihm der Auftrag erteilt M), im Namen der Militäropposition an den Vatikan heranzutreten und über ihn bzw. durch seine Vermittlung einen Kontakt mit englischen Regierungskreisen herbeizuführen.
Josef Müller Dr. Müller gab vor dem Arbeitskreis eine ausführliche Schilderung seiner römischen Friedensgesprächen und ihrer Einleitung. Diese Schilderung ist in der Folge zum Gegenstand gründlicher kritischer Untersuchungen gemacht worden. Dabei gelang es, eine Reihe von Einzelfragen völlig oder weitgehend zu klären, bei anderen Fragen Widersprüche in den Zeugenaussagen ganz aufzulösen oder wenigstens einzuengen. Zu bedauern blieb immer wieder, daß es nicht mehr möglich war, den Zeitpunkt der verschiedenen Romreisen Dr. Müllers zu fixieren.
In der ersten Unterredung Dr. Müllers mit Oster, der auch Dohnanyi beiwohnte, hat — nach Müllers Darstellung — Oster erklärt, daß er im ausdrücklichen Auftrag des Generalobersten a. D. Beck spreche; „sein Inhaltsverzeichnis
Sie lasen zuletzt: Einleitung: Standort und Methode der Untersuchung I. Die Situation im Herbst 1939 Das deutsche Volk beim Kriegsbeginn Die Militäropposition nach Kriegsbeginn Primäre Sorge: Die kämpfende Truppe Doppelgleisigkeit — Vertauschte Rollen II. Die Gruppe um Halder Terminkalender Generaloberst Halder Der degradierte Generalstab Halder zum Widerstandsrecht Zeit gewonnen . . . Die „Arbeitsgruppe“ Frontreisen Stülpnagel Canaris Großcurth Denkschriften und Kommentare — Putschpläne Rede Hitlers und Reaktion der Generale Halder und Brauchitsch Halder und Fromm Erstes Fazit III. Die Gruppe Bede Generaloberst Beck Die Kernfrage der verantwortlichen Führung Abwehr — Canaris Hans Oster Aussage Heinz Aussage Schacht Aussage Frau v. Dohnanyi Resume: Beck als Zentralfigur In dieser Ausgabe: IV. Die römischen Friedensgespräche Vorbemerkung zur Quellenkritik Der Leitgedanke Josef Müller Der Papst vermittelt Müller und „Abwehr" Aufträge und Berichterstattung Die römischen Gesprächspartner Der Zwischenfall von Venloo
Eine andere „Panne“ Das Ergebnis der römischen Gespräche Der X-Bericht Die Bedeutung der „Friedensgrundlagen" Die Parallelaktion Hassell V. Die Reaktion im Generalstab Mehrere Versionen Brauchitsch lehnt ab — ein hoffnungsloser Fall Halders Kritik am X-Bericht Kritik der Kritik Unbegreifliche Verzögerung Bilanz: Die Voraussetzungen wurden nicht erfüllt Halders Tragik Soldat des Widerstandes In der nächsten Ausgabe der Beilage: VI. Die abschließende Mission Dr. Müllers Nochmals: War Beck der Auftraggeber? Müllers Darstellung: Landesverrat? Die entscheidende Frage: Wann wurde der Angriffstermin festgesetzt? Tatsachen und „Angabe“ „Brauner Vogel“ Klares Fazit VII. Das Problem Oster Das Zusammenspiel Oster — Sas Am Abend des 9. Mai 1940 Bewertung des Tatbestandes Rechnung mit ungewissen Größen Wußte Beck? Eine Gewissensentscheidung für Oster und — seine Beurteiler Maßgebendes Kriterium VIII. „Seelöwe“ IX. Ausländische Nachrichtendienste Cianos aufschlußreiche Tagebücher Ein polnischer Zeuge Dreieck Berlin—Oberschlesien—London Die kritischen Maitage und ihre Fachkritik Nachspiel in Holland Nutzanwendung Schlußbetraditung Wunsch ist uns Befehl“. Es gehe darum, über den Papst festzustellen, ob die englische Regierung bereit sei, mit der deutschen Militäropposition die Friedensmöglichkeiten zu klären. Zunächst richte sich die Frage an den Papst, ob er überhaupt bereit sei, in diesem Sinne als Vermittler eines Gespräches tätig zu werden. Oster gab als das Ziel an, daß zum gegebenen Zeitpunkt Hitler veranlaßt werden sollte, seine Macht an Generaloberst Beck abzutreten, daß dann etwa für ein Jahr eine Militärdiktatur in Deutschland eingerichtet und daß in dieser Zeitspanne ein organischer Wiederaufbau der Demokratie durchgeführt werden solle. Bevor gehandelt wird, müsse geklärt werden, daß das neue Deutschland nicht vor einem Vakuum nach außen stehe, daß vor allem unmittelbar nach einem Umsturz ein Waffenstillstand herbeigeführt werde. Denn es war die naheliegende Sorge der Militäropposition, das Aufkommen einer neuen Dolchstoßlegende zu verhindern. Die notwendige Klärung werde sich daher auch auf die Grundlagen der Friedens-gestaltung zu erstrecken haben. Müller erklärte sich bereit, eine erste Fühlungnahme in Rom herbeizuführen, also, die grundsätzliche'Bereitschaft des Vatikans zu einer Friedensvermittlung für das „andere Deutschland“
Es braucht nicht gesagt zu werden, daß im Vatikan eine solche Bereitschaftserklärung nur unter Zustimmung des regierenden Papstes erreicht werden konnte. Infolgedessen konnte Müller auch nur mit solchen vatikanischen Kreisen verhandeln, die unmittelbar das Ohr des Papstes hatten. Persönliche Gespräche Dr. Müllers mit Papst Pius XII. fanden weder zu Beginn der Verhandlungen noch sonst während des Krieges statt. Sie waren weder erforderlich noch ratsam. Denn wer beim Papst aus-und einging, konnte unschwer durch die Gestapofilialen in Rom ermittelt werden und zwar nicht nur durch deren eigene Funktionäre, sondern auch durch Vertrauensleute, die SD oder Gestapo im Klerus zu gewinnen vermochten. (Die letzteren waren allerdings, nebenbei gesagt, für die Kirche und ihre deutschen Gesprächspartner weniger gefährlich, als man vielleicht annehmen möchte; denn auch der Vatikan kennt seine Leute; nur wissen sie es nicht immer.)
Der Papst vermittelt Das Ergebnis der ersten Besprechung Müllers war die Erklärung des Papstes, daß er bereit sei, als Mittler von Fragen und Antworten in der bezeichneten Richtung tätig zu werden. Diese Darstellung und diese Feststellung sind nicht nur eine Behauptung Dr. Müllers. Sie sind dem Arbeitskreis durch Müllers römische Gesprächspartner bestätigt worden. Insbesondere ist auch von dieser Seite bestätigt worden, daß die Zusicherung „dem Beauftragten des Generalobersten Beck“ erteilt wurde. Das leuchtet ohne weiteres ein. Man muß sich vor Augen halten, daß es für den Papst bei der außerordentlichen Labilität seiner Beziehungen zu Hitler-Deutschland kein leichter Entschluß war, sich für das „andere Deutschland“, sei es auch in der vertraulichsten Form, zu exponieren. Man hat in Rom, vorher wie später, zwischen Hitler und seinem Parteiapparat auf der einen Seite und dem von ihm terrorisierten deutschen Volk auf der anderen Seite zu unterscheiden gewußt. Wenn sich nun der Papst selbst zu Gunsten des anderen Deutschland einsetzte, so mußte er wissen, warum und für wen er es tat.
Der Name Oster besagte wenig. Seine Zugehörigkeit zur Abwehr konnte ebenso gut ein Hindernis wie eine Empfehlung sein. Wohl aber durfte Beck, der als einer der ganz wenigen Offiziere aus Opposition gegen die Kriegspolitik Hitlers zurückgetreten und als lautere Persönlichkeit wohl bekannt war, als seriöser Gesprächspartner gelten. Lind nur ein solcher Mann von unbestrittenem moralischem Ansehen konnte es sein. Dem Arbeitskreis wurde denn auch in Rom ausdrücklich bestätigt, daß von allem Anfang an Generaloberst Beck als der deutsche Gesprächspartner galt. Ausschlaggebend war für den Papst das Vertrauen zu der Persönlichkeit Dr. Müllers. Auch das darf unter Berufung auf den römischen Gewährsmann ausdrücklich festgestellt werden. Der Arbeitskreis möchte hinzufügen, daß dem selbst in deutschen Angelegenheiten wohl bewanderten Papst damals im Prälaten Kaas ein besonders guter Kenner deutscher Personalien und Verhältnisse unmittelbar zur Verfügung stand. Man darf weiter hervorheben, daß Papst Pius XII. mit seinem bedeutungsvollen Entschluß, Fragen und Antworten zwischen dem „anderen Deutschland“ und der englischen Regierung zu vermitteln, bis an die äußerste Grenze dessen gegangen ist, was ihm als einem Souverän, der offizielle diplomatische Beziehungen zu offiziellen Regierungen unterhält — damals auch zur Regierung Hitler —, überhaupt möglich war. Es bedarf keiner Begründung, daß ein so schwerwiegender Entschluß nur dem Streben entspringen konnte, einen aktiven Beitrag zur Verhütung eines allgemeinen Weltbrandes mit seinen voraussehbaren fürchterlichen Wirkungen für die Kulturwelt zu leisten.
Hier müssen wir folgendes einschalten: Hassels Tagebuch
» Dr. Müller konnte also von der ersten Reise nach Rom die Erklärung mitbringen, daß der Papst bereit sei, alles aufzubieten, um dem Frieden zu dienen und durch seine Vermittlung auch ein Risiko einzugehen, daß allerdings der Papst — wie es selbstverständlich war — unter gar keinen Umständen in militärische Handlungen nach der einen oder anderen Seite eingeschaltet werden könne.
Bei einer der nächsten Reisen Müllers nach Rom erfolgte die Mitteilung, daß die englische Regierung bereit sei, über den Papst in eine Auseinandersetzung über Friedensmöglichkeiten einzutreten und daß England über das Ergebnis dieser Gespräche dann von sich aus mit der Regierung des verbündeten Frankreich sich besprechen werde.
Wann ging diese Nachricht ein? Das konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden. Dr. Müller setzt den Zeitpunkt bereits auf die erste Hälfte Oktober 1939 an. Sein römischer Gesprächspartner glaubt sich bestimmt daran zu erinnern, daß die sachlichen Verhandlungen nicht vor dem 31. Oktober 1939, dem Tage der Rückkehr des Papstes von Castel Gandolfo nach Rom, begonnen haben. Für die Annahme Müllers spricht der Umstand, daß die ersten Berichte über die Fühlungnahme in Rom in die am 4. November durch General Thomas im Auftrag Becks dem Generalobersten Halder überreichte Denkschrift eingearbeitet worden sind. In dem der „Europäischen Publikation“ in englischer Übersetzung vorliegenden Bericht „Report on conversations at theVatican and in Rome between November 6th and 12th 1939“ — es handelt sich hier um einen von vielen Berichten über Müllers Romreisen — wird sogar bereits die Möglichkeit günstiger Lösungen der territorialen Fragen behandelt. Es ist allerdings nicht klargestellt, ob diese Informationen bereits auf amtliche, durch den Papst vermittelte Äußerungen englischer Regierungsstellen zurückgeführt werden konnten. Für die spätere Terminangabe des römischen Gesprächspartners kann ins Feld geführt werden, daß der Papst in Castel Gandolfo im allgemeinen fremde Diplomaten nicht zu empfangen pflegt und daß, wenn damals eine Ausnahme gemacht wor-den wäre, sie vermutlich dem Mittelsmann zwischen Papst und Müller in Erinnerung geblieben wäre.
