Mit Genehmigung des Verlages entnehmen wir der amerikanischen Zeitschrift „THE ATLANTIC" (Mai 1954) den folgenden Artikel von Walter Lippmann: „Meine Ausführungen sind das Ergebnis intensiver Untersuchungen über die Ursachen der Krise, in der sich unsere westliche Gesellschaft unausgesetzt befindet — eine Krise der demokratischen Regierungen und unabhängigen Institutionen während der Kriege und Revolutionen im 20sten Jahrhundert. Einer Person wie mir, der ich die milde Erdenluft vor 1914 geatmet habe, mir, der eine Welt gekannt hat, die nicht geteilt, nicht von Furcht geschüttelt und von Haß erfüllt war, fällt das nicht leicht — einem solchen Menschen fällt es schwer, klar und kühl die Zeit zu beurteilen, in der wir leben. Ausmaß und Dichte unserer Bedrängnis haben nicht ihresgleichen in unserem Erfahrungsbereich, ja, wir können sogar ruhig behaupten, in der ganzen menschlichen Geschichte. 1900 erkannten alle Menschen auf der Erde die westlichen Nationen als führend an, selbst wenn sie ihnen grollten. Es wurde nicht bezweifelt, daß die liberalen Demokratien den Weg zum angenehmen Leben innerhalb einer angemessenen Gesellschaftsordnung weisen würden, und nur wenige bezweifelten den mutmaßlichen Fortschritt der Menschheit auf dem Wege zu einer vollkommeneren Demokratie und größeren Freiheit — aber nie wurde der Fortschritt angezweifelt.
Es handelte sich nur noch um die Frage, wann — die Frage „ob“ gab es überhaupt nicht — die ärmsten und unterentwickeltsten Völker imstande sein würden, sich nicht nur die technischen Erkenntnisse, sondern auch die politischen Einrichtungen des Westens zunutze zu machen. Bald würden alle gelernt haben strittige Fragen durch eine freie, offene und vernünftige Diskussion zu lösen, bald würden sie freie und korrekte Wahlen abzuhalten und das Recht zu handhaben wissen. Die Menschheit würde sich zu dem Ideal bekennen, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und alle Menschen den gleichen Rechtsschutz genießen müssen.
Zu Beginn des Jahrhunderts war selbst für Rußland das anerkannte Vorbild für eine moderne Regierungsform die liberale Demokratie in England oder Frankreich oder die amerikanische Regierung. Denken Sie einmal darüber nach, was aus der westlichen Welt und ihren Ideen und Idealen in den 40 Jahren seit Beginn der Weltkriege geworden ist. Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, die die Menschen einst für selbstverständlich hielten, sind nicht mehr länger selbstverständlich. Die Einrichtungen und der Lebensstil, die wir ererbt haben, und die wir lieben, haben ihre Allgemeingültigkeit, ihren fast unbestrittenen Einfluß auf die Gefühle und Hoffnungen der Völker dieser Erde verloren. Sie werden nicht mehr allgemein als der richtige Weg zu einem angenehmen Leben auf dieser Erde anerkannt. Sie werden in änderen Ländern leidenschaftlich bestritten; und sie werden selbst in unserem eigenen Lande weitgehend bezweifelt und in bedenklicher Weise verletzt. Während der letzten 50 Jahre ist die Macht der westlichen Demokratien im Sinken begriffen. Ihr Einfluß auf das Schicksal der meisten Völker ist zurückgegangen. Wir sind die Erben der stolzesten Regierungstradition in der Geschichte der Menschheit. Doch sprechen wir jetzt nicht mehr — wie vor dem ersten Weltkrieg — über den Fortschritt, den der Gedanke der liberalen Demokratie bei den erwachenden Völkern macht. Heute reden wir über die Verteidigung und das Überleben der liberalen Demokratie innerhalb der ihr gebliebenen Sphäre.
Wir leben in einem Zeitalter des Aufruhrs und des Umbruchs. Obgleich die Vereinigten Staaten zu Macht und Reichtum gekommen snd, so sind wir uns doch im Innersten bewußt, daß wir zugleich unsicher und ängstlich geworden sind. Unser Volk besitzt materielle Güter in einem Überfluß wie noch keine menschliche Gemeinschaft bisher. Doch ist unser Volk nicht glücklich und hat kein Vertrauen in seine Zukunft, denn wir sind nicht sicher, ob die auf uns lastende Verantwortung nicht größer ist als unsere Macht und unser Vermögen.
Wir sind innerhalb der westlichen Nationen in einer Zeit auf den ersten Platz empor gestiegen, in der die Zivilisation des Westens offensichtlich im Abstieg begriffen und schwer bedroht ist. Wir die wir so plötzlich die beschützende und führende Macht jener Zivilisation geworden sind, sind uns nicht klar und einig darüber, wohin der Weg führt und wie wir mit den uns zufallenden unvorhergesehenen Verantwortlichkeiten, unerwünschten Aufgaben und unerwarteten Pflichten fertig werden sollen.
Es ist eine angsteinflößende Last, die wir zu tragen gezwungen sind. Wir haben plötzlich eine Verantwortung auf uns genommen, für die wir nicht gewappnet waren — für die wir auch jetzt noch nicht gewappnet sind — und auf die wir uns, fürchte ich, auch jetzt noch nicht entsprechend vorbereiten.
Wir haben gefährliche und unerbittliche Feinde gehabt und müssen uns wahrscheinlich damit abfinden, sie noch lange Zeit zu haben. Doch wenn wir überleben, gesunden und wieder einen Aufstieg erleben wollen, so dürfen wir nicht unsere Gegner für unsere Sorgen verantwortlich machen. Wir müssen sie bei uns selbst suchen. Wir müssen uns von dem Gift des Selbstmitleids befreien. Wir müssen mit der Täuschung aufräumen, daß alles im Lot wäre, wenn wir nicht die Opfer verruchter und ränkespinnender Menschen wären. AIs im Jahre 1914 der Niedergang des Westens begann, hatte noch niemand etwas von Lenin, Trotzki, Mussolini, Hitler, Stalin und Mao Tse-tung gehört. Wir sind nicht von unserer beherrschenden Stellung herabgestiegen, weil wir angegriffen wurden. Es wäre einsichtiger und aufrichtiger zu gestehen, daß wir angegriffen worden sind, weil wir nicht fähig waren, mit unseren Aufgaben fertig zu werden.
Wir werden niemals die geistige Kraft haben zu überleben und zu gesunden, solange wir uns damit trösten, die Augen zu schließen, die Hände zu ringen, uns an die Brust zu schlagen und die Luft mit Klagen zu erfüllen, daß wir geschwächt wurden, weil man uns angegriffen hat, und daß wir Fehler gemacht haben, weil wir verraten worden sind.
Wir müssen uns zu dem männlichen Standpunkt durchringen, daß das Versagen der demokratischen Völker am Versagen der westlichen Demokratien während der katastrophenreichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schuld ist. Sie sind angegriffen und von ihrer beherrschenden Stellung herabgezogen worden, weil ihnen die klare Zielsetzung und die Entschlußkraft des Geistes und des Herzens fehlten, mit den sich häufenden Katastrophen und Aufständen fertig zu werden. Ihnen fehlte die klare Zielsetzung und die Entschlußkraft des Geistes und des Herzens, Kriege zu verhindern, die den Westen ruiniert haben, sich auf Kriege vorzubereiten, die sie nicht verhindern konnten und sie schließlich in geschickter Weise zu beenden und Recht und Ordnung auf der Erde wiederherzustellen, nachdem sie sie unter außergewöhnlichen Opfern und mit ruinösen Kosten gewonnen hatten.
Die Leistungen entsprechen nicht den Anforderungen
Wir können das Problem der Erziehung der amerikanischen Demokratie nur dann ganz begreifen, wenn wir es in die großen Zusammenhänge hineinstellen, darum hole ich so weit aus. Dann müssen wir aber auch nach meiner Ansicht zu der Überzeugung kommen, daß unsere Bemühungen, uns als Volk zu erziehen, nicht den an uns gestellten Erfordernissen und der auf uns lastenden Verantwortung entsprechen.
Wenn wir die ganze Entwicklung — in öffentlichen und privaten Schulen und vom Kindergarten bis zur Universität — mit dem Zustand vor 50 Jahren vergleichen, dann ist die quantitative Ausweitung eindrucksvoll. Wir bieten viel mehr Schülern mehr Bildungsmöglichkeiten, die viel größere Ausgaben erfordern. Nach den Statistiken haben die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahrhundert quantitativ außerordentliche Fortschritte auf dem Wege zum demokratischen Ziel einer universellen Bildung gemacht. Der typische junge Amerikaner verbringt mehr Jahre in der Schule als sein Vater oder Großvater. Eine viel größere Anzahl junger Leute besucht die höheren Schulen und bildet sich noch weiter. Und mehr Dollars — selbst unter Anrechnung der Wertminderung des Dollars — werden für die Erziehung jedes Amerikaners ausgegeben.
Wenn nun das Leben in den Vereinigten Staaten heutzutage nicht mühseliger wäre als vor 50 Jahren — d. h. wenn das Leben so einfach wäre wie damals, wenn die Probleme des privaten und staatlichen Lebens noch ebenso leicht zu meistern wären — wenn die Aufgabe, die Vereinigten Staaten zu regieren und seine Beziehungen zum Auslande zu leiten noch so einfach und nicht so viel schwieriger wäre als vor 50 Jahren — dann könnten wir jubeln und glücklich sein, dann könnten wir uns beglückwünschen über die großen Fortschritte unserer Bemühungen, uns selbst zu einer Demokratie zu erziehen.
Dodt dürfen wir diese angenehmen Vergleiche nicht anstellen, ohne uns nicht selbst einer bedenklichen Täuschung hinzugeben. Wir können die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an unser Volk gestellten Anforderungen — Anforderungen an ausgebildeter Intelligenz, moralischer Disziplin, Kenntnissen und nicht zuletzt an Einsicht in die großen Zusammenhänge — nicht mit denen vergleichen, die in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts an uns gestellt wurden. Es ist viel schwieriger, heute in Amerika zu leben und heute Amerika zu regieren als vor 50 Jahren, und die entscheidende Frage ist, ob unsere gesteigerten Erziehungsbemühungen mit der gesteigerten Belastung Schritt halten.
Bei einem Vergleich auf dieser Ebene werden wir, nach meiner Ansicht, zu dem Schluß kommen müssen, daß unsere gesteigerten Erziehungsbemühungen auf einer ganz anderen Ebene liegen und viel zu gering sind, um die an uns in dieser geteilten und gefahrvollen Welt gestellten Anforderungen zu befriedigen. Unsere
Erziehungsbemühungen und die an unsere Erziehung gestellten Anforderungen befinden sich nirgends im Einklang miteinander. Die Leistungen entsprechen keineswegs den Anforderungen.
Die Aufgabe ist viel größer als die Leistung. Zwischen den Ergebnissen auf dem Gebiete der Erziehung und unseren privaten und öffentlichen Anforderungen an den Erziehungssektor klafft eine bedenkliche Lücke.
Wie groß ist eigentlich diese Diskrepanz? Zu meinem Bedauern muß ich jetzt einige Zahlen nennen und nehme an, daß keiner von Ihnen dabei auf den Gedanken kommen werde, alle Dinge ließen sich in Dollar und Cents ausdrükken. Ich bediene mich dieser Zahlen, weil es keine andere Möglichkeit gibt, um den Unterschied in den beiden Größenordnungen auszudrücken — den LInterschied zwischen unseren Erziehungsbemühungen einerseits und den Anforderungen andererseits, die die Welt heute an uns stellt.
Welchen Maßstab 'sollen wir an unsere Erziehungsbemühungen legen? Zum Zwecke dieses Vergleichs halte ich es für das Beste, die Gesamtausgaben pro Kopf der Bevölkerung zuerst für öffentliche und private Schulen, vom Kindergarten bis zur Universität, für das Jahr 1900 und dann für 195 3, also ungefähr für ein halbes Jahrhundert später, zugrunde zu legen.
Als Maßstab für die Last, die wir zu tragen haben — an Verantwortung und Verpflichtungen, die heute den Grad der Erziehung bestimmen —-legen wir die Bundesausgaben pro Kopf der Bevölkerung für das Jahr 1900 und dann für ein halbes Jahrhundert später, also für unsere gegenwärtige Zeit, zugrunde.
Die Ansichten sind natürlich unterschiedlich, ob wir zu viel, zu wenig oder den richtigen Betrag für die Verteidigung und andere öffentliche Aufgaben ausgeben. Aber diese Meinungsverschiedenheit kann das Argument nicht wesentlich beeinträchtigen. Denn wir alle, oder fast alle, sind uns über den allgemeinen Umfang der notwendigen Aufgaben auf dem Gebiete der militärischen Verteidigung und für zivile Zwecke der heutigen Bundesregierung einig. Ich glaube kaum, daß der Unterschied zwischen den hosten und den niedrigsten Vorschlägen von Männern, die in verantwortlichen Stellungen sitzen und informiert sind, auch nur 20 Prozent be-
Wollen Sie bitte nicht vergessen, daß das Mißverhältnis zwischen unseren Leistungen auf dem Erziehungssektor und den öffentlichen Ausgaben in Wahrheit größer ist als die Zahlen erkennen lassen. Denn in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat sich in der Struktur der amerikanischen Gesellschaftsordnung eine bedeutsame Änderung vollzogen, wodurch den Schulen noch mehr Aufgaben zugefallen sind.
Die Verantwortung der Schulen für die Erziehung der neuen Generation ist viel umfassender geworden als sie je war. Von den Schulen tragen würde. Der Unterschied ist nicht groß genug, um meine Schlüsse wesentlich zu verändern. Meine Ansicht ist, daß die Höhe der Öffentlichen Ausgaben — ungefähr, natürlich, jedoch grundsätzlich — den Umfang dessen widerspiegelt, was wir zu tun gezwungen sind. Es ist das Spiegelbild unserer Ansichten über die Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.
Also 1900 wurden pro Kopf der Bevölkerung für die Erziehung 3, 40 Dollar ausgegeben! Die Belastung durch öffentliche Ausgaben pro Kopf der Bevölkerung betrug 6, 8 5 Dollar. An den beiden Zahlen interessiert uns nach meiner Ansicht vor allem die Relation. Wir müssen feststellen, daß das Land im Jahre 1900 einen Dollar für Erziehungsaufgaben und zwei Dollar für öffentliche Ausgaben aufgewendet hat.
Wie verhalten sich die Dinge nun ungefähr ein halbes Jahrhundert später? 195 3 wurden für Erziehungsaufgaben ungefähr 76 Dollar pro Kopf ausgegeben. Die Staatsaufgaben, die Ausgaben für Verteidigung einbegriffen, sind auf 467 Dollar gestiegen. Das Verhältnis zwischen Ausgaben für Erziehungsaufgaben und öffentliche Ausgaben, das sich im Jahre 1900 auf 1: 2 belief, war ein halbes Jahrhundert später auf ein Verhältnis von 1: 6 gesunken.
An dieser Stelle werden manche einwerfen, der Wert des Dollars sei seit 1900 geringer geworden. Deshalb darf ich in Paranthese bemerken, daß ich mir dieser Tatsache bewußt bin, aber daß sie für den Sinn unserer Untersuchung bedeutungslos ist. Wenn auch der Dollar im Jahre 1900 wahrscheinlich dreimal so viel wert war wie 195 3, so sind wir doch nur an den Vergleichszahlen für die Jahre 1900 und 1953 interessiert. Die Vergleichszahlen wären die gleichen, ob wir die Ausgaben vom Jahre 195 3 durch 3 teilen oder die Ausgaben im Jahre 1900 mit 3 multiplizieren.
Mehr statistische Angaben werde ich hier nicht machen. Die beiden Vergleichszahlen, die eine zu Beginn unseres Aufstiegs als führende Großmacht der Welt und die andere ein halbes Jahrhundert später, da wir die ungeheuren Belastungen hier und im Auslande zu tragen haben, beweisen, daß sich unsere Anstrengungei'auf dem Erziehungssektor im Vergleich zu den an uns gestellten Anforderungen verringert haben.
Wie vor Pearl Harbour
wird heute viel mehr gefordert, es wird von ihnen erwartet, daß sie viele der Erziehungsaufgaben erfüllen, die einstmals die Familie, die festgefügte Gemeinde, die Kirche, das Familienunternehmen, die Familienfarm, das Familienhandelsunternehmen geleistet haben. Es handelt sich hier um ein weites Gebiet — viel zu groß, um hier von mir erschöpfend behandelt zu werden — es bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie nur daran zu erinnern, daß der Vergleich zwischen unseren wirklichen Leistungen auf dem Erziehungsgebiet und den an uns gestellten öffentlichen Anforderungen weniger günstig ausfällt als die Zahlen 1: 2 im Jahre 1900 gegenüber den Zahlen 1: 6 von heute erkennen lassen. Denn unsere heutige Schule hat im ganzen Erziehungsprozeß eine viel größere Rolle zu spielen als in der früheren amerikanischen Gemeinschaft.
Kann man unter diesen Umständen abstreiten, daß unsere Leistungen auf dem Gebiete der Erziehung nicht ausreichen? Ich glaube kaum. Ich will nicht behaupten, daß wir nur etwas zu wenig tun. Ich behaupte, wir tun viel zu wenig. Wir treten jetzt in eine Phase ein, die die Leistungsfähigkeit unserer Demokratie in einem in der Weltgeschichte bisher noch nie gekannten Maße auf die Probe stellen wird. Wir müssen mit den schwersten Problemen der modernen Zeit fertig werden. Wir treten in diese schwierige und gefahrvolle Periode mit einem nach meiner Ansicht ständig wachsenden quantitativen und qualitativen Defizit in der Erziehung der amerikanischen Jugend.
Es gibt einen zwingenden Beweis dafür, daß wir auf dem Erziehungssektor mit einem Defizit arbeiten. Die vielen Kontroversen über das Erziehungssystem liefern den Beweis. Ich bin natürlich kein Erzieher von Beruf. Aber ich lese hin und wieder über Erziehungsprobleme, und ich bin besonders interessiert an dem Problem, wie die Männer und Frauen erzogen werden, die die höchsten Ämter in unserem Staate einnehmen — die die richtungsweisenden Ideen erläutern und formulieren, die Wissenschaft fördern, Politik auf höchster Ebene betreiben und das Volk führen.
In welcher Form werden die Probleme diskutiert? Prüfen wir an den Erfordernissen, welche Erziehung die Kinder, die sich meist für die Führung der Nation eignen werden, erhalten müssen? Das ist keineswegs das Hauptthema unserer Diskussion.
Wir überlegen, ob wir es uns leisten können, unsere führenden Persönlichkeiten zu erziehen, wenn wir es noch nicht einmal dahin gebracht haben, allen die gleiche Chance zu geben.
Das ganze Argument — das ganze Problem überhaupt —, ob wir uns in den Erziehungsanforderungen nach dem Begabungsdurchschnitt oder nach den Begabteren richten sollen, basiert auf der Annahme, daß wir zwischen diesen beiden Möglichkeiten unsere Wahl zu treffen hätten. Warum versuchen wir nicht, " jeden so weit zu bilden, wie er eben zu bilden ist, die einen mehr und die anderen weniger?
Wir sind zu dieser vorgeblichen Wahl genötigt, weil unsere Ausgaben für den ganzen Erziehungssektor zu gering sind. Allen die gleiche Chance — für jedes Kind entsprechend seinen Anlagen — das wäre unser Ideal, wenn wir nicht wie jetzt mit einem Defizit arbeiten würden. Durch unsere ungenügenden Leistungen im Erziehungswesen können wir Kinder, die einst zur Führung der Nation geeignet sein dürften, nicht die Ausbildung geben, die sie für ihre späteren Aufgaben brauchen.
Es ist daher an der Zeit, unser Interesse, unsere Aufmerksamkeit, Arbeitskraft, Sorge, Anteilnahme und unsere Mittel der Erziehung des amerikanischen Volkes zuzuwenden.
Wir müssen auf dem Erziehungssektor etwas ganz Ähnliches vollbringen wie in den letzten 15 Jahre'auf militärischem Gebiet. Wir müssen der Tatsache eine viel größere Bedeutung beimessen, was gefordert wird und was zu tun ist. Unsere gegenwärtigen Leistungen auf dem Erziehungssektor, was wir glauben, leisten zu können, und wie wir mit der Schule und den Lehrern glauben umgehen zu dürfen — alles dies befindet sich ungefähr in dem gleichen Zustande wie unsere militärischen Leistungen vor Pearl Harbour.
Im Jahre 1940 entsprachen unsere Streitkräfte einer Isolierungspolitik in dieser Hemisphäre und einer neutralen Haltung in jedem Kriege jenseits der beiden Ozeane. Die Organisation der amerikanischen Armee ist seitdem viel differenzierter geworden und hat ein weit höheres Niveau erreicht und die auf ihren Auf-und Ausbau aufgewendeten Mühen sind unendlich viel größer als 1940!
Unsere Leistungen auf dem Erziehungssektor entsprechen jedoch noch nicht der heutigen Lebensform. Ich möchte damit nicht etwa sagen, daß wir 40 Milliarden für die Erziehung ausgeben sollten, weil wir sie für die Verteidigung aufwenden, ich möchte nur ausdrücken, daß wir unsere Einstellung zu den Fragen der Erziehung genau so radikal wie zur Verteidigung ändern müssen. Wir müssen unsere Leistungen auf dem Erziehungssektor genau so wie die auf militärischem Gebiet abwägen, d. h. wir müssen sie nicht an dem messen, was leicht und bequem zu erreichen ist, sondern an dem, was für das Bestehen und Gedeihen der Nation erforderlich ist. Wir haben gelernt, daß wir reich genug sind, um uns zu verteidigen, wie hoch auch die Kosten sein mögen. Jetzt müssen wir noch begreifen, daß wir reich genug sind, uns die Erziehung zu leisten, die wir brauchen. In unserem Lande herrscht ein enormer Luxus, gegen den wir zugunsten unserer Lebensinteressen zu Felde ziehen können. Zugunsten der nationalen Verteidigung halten wir das für selbstverständlich.
Es war eine Tragödie und eine bittere Erfahrung, als wir in Kriege verwickelt wurden, auf die wir nur ungenügend vorbereitet waren. Daraus erwuchs uns der Wille zur Selbstverteidigung. Und der Wille hat uns auch den Weg zur Erreichung des Zieles gewiesen. Wir wissen die Dollars zu finden, die wir zur Verteidigung benötigen, selbst wenn wir auf weniger lebenswichtige Dinge verzichten müssen.
Für die Erziehungsaufgaben beseelt uns noch nicht der gleiche Wille. Aber wir müssen uns zu ihm durchringen und wir haben keine Zeit zu verlieren. Noch in diesem Jahrzehnt müssen wir dahin kommen. Wenn unser Volk auch in den kommenden entscheidenden Jahren für die von ihm zu tragende Verantwortung und die ihm zufallenden Aufgaben weiterhin so unvorbereitet bleiben wird, dann dürfte es den Anforderungen nicht gewachsen sein. Wenn es aber den Anforderungen nicht entspricht, dürfte das Schicksal ihm keine zweite Chance einräumen.
Anmerkung: Walter Lippmann, Philosoph, Schriftsteller und Verfasser politischer Analysen. Bei dem in dieser Ausgabe der Beilage veröffentlichten Artikel handelt es sich um eine Ansprache, die Walter Lippmann am 19. März 1954 anläßlich des 5. Jahresfestessens der National Citizen's Commission für öffentliche Schulen in San Franzisko gehalten hat.