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Rußland, Sowjetrußland oder Europa? | APuZ 5/1955 | bpb.de

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APuZ 5/1955 Rußland, Sowjetrußland oder Europa?

Rußland, Sowjetrußland oder Europa?

Michael Prawdin

Warum verstehen wir die Sowjets nicht?

Wenn wir von Rußland sprechen oder über Rußland lesen, geschieht es immer mit einem Gefühl, als wären wir beim Rätselraten. Was verbirgt sich hinter der letzten Sowjetnote? Was wird die nächste bringen? Ist Malenkows Rußland dasselbe wie Stalins? Wer bestimmt dort, Malenkow oder jemand anders? Welche Ziele verfolgt er?

Warum raten wir nicht so über die Haltung der andern europäischen Staaten herum? — Ob wir ihre Haltung lieben oder nicht, wir kennen ihre traditionelle Politik und wir wissen ungefähr im voraus, ob unsere Handlungen ihre Zustimmung finden oder auf ihren Widerstand stoßen werden. Warum wissen wir bei den Sowjets nicht, was ihre Haltung sein wird, warum sind wir bei ihnen unsicher? Ist das sowjetrussische Problem wirklich so neu und überraschend, oder ist irgendetwas an der Art und Weise, wie wir es zu verstehen suchen, falsch?

Man kann das Wesen einer Politik nicht verstehen, wenn man die Motive, denen sie entspringt, nicht begreift, und um die Motive zu begreifen, muß man nach ihren historischen und psychologischen Wurzeln suchen. Im vorigen Jahrhundert, als Europa seinen Einfluß über die ganze Welt ausdehnte, bildeten sich die Europäer in dem Hochmut ihrer Errungenschaften ein, daß alle Länder, gleichgültig was ihre Vergangenheit auch war, nur den einen Wunsch hatten, sich Europa anzugleichen. Je nach dem Grade der Anpassung, den die einzelnen Länder auf dem Wege zu diesem Endziel erreicht hatten, hielten wir sie für barbarisch, semibarbarisch, oder beinahe europäisch — und Europa war der große Kultur-träger, da es ihnen nicht nur seine Waren verkaufte sondern auch seine vorbildlichen Institutionen übermittelte.

Inzwischen hat Europa gelernt, mit nicht geringer Verblüffung, daß keines dieser andern Länder den Wunsch hatte, zu Europa zu werden. Die europäische Methode also, ihre Entwicklungsstufe nach dem Grade ihrer Angleichung zu beurteilen, war falsch. Wir müssen demnach umlernen und jedes Land von seinem kulturellen Hintergrund und seinem geschichtlichen Werdegang aus zu erkennen und verstehen zu lernen suchen, denn sie sind es, die seine Ideen, sein Streben und daher auch seine Handlungen bestimmen.

Diese Erkenntnis wirkt nicht verblüffend, wenn es sich um fernabgelegene Völker und Rassen handelt. Sie sind so verschieden von den Europäern, daß man ihnen zugesteht, auch anders denken zu dürfen. Aber wenn ein Land, das Europa nahezu als europäisch betrachtete wie Rußland, plötzlich in einer so völlig veränderten Gestalt wie das Sowjetreich erscheint, dann können wir nicht anders als diese neue Form für wesens-verschieden von dem Rußland, das wir kannten, halten, und die Probleme, die es uns stellt, als einmalig empfinden. Aber ist diese Wandlung wirklich so außerordentlich, oder haben wir vielleicht bei der Einschätzung des alten Rußland einen Fehler begangen, wenn wir es für nahezu europäisch hielten und meinten, daß, was Europa heute ist, Ruß-land morgen sein wird. Falls es nicht europäisch war, ja möglicherweise gar nicht europäisch sein wollte, dann beruhte Europas ganze Auffassung auf einem Irrtum, und die Sowjets könnten zu einem gewissen Grade eine Fortsetzung, eine neue Phase der russischen Geschichte bilden.

Müßte man nicht, um das feststellen zu können, erst hinter den Eisernen Vorhang gehen und die Menschen und ihr Verhältnis zu den dort herrschenden Zuständen und Ideen beobachten? — Nun, das Zarenrußland war allen Beobachtern offen, und wenn seine Einschätzung durch Europa doch falsch war, scheint die Methode der empirischen individuellen Beobachtung zwar in der Wissenschaft, wo das Experiment beliebig wiederholt werden kann, vorzuziehen zu sein, aber bei der Beurteilung eines Volkes nicht unbedingt zu den richtigen Schlüssen über den Charakter des Ganzen zu führen.

Das praktische Verhalten der Sowjets gibt uns genügend Anhaltspunkte, um ihre Tendenz beurteilen zu können. Ihr System hat sich nicht nur in der Praxis als lebensfähig erwiesen, sondern besitzt sogar einen Dynamismus, der sich nach außerhalb auswirkt. Doch sowohl die Existenz dieses Systems als auch seine Wirksamkeit nach außen scheinen von gewissen Voraussetzungen abzuhängen, denn die Sowjets wachen unablässig über ihrer Erhaltung. Im Innern ist es das Gefühl: wir bauen eine neue Welt auf, der die alte Welt draußen feindlich ist; und nach außen heißt die Losung: unsere Welt ist die des moralischen Rechts und des Friedens, und sie bringt auch euch die Erlösung.