Die Praxis dieser Verhandlungen war folgende:
Der Papst leitete die ihm von Dr. Müller als dem Beauftragten Becks unterbreiteten Fragen und Erklärungen an den englischen Gesandten beim Vatikan, Osborne, weiter und ließ umgekehrt dessen Antworten und Rückfragen wieder Dr. Müller zugehen. Diese Praxis ist ebenfalls von dem römischen Gesprächspartner bestätigt. Was nun die sachlichen Einzelheiten der „Gespräche“, d. h.der Fragen und Rückfragen und ihrer Beantwortung durch die beiden Partner — jeweils über den Papst — betrifft, so kann im wesentlichen nur Dr. Müllers Darstellung festgehalten und gewürdigt werden. Denn zu den Einzelheiten ist bis auf weiteres eine Stellungnahme des Vatikans, sei es in bestätigendem, sei es im negativen Sinne, nicht beabsichtigt und nicht zu erwarten. Man wird die Gründe zu respektieren haben, die den Vatikan auch heute noch zu solcher Zurückhaltung bestimmen; es handelte sich ja um eine diplomatische Aktion von ganz außergewöhnlicher, vielleicht sogar einziger Art
Für beide Teile war es — nach Josef Müller — eine selbstverständliche Voraussetzung, daß einmal während der Verhandlungen keine größeren Waffenhandlungen im Westen stattfänden, und zum zweiten, daß in Deutschland eine verhandlungsfähige Regierung geschaffen werde. Es bedarf keines weiteren historischen Nachweises, daß die englische Regierung keinen Augenblick daran dachte, etwa über das „andere Deutschland“ einen Frieden mit Hitler herzustellen. Man wird also die beiden Voraussetzungen, die durchaus dem Konzept der Militäropposition entsprachen, weiter im Auge behalten müssen.
Müller und „Abwehr“
Als feststand, daß sachliche Verhandlungen stattfinden können und zwar mit Aussicht auf einen konkreten Erfolg, hielt Oster es für richtig, Dr. Müller seinem Amtschef Canaris vorzustellen. Der unmittelbare Zweck dieser Vorstellung war es, Müller irgendwie in die „Abwehr“ einzubauen. Das Ergebnis war die Zuteilung Josef Müllers zur Abwehrstelle München
Die Zuteilung Müllers zur Abwehrstelle München bedeutete nicht eine sachliche Unterstellung. Denn nach der von Admiral Canaris ergangenen Weisung war Müller nicht zur normalen Dienstleistung, sondern nur zur „Betreuung“ zugeteilt. Betreuung hieß in diesem Falle Gewährung aller Erleichterungen, speziell Reiseerleichterungen, die eine Abwehrstelle vrmitteln konnte.
Aufträge und Berichterstattung Normalerweise wurden die Erkundungs-Aufträge von der Abwehrstelle ihren Mitarbeitern und Vertrauensleuten erteilt. Im Gegensatz dazu erhielt Dr. Müller seine Aufträge unmittelbar von der Zentrale, aber nicht von der hier zuständigen Abteilung I (Oberst Piekenbrock), sondern von Oster, der in diesem Ausnahmefall Vollmacht zur Auftragserteilung (nach Weisung Becks) und Deckung von Canaris besaß. Übrigens hatte Müller von Canaris die Erlaubnis, Aufträge abzulehnen, die er nicht zu übernehmen zu können glaubte. Es lag im Interesse einer dauerhaft funktionierenden Tarnung der Spezialmission Müllers, daß dieser in der Münchner Diensstelle nicht als völlig undurchsichtiger Nutznießer erschien und dadurch, wenn auch nur im kleineren Kreis auffiel. Müller wurde daher angehalten, einen Teil seiner Berichte auf dem normalen Dienstweg, also über die Abwehrstelle München an das Amt Ausland-Abwehr zu leiten. Dieser Teil seiner Berichte enthielt Informationen allgemeiner Natur — über die Stimmung in Italien, über Ereignisse im Ausland und dergleichen, Informationen, die auf den Reisen Müllers gewissermaßen als Nebenprodukt anfielen und die jeder Abwehroffizier unbedenklich lesen konnte. Diese vielfach interessanten, wenn auch weiter nicht gewichtigen Informationen wurden ohne weiteres den Zwischenvorgesetzten zur Kenntnis gebracht und von ihnen mit Müller besprochen. Für diese Zwischenvorgesetzten war es daher kein Geheimnis, daß Müller aus vatikanischen Quellen schöpfte.
Aber die scheinbare Lüftung des Geheimnisses war nur ein um so besseres und wirksameres Mittel zur Tarnung der Hauptsache. Und die Hauptsache war jeweils der zweite Teil der Berichte, der unter dem Motto „Derzeitige Friedensmöglichkeiten“ unmittelbar an Oster ging und regelmäßig durch Müller im Kreise Oster-Dohnanyi ausführlich erläutert worden ist. Wenn man aus den bereits eingehend dargelegten Gründen annehmen muß, daß die ganze Aktion nicht ohne Genehmigung Becks gestartet werden konnte, dann versteht es sich von selbst, daß Oster auch die einzelnen Berichte sofort dem Generalobersten zur Kenntnis brachte. Zuweilen wurde Canaris, wenn auch nur in großen Zügen, unterrichtet. LInunterrichtet blieben die Zwischenvorgesetzten. Das konnte unschwer auch auf längere Zeit praktiziert werden, zumal sich Müller seiner Art gemäß bei seinen allgemeinen Reiseerzählungen durchaus redselig gab und dahinter geschickt verbarg, daß er auch noch anderes wußte, was er nicht preisgab 74a).
Die römischen Gesprächspartner Wer waren nun die römischen Gesprächspartner Dr. Müllers? Die wichtigste Funktion hatte eine Persönlichkeit, die regelmäßig zum Papst kam und unbestritten als dessen Vertrauensmann gelten durfte
Dr. Müller hat dem Arbeitskreis, wie betont, sehr ausführlich und in sehr vielen Einzelheiten Art und Verlauf seiner römischen Friedens-gespräche geschildert. Es ist hier nicht erforderlich, ihren über mehrere Monate sich hinziehenden Verlauf im einzelnen wiederzugeben. Zu vermerken ist aber folgende Angabe Dr. Müllers: Der römische Hauptgewährsmann hat ihm, obgleich grundsätzlich nur mündlich verhandelt worden ist, in zwei Fällen schriftliche Notizen zugestellt, die von Dr. Müller zur Beglaubigung vor seinen Auftraggebern benützt worden sind. Das eine war eine Visitenkarte mit dem Namen des Gewährsmanns, das andere war ein handgeschriebener Brief. Beide Dokumente liegen nicht vor. Sie sind aber im Herbst 1944 beim sogenannten Zossener Aktenfund in die Hände der Gestapo gefallen und haben den Gegenstand ausgiebiger Vernehmungen Müllers durch die Gestapo gebildet. Es besteht die Möglichkeit, daß sie mit anderen Dokumenten aus dem Zossener Aktenfund sich in amerikanischem Besitz befinden und eines Tages der historischen Forschung zugänglich gemacht werden. Einstweilen kann man sich nur an Dr. Müllers Angaben halten. Danach stand auf der Visitenkarte: „Heute war O. bei meinem Chef und hat ihm etwas mitgeteilt, was Sie veranlassen wird, sofort zurückzureisen. Wir müssen uns heute noch sprechen“ (O = Osborne; Chef = Papst). Diese Visitenkarte, nur zufällig und keinesfalls zur „Beglaubigung“ übersandt, bildet nicht mehr und nicht weniger als eine Bestätigung dafür, daß „Gespräche“ in dem früher bezeichneten Sinne durch den Papst vermittelt worden sind. Das ist später ohnehin von römischer Seite sogar offiziell bestätigt worden. Damals aber mochte selbst dieses kleine Dokument besonderen Wert für Müllers Auftraggeber haben, zumal diese ja ihrerseits gegenüber Halder für die Glaubwürdigkeit seiner Berichte nur das Vertrauen auf seine persönliche und sachliche Gewissenhaftigkeit anführen konnten. Beck wäre übrigens (nach einer Mitteilung Osters an Müller) bereit gewesen, im Falle der Notwendigkeit und Möglichkeit auf etwaigen Wunsch des Papstes selbst mit Müller nach Rom zu fahren;
ein solcher Wunsch ist aber nicht geäußert worden und selbstverständlich hätte eine Reise Becks nach Rom nicht ohne Aufsehen durchgeführt werden können.
Bei dem zweiten Dokument, dem Brief des Gewährsmannes an Dr. Müller, wird zunächst offen zu lassen sein, ob es sich um einen förmlichen Brief oder um eine formlose Aufzeichnung gehandelt hat. Das Schreiben hat nach Müller in kurzen und bestimmten Formulierungen die wesentlichen Punkte des Ergebnisses der Fragen und Rückfragen zusammengefaßt, es ist von Müller als weiteres „Dokument“ Oster und durch ihn Beck vorgelegt worden und es ist von der Gruppe Beck-Oster dazu benützt worden, um in der Folge auch Halder von der Glaubwürdigkeit der Berichte über die römischen Gespräche zu überzeugen. Solange «das Dokument selbst nicht vorliegt, muß dahingestellt bleiben, inwieweit es sich mit der seinerzeitigen Darstellung des Ergebnisses durch Oster-Dohnanyi (X-Bericht) deckt oder nur einen Rahmen für diese Darstellung bildet 75a).
Bei dieser Gelegenheit wird die besondere Problematik der historischen Erforschung der römischen Gespräche sichtbar. Diese Problematik besteht in folgendem: Dr. Müller hat durch den römischen Hauptgewährsmann in kurzer Form bestimmte Antworten auf Anfragen, sowie Rückfragen erhalten. Diese Antworten waren, wie man zunächst einmal annehmen muß, »allgemein und grundsätzlich gehalten. Außer Zweifel steht, daß der Papst und sein Gewährsmann sich loyal und peinlich genau an das gehalten haben, was von englischer Seite gesagt war, daß sie unter keinen Umständen mehr „hineingelegt“ haben. Dr. Müller stand aber als politischer Mensch und hier sozusagen in diplomatischer Mission jeweils vor der Frage, welche Bedeutung die grundsätzlichen Erklärungen der Gegenseite in der Praxis bei der gegebenen Situation für die Behandlung konkreter Fragen haben. Die Beurteilung dieser Bedeutung war bereits weitgehend eine Ermessenssache. Dr. Müller hat zweifellos diese Frage der „Auslegung“ in Gesprächen mit seinen anderen römischen Partnern erörtert. Er hat die daraus resultierende Auffassung als Kommentar seinen Berichten hinzugefügt. Es entzieht sich naturgemäß der Kenntnis Dr. Müllers, in welcher Form die offiziellen Erklärungen einerseits und seine persönlichen Kommentare andererseits durch Oster-Dohnanyi an Generaloberst Beck weitergegeben worden sind, insbesondere ob dabei stets eine scharfe Trennung zwischen Bericht und Kommentar durchgehalten worden ist und inwieweit endlich Müllers eigener Kommentar durch weitergehende oder durch anderslautende Schlußfolgerungen von Oster und Dohnanyi abgewandelt worden ist. Es entzieht sich einstweilen erst recht der Erforschung, in welcher Weise dann das Ergebnis von Beck-Oster wieder zur Kenntnis Halders gebracht worden ist. Differenzen in den Angaben Mülles und Halders über eine Reihe von Einzelheiten legen die Annahme nahe, daß auf den Zwischenwegen manches „ad usum delphini" beleuchtet oder gar frisiert worden ist. Denn schließlich standen in dem „X-Bericht“, von dem alsbald zu sprechen sein wird, laut Halder Dinge, die unmöglich in den über den Papst vermittelten Erklärungen enthalten gewesen sein können. Wenn also eine mehr oder minder weitgehende Schönfärberei wahrscheinlich im Spiel war, so ist zwar die gute Absicht — nämlich Halders Aktivierung — verständlich, es ist aber doch zu sagen: Das Ergebnis war auch ohne alle Zutaten und ohne jede Ausschmückung so positiv, daß es Männern, die handeln wollten, den bezweckten und notwendigen Rückhalt im Hinblick auf die westlichen Kriegsgegner geboten hätte.
Der Zwischenfall von Venloo Bevor wir zum Ergebnis kommen, ist der „Zwischenfall von Venloo“
fern auf die römischen Gespräche aus, als die englische Seite den besorgten Verdacht äußerte, daß „auch“ die durch Dr. Müller vertretene Gruppe der Militäropposition „wieder“ nicht echt sein könnte. Nichts lag der englischen Regierung ferner, als mit Hitler oder seinem System Friedensfühler aufzunehmen oder sich für diese Seite über Friedensmöglichkeiten auch nur aushorchen zu lassen. Dr. Müller mißt das Hauptverdienst dem Papst zu, wenn es in verhältnismäßig kurzer Zeit gelang, die englische Seite vom wahren Sachverhalt zu überzeugen und dadurch die deutsche Militäropposition von dem falschen Verdacht zu entlasten. Das überzeugendste Argument dürfte gewesen sein, daß der Papst sich kaum für fragwürdige Experimente mit fragwürdigen Mittelsmännern exponieren würde. Es ist daher durchaus glaubhaft, wenn Müller berichtet, der Papst habe damals dem englischen Gesandten Osborne erklärt, daß 1 der Mittelsmann Dr. Müller ihm seit Jahren persönlich wohl bekannt und daß er in verschiedenen vatikanischen, Missionen bewährt sei 77).
Eine andere „Panne“
Eine andere „Panne" ist am Rande zu vermerken, nicht weil sie wie „Venloo“ im Laufe der römischen Gespräche spürbar geworden wäre, sondern weil sie zeigt, daß das Unternehmen trotz aller Tarnung und Deckung mit sehr erheblicher Gefahr für die deutschen Beteiligten verbunden war. Im Herbst 1939 reiste der angesehene Berliner Rechtsanwalt Etscheit, ein Mann mit vielen Beziehungen, namentlich zu diplomatischen Kreisen, in die Schweiz. Er war auch ein guter Bekannter Halders und diesem zuliebe erteilte Admiral Canaris einen allgemein gehaltenen Reiseauftrag. Nebenbei ersieht man daraus, daß Halder bestrebt war, sich auch eigene Auslandsinformationen als Unterlagen für seine Entschlüsse zu verschaffen. Etscheit traf nun in der Schweiz einen deutschen Benediktiner-Pater, der vom SD gekauft und völlig korrumpiert worden war
In der leichtfertigen Meinung, der Mann mit der Mönchskutte sei ein an der Opposition gegen das Dritte Reich interessierter Gesinnungsgenosse, teilte Etscheit dem Pater nicht nur mit, daß er selber für Halder im Ausland „das Feld sondiere“, sondern auch, daß in Rom derzeit durch Dr. Josef Müller Friedensgespräche geführt werden
Das Ergebnis der römischen Gespräche Die römischen Gespräche Dr. Müllers — soweit sie sich auf die Übermittlung von Fragen an die englische Regierung und von deren Antworten bezogen — waren Ende Januar 1940 abgeschlossen. Dieser Termin ist unbestritten. Er ist festzuhalten; denn er ist wichtig für die Beurteilung des weiteren Verhaltens der Militäropposition und zwar sowohl Halders wie der Gruppe Beck-Oster.
Das Ergebnis bestätigte — zunächst nach Dr. Müllers Darstellung — die von Anfang an beiderseits bezeichneten Voraussetzungen: Zum ersten mußte Hitler gestürzt und sein System beseitigt werden. Die eben erwähnten Punkte bedeuten: Alles, was für den Frieden abgesprochen war, galt nicht für das Hitlersystem, auch dann nicht, wenn es den Großangriff im Westen unterließ. Lind es galt nicht für das „andere Deutschland“, wenn vorher der Großangriff im Westen eingesetzt hatte. Man ist dabei — in dieser Annahme wurde der Arbeitskreis auch nach verschiedenen anderweitigen Befragungen bestärkt — mit der Militäropposition darüber einig gewesen, daß die Bedingungen nur für ein „neues Deutschland demokratischer Richtung“ galten. Damit wäre ausgedrückt, daß der Friedensplan auch nicht gelten sollte etwa für eine Militärdiktatur, die sich als solche auf Dauer einrichten würde. Es war nun klar, daß eine Demokratie nicht mit einem Schlag an die Stelle der Diktatur treten konnte. Aber es gehörte, wie wir gesehen haben
Was nun das sachliche Ergebnis selbst betrifft, so ist vorweg die einzige offizielle Äußerung des Vatikans zu verzeichnen, die in Nr. 36 des „Observatore Romano“ vom 11. 2. 1946 erschienen ist. Sie -lautet in deutscher Übersetzung:
„Die Wahrheit über eine behauptete Intervention.
Unter dem Titel „Die Alliierten haben überraschende Dokumente entdeckt — Der Papst hat Deutschland im Jahre 1940 geholfen“ — hat das kommunistische Organ von Prag, „Prace“, in der Nummer vom 24. 1. dieses Jahres eine Notiz gebracht mit dem Bemerken, sie sei aus London vom diplomatischen Korrespondenten des „Daily Worker“ übermittelt worden und beruhe auf Enthüllungen, die der deutsche General Thomas im Laufe des Nürnberger Prozesses gemacht hat. Nach jener Notiz hätte der Papst in Zusammenarbeit mit einflußreichen politischen Persönlichkeiten Deutschlands und Englands im Zentrum eines Friedensplanes gestanden, der die Rechte auf Kosten der Sowjetunion begünstigt hätte. „Der Plan des Papstes“, schrieb Prace, „enthielt auch ein Versprechen, demzufolge alle Fragen Osteuropas zugunsten Deutschlands gelöst worden wären — unter der Bedingung, daß das deutsche Heer sich von Hitler trenne und Ribbentrop sich des Blitzkrieges im Westen enthalte. Der Papst war sogar damit einverstanden, daß Goebbels der Führer von Deutschland würde, wenn der Staatsstreich gelungen wäre.“
Wir sind in der Lage, dazu folgendes bekanntzugeben:
Treu dem Grundsatz, nichts unversucht zu lassen, was in irgendeiner Weise der Sache des Friedens dienen könnte, und so der Welt die verheerenden Wirkungen des furchtbaren Krieges zu ersparen, hat es der Hl. Vater Pius XII. damals auf Bitten bedeutsamer politischer und militärischer Kreise Deutschlands übernommen, bestimmte Fragen dieser Kreise über die Kriegsziele und Friedensbedingungen der anderen krieg-führenden Partei zu übermitteln und die Antworten, die diese unter Umständen glaubte geben zu sollen, an die Fragesteller zu leiten. Für diese Übermittlung bediente sich der Hl. Vater ausschließlich des ordnungsmäßigen amtlichen Weges. Es ist daher unverständlich, wie die in Frage kommenden Dokumente — laut Darstellung des Prager Organs — eine überraschende Entdeckung durch die Alliierten hätten darstellen können.
Das Wirken Seiner Heiligkeit beschränkte sich nur hierauf. Der Papst präsentierte nicht irgendeinen eigentlichen Friedensplan. Ebenso war nie davon die Rede, die Probleme Osteuropas zum Vorteil Deutschlands zu regeln, noch davon, Goebbels nach dem Sturz von Hitler und Ribbentrop zum Führer zu machen. Das Ziel der interessierten deutschen Kreise war es, ein vom Nationalsozialismus befreites Deutschland zu schaffen. Die Sowjetunion wurde nie und in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt erwähnt. Im übrigen lief jener Versuch zwischen Ende 1939 und den ersten Monaten 1940, also zu einer Zeit, in der die Sowjetunion in engen Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland stand.“
Diese einzige offizielle Stellungnahme des Vatikans ist ein Dementi. Sie bestätigt aber positiv: Die deutsche Militäropposition hat über den Papst bestimmte Anfragen an die Westmächte (lies: London) gerichtet und der Papst persönlich hat diese Anfragen auf dem offiziellen diplomatischen Weg (lies: über den englischen Gesandten beim Vatikan) weitergeleitet. Darüber hinaus kann nach unmittelbaren Rückfragen des Arbeitskreises in Rom folgendes gesagt werden: Es war der Zweck des Unternehmens und im besonderen die Absicht der Fragesteller, Deutschland einen Waffenstillstand zu sichern, solange es noch militärisch intakt war.
Fragen und Antworten haben geklärt, daß das möglich war. Sie haben geklärt, daß im Falle der Regimeänderung Verhandlungen zwischen den Kriegführenden im Westen ausgenommen werden und zwar auf einer vernünftigen Grundlage. Diese Grundlage bestand darin, daß das Deutsche Reich in seinem Umfang von 1937 unangetastet bleibt und daß die Frage der Aufrechterhaltung des Anschlusses von Österreich durch freie Volksabstimmung entschieden wird. Das war viel. Es mochte insbesondere von neutralen ausländischen Beobachtern nach Lage der Dinge sogar als „ungewöhnlich gut“ bewertet werden.
Bis hierher darf zwar nicht eine ausdrückliche Bestätigung des römischen Gesprächspartners in Anspruch genommen, aber doch eine Korrektur unserer Feststellungen als ausgeschlossen betrachtet werden. Alle weitergehenden Einzelheiten entziehen sich aus den bereits dargelegten Gründen einer gleichen Bekräftigung.
Das gilt u. a. für das weitere Schicksal des Sudetenlandes. Es ist offenbar in den offiziellen Fragen und Antworten überhaupt nicht berührt worden. Müller und seine Auftraggeber glaubten daraus den Schluß ziehen zu können, daß das Sudetenland bzw.seine weitere Zugehörigkeit zum Reich auch bei den kommenden Friedensverhandlungen keinen Diskussionsgegenstand bilden würde, wobei man sich auf den vertraglichen Charakter des Münchener Abkommens vom September 193 8 stützen mochte. Freilich bedeutete das nicht, daß die englische Regierung in irgendeiner Form die Verpflichtung übernommen hätte, dieses Thema nicht von neuem aufzuwerfen. Kein Zweifel bestand darüber, daß das „Protektorat Böhmen und Mähren“ nicht aufrecht zu erhalten war. Kein Zweifel bestand weiter darüber, daß die seit 1939 gewaltsam besetzten Gebiete herauszugeben waren, daß Deutschland also nicht bei den Friedensverhandlungen mit „Faustpfändern“ operieren konnte. Daraus ergab sich logischerweise die Wiederherstellung Polens (soweit es nicht von der Sowjetunion besetzt war). Offen blieb jedoch für die Verhandlungen die Lösung der Danziger Frage und die Frage von Grenzkorrekturen, wobei Dr. Müller — auf Grund der sonstigen Sondierungen in Rom --und seine Auftraggeber sich zu der Annahme berechtigt glaubten, daß das für Österreich aufgestellte Prinzip der freien Volksabstimmung sich in gleicher Weise zur Lösung der anderen territorialen Fragen im Osten werde durchsetzen lassen.
Für die Prozedur war nach Müllers Darstellung folgender Ablauf vorgesehen: Sobald der Sturz des Hitlerregimes — immer vor einem Angriff im Westen! — erfolgt ist, wird der Papst an die Kriegführenden mit dem Appell zum Abschluß eines Waffenstillstandes und zur Beendigung des Krieges hervortreten-Die englische Regierung wird diesem Appell Folge leisten und sich dafür auch bei Frankreich einsetzen; nach der ganzen politischen und militärischen Lage durfte als sicher angenommen werden, daß auch Frankreich dem Appell folgen werde. Unmittelbar darauf sollten dann die Friedensverhandlungen beginnen und zwar verbindlich auf der in Rom vorbereiteten Grundlage.
Solche Abreden, wie die in Rom getroffenen, sind keine formulierten Verträge. Sie stellen ein Gentleman-Abkommen dar, wobei es offen bleibt, ob es nur allgemeine Leitsätze und Grundsätze umfaßte oder auch konkrete Lösungen für Einzelfragen umschrieb. Der besondere Wert bestand für die Militäropposition und für das „andere Deutschland“ in der Garantie, welche die Persönlichkeit des Papstes als Vermittler darstellte.
Gewiß hätte der Papst diese Garantie nicht effektuieren können, wenn die englische Regierung, mit deren Gesandten er die Verhandlungen führte, später nicht zu ihrem Wort stand. Aber der Papst hätte die Mittlertätigkeit wohl auch nicht fortgeführt, wenn ihm die Haltung der englischen Regierung nicht die Garantie geboten hätte, daß die Abreden ernsthaft eingehalten werden.
Der X-Bericht Schon im November 1939 gingen Dr. Müller und Reichsgerichtsrat v. Dohnanyi, der Mitarbeiter Osters, daran, die absehbaren Ergebnisse in einem Bericht zusammenzufassen, der den zur Durchführung des Staatsstreiches zuständigen Männern der Militäropposition, also in erster Linie Halder, zugehen sollte. In den Entwürfen und in der engültigen Fassung des Berichtes war der Name des Unterhändlers, also Dr. Müllers, durch X ersetzt. Daher der Name „X-Bericht“. Es gab also Entwürfe (erste Fassung) und es gab einen endgültigen Text. Die Unterscheidung zwischen Entwürfen, Vor-oder Teilberichten und endgültiger Fassung ist von denen, die den X-Bericht kannten und nach Jahren über ihn Zeugnis ablegten, nicht immer beachtet worden. Sie konnte auch kaum präzis beachtet werden. Denn eine gedächtnismäßige Rekonstruktion des Ganges der Verhandlungen ist, da kaum Unterlagen in Form von Notizen, Tagebucheinträgen u. dgl. vorliegen, ganz besonders schwierig. Zum Teil ist auch darin eine Reihe von Widersprüchen in den Angaben über den Inhalt des X-Berichts begründet; die schwerwiegendsten Differenzen stellen allerdings die historische Forschung vor manche Rätsel, die sich nicht restlos lösen lassen. Nach Dr. Müllers Darstellung ist der — endgültige — X-Bericht, also der nach Abschluß der Verhandlungen (Ende Januar) erstellte X-Bericht von ihm anhand stenografischer Stichwortnotizen gemeinsam mit Dohnanyi ausgearbeitet worden. Dr. Müller hat den Bericht in der Nacht seiner Frau diktiert und Müller hat am nächsten Morgen — vor seiner Abreise aus Berlin — den inzwischen geschriebenen Text noch einmal durchgelesen, „allerdings, da die Zeit drängte, nicht Wort für Wort“. Der Bericht hatte weder eine Über-noch eine Unterschrift. Er begann mit einer Einleitung, die in großen Zügen die damalige Situation Deutschlands kennzeichnete. Daran schloß sich eine Darstellung des Zwecks der römischen Gespräche. Hierauf folgte „eine Skizze der Hauptgesichtspunkte“, welche die Basis der (späteren) Friedensverhandlungen darstellen sollten, — „ein Gerippe, nicht ein formulierter Friedensvertrag“. Der erwähnte Brief des römischen Gesprächspartners
Dr. Müller kann natürlich nicht dafür einstehen, daß der X-Bericht in der von ihm mitverfaßten und gebilligten Fassung unverändert an Beck weitergegeben und ebenso unverändert dann an Halder gelangt ist. Müller selbst hält eine „Ausweitung“ des Berichts — sei es durch Dohnanyi, sei es durch Oster — für ausgeschlossen, mindestens soweit der endgültige Bericht „Zutaten“ enthalten haben könnte, die nicht durch das Ergebnis der römischen Gespräche gerechtfertigt gewesen wären. Die Möglichkeit solcher „Unterschiebungen“, wie sich Kosthorst ausdrückt, ist aber nicht völlig von der Hand zu weisen.
Zu bedenken ist, daß die Formulierung gewisser allgemeiner Grundsätze, wie etwa des Selbstbestimmungsrechts der Völker, bekanntlich mannigfache Auslegungen und Abwandlungen für die Praxis offen läßt.
Wenn die Worte nicht sehr sorgsam gewählt werden, können sie leicht übersteigerte Hoffnungen wecken. Auch sonst kommt ja im täglichen Leben ein grundsätzliches „Ja“ häufig einem praktischen „Nein“ gleich.
Es könnte ferner daran gedacht werden, daß von englischer Seite damals (1940) Zusagen in Aussicht gestellt wurden, an die man sich später d. h.
nach der völligen Niederlage und dem Zusammenbruch Deutschlands nicht mehr erinnern will.
Gisevius schreibt in der Neufassung seines Buches: „Auf Becks Veranlassung wurde ein umfangreicher Schlußbericht angefertigt, um durch eine Schilderung der einzelnen Stadien der Verhandlungen etwaige Einwendungen zu entkräften.“ Das klingt bereits etwas anders und könnte die Annahme verstärken, daß an Halder ein anderes Dokument gegangen ist als jenes, das Müller und Dohnanyi ausgearbeitet haben. Andererseits spricht Gisevius von einer „stilistischen Meisterleistung Dohnanyis“.
Der vertorbene General Thomas, der schließlich den endgültigen X-Bericht dem Generalobersten Halder übergeben hat (am 4. April 1940), hat in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und für die amerikanischen Vernehmer am 20. Juli 1945 einen Bericht über seine Widerstandstätigkeit erstattet, der auch auf den X-Bericht näher eingeht. Thomas beruft sich dabei auf eine ihm im Sommer 1944 (nach dem 20. Juli) in Gestapohaft vorgelegte größere Aktennotiz (vermutlich aus dem Zossener Aktenfund). Diese Aktennotiz habe folgendes besagt: „Ich (Thomas)
hätte Anfang April 1940 Halder einen mir von Oster zugeleiteten Bericht aus Rom überreicht, aus dem hervorging, daß der Vatikan bereit sei, eine Verständigung mit England zu vermitteln unter folgenden Bedingungen:
Beseitigung Hitlers und Ribbentrops, Neubildung einer Regierung (Person Görings tragbar), keine deutsche Westoffensive, Regelung der gesamten Ostfrage zugunsten Deutschlands“.
Dr. Müller ist überzeugt, daß General Thomas, noch unter dem verwirrenden Eindruck seiner Gestapo-Vernehmungen stehend, keine scharfe Trennung zwischen X-Bericht und anderen Dokumenten, wie sie auch Müller in der Haft vorgelegt wurden, einzuhalten vermochte, als er diese summarische Inhaltsangabe über den X-Bericht zu Protokoll gab. Es ist ausgeschlossen, daß der Papst oder die englische Seite irgendeine Bereitschaft bekundet hätten, einer Regierung Göring einen großzügigen Vermittlungsfrieden anzubieten, ihr gar jene Konzessionen zu machen, zu deren Verweigerung erst wenige Monate vorher England den Krieg an NS-Deutschland erklärt hatte. Nach Dr.
Müllers Darstellung stand bei allen Diskussionen über die künftige Re-gierung des „anderen Deutschland“ niemals eine Beteiligung prominenter Nationalsozialisten wie Göring zur Debatte. Man könnte über das Detail „Göring“ im Thomas-Bericht ohne weiteres hinweggehen, wenn eine ähnliche Version nicht auch in der Darstellung Halders aufgetaucht wäre. Erich Kosthorst
Entgegen den ganz präzisen Vereinbarungen aller Beteiligten sind X-Bericht und Entwürfe nicht restlos vernichtet worden. So konnte später (Oktober 1944) die Gestapo beim „Zossener Aktenfund“ auch ein Exemplar des X-Berichtes greifen. Es bildete ebenfalls den Gegenstand zahlloser Vernehmungen aller Beteiligten, soweit sie damals noch lebten, insbesondere auch Halders. Halder selbst hat vor der Spruchkammer am 16. 9. 1948 ausführlich dargestellt, wie er den X-Bericht in Erinnerung hat. Er führte folgende Punkte an: Volksabstimmung in Österreich, (die spätestens nach fünf Jahren durchgeführt werden sollte), Belassung des Sudetenlandes beim Reich (siehe oben), Aufgabe des Protektorats über die Tschechei, allerdings mit dem Hinweis, daß eine weitere enge Verbindung der Tschechei mit dem Reich zu vereinbaren sein werde, dann Herausgabe der Faustpfänder. Lind nun folgte der weitere Punkt: Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914. Dazu ist zu sagen: Wenn der X-Bericht — in der endgültigen, durch Thomas an Halder überbrachten Form — tatsächlich diese Formulierung gewählt haben sollte, dann beschränkte er sich nicht mehr auf eine möglichst positive „Auslegung“ der römischen Abreden, sondern dann ging er sehr großzügig darüber hinaus. Von der deutschen Ostgrenze war wohl in keiner irgendwie präzisen Form in Rom die Rede. Wenn sich die deutsche Militäropposition und ihre Politiker die Frage vorlegten, wie wohl auf Grund der in Rom aufgestellten Prinzipien die deutschen Ostgrenzfragen praktisch zu lösen sein würden, dann kam maximal neben der Rückgliederung Danzigs eine Grenzkorrektur bzw. die Schaffung eines Korridors in Frage. Unter keinen LImständen durfte mit Berufung auf englische Zusicherungen eine „Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914“ in Aussicht gestellt werden. Ob der X-Bericht tatsächlich diese (auch von Thomas erwähnte) irreführende Übertreibung enthalten hat, oder ob Halder aus der Formulierung des X-Berichts hier zu weitgehende Schlüsse gezogen hat oder ob er einer Gedächtnistäuschung unterliegt — es könnten alle drei Momente eine Rolle spielen —, das ist zur Zeit nicht zu klären.
Vor allem aber ist immer wieder zu bedenken: Es ist Halder nicht nur der X-Bericht, der endgültige X-Bericht zugegangen, sondern auch Vorberichte und viel sonstiges „Papier“, wie er sich ausdrückte. Es ist gewiß möglich, daß in irgendeinem der Vor-oder Teilberichte oder etwa als Anlagen beigefügten Dokumente die These der „Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914“ verzeichnet war. Es ist gewiß ohne weiteres möglich, daß diese These auch durch römische Gespräche außerhalb der über den Papst geführten Verhandlungen gestützt war. Sie lag im Ermessensbereich der Auslegung. Aber das ändert nichts daran, daß mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gesagt werden muß: Die Wiederherstellung der deutschen Ostgrenze von 1914 hatte keine konkrete Stütze in den Erklärungen der englischen Regierung, welche der Papst an die deutsche Militäropposition weiterleitete.
Halder erwähnte vor der Spruchkammer 83) aber auch noch einen weiteren Punkt. Er lautete angeblich: Wiederherstellung der deutsch-französischen Grenze von 1914. Dieser Punkt war und ist erst recht völlig unver-ständlich. Einmal konnte England nicht die Rückgabe Elsaß-Lothringens zusichern oder in Aussicht stellen; denn Elsaß-Lothringen gehörte Frankreich und bildete seit 1871 notorisch einen empfindlichen Ehrenpunkt der französischen Politik. Zum zweiten hatte sogar Hitler einen endgültigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen ausgesprochen. Zum dritten hat auch die Militäropposition nach allem, was über ihre internen Gespräche und ihre Friedenspläne bekannt geworden ist, niemals daran gedacht, Elsaß-Lothringen zu einem Programmpunkt, zu einer Streitfrage, zu machen.
Umso weniger ist denkbar, daß England nach dieser Richtung irgend eine Zusage gemacht oder in Aussicht gestellt hat. Aus Halders Aussage ist übrigens zu entnehmen, daß gerade dieser Punkt ihn sofort stutzig gemacht hat. Der Punkt „Elsaß-Lothringen“ wird von Kosthorst 83a) mit Recht als „grotesk“ bezeichnet. Kosthorst meint deshalb, ihn „zunächst außer Ansatz“ lassen zu sollen. Nach Ansicht des Arbeitskreises kann man über dieses für die Beurteilung des X-Berichts und der über ihn gegebenen Darstellungen wichtige Moment nicht einfach hinweggehen. Wenn Halders Darstellung zutrifft, dann gibt es nur folgende Möglichkeiten: Entweder war der X-Bericht in diesem Punkt mißverständlich gefaßt und er ist dann auch von Halder mißverstanden worden. Oder er ist „frisiert“ worden, was hier ganz besonders töricht gewesen wäre. Oder „Elsaß-Lothringen“ war wieder nicht im X-Bericht selbst, aber in irgendeinem der mitgegebenen Dokumente verzeichnet. Dr. Müller schließt die Erwähnung Elsaß-Lothringens in der von ihm mitverfaßten Fassung des X-Berichts völlig aus; „da die Frage „Elsaß“ nie in Rom zur Sprache kam, wäre mir das wohl aufgefallen“. Gisevius erklärte gegenüber dem Arbeitskreis auf das allerbestimmteste, daß im (endgültigen) X-Bericht von Elsaß-Lothringen keine Rede gewesen sei. Kosthorst macht auch treffend darauf aufmerksam, daß Hassells Tagebucheintrag vom 19. März 1940
Die Bedeutung der Friedensgrundlagen Die Differenzen in den Aussagen über den X-Bericht können beim heutigen Stand der Forschung nicht restlos geklärt werden und es ist sogar fraglich, ob sie überhaupt jemals eine restlose Klärung finden können, wenn nicht das Dokument selbst noch gefunden wird und ans Tageslicht kommt. So unbefriedigend es bleibt, sich mit den Widersprüchen auseinanderzusetzen, so darf doch festgestellt werden: Die Differenzen berühren die Darstellung des Ergebnisses der römischen Gespräche im X-Bericht oder in Berichten, die heute mit dem endgültigen X-Bericht zusammen verzeichnet werden. Aber sie berühren das Ergebnis selbst höchstens in Einzelheiten, nicht jedoch die Klarstellung des wesentlichen Inhalts.
Es ist zu unterstellen, daß die römischen „Friedensgrundlagen“ keine starren Formeln waren, sondern variabel genug, um der englischen Regierung für die Friedensverhandlungen Bewegungsfreiheit im vereinbarten Rahmen zu lassen. Für die deutsche Militäropposition war das Gesamtergebnis ausschlaggebend. Selbst wenn wir von allen „Auslegungen“ absehen, die auf dem Wege von Rom bis zum Hauptquartier Halders das Ergebnis in ein immer günstigeres Licht rückten und mindestens nicht restlos bei nüchterner Abwägung durch die Unterlagen gerechtfertigt waren, selbst wenn wir nur eine Minimalauslegung vornehmen, dann war doch der Bestand des Reiches von 1937 auf jeden Fall gesichert. Lind man wird wohl sagen müssen: Mehr konnte im Kriege und in diesem Stadium des Krieges an Zusicherungen nicht erwartet und nicht gegeben werden. Selbst dann noch wäre Deutschland nicht bloß mit einem „blauen Auge“ aus dem durch Hitler so leichtfertig heraufbeschworenen zweiten Weltkrieg herausgekommen, es hätte vor allem, was doch auch für die Militäropposition wichtig war, seine Großmachtstellung behaupten, und es hätte sie nicht auf Druck und Zwang, sondern auf freie und echte Verständigung gründen können.
In den römischen Gesprächen sind nach Dr. Müllers Aussage verschiedentlich auch Personalfragen der künftigen deutschen Regierung ventiliert worden — allerdings nicht in den offiziellen Gesprächen, sondern gewissermaßen außerhalb der Tagesordnung in Gesprächen zwischen Dr. Müller und dem Prälaten Kaas, dessen Ansicht in germanicis sowohl für den Vatikan, wie für den Gesandten Osborne von Belang sein konnte. Es geschah, um der Gegenseite einige Anhaltspunkte dafür zu bieten, mit wem sie es bei den vorgesehenen Friedensverhandlungen und nachher zu tun haben werde, und um ein Gefühl für die Resonanz einzelner Namen zu bekommen. Dabei seien u. a. die Namen Schacht (für die Wirtschaftsund Finanzpolitik), v. Hassell (für die Außenpolitik) und Goerdeler genannt worden. Die beiden letzteren sollen nicht ohne weiteres Anklang gefunden haben: Hassell, weil er als Vorkämpfer der „Achse Berlin-Rom“ gegolten hatte (was nur sehr bedingt zutraf) und Goerdeler, weil er damals international noch zu wenig bekannt war. Es scheint, daß auch im Kreise Beck-Oster, namentlich von Dohnanyi, Ministerlisten aufgestellt worden sind; Dr. Müller bestreitet es in dieser Form und meint, das sei eine Lieblingsbeschäftigung von Goerdeler gewesen. Es gehört natürlich mit zur Vorbereitung eines neuen Regimes, artet aber bekanntlich leicht in eine gefährliche Spielerei aus und erinnert immer an die betriebsame Verteilung eines Fells, dessen bisheriger Inhaber noch nicht erlegt ist. Man kann sich mit dieser Bemerkung begnügen.
Wir fassen das Wesentliche zusammen: Die Untersuchungen des Arbeitskreises haben einwandfrei und eindeutig ergeben:
1. Die Aktion der römischen Friedensgespräche ist von der Gruppe Beck-Oster der Militäropposition kurz nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges eingeleitet worden, um dem anderen Deutschland für den Fall der Machtübernahme eine Gewähr zu verschaffen, daß der Sturz des Hitlerregimes einen raschen Friedensschluß mit den damals feindlichen Großmächten, England und Frankreich, ermöglicht und daß er Substanz und Lebensinteressen des Deutschen Reiches keinen Gefahren von außen aussetzt.
2. Es wurden ernsthafte Friedensgespräche durch autoritative Vermittlung des Papstes — und nur über den Papst — mit einer offiziellen Vertretung der englischen Regierung geführt.
3. Die Verhandlungen haben ein Ergebnis gezeitigt, das in der Fassung von Leitgedanken und Zusicherungen eine gute Plattform für Friedensgespräche schuf.
4. Das Ergebnis bot jene Garantien, die ein Gentleman-Abkommen bieten kann —ein anderes Abkommen konnte auch auf deutscher Seite nicht geschlossen werden — und diese Garantien sind durch die Person des Papstes bekräftigt worden.
5. Das Ergebnis hat somit im vollen Umfang den Zweck dieser diplomatischen Aktion der Militäropposition erfüllt* ).
Die Parallelaktion Hassell Unabhängig von diesen römischen Gesprächen liefen in gleicher Richtung Friedensfühler, die von der Zivilopposition um Goerdeler durch den früheren Botschafter v. Hassell über die Schweiz
Lonsdale Bryans ist wegen dieser und späterer Erfahrungen ein leidenschaftlicher Ankläger gegen die englische Regierung geworden. Er wirft ihr und speziell der höheren Beamtenschaft im Foreign Office vor, sie habe merkwürdigerweise in Hassell und seinen Verbündeten „Verräter“ gesehen und nicht die Männer, die dafür eintraten, daß Deutschland, Europa und die Welt am Leben bleiben — kurz er wirft der englischen Regierung vor, daß sie durch Nichtbeachtung und Zurückweisung der Militäropposition einen ihrer verhängnisvollsten Fehler begangen habe.
Im Zusammenhang mit den römischen Gesprächen ist nun von Belang, daß etwa im Februar 1940 ein Umschwung in der Einstellung der englisehen Regierungskreise zum Frieden mit dem „anderen Deutschland“ eingetreten sein soll. Das darf nach einem solchen Zeugnis nicht ausgeschlossen werden. Man kann ohne weiteres annehmen, daß auf alle Fälle in London Gegenströmungen gegen Gespräche und Abmachungen, wie jene von Rom, am Werk waren. Das letzte Wort über die englische Haltung und damit auch über die römischen Gespräche und ihre tatsächliche Bedeutung kann erst gesagt werden, wenn die englischen Akten aus jener Zeit der Forschung zugänglich gemacht werden oder wenn die damals beteiligten Staatsmänner, darunter der noch lebende Gesandte beim Vatikan, Osborne, ihr bisheriges Schweigen aufgeben. Es muß aber auch gesagt werden, daß der Abbruch der Verhandlungen mit Hassell keineswegs eine Preisgabe der römischen Verhandlungen und Vereinbarungen bedeuten muß. Es kann im Gegenteil sogar sein, daß diese Verhandlungen mit Hassell abgebrochen wurden, weil sie durch den Abschluß der römischen Gespräche gegenstandslos und überflüssig geworden waren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß die englische Regierung Friedensgespräche nicht mehr führen wollte, solange nicht die im Rom von Anfang an präzis bezeichneten Voraussetzungen: Sturz des Hitler-regimes, Verzicht auf die Westoffensive, Tatsache geworden waren. Es hätte ja überraschen müssen, wenn im Frühjahr 1940 nicht auf der englischen Seite und im Vatikan nachgerade ernsthafte Zweifel daran aufgetaucht wären, ob deutscherseits die Voraussetzungen erfüllt werden können. Die Gruppe Beck-Oster stand jedenfalls schon sehr stark unter dem Nervendruck solcher Zweifel.
V. Die Reaktion im Generalstab
Die Darstellung von Lonsdale Bryans unterstreicht nur, daß es im März 1940 bereits höchste Zeit geworden war zum Handeln. Mit jeder Woche, die weiter ins Frühjahr hineinführte, verringerte sich für die militärische Führung die Möglichkeit, dem „Obersten Befehlshaber“ rein militärische Gründe für einen weiteren Aufschub der Offensive nahe-zubringen. Als daher der X-Bericht in die Hand von Halder kam, konnte er nicht mehr auf Eis gelegt und ebenfalls nicht mehr zum Gegenstand langer Erwägungen gemacht werden. Er konnte nur noch als letzter Anstoß auf die zum Handeln Berufenen wirken und setzte voraus, daß diese Männer im übrigen alles Für und Wider schon in langen Monaten reiflich erwogen hatten und mit sich selbst nun ins reine gekommen waren. Wenn diese Voraussetzung nicht zutraf und wenn der Anstoß nicht wirkte, dann blieben die römischen Friedensgespräche und mit ihnen das ganze Gentleman-Abkommen in der Luft hängen. Auch die militärische Führung konnte sich der zwingenden Erkenntnis nicht verschließen, daß eine solche Friedensgrundlage im Wege der Vorverständigung kaum ein zweites Mal geboten werden würde.
Wie reagierte die „aktive Gruppe" um Halder auf das Dokument?
Wir haben das früher als ausschlaggebendes Kriterium bezeichnet.
Mehrere Versionen
Zunächst stellt sich die Frage: Wann ist der X-Bericht — der endgültige, das Ergebnis zusammenfassende X-Bericht — zur Kenntnis Hal-* ders gekommen? Es kann nach kritischer Überprüfung aller vorliegenden Darstellungen, die auch in diesem Punkt mehrfach ungenau und widerspruchsvoll waren, vorweg gesagt werden, daß der Termin der Überreichung des Berichts an Halder als völlig geklärt anzusehen ist. Es war der 4. April 1940. Die Verhandlungen in Rom waren Ende Januar abgeschlossen. Der endgültige X-Bericht kann daher vor Anfang Februar 1940 nicht fertiggestellt worden sein. Warum rund 2 Monate zwischen dem Abschluß der römischen Gespräche (hier immer verstanden als Übermittlung von Fragen und Antworten zwischen deutscher Militäropposition und englischer Regierung auf dem Wege über den Papst) und der Übergabe des Berichts an Halder vergangen sind, und wie diese auffallende Verzögerung zu beurteilen ist, das ist eine Sache für sich, auf die wir später noch eingehen müssen. Der X-Bericht kann also, wie gesagt, nicht vor Anfang Februar 1940 fertiggestellt und daher auch nicht vor diesem Termin übergeben worden sein. Alle für die vorausgegangene Zeit genannten Termine müssen falsch sein oder sie können sich nur auf die Übergabe anderer Dokumente beziehen, die dann in der Erinnerung mit dem X-Bericht in einen Topf geworfen worden sind. Es kann sich dabei auch um Vorberichte zum X-Bericht handeln, also um Berichte, die die noch laufenden römischen Gespräche betrafen.
Zwei frühere Termine sind für die Übergabe des X-Berichts an Halder genannt worden: der 4. November und der 27. November 1939. An beiden Tagen war, wie auch Halders Tagebuch bestätigt, General Thomas bei Halder. An beiden Tagen galten die Gespräche der Widerstands-aktion. Der 27. November kann in diesem Zusammenhang ausscheiden; denn dieser Termin wird nirgends durch präzisere Angaben gestützt und auch aus dem Kreis Beck-Oster und von den wenigen Überlebenden dieses Kreises liegen keine Aussagen darüber vor, daß Thomas am 27. November neue und wesentliche Dokumente Halder überreicht hätte. Anders der 4. November.
Gisevius machte vor dem Arbeitskreis folgende Angaben über den am 4. November durch Thomas dem Generalobersten Halder übergebenen Bericht: Es handelte sich um ein teils von Oster-Dohnanyi, teils von ihm, Gisevius, formuliertes, sechs Seiten langes Memorandum, das u. a. „im wesentlichen die Grundhaltung der englischen Regierung skizzierte“. In der Neufassung seines Buches 8°) verzeichnet Gisevius auf Grund von Tagebuchnotizen für den 1. November eine Aussprache mit Dohnanyi über die Abfassung des Memorandums. Wörtlich heißt es dazu: „Wir verwenden die ersten Informationen von Josef Müller aus dem Vatikan, um Halders etwaige Rückzugslinie abzuschneiden, es gäbe keine Friedensbereitschaft auf der Gegenseite mehr“. Für den 2. November notierte Gisevius: „Thomas meldet sich bei Halder. Dieser durchschaut sofort, daß ihm keine wirtschaftlichen Statistiken vorgelegt werden sollen. Als Thomas seine Denkschrift
Im großen ganzen bestätigt diese Darstellung das Bild, das wir bereits von Halders Wollen und Haltung in den ersten Novembertagen 1940 gewonnen haben. Das Datum des 2. November stimmt allerdings nicht; denn der Vortrag von Thomas bei Halder hat nachweislich am 4. November stattgefunden. So wenig belangvoll die kleine Termindifferenz ist, so zeigt sie doch, daß auch Tagebucheinträge keine absolute Beweiskraft haben, — namentlich dann nicht, wenn sie nicht am Tage selbst, sondern erst nachher, und sei es nur eine Woche später, geschrieben worden sind. Auch die Äußerung von Gisevius, daß in jenem Memorandum bereits „die Grundhaltung der englischen Regierung skizziert“ worden sei, muß mit einem Fragezeichen versehen werden; denn es ist mindestens zweifelhaft, ob die eben erst angelaufenen römischen Gespräche Dr. Müllers bereits konkrete Mitteilungen über Antworten der englischen Regierung auf Fragen der deutschen Militäropposition gestatteten. Halder selbst machte über den X-Bericht und seine Überreichung durch Thomas folgende Aussage vor der Spruchkammer München:
Nun fügte Halder im erwähnten Brief selbst hinzu, er könne nicht sagen, ob die ihm im November 1939 übergebenen Papiere einen Auszug aus dem sog. X-Bericht darstellten; erhebliche Teile dessen, was später als Inhalt des X-Berichts angegeben wurde, seien darin nicht erwähnt gewesen. Das Ganze sei „eine in ihren Wiederholungen und Weitschweifigkeiten ermüdende Darstellung der Verhandlungen“ gewesen, „aus der ohne jegliche Namensnennung anzunehmen war, daß die Verhandlungen mit einer offiziellen Stelle des britischen Außenamtes in mehreren Verhandlungsgängen gepflogen worden waren“.
Der Widerspruch in den Terminangaben Halders ist unschwer zu lösen. Am 4. April 1940 wurde der endgültige X-Bericht übergeben. Am 4. November überreichte Thomas einen Vorbericht und zwar das auch von Gisevius erwähnte „Memorandum“, das u. a. die im späteren wirklichen X-Bericht behandelten römischen Gespräche Müllers betraf, aber eben kein abschließender Bericht war, und es auch noch lange nicht sein konnte. Der Novemberbericht ist offenbar zusammen mit den von Müller gefertigten Gedächtnisprotokollen über die römischen Gespräche dem Generalobersten Halder übergeben worden. Dem Arbeitskreis lag eines dieser Gedächtnisprotokolle vor, das auf vielen Seiten die Gespräche vom 6. bis 12. November 1939 behandelt
Nun wäre in den ersten November-Tagen 19 39 ein psychologischer Zeitpunkt gegeben gewesen, um Halder zur Tat zu bringen. Daß sich das am 5. November änderte, war die Wirkung der dramatischen Szene in der Reichskanzlei (Abkanzelung Brauchitschs) und hatte nichts mit dem Memorandum und dgl. zu tun. Wenn nun aber Unterlagen, die so wenig dem Zweck entsprachen, ohne jede Erläuterung unterbreitet wurden, dann kann man schwerlich Halder einen Vorwurf daraus machen, daß er auf dieses Fundament keinen Staatsstreich gründen wollte. Ebensowenig könnte man deshalb gegen Brauchitsch einen Vorwurf erheben, sofern ihm Halder — wie aus seinem Brief zu entnehmen wäre — diese Unterlagen gezeigt hätte. Man müßte vielmehr gegen die Militär-Opposition der Gruppe Beck-Oster, die doch ihre Partner, die „Aktiven“, genau kannte, den Vorwurf erheben, daß sie durch den Mangel an Fingerspitzengefühl und durch ungeeignete, ja naive Methoden ihrer eigenen Sache einen Bärendienst erwiesen hat.
Das hat offenbar die Gruppe Beck-Oster alsbald eingesehen. Eben darum mag sie in der Folgezeit so großen Wert darauf gelegt haben, eine in kurzen und präzisen Formulierungen gehaltene Zusammenfassung der römischen Ergebnisse mit der Unterschrift des Gesprächspartners vorweisen zu können. Diese Zusammenfassung ist dann entweder als Anlage des endgültigen X-Berichts am 4. April 1940 oder kurz danach gesondert Halder vorgelegt worden
Brauchitsch lehnt ab — ein hoffnungsloser Fall Halder ging mit dem X-Bericht sofort zu Brauchitsch. Er sagte darüber vor der Spruchkammer
„Ich habe diesen Bericht, nachdem ich ihn durchgelesen hatte, noch in den späten Abendstunden zu meinem Oberbefehlshaber v. Brauchitsch gebracht. Ich habe ihn nicht vorgetragen. Ich bat vielmehr, dieses Schriftstück 97) in aller Ruhe durchzulesen, um am nächsten Morgen mit ihm darüber zu sprechen. Ich habe am nächsten Morgen meinen Ober-befehlshaber ungewöhnlich ernst vorgefunden. Er gab mir das Papier
Das tat Brauchitsch nicht. Aber sonst tat er auch nichts. Er war für die Militäropposition ein „hoffnungsloser Fall“ geworden. Er war es wohl schon vorher, wie bereits seine Reaktion auf die Koramierung durch Hitler yor versammelter Generalität (am 23. November 1939)
gezeigt hatte. Er konnte nach Charakter und Urteilsvermögen kein Mann und erst recht kein Führer der Militäropposition werden.
Halders Kritik am X-Bericht Und Halder? Wir fahren fort in der Wiedergabe seiner Aussage:
„Im übrigen ist über dieses Dokument vom Gesichtspunkt der Politik aus eine Menge zu sagen. Es trug keine Unterschrift. Es hatte Punkte, die einen zweifeln machen konnten. Wie konnte z. B. England über Elsaß-Lothringen verfügen, das ihm nicht gehörte? Ich bin auch heute davon überzeugt, daß die englische Regierung mit der französischen nie darüber gesprochen hat. Es stand weiter vor uns die Frage: Wenn wirklich geschieht, was in diesem Schriftstück steht, wie wird sich dann eine englische Regierung dazu stellen, wenn ein Kabinettwechsel eintritt. Die neue (englische) Regierung brauchte ja nicht anzuerkennen, was hier offensichtlich ohne jegliche äußere Verpflichtung zugestanden werden sollte. Andererseits waren das alle Voraussetzungen, auf denen wir unser Handeln aufbauen mußten. Ich will damit nicht sagen, daß ich nicht in diesem Augenblick alles getan hätte, um Brauchitsch mitzureißen. Aber ich verstehe heute, wie ich schon einmal gesagt habe, daß mein Oberbefehlshaber sich nicht stürmisch auf diesen nicht voll tragfähigen Boden gestellt hat. Während sich all dieses abspielte, gingen — wenn ich so sagen darf — hinter den Kulissen die operativen Vorbereitungen in meinem Stabe weiter. Wenn man die Seiten meines so-genannten Tagebuches aus jener Zeit durchblättert — viele Seiten-einträge für jeden Tag —, sieht man, wie diese Tage ausgefüllt waren mit der Sorge um den deutschen Soldaten, um ihm alles das an Hand zu geben, was er vielleicht doch noch brauchte. Es war dies insbesondere eine Arbeit, die nachholte, was uns im Jahre 1939 bei dem Absprung gegen Polen so sehr gefehlt hatte. Und wenn der deutsche Soldat dann in der Zeit des Kampfes im Westen alles gehabt hat, was er brauchte, dankt er es dieser Arbeit meiner Helfer im Generalstab. Daß man daneben nicht noch politische Organisationen aufziehen kann, brauche ich vielleicht nur am Rande zu vermerken.“
Kritik der Kritik Was ergibt sich aus dieser Aussage Halders? Seine Einwände gegen das Dokument und dessen Inhalt lassen den begreiflichen Wunsch nach noch größerer Sicherheit erkennen. Aber sie tragen dem Umstand nicht Rechnung, daß ein verbindlicher Vertragsabschluß zwischen einer amtierenden Regierung und einer (noch) nicht regierenden Gruppe im feindlichen Ausland nahezu eine Utopie ist. Der Hinweis, daß das ganze Abkommen durch einen Kabinettswechsel in Frage gestellt sein könnte, mutet sehr gesucht an. „Ein nicht voll tragfähiger Boden“ sagt Halder mit betonter Vorsicht. Aber es gibt keine Staatsstreiche, die mit hundertprozentiger Garantie durchgeführt werden. Es gibt bekanntlich auch keine Kriege, die mit hundertprozentiger Garantie des Siegers geführt werden. Die ganze Opposition, auch die Halders und seiner Gruppe beruhte doch u. a. darauf, daß alle militärischen Erwägungen und Berechnungen für die Niederlage, die Endniederlage in einem jahrelangen wirklichen Weltkrieg sprachen: von den politischen Erwägungen, die doch ebenfalls bei Halder eine starke Rolle spielten, hier ganz zu schweigen. Tatsächlich war die außenpolitische Garantie für den Umsturz, die durch die römischen Gespräche vermittelt worden war, zwar sicher keine Garantie von 100 Prozent, aber sie war das Höchstmaß des Erreichbaren.
Richtig und in vollem Umfang anzuerkennen ist Halders Hinweis darauf, daß seine Zeit durch die Tagesarbeit, in diesem Fall durch die Vorbereitung der Offensive, bis zum Übermaß in Anspruch genommen war. Niemals darf der spätere Kritiker vergessen, daß gerade die im aktiven Dienst stehenden Männer der Militäropposition ja nicht den ganzen Tag „Opposi
Richtig und in vollem Umfang anzuerkennen ist Halders Hinweis darauf, daß seine Zeit durch die Tagesarbeit, in diesem Fall durch die Vorbereitung der Offensive, bis zum Übermaß in Anspruch genommen war. Niemals darf der spätere Kritiker vergessen, daß gerade die im aktiven Dienst stehenden Männer der Militäropposition ja nicht den ganzen Tag „Opposition“ machen konnten, sondern daß der größte Teil ihrer Tagesarbeit der verantwortlichen Erfüllung ihrer laufenden Dienstaufgaben gewidmet war. Aber der Hinweis Halders auf die Westoffensive zeigt zugleich, daß er mit voller Kraft — pflichtgemäß — das vorbereitete, was er mit einem Bruchteil seiner Kraft doch hatte verhindern wollen 98).
General Thomas, der Überbringer des X-Berichts, war sicher sehr schnell darüber unterrichtet, daß Brauchitsch und Halder sich in diesem Zeitpunkt nicht zum Handeln entschließen konnten. Nun schreibt Allen W. Dulles °), daß Thomas im April 1940 noch einen letzten Versuch unternommen habe, um die Westoffensive zu verhindern, und zwar bei den Frontbefehlshabern im Westen. Er habe die Generale v. Leeb, v. Bock, v. Rundstedt, v. Manstein und v. Sodenstern ausgesucht, um sie von dem erwarteten Mißerfolg dieser Westoffensive zu überzeugen. Er habe sie beschworen, sich zu weigern, in Holland und Belgien einzufallen. Dies würde eine Krise hervorrufen, die der Berliner Garnison zum Vorwand dienen könne, und „dann würde das Heer die Sache übernehmen“. Die Generäle hätten höflich zugehört, aber sonst nichts. Denn, sagt Dulles, „sie hatten in Polen und Norwegen große Siege errungen und berauscht von der Aussicht, nun ganz Europa zu erobern, glaubten sie es besser zu wissen als jene ewigen Skeptiker und Kritiker des Führers“. Diese „Motivierung“ ist nicht nur ersichtlich tendenziös, sie ist in jedem Fall falsch. Denn die genannten Generäle waren sämtlich (oder fast sämtlich) alles andere als unbedingt siegessicher und den Verlauf des Norwegenfeldzuges betrachteten sie schon gar nicht als ermunternden „großen Sieg“. Vermutlich stimmt aber die ganze Darstellung von Dulles überhaupt nicht, mindestens zeitlich nicht (wie denn Allen Dulles bei allem, was er nicht unmittelbar miterlebt hat, nur mit großer Vorsicht zu bewerten ist). Diese „Frontreise“ des Generals Thomas kann zu einem früheren Zeitpunkt, vielleicht gleichzeitig mit denen von Stülpnagel und Canaris, stattgefunden haben, aber nicht mehr in der zweiten Aprilhälfte. Hassell verzeichnet nämlich in seinem Tagebuch 98) unter dem 24. April eine Unterredung mit Beck; hier kam ein Versuch zur Sprache, den General v. Falkenhausen (damals stellv. Kommandierender General in Dresden, später Generalgouverneur in Belgien) zum aktiven Eingreifen zu gewinnen. Der Versuch habe keinen Erfolg gehabt, „weil Falkenhausen zuerst mit Thomas gesprochen hat und dieser der Meinung gewesen ist, es sei zwecklos, in der gegenwärtigen Lage noch irgendetwas zu tun. Man müsse dem Verhängnis seinen Lauf lassen.“ Hassell ist, so schreibt er weiter, daraufhin noch am gleichen Tag selbst zu Thomas gegangen, um ihn aus seinem Fatalismus herauszureißen. „Es war aber hoffnungslos, weil die von ihm Halder vorgelegten Dokumente gar keinen Erfolg erzielt hätten.“
Es hat, nach der Aussage Dr. Müllers, nicht an Versuchen gefehlt, über Mittelsmänner Halder von der Bedeutung der römischen Vereinbarungen zu überzeugen und insbesondere von der Ernsthaftigkeit der Verhandlungspartner und des Verhandlungsergebnisses. Aber Halder hat sich offensichtlich darauf beschränkt, das Dokument Brauchitsch vorzulegen. Er hat sich, als Brauchitsch in der geschilderten Weise reagierte, mannhaft vor die Männer der Militäropposition gestellt. Aber wenn Halder nachträglich versteht, daß sich Brauchitsch nicht „stürmisch“ auf den „nicht voll tragfähigen Boden“ gestellt hat, so hat er, Halder, ihn wohl auch gar nicht mehr „stürmisch“ dazu ermuntert. Anders ausgedrückt: In diesem Zeitpunkt war Halder selbst kein „stürmischer“ Oppositionsmann.
Unbegreifliche Verzögerung Aber wir müssen uns heute auch fragen: War denn die Militäropposition um Beck-Oster in diesen schicksalsentscheidenden Frühjahrsmonaten 1940 noch sehr „stürmisch“? Wir stehen nämlich vor der Frage: Wie war es möglich, wie ist es zu erklären, daß der Bericht über das Ergebnis der römischen Gespräche erst am 4. April 1940 Halder überreicht wurde, d. h. volle zwei Monate nachdem die über den Papst geführte Verhandlung mit der englischen Regierung abgeschlossen war? Wir sehen aus Hassells Tagebuch, daß Hassell am 18. März von Beck aufgefordert wurde, den X-Bericht Halder zu überbringen. Man war sich also sechs Wochen nach dem Abschluß in Rom noch immer nicht einmal darüber im klaren, wer der Überbringer sein sollte. Dabei mußte gerade den Führern dieser Militäropposition doch eines klar vor Augen stehen: Das römische Ergebnis, die außenpolitische Sicherung, war als Voraussetzung für die Durchführung des Staatsstreichs gegen den Tyrannen erstrebt und erreicht worden; aber dieses Ergebnis hatte nur mehr akademische Bedeutung, wenn dann die Voraussetzung seiner Durchführung, nämlich der Sturz des Tyrannen nicht durchgeführt wurde!
Gisevius erklärte vor dem Arbeitskreis die auffallende Verzögerung mit folgender Überlegung: „Wir handeln erst, wenn Halder nicht mehr ausweichen kann. Wir stellen uns tot, bis Hitler es wirklich tut. Wir kommen nur zum Stoß, wenn Hitler etwas so Exorbitantes tut.“ Also, das war die Rechnung: Die Generale handeln nicht, wenn nicht Hitler entgegen ihren Warnungen den Befehl zur Offensive gibt. Aber wer hat seit Ende 1939 in der Militäropposition, sei es um Beck, sei es im Generalstab, daran gezweifelt, daß es Hitler ernst meint mit der Offensive? Indes, der gleiche Gisevius schreibt in seinem Buch
Diese Ausführungen von Gisevius sind bemerkenswerterweise mehr auf die Verhinderung der Westoffensive als auf den Sturz Hitlers abgestellt, wie wenn eines ohne das andere möglich gewesen wäre. Im übrigen erhellen sie nur einmal mehr, daß — so oder so — höchste Aktivität für die Militäropposition am Platze war. Aber sie erklären gerade nicht, warum es in den Monaten Februar und März auch bei der Gruppe Beck-Oster offenbar an dieser höchsten Aktivität gefehlt hat. Es mag zwar nicht zur überzeugenden Klärung, aber doch zu einem gewissen Verständnis dienen, daß die persönliche Aussprache Beck-Halder Anfang Januar 1940 zu keiner Übereinstimmung geführt und wohl beiderseits einen bitteren Rest von Verstimmung zurückgelassen hatte und daß von da an der „Draht“ zwischen beiden Gruppen nicht mehr recht funktionierte. Aber das ist noch immer keine Begründung dafür, daß der X-Bericht rund zwei Monate lang nicht von Berlin nach Zossen kommen konnte. Auch Kosthorst bemüht sich
In Ermangelung anderer Begründungen sehen wir einstweilen nur, daß die Oppositionsgruppe um Beck sich im Frühjahr 1940 durch Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung oder auf eine stärkere Durchschlagskraft der zivilen Opposition (Goerdeler-Hassell) zurückhalten ließ. Oder daß sie durch solche Hoffnungen sich über eigene Zweifel an der Durchführbarkeit eines Staatsstreichs hinwegtäuschte. Wie immer es gewesen sein mag, man kann ihr die historische Feststellung nicht ersparen: Sie ließ kostbare und wohl unwiederbringliche Zeit verstreichen.
War es am Ende ein verhängnisvoller Kreislauf: Die Gruppe Beck bedrängte Halder nicht mehr so aktiv, weil auch sie am Erfolg zweifelte? Und Halders Zweifel verstärkten sich, weil die Gruppe Beck sich nicht mehr so aktiv zeigte? Und hat sich in diesem verhängnisvollen Kreislauf jene „gewisse Verhärtung“ herausgebildet, die auch Kosthorst — mit einem milden Ausdruck — bei Halder feststellt?
Es war gewiß auch einem Verschulden der Gruppe Beck zuzuschreiben, wenn dem X-Bericht bei der späten Übergabe an Halder „kein guter Boden bereitet war“. Ausschlaggebend für die völlige Wirkungslosigkeit des X-Berichts war auf jeden Fall, daß — wie auch Kosthorst andeutet — Halder „bewußt einen Abschluß setzen wollte“ und daß er sich eben „auch innerlich von dem Gedanken an eine Aktion inzwischen ein ganzes Stück abgesetzt" hatte. So war denn seine Einstellung gegenüber dem X-Bericht sofort negativ. Es wäre ihm möglich gewesen, vor der Weitergabe des Berichts an Brauchitsch sich noch nähere Aufklärung zu verschaffen, insbesondere über die Namen von Beteiligten und über jene sachlichen Punkte, die sein „helles Mißtrauen“ wachgerufen hatten. Da er seinen Oberbefehlshaber kannte, durfte er den X-Bericht ihm nicht vorlegen, solange er, Halder, nicht in der Lage war, ihn zu kommentieren, — vorausgesetzt, daß er zu diesem vorgerückten Zeitpunkt noch die ernste Absicht gehabt hätte, Brauchitsch für einen aktiven Widerstand zu gewinnen.
Bilanz: Die Voraussctzyngen wurden nicht erfüllt Wir haben von Halder gehört und können überzeugt sein, daß er im Laufe dieses Winters 1939/40 viel mit seinem Oberbefehlshaber gerungen hat, um ihn zu aktivieren. Aber das Ergebnis ist die Feststellung: Der stärkere Halder hat den schwächeren Brauchitsch nicht zu aktivieren vermocht. Lind das Ergebnis legt die Frage nahe: Hat nicht statt dessen der schwächere Brauchitsch den stärkeren Halder zu „passivieren“ vermocht?
In der Sache selbst bedeutete die negative Reaktion Halders auf die Vorlage des X-Berichtes, daß die römischen Friedensgespräche eine Episode ohne Auswirkung auf die Geschichte geblieben sind. Niemand kann die Geschichte schreiben, die sich ereignet hätte, wenn . . . Niemand aber kann bestreiten, daß in dieser „Minute“ eine Gelegenheit ausgeschlagen worden ist, die „keine Ewigkeit“ mehr zurückbringen konnte. Man wird all denen, die das Verhängnis stärker empfanden als Halder und die das Unheil klarer voiaussahen als Halder, zubilligen müssen, daß sie damals und in der Folgezeit manches bittere Wort über Halder, auf den sie so große Hoffnungen gesetzt haben, fanden, und daß sie zum Teil, wie etwa Canaris, der Stimmung verfielen: „Laßt alle Hoffnung fahren!“
Halders Tragik Franz Halder hat in den vier Jahren von 193 8 bis 1942, in denen er Generalstabschef war, einen ausdauernden und harten Kampf gekämpft 104a). Er hat ihn im Winter 1939/40 und in der Folgezeit soldatisch-kameradschaftlich mit seinem Oberbefehlshaber Brauchitsch, dem er sich menschlich stark verbunden fühlte, gekämpft. Er hat damals und in den folgenden Jahren Aug'in Aug'mit dem Tyrannen gekämpft. Wer nicht mit dem Dämon persönlich gerungen hat, soll sich in dem Urteil darüber zurückhalten, was ein anderer in der Auseinandersetzung mit dem Dämon erreichen, tun und verhindern konnte. Wenn Halder zeitweilig diesem Dämon irgendwie erlag, — wer könnte mit absoluter Sicherheit sagen, daß er selbst im täglichen Umgang mit diesem schwer faßbaren, zuweilen unheimlichen Dämon völlig unberührt geblieben wäre? Halder war nach dem Urteil Becks
Der Generaloberst Halder ist aus der Geschichte der deutschen Militäropposition nicht wegzudenken. Er hat sich um sie Dank verdient — er hat gegenüber dem Hitlerstaat ständig, bewußt und mutig den Tatbestand des Hochverrats auf sich genommen — und er hat sich Dank verdient um die ganze deutsche Armee, diese vielen Millionen, die jahrelang an allen Fronten Europas fochten. Aber der Mann, den „die Stunde“
im Frühjahr 1940 erforderte, um das deutsche Schicksal zu wenden, war er nicht. Das ging über seine Kraft. Daraus kann ihm gerechterweise kein Vorwurf gemacht werden.
Es unterliegt nach allen Zeugnissen, zum Teil nach den eigenen Aussagen Halders selbst, keinem Zweifel, daß er in seiner Militäropposition Perioden der Stärke und Perioden der Schwäche durchgemacht hat. Perioden der Stärke, — das waren die, in denen er mit bester Kraft bemüht war, eigene Hemmungen und die anderer zu überwinden und zum Start zu kommen. Perioden der Schwäche — das waren die, in denen Hemmungen und Bedenken aller Art gegen das große Wagnis überwogen. In einer solchen Periode der Schwäche stand er im April 1940. Das allerdings war die Zeit, in der er sich angesichts der Westoffensive zu einer der größten Aufgaben rüstete, die einem Chef des Generalstabes fachlich gestellt werden konnte.
Wir brauchen die Erinnerungen und Bedenken, die in Halder wirksam waren, hier nicht noch einmal zu wiederholen. Wir haben sie bereits mit der Mahnung gekennzeichnet, sie ernsthaft und nicht leichthin zu würdigen. Sie erstreckten sich, wie Halder es einmal ausdrückte, nicht bloß auf „das Handeln“, sondern auch auf das, was dem Handeln nachfolgt. Vor allem aber muß an dieser Stelle gesagt werden:
Der Widerstand gegen das Dritte Reich litt ausschlaggebend an seiner Zersplitterung und an der fehlenden Koordinierung seiner verschiedenen Gruppen in einer festen Hand. Dem Widerstand hat neben einer klaren Zielsetzung darüber, was nach Beseitigung des Hitlerregimes kommen sollte, eine mitreißende Persönlichkeit gefehlt, die volle Resonanz im Heer und im Volk hatte, wie etwa Rommel, der selbst viel zu spät zum Widerstand gestoßen ist, um noch wirksam werden zu können. Diese Mängel waren es auch, denen das Wollen Halders unterlag und in denen es seine Grenzen fand. Halder war vom besten Willen beseelt, er war ausdauernd im konsequenten Durchhalten des zähen Widerstandes gegen Hitler und sein Regime. Seine Kraft zum Handeln fand ihre Begrenzung in einer eher weichen, durch Erlebnisse stark erschütterbaren Natur. Dieses Urteil Zellers
Es war die Tragik der deutschen Militäropposition im Frühjahr 1940, daß ihre beiden Spitzengruppen, die eine um Beck, die andere um Halder, nicht mehr aneinander glaubten und daher nicht zusammenfanden. Alle unerläßliche Kritik an den Unzulänglichkeiten, auch menschlichen Unzulänglichkeiten, auf beiden Seiten darf die Achtung vor dem Wollen und Ringen dieser Männer nicht mindern. Sie haben sich gemüht, dem deutschen Volk den Unheilsweg zu ersparen, der zur militärischen Katastrophe und zum nationalen Zusammenbruch geführt hat. Es war wohl das Unglück dieses Volkes, daß es dem unseligen Dämon keine Persönlichkeit von dämonisch-dynamischer Kraft entgegenstellen konnte. Nur: Wer dürfte wem den Mangel dämonischer Art und Kraft vorwerfen?
Die „aktive Gruppe der Militäropposition“, wie wir sie genannt haben, ist in der knappen Zeit, die noch bis zum Beginn der Westoffensive zur Verfügung stand, nicht mehr aktiv geworden. Untersuchungen und Bericht des Arbeitskreises sind damit für diesen Zeitraum im wesentlichen abzuschließen. Die Fortsetzung der Untersuchungen für die Zeit 1940/44, die bereits in Angriff genommen ist, wird sich erneut dem Generalobersten Halder zuwenden. Es werden sich dann weitere Kriterien für die abschließende Würdigung seiner Persönlichkeit und seines Wirkens im Widerstand ergeben — für eine Kritik Halders und eine Kritik seiner Kritiker (darunter auch des in ganz besonderer Schärfe gefaßten Urteils des Generals a. D. Hossbach
Soldat des Widerstandes Es erscheint dem Arbeitskreis richtig, an dieser Stelle die letzten Absätze jener Erklärung wiederzugeben, die General Georg Thomas am 20. Juli 1945 als Kriegsgefangener niedergelegt hat. Fragestellung und Antwort sind aus dem Zeitpunkt — wenige Wochen nach Kriegsende — zu verstehen. Über das Zeitbedingte hinaus sind die Ausführungen des Generals Thomas ein Dokument des Geistes, in dem die deutsche Militäropposition ihren Kampf geführt hat, und ein Dokument der Umstände, unter denen sie diesen Kampf zu führen hatte.
General Thomas schreibt:
„Zum Schluß möchte ich noch als Antwort auf eine Frage, die mir bei meinen Vernehmungen durch die Engländer und Amerikaner mehrfach gestellt worden ist, etwas sagen. Die Frage lautete: „Wenn Sie Hitler in dieser scharfen Weise ablehnten, warum haben Sie dann Deutschland nicht rechtzeitig verlassen?“ Hierzu möchte ich in aller Deutlichkeit folgendes erklären: Genau wie jeder Engländer und Amerikaner stolz ist auf sein Volk, sein Vaterland und seine Geschichte, bin ich stolz auf unser Deutschland, auf unsere Kultur, unsere Geschichte, unser Wissen und unsere Tugenden. Ich war seit frühester Jugend Offizier und hatte meinem Vaterland und meinem Volk in Treue und Opferbereitschaft zu dienen, solange ich es mit meinem Gewissen verantworten konnte. Auch mir wurde mehrfach die Möglichkeit geboten, für meine Person ins Ausland zu gehen als sich die Gefahren der Hitlerschen Politik am Horizont abzeichneten. Ich habe es nicht getan, weil ich es für einen Offizier unehrenhaft und für einen Familienvater für unmöglich hielt, die Familie und die Verwandten den Erpressermethoden der Hitlerschen Politik auszusetzen und selbst zu fliehen. Es war erheblich leichter, dieser Entwicklung im Ausland tatenlos zuzusehen, als mannhaft gegen dieses System anzukämpfen, mit dem Ziel, dem deutschen Volk das Schlimmste zu ersparen und dieses verbrecherische Regierungssystem zu beseitigen. Ich bin bewußt in meinem Amt geblieben, um über die Fortentwicklung der Hitlerschen Pläne unterrichtet zu sein, und habe, wie kaum ein anderer Mensch — zusammen mit den tapferen Männern vom 20. 7. 1944 — mein Wissen, meine Kraft und Arbeit und mein Leben eingesetzt, um dieses System zu Fall zu bringen. Ich habe nicht nur mich eingesetzt, sondern auch meine Familie aufs Höchste gefährdet, um damit dem deutschen Volke und dem Vaterlande dienen zu können. Meine tapfere Frau hat in völliger Übereinstimmung mit meinen Ansichten mich seit 193 3 in meinem Kampf auf das heldenmütigste unterstützt. Wie sie gelitten hat und was mein Junge als Fähnrich und Leutnant und meine Tochter als Schwester haben tragen müssen, ohne selbst nach außen hin dieses System ablehnen und sich verteidigen zu können, wird nur der beurteilen können, der unser Familienleben kannte. Ich werde diese tapfere Haltung meiner Lieben nie vergessen.
Meine Frau und ich haben bewußt unsere Kinder im Haß gegen dieses Regime erzogen, weil wir der Auffassung waren, daß dieses System fallen mußte, und weil wir den Wunsch hatten, daß unsere Kinder in den Tugenden aufwachsen, in denen wir groß geworden waren. Mein Haus hat im Kampf um Deutschland in Ehre und Reinheit seine Pflicht getan und im Kampf gegen Hitler und sein Verbrechertum sicherlich ein besseres Beispiel gegeben als die Männer und Frauen, die rechtzeitig und ungenötigt ins Ausland gingen, um dort ungefährdet die Tragödie des deutschen Volkes abzuwarten. Wenn also die Welt mit Recht nach der Bestrafung der Kriegsverbrecher ruft, soll sie sich an die Männer und Frauen halten, die entweder diesem verbrecherischem System aus Über-zeugung, Herrschsucht und Eigennutz gedient haben, oder die trotz besseren Wissens und in voller Kenntnis der Gefahren und Untaten diesem System Hitler weiter gefolgt sind und nicht bereit waren, dieses verbrecherische und verruchte System zu stürzen.
Ich glaube in den vergangenen 12 Jahren meine Pflicht gegen das deutsche Vaterland getan zu haben, aber ich glaube genau so, meinen Anteil geleistet zu haben an dem Versuch, dem deutschen Volke und der Welt diesen furchtbaren Krieg zu ersparen und Deutschland und Europa von der Gewaltherrschaft dieses genialen Verbrechers zu befreien." (Wird in der nächsten Ausgabe der Beilage fortgesetzt)
Anmerkung Kurt Sendtner, geb. 22. April 1893 in Regensburg, Gymnasium München, 1911/12 Militärdienst, 1912/19 Universität München (Geschichte, Staatsrecht, Volkswirtschaft), unterbrochen durch 4 Jahre Frontdienst. 1919/38 Journalist und Redakteur, 1938/45 Berufsoffizier, zuletzt Oberstleutnant. 1945/46 Gefangenschaft, seit 1947 historisch-geographische Arbeiten, seit 1950 wieder Redakteur.