Alle Handlungen der Sowjets dienen der Erhaltung dieser Voraussetzungen. Sie erfordern die Absperrung der Sowjetwelt von der übrigen Welt, damit keine genau weiß, was in der andern in Wirklichkeit vorgeht, und keine kontrollieren kann, inwiefern diese Behauptungen stimmen. Jede darf von der andern nur das erfahren, was der Erhaltung und Ausweitung des Systems nützlich ist. Deshalb sind nach außen hin fortwährend irgendwelche Verhandlungen erwünscht: sie bilden ein Forum, um die Außenwelt hören zu lassen, was die Sowjets ihr zu sagen haben. Von dem, was die Welt sagt, braucht das Volk im Innern nur zu erfahren, was die Sowjets es hören lassen wollen. Verträge und Verständigungen mit dem Westen sind im Prinzip ebenfalls wichtig, weil sie Beweise des guten Willens sind. Sie müssen nur so allgemein gehalten sein, daß die Sowjets bei ihrer Durchführung in der Praxis alle gewünschten Vorteile daraus zu ziehen vermögen. Wenn der Partner dann gegen diese Auslegung protestiert, muß ihm böser Wille und der Bruch des Vertrages nachgesagt werden können. Das bietet immer neues Material für den Gebrauch im Innern als der stets benötigte Nachweis, daß die Außenwelt der Sowjet-welt feindlich gesinnt ist. Denn die Erhaltung des Gefühls im Innern, einer feindlichen Welt gegenüberzustehen, ist für die Erhaltung des Sewjetsystems unentbehrlich.

Ein System, das aus Staatsbetrieben besteht, das eine Staatswirtschaft ohne Privatwirtschaft, eine Landwirtschaft ohne Bauernwirtschaften ist, kann keiner der Gruppen irgendwelche individuellenVorteile bieten, es kann nur individuelle Opfer von ihnen allen verlangen. Und so ist diese Opferbereitschaft zur höchsten Tugend des Sowjetmenschen erhoben worden. Um das Verlangen der individuellen Opfer jedoch zu rechtfertigen, muß das System einen Notstandszustand erhalten, in dem von dem einzelnen die Soldatengesinnung gefordert werden darf. Es muß also ein kriegs-ähnlicher Zustand, ein Zustand der Spannung dauernd erzeugt werden, bei dem der einzelne das Gefühl der Gefahr für den Bestand des Ganzen hat, so daß er selbst zum höchsten Opfer bereit sein muß. Aber es ist leichter für ein Ziel zu sterben als unentwegt dafür zu leben, und so muß die Soldatengesinnung ununterbrochen aufs neue genährt werden. Der Soldat ist stolz auf die Leistung seines Regiments, und so wird das Volk fortwährend mit statistischen Zahlen gefüttert, über die Produktionssteigerung, über die Erfolge des Aufbaus, um seinen Stolz auf die vollbrachte Leistung zu wecken. Wem diese Leistung zu Gute gekommen ist, ist gleichgültig. Die Verluste des Regiments zählen nicht. Es hat sich bewährt, es ist siegreich gewesen, seine Tradition wird immer glorreicher.

Das gilt aber nur so lange wie der Soldat Soldat bleibt. Er darf nicht zum Zivilisten werden und den Zusammenhang mit seinem Regiment verlieren. Der Zivilist entwickelt ein privates Leben mit privaten Wünschen, er wird immer, mehr oder weniger, zum Individualisten. Daher wird der Individualismus von dem System als Verrat gebrandmarkt, als ein Rückfall in die atavistische bürgerliche Denkweise. Die Zugehörigkeit zum Regiment, das heißt im Sowjetreich: die Liebe zu dem sozialistischen Vaterland muß mit dem Haß gegen alle Imperialisten und Reaktionäre verbunden sein — das bedeutet, mit dem Abscheu gegen die egoistischen Anschauungen des freien Zivilisten. Die Erhaltung eines derartigen Gefühls setzt eine geistige Autarkie voraus, aber die Autarkie ist sowieso eine der Voraussetzungen für die erfolgreiche Existenz des Sowjetsystems. Jede der beiden Welten darf nicht wissen, was in der andern geschieht.

Der Glaube der Wirtschaftskreise des Westens, daß der Handel mit den Sowjets eine Änderung der politischen Linie herbeiführen wird, beruht daher auf einem Fehlurteil. Die Exporte sind für die Sowjets ein zeitweilig notwendiges Übel, um gewisse Importe zu bekommen, weil Rußlands Produktionskraft noch nicht genügend entwickelt ist. Außerdem kann dieser Handel vorteilhaft ausgenutzt werden, da die Handelsbeziehungen Interessentengruppen im Westen schaffen müssen, die einen Druck auf die kapitalistischen Regierungen ausüben können, während die Sowjets als der einzige Gegenpartner sich durch keinerlei ökonomische Vorteile binden lassen werden. Eine Steigerung des Lebensstandards im Innern muß von ihnen sogar scharf kontrolliert werden, denn zuviele Verbrauchsgüter könnten den Willen des Soldaten zur Opferbereitschaft untergraben und in ihm die Zivilistenmentalität entwickeln. Es ist deshalb für die Sowjet-einstellung ziemlich gleichgültig, ob ihr Arbeiter drei Stunden für den Wert eines Gebrauchsartikels arbeiten muß, für den etwa der amerikanische Arbeiter nur dreißig Minuten zu arbeiten braucht. Was der Sowjetarbeiter in den zusätzlichen zweieinhalb Stunden geschaffen hat, kommt ja dem Aufbau der neuen Welt zu Gute.

Es geht also dem Sowjetsystem weder darum, einen Zustand geistiger Entspannung zu schaffen, noch darum, die Kaufkraft im Innern über einen Standard zu heben, der für die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit seiner Bevölkerung notwendig ist. Im Gegenteil, der soldatische Kampfgeist in dem besonderen sowjetischen Zivilleben muß zusammen mit dem Stolz auf die gemeinsam vollbrachte glorreiche Leistung wach erhalten werden. Das Gefühl, siegreich zu sein, muß alle andern Gefühle beherrschen, und das bedeutet nach außen hin, daß die Sowjets nie nachgeben dürfen. Nachgeben ist ein Zeugnis der Schwäche, und Schwäche darf das System nie zeigen. Wenn eine Handlung der Sowjets nach Rückzug aussieht, ist es ein taktischer Rückzug zur Beziehung einer besseren strategischen Stellung, von der aus ein Vorstoß in einer andern Richtung erfolgen kann. Es ist eine Kriegstaktik des Kalten Krieges, die sich jeweils den Bedürfnissen der Lage anpaßt. Was heute zweckmäßig ist, mag morgen falsch sein Die Sowjettaktik ist daher nicht festgelegt, je nach der Lage können Worte, Gesten, Handlungen sich ändern. Aber wenn der Westen dahinter nach veränderten Ideen sucht oder sie zu erblicken glaubt, irrt er sich, und die Wirkung des neuen Vorstoßes wird um so stärker sein. Ein Nachgeben in der Idee kann es bei den Sowjets nicht geben, weil der Bestand ihres Systems davon abhängt.

Soweit ist also die Haltung und die Handlungsweise der Sowjets klar und unmißverständlich. Aber das beantwortet nicht die Frage, woher ihr System und ihre Denkweise kommen. Von der richtigen Beantwortung dieser Frage hängt es aber ab, ob Europa ein Gegenmittel gegen die Auswirkung dieses Systems finden kann. Denn erst wenn die Motive und die letzten Ziele der Sowjets bloßgelegt sind, kann Europa die von ihnen drohende Gefahr in ihrem Wesen einschätzen. Dazu muß aber erst festgestellt werden, was die Sowjets sind und woher sie kommen. Sind sic ein völlig neues Phänomen oder nur eine neue Phase in der russischen Geschichte, stellt ihre Politik ein noch nie dagewesenes Problem für Europa dar, oder ist sie nur eine neue Form der traditionellen russischen Politik?

Ist Rußland Europa?

Wenn man heutzutage die Frage stellt, ob Rußland Europa ist, und damit nicht nur das augenblickliche Sowjetrußland sondern das Russische Reich in seiner gesamten Geschichte umfaßt, ob es Moskowitien, das Zarenreich oder die LInion der Sowjetrepubliken ist, so kann die Frage natürlich weder rassisch noch geographisch gemeint sein. Selbstverständlich sind die Slawen Europäer. Sie lebten anfänglich in den Niederungen zwischen der Weichsel, dem oberen Dnjepr und dem Dnjestr und wurden von da aus, von den verschiedenen Wellen der Völkerwanderung erfaßt, nach drei Himmelsrichtungen getrieben. Im 9. Jahrhundert schoben sich die Ungarn wie ein Keil zwischen die slawischen Völker und trennten die Südslawen von den andern ab. Die Scheidung zwischen den West-und Ostslawen kam später, als Polen nach dem Westen vorstieß und in den Bereich der römisch-katholischen Kirche kam, während Rußland sich nach Süden und Norden ausdehnte und sein Christentum von Byzanz empfing. Geographisch wiederum sind wir übereingekommen, den Ural als die Grenze zwischen Europa und Asien zu betrachten, obgleich im Verlauf der Geschichte die Scheidelinie ganz verschieden gelegt wurde. Die Griechen meinten, es wäre der Don, zu andern Zeiten war es die Wolga oder der Dnjepr. Metternich sagte: Asien fängt auf der Landstraße an.

Um einen Sinn zu haben, muß die Frage also historisch und psychologisch verstanden werden. Historisch heißt sie: hat Rußland in seiner tausendjährigen Geschichte die gleiche oder eine parallele Entwicklung durchgemacht wie die europäischen Staaten? Psychologisch: gelten oder galten in Rußland die gleichen Normen und Ideale wie in Europa: entsprachen seine Ideen den europäischen oder strebte es andern Zielen zu? Nun war das europäische Denken und Streben im Verlaufe der Geschichte auch nicht immer das gleiche, und so muß die jeweils zeitgenössische Einstellung Rußlands mit ihm verglichen werden.

Ein Reich der Städte Wir können sagen, daß nach dem Untergang der antiken Mittelmeer-kultur die europäische Entwicklung etwa mit dem Bündnis der Römischen Kirche mit dem Germanischen Frankenreich begann. Die Entwicklung Rußlands setzte einige Jahrhunderte später mit der normannisch-warägi-sehen Fremdherrschaft über die verstreuten Slawenstämme ein. Im Verlaufe der Zeit wurden die normannischen Waräger russifiziert, wie etwa die deutschen Grafen in Italien italienisiert wurden; aber die Grundlage der Lebenshaltung für die herrschende Schicht in Europa war der Land-besitz und sein Ertrag, in Rußland war es der Handel und die Tribute, die die Fürsten mit ihrem Kriegsgefolge von den Slawenstämmen einsammelten. Dieses Rußland war ein Reich auf dem großen Handelswege von der Ostsee nach Byzanz und auch nach den moslemischen Ländern am Kaspischen Meer, aber in der Hauptsache nach Byzanz, von wo es seinen Reichtum und auch seine Religion und seine Kultur empfing. Dieses Rußland war „Gardarik“, ein Reich der Städte, in denen die Fürsten mit ihrer Kriegertruppe und die Kaufleute mit ihren bewaffneten Mannschaften lebten: und manche deutsche Ritter, die infolge der kriegerischen Einmischung der Polen in die russische Erbfolgefrage in seine Hauptstadt Kiew kamen, waren voller Staunen über Kiews Pracht, über seine Paläste, Schulen, Bibliotheken und die Bildung der höheren Stände.

Trotz der Verschiedenheit des Ursprungs und der Religion wies dieses Rußland manche Ähnlichkeit mit Europa auf, das im 11. und 12. Jahrhundert gleichfalls einen Aufschwung des Handels und der Städte erlebte; und es ist kein Zufall, daß Rußland am ähnlichsten wohl dem Normannenreich in Sizilien war, ebenfalls einem Handels-und Städtereich mit einer Herrscher-und Kriegerschicht fremden Ursprungs. Beide Reiche standen wirtschaftlich und kulturell unter dem Einfluß von Byzanz, beide hatten einen arabischen Einschlag, und in beiden herrschte bei den höheren Schichten orientalischer Luxus und Genuß. Die Kiewer Großfürsten fühlten sich durchaus als Europäer, gleichwertig den höchsten europäischen Herrscher-häusern, und sie waren mit ihnen durch Heiraten verwandt.

Doch im 13. Jahrhundert hörte das Kiewer Reich auf zu existieren. Die mongolische Lawine hatte das mehr als 300jährige „Gardarik“ in eine menschenleere Öde verwandelt; der päpstliche Gesandte zu dem Mongolenchan berichtete, daß in ganz Kiew kaum noch 200 Häuser standen und das Kiewer Land mit Menschenknochen besät war. Nur die Nord-russischen Fürstentümer in dem Waldgebiet zwischen der Oka und der Wolga hatten sich erhalten, aber sie waren zu einer Provinz der mongolischen Chane der Goldenen Horde geworden. Ihre Fürsten reisten in das Zeltlager des Chans in der Nähe des Kaspischen Meeres, um ihm zu huldigen und von ihm die Lehnsurkunde zu erbitten, die ihnen das Herrschaftsrecht in ihrem Fürstentum gab. Sie leisteten ihm Heeresfolge, kämpften in den Reihen der mongolischen Truppen, sammelten für ihn die Tribute in ihrem Lande ein und führten diese an ihn ab.

Das Moskowiterreich Im 14. Jahrhundert entschied sich die Frage, welches der nordrussischen Fürstentümer die Gunst der mongolischen Chane gewinnen und unter ihrem Schutz zur Vormacht in der russischen Provinz der Goldenen Horde aufsteigen sollte. Die Fürsten von Moskau gewannen diesen Wettstreit durch Schmeichelei, Bestechungen, Beweise ihrerErgebenheit und durch die Hilfe der russischen Metropoliten, die Moskau zum ständigen Metropolitensitz gemacht hatten. Die Chane, die als „Herrscher der Herrscher“ die unterworfenen Länder weiter durch eingeborene Fürsten regieren ließen, bestätigten auch die orthodoxe Kirche in ihren früheren Privilegien und ihrem Landbesitz, und dafür wurde in allen russischen Kirchen für das Wohl „des Zaren des Goldenen Ordu" gebetet, obgleich er ein Heide und später ein Moslem war. Das geschah natürlich nicht, weil die Chane an eine besondere Kraft der russischen Gebete glaubten, sondern weil die Erwähnung in den Kirchengebeten eine Ermahnung für das ganze Volk bedeutete, daß der Chan der gottgewollte Herrscher über Rußland war.

Unter der Gunst der Chane und der Förderung der Metropoliten, die im Streitfälle den Großfürsten von Moskau seiner Schwüre entbanden und seine Gegner mit dem Kirchenbann belegten, wuchs sich Moskowitien auf Kosten der andern russischen Fürstentümer aus, bis es ihm in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelang, die freie Handelsstadt Nowgorod mit ihren großen Landgebieten zu erobern. Es wurde dadurch zum Nachbarn der Ostseestaaten und kam in direkte Berührung mit Europa.

Dieses Moskowiterreich war ein fremdartiges Gebilde, in dem sich die Elemente des Kiewer Rußland unter der mehr als 200jährigen Mongolen-herrschaft tatarisch umgewandelt hatten. Das alte Kriegsgefolge des Fürsten hatte sich in eine Feudalkaste der Bojaren verwandelt, aber es war kein europäischer sondern ein asiatischer Feudalismus. Die Bojaren waren wie die Mongolenedlen nur mit dem Fürsten, dem sie mit dem Schwerte dienten, verbunden, und nicht mit dem Volke. Das Volk, das Land, die Städte waren nur dazu da, sie, ihr Gefolge und ihre Dienerschaft zu ernähren. Das städtische Aufgebot der Krieger-Kaufleute und ihrer bewaffneten Männer, das im Kiewer Rußland ein Gegengewicht gegen den Fürsten und sein Gefolge gebildet hatte, war verschwunden, und Stadt und Land waren schutzlos der Bojarenwillkür ausgeliefert. Die Mongolen hatten nach Rußland den Begriff der unumschränkten Gewalt und des unbedingten Gehorsams gebracht, und ihre russischen Vasallen hatten ihn aufgegriffen. Generation nach Generation wuchs das Volk in dem Bewußtsein seiner Ohnmacht auf. Durch zwei Jahrhunderte wurde ihm das Gefühl eingehämmert, daß sein ganzes Sein und Haben von einem fremden, despotischen Willen abhing, und daß auf jede Regung des Widerstandes eine furchtbare Strafe folgen und unterschiedslos Schuldige wie Unschuldige treffen werde. Vielleicht bildet diese Drohung der Kollektivstrafe, die sich nicht um persönliche Schuld oder Unschuld kümmerte sondern alle in einem gemeinsamen Schicksal verband, den Ursprung des russischen Kollektivbewußtseins, das die Einordnung des einzelnen in das Kollektiv verlangt. Wenn der einzelne durch sein Tun und Handeln Verderben über die ganze Gemeinschaft bringen kann, dann darf er nicht individuell denken und handeln. Dann ist sein Anders-Sein-Wollen gefährlich und übel und sein Sich-Einfügen in die Gemeinschaft, selbst wenn sie ihn bedrückt, eine Tugend.

Die Kirche verband dieses Bewußtsein mit religiösen Motiven und änderte damit die Ideenwelt des russischen Volkes. Das Gefühl der persönlichen Würde wurde durch christliche Demut ersetzt. Ein neuer Heldenzyklus wurde von ihr geschaffen: an die Stelle der gewaltigen Recken der Kiewer Epoche, der Kämpfer gegen die Nomaden der Steppe, kamen Märtyrerfürsten, Klöstergründer, Einsiedler — Kämpfer gegen die Versuchungen des Teufels, Dulder, die die Menschen lehrten, ihr schweres Los zu tragen. Aus dem Ideal des Kämpfens wurde ein Ideal des Erleidens, und es erhielt vom Himmel seine Belohnung. Die mächtige Goldene Horde zersetzte sich; das stolze Rom war vor 1000 Jahren gefallen; Konstantinopel, das zweite Rom, war soeben von Gott wegen seines Hochmuts den Türken überliefert worden; Moskau jedoch, der einzige Hort der Rechtgläubigkeit, war durch Gottes Ratschluß erhöht worden, um als das dritte Rom „bis an das Ende der Zeiten in Ruhm und Glanz zu erstrahlen“. Lind wie zur Bestätigung dieses Anspruchs begann die römische Kurie um Moskau zu werben.

Das jenseits Polens plötzlich aufgetauchte, anscheinend mächtige Reich konnte ein wichtiger Bundesgenosse gegen die Türkengefahr werden. Sein Großfürst, Iwan III., war ein Witwer auf neuer Brautsuche, am päpstlichen Hof lebte Sophie Paleologue, die im katholischen Glauben erzogene Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, und die römische Kurie hegte weitreichende politische und religiöse Pläne. Die byzantinische Prinzessin wurde bald Moskauer Großfürstin, aber sie legte den katholischen Glauben ab und wurde wieder die treue Tochter der Kirche ihrer Väter. Der sie begleitende päpstliche Legat mußte nach elf Wochen unverrichteter Dinge zurückkehren. Moskaus Heil und Größe kam ja von seiner Rechtgläubigkeit; also war der Katholizismus, der es abtrünnig machen wollte, der Böse Feind. Es haßte den lateinischen Glauben und den lateinischen Geist und fühlte sich darüber erhaben. Den Versuch Kaiser Friedrichs III., Moskau durch Verleihung einer Königskrone an den Groß-fürsten in Europa einzubeziehen, lehnte Iwan ab: Gott habe ihn wie seine Urväter zur Herrschaft in seinem Lande eingesetzt, eine andere Einsetzung habe er nie gewünscht und werde sie von niemand annehmen. Da die Goldene Horde nun endgültig zerfallen war, begann er sich Zar — das hieß: von niemand abhängiger Selbstherrscher — zu nennen; und als der Gemahl der byzantinischen Prinzessin nahm er den byzantinischen Doppeladler in das Wappen Rußlands auf und ließ ihren griechischen Hofstaat das einfache Moskauer Zeremoniell nach prunkvollen byzantinischen Riten umgestalten.

Um Moskau zu schmücken und zu stärken, brauchte er vom Westen Architekten, Festungsbauer, Ingenieure, Kanonen-und Glockengießer, Bergleute, aber nicht etwa um Rußland nach europäischer Art zu erschließen und zu entwickeln; sie sollten nur ihre handwerklichen Kenntnisse in Moskaus Dienste stellen. Moskau schickte jetzt Gesandtschaften an europäische Höfe, aber die Gesandten wurden angewiesen, immer den ersten Platz einzunehmen und lieber auf einen Empfang zu verzichten, als sich das Geringste zu vergeben. Und den fremden Gesandten, die nach Rußland kamen, wurde eine Welt vorgespielt, die sie in sprachlose Verwunderung versetzen und ihnen ein Bild phantastischer Macht und Pracht vermitteln sollte. Sie wurden bereits an der Grenze von besonderen Beamten in Empfang genommen, die für ihr Wohl, ihre Nahrung und Unterkunft, und für schnelle und bequeme Fahrt zu sorgen hatten. Die Reise führte immer durch die reichsten und bevölkertsten Landesteile, und in allen Städten und Dörfern mußte sich die Bevölkerung in den besten Gewändern wie zufällig auf den Straßen ergehen, um die Fremden durch die Fülle des Lebens und die Wohlhabenheit des Volkes zu überraschen. Den Reisenden wurden die schönsten Häuser als Quartiere bereitgestellt, aber erst nachdem man deren Besitzer hinausgetrieben hatte, damit die Fremden mit niemand in Berührung kommen und etwas über den wirklichen Zustand des Landes erfahren konnten. Der Empfang bei dem Großfürsten wurde mit entsprechendem Aufwand und Zeremoniell ausgestattet, und so überbieten sich die Schilderungen des Moskowitischen Reiches des 15. und 16. Jahrhunderts in der Beschreibung seiner Wunder, seiner Größe, seiner barbarischen Sitten und von dem Ausmaß der Gewalt des Großfürsten über alle seine Untertanen, „worin er alle Monarchen der Welt übertrifft“.

In Wirklichkeit erstreckte sich seine Gewalt nur über andere Bereiche als in Europa. Er war nach mongolischer Sitte, ohne Gericht, Herr über Leib und Leben jedes einzelnen Bojaren, aber die Bojarenkaste als Ganzes hatte eine Rangordnung der Geschlechter nach ihrer Vornehmheit, und kein Bojare würde von einem weniger Vornehmen einen Befehl empfangen oder eine geringere Auszeichnung als dieser annehmen. Der Großfürst war also gezwungen, alle Dienststellen im Reiche nach dieser Rangordnung zu besetzen und konnte für jeden Posten nur unter gewissen Geschlechtern wählen. Die Kaste war stärker als sein Wille, und es war erst Iwan der Schreckliche, der Enkel Iwans III., der in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts diese Bojarenhierarchie zerschlug und ein absolutistisches Zarentum aufrichtete. Er konnte es nur tun, indem er eine besondere nur ihm verpflichtete Leibtruppe, die Opritschniki, schuf und sie auf die Bojaren losließ. Sein Kampf um die Autokratie erschütterte jedoch das Moskowitische Reich in seinem ganzen Gefüge derart, daß es zwei Jahrzehnte nach seinem Tode zu zerfallen und die Beute seiner Nachbarn zu werden drohte. Und es ist vielleicht das beredtste Zeugnis für die nunmehr etablierte Psyche des russischen Volkes, daß es ihn trotz aller Leiden nicht verurteilte sondern in seinen Liedern pries, weil er das Zarentum aus Zargrad — Byzanz — herausgetragen, sich den Zarenpurpur übergelegt und das Zarenzepter fest in seine Hände genommen habe. Er hatte die Phantasie des Volkes gewonnen, weil durch ihn die symbolische Allmacht des Zarentums in die Hände des Moskauer Herrschers übergegangen war.

Lehrmeister Europa Doch bei den Kämpfen um die Erhaltung des Moskowitischen Reiches erwies sich die Überlegenheit der europäischen Waffen als so groß, daß kleine polnische Abteilungen in den meisten Treffen russische Heere schlugen, und so wurde die technische Entwicklung unter den ersten Romanows für Rußland zur Lebensfrage. Hatte Moskau bei der ersten Begegnung mit Europa unter Iwan III. vom Westen nur handwerkliche Dienste gewünscht, so sollte Rußland jetzt bei Europa in die Lehre gehen. Die Ausländer erhielten Konzessionen zur Erschließung von Erzlagern, Einrichtung von Gießereien und Eisenwerken, ihnen wurden alle möglichen Privilegien erteilt, aber dabei war immer die Bedingung: „vor den Russen keine Geheimnisse zu haben, sie anzustellen und in allen Berufen anzulernen". Sogar zwei Seiltänzer, die sich in Moskau produzierten, mußten sich verpflichten, junge Russen in ihrer Kunst zu unterrichten.

Jetzt, im 17. Jahrhundert, begannen im Kreml und in den Häusern der Aristokratie auch derartige Luxusdinge zu erscheinen wie Spiegel und Ölgemälde in geschnitzten Rahmen, vergoldete Möbel, Gewänder aus Samt, Atlas, Damast. Blumengärten „ä la hollandaise" wurden angelegt. Theatervorstellungen mit Musik und Tanz wurden veranstaltet: biblische Stücke wechselten mit Burlesken und saftigen Liebesszenen ab. Also gesellten sich zu den aus dem Ausland herangezogenen „nützlichen" Männern, wie Technikern, Ärzten, Kriegsleuten, bald auch „Kulturträger", Glücksjäger aller Art, die das Leben für die Spitzen der Moskauer Gesellschaft angenehmer, lustiger, unterhaltsamer gestalten konnten. Europa war notwendig, Europa konnte das Leben verschönern — aber weiter durfte es nicht gehen, um nicht eine Gefahr für den Glauben und die russischen Sitten zu werden.

Die Ausländer durften natürlich nicht unter den Russen leben und wurden in der sogenannten „deutschen Vorstadt“ von Moskau untergebracht. Russen, die, von den „fremdländischen Lockungen“ angezogen, dort Umgang pflegten, wurden unter besondere Beobachtung gestellt. Wissen erzeugte nur Hochmut, und so wurde der Besitz lateinischer und polnischer Bücher verboten: wenn Russen lesen wollten, sollten sie Heilige Bücher lesen, „um die sündige Seele von der Sünde reinzuwaschen". In Moskau war eine Akademie begründet worden, bevor es noch eine Elementarschule gab, aber das Lehren von Rhetorik, Philosophie, ja sogar Grammatik wurde verboten, weil das die Leute nur lehrte „zu räsonieren und die einheimischen Autoritäten zu kritisieren“. Wie Schleißing 1688 schrieb: „Wer von den Russen im Ausland gewesen war, durfte-nichts von dem, was er dort gesehen hatte, loben, sondern mußte alles tadeln; sonst hieß er ein Verräter“.

Der Wunderstab des Moses So entstand bereits im 17. Jahrhundert jener Zwiespalt in dem Verhalten Rußlands zum Westen, der seitdem nicht mehr verschwinden sollte. Europa mußte herangezogen aber zugleich der europäische Geist ferngehalten werden, um nicht dem Seelenheil zu schaden und nicht „lateinische Unruhe in einfache Seelen zu säen". Denn Rußland stand in seinem Wesen höher. Es war anders und mußte anders bleiben. Ein gelehrter Serbe, Juri Krishanitsch, schilderte in seinen Episteln an den Zaren Alexei den Unterschied: Die Russen wären unwissend, träge, maßlos in allen Dingen und verschleuderten ihr Hab und Gut; aber die Fremden wären dreist und stolz, voller List und Habgier, und sie köderten die Russen mit den verlockenden Erzeugnissen ihrer reichen Länder, um ihnen dann ihr Joch aufzuerlegen. Die Russen müßten daher bei dem feindlichen Westen in die Schule gehen, sich seine Technik aneignen und dann die Fremden vertreiben. Dann würden die Wissenschaften und Künste in die Hände der Russen übergehen, weil Gott in Rußland ein slawisches Zarentum erhöht habe, wie es an Kraft und Ruhm unter den Slawen nie bestanden hätte, und ein solches Zarentum eine Pflanzstätte der Bildung sei. Er fordert den Zaren auf, für das ganze slawische Volk einzustehen, denn in seiner Selbstherrschaft halte der Zar den Wunderstab des Moses und könne „damit herrliche Wunder verrichten“.

So finden sich in diesem ersten Entwurf des Panslawismus bereits alle Elemente, die ihn später auszeichnen: der mystische Glaube an die historische Mission Rußlands, der mystische Glaube an die Allgewalt des Herrschers, und die Überzeugung, daß auf dessen Befehl sich alles umgestalten und nach dem barbarischen Heute sich morgen das wahre Antlitz des russischen Wesens strahlend offenbaren wird.

Doch dieses barbarische Heute machte es notwendig, daß niemand anders als die Regierung sich des Wunderstabes bediene, um die technische und wirtschaftliche Entwicklung Rußlands — nicht wie in Europa durch Privatinitiative, sondern auf Amtswegen durchzuführen. Industrielle, landwirtschaftliche, kaufmännische Staatsunternehmungen wurden gegründet, fast aller Außenhandel und ein Teil des Großhandels zum Staats-monopol erklärt. Wie ausländische Beobachter sagten: „Der Zar wurde der erste Kaufmann und der erste Unternehmer des Landes“. Er hatte gewaltige Ziegelbrennereien und Kalköfen, Eisenwerke und Glasbläsereien, Bergwerke und Ledergerbereien. Er ließ Fischteiche anlegen, und die Fische wurden getrocknet, geräuchert oder eingemacht. Er hatte riesige Obstgärten und ließ Maulbeerbäume pflanzen, um die Seidenzucht einzuführen. Und alle diese Unternehmungen wurden von Prikasen, das hieß: Ministerien, verwaltet, und es wurde kein Unterschied zwischen der Staatswirtschaft und der Privatwirtschaft des Zaren gemacht. Der Chef des Gesandtschaftsprikases, also der Außenminister, war zugleich der Verwalter der Hausapotheke.

So entstand in dem Moskowitischen Reich des 17. Jahrhunderts bereits der Staatskapitalismus. Der Kaufmann, vom Außenhandel ausgeschlossen, im Innenhandel von dem Vorkaufsrecht der Zarenagenten beschränkt, lebte in ständiger Furcht, daß seine Handelsartikel über Nacht zum Staatsmonopol erklärt werden könnten. Nach den Schilderungen der Ausländer hatte Moskau mehr Läden als Amsterdam, aber sie waren Krämerbuden, von denen ein Dutzend Platz in einem einzigen holländischen Laden hätte finden können. Die Stände, die sich um diese Zeit in Moskowitien ausbildeten, glichen nicht den europäischen, die ihre Freiheiten und Rechte besaßen und verteidigten. Die russischen Stände hatten keinerlei Rechte und waren nach der Art des Dienstzwanges gesondert: Militär-, Zins-und Frohndienst. Zur Erleichterung der Kontrolle durch den Staat hatte niemand das Recht, aus dem einen Stand in den andern hinüberzuwechseln; sogar die Heiraten zwischen Personen verschiedener Stände waren untersagt. Ein Ministerium „für geheime Angelegenheiten“ — die erste politische Polizei — wurde eingerichtet, weniger zur Beobachtung des Volkes sondern um auf „Gesandte und Woiwoden aufzupassen und dem Zaren über sie zu berichten“. Und der Chronist schreibt: „Welche der Gesandten, Woiwoden und Bojaren von Unordnung in ihren Angelegenheiten wissen, beschenken und ehren diese Männer über das ihnen zukommende Maß, damit diese sie vor dem Zaren loben und nichts Schlimmes aussagen". So wurde die Macht der Spitzel über hohe Würdenträger bereits im 17. Jahrhundert zur Staatseinrichtung.

Als Peter der Große dieses Rußland nun äußerlich Europa anzugleichen begann und die Bojaren zwang, ihre Bärte und langen Röcke abzuschneiden, suchte auch er es nicht wirklich zu Europa zu machen. Er sagte zu Ostermann, einem seiner Vertrauten: „Wir brauchen Europa für einige Jahrzehnte, dann können wir ihm den Rücken zukehren“. Europa war eben nicht das Ziel sondern sollte nur der Lehrmeister sein, und Peter suchte Rußland mit seinem Knüppel einzubläuen, was es zu tun und zu schaffenhatte, um schneller den technisehen und wirtschaftlichen Fortschritt Europas einzuholen. Dieser Knüppel prasselte erbarmungslos auf das Volk nieder. Peters Industrialisierungsdekrete bedeuteten Massenaushebungen zur Zwangsarbeit, Massenverschickungen der Ausgehobenen von einem Ende des Landes zum andern, den Verkauf ganzer Dörfer mit Leibeigenen zur Sklavenarbeit in Fabriken und Bergwerken. War daher bisher die Feindseligkeit gegen Europa hauptsächlich von der Geistlichkeit aus religiösen und der Kaufmannschaft aus wirtschaftlichen Gründen getragen, so ergriff sie jetzt infolge von Peters Maßnahmen alle Schichten des Volkes. Wenn diese Maßnahmen Europäisierung waren, so bedeuteteEuropa für das Volk nur mehr Zwang, schwerere Lasten, höhere Besteuerung, schlimmere Armut. Von dem Luxus und dem Reichtum, den die höheren Klassen jetzt entfalteten, hatte es nichts. Den Ausländern kam Peters Rußland „wie eine Riesenfabrik vor, die von einem Ende bis zum andern von Hammer-und Axtschlägen dröhnte“, aber ein großer Teil dieser Fabriken stand nur auf dem Papier, andere erwiesen sich als nicht lebensfähig, und die nach dem Tode des Zaren eingesetzte Handelskommission des Obersten Geheimen Staatsrats mußte feststellen, daß „die Kaufmannschaft im russischen Reiche so gut wie ruiniert" sei. Damit hörten die Versuche der zwangsweisen Industrialisierung und Europäisierung des Zarenreiches von Staats wegen auf.

Die große Schaubühne Petersburg Die von Peter geschaffene neue Hauptstadt Petersburg war für seine Nachfolger eine große Schaubühne, auf der sie unter ungeheurem Aufwand ein Übereuropa spielen konnten, aber die Kamarilla von Glücksjägem, die sich um die Person des Zaren oder der Zarin drängten oder Palastrevolutionen schmiedeten, war ein internationaler Pfropf, völlig abhängig von dem guten Willen der Garde, die bei jedem Regierungswechsel die entscheidende Rolle hatte. Während bei dem fortwährenden Ränkespiel der verschiedenen Höflingsgruppen die Zentralpersonen von Tag zu Tag wechselten, verhinderte der Adelsstand, aus dem sich die Garde, das übrige Offizierskorps und der Zivildienst rekrutierten, die Bildung einer Oligarchie mit einer festorganisierten Bürokratie, die seine Bedeutung hätte schmälern können.

Von Peter dem Großen als ein privilegierter Dienststand geschaffen, entledigte sich der Landadel einer nach der andern seiner Dienstverpflichtungen und erweiterte seine Privilegien und seine Macht über Land und Menschen. Das Ergebnis dieses Prozesses war, daß im Verlaufe des 18. Jahrhunderts aller Landbesitz, Leibeigenenbesitz, Besitz von Bergwerken und Fabriken mit Leibeigenenarbeit, Großhandel mit den Erzeugnissen der Güter, ja sogar die Schnapsbrennerei zum Adelsmonopol wurden. Jeder Gutsbesitzer wurde ein Zar-Autokrat, ein absoluter Herr über Leib und Leben der Menschen auf seinem Lande und in seinen Fabriken. Selbst wenn jemand sich zur freien Arbeit in einer Fabrik verdang und der Herr ihn auf seiner Liste als einen Leibeigenen eintrug, war es für den Arbeiter praktisch unmöglich, seine Freiheit wiederzugewinnen. Der Gutsbesitzer hatte seine private Polizei, er war der Richter seiner Leibeigenen und konnte sie sogar nach Sibirien verschicken, ohne daß die Regierung das Recht hatte, nach den Gründen zu forschen. Da der Gutsbesitzer für jeden Verschickten einen Rekruten weniger zu stellen hatte, geschah es oft, daß vor einer Rekrutenaushebung schwächliche und arbeitsunfähige Leute nach Sibirien verschickt wurden, und der Gutsbesitzer junge und kräftige Männer, die er sonst für das Militär hätte abgeben müssen, für seine Land-und Fabrikarbeit behielt.

Dieser Landadel, der die Bodenwerte und die Arbeitskraft Rußlands sein eigen nannte und sich selbst regierte, da er die Provinzialverwaltung bildete, interessierte sich wenig dafür, was in dem fernen Petersburg geschah. Ja, er empfand es sogar als eine Beeinträchtigung, daß in jedem Gouvernement ein von Petersburg ernannter Statthalter saß, der in seinem Bereich selber ein kleiner Zar mit eigenem Hof und eigenen Favoriten war. In diesem Rußland konnte Katharina II. ruhig mit den Ideen der Aufklärung kokettieren, mit Voltaire korrespondieren, Diderot als gute Fee erscheinen; die Petersburger Höflinge durften mit Begeisterung französische Philosophen lesen. Wenn aber einer von ihnen wagte, die Ideen des Fortschritts mit den russischen Zuständen zu vergleichen, sorgte Katharina selber dafür, daß er wie Nowikow in die Festung kam, oder wie Radistschew nach Sibirien verschiebt wurde. Für eine europäische, städtische Kultur war außer am Petersburger Hof in Rußland kein Platz, denn der Bürgerstand machte nur 3°/o der Bevölkerung aus; in Moskau, einer Stadt von 250 000 Einwohnern, waren 90 000 Leibeigene.

Die Autokratie regierte und durfte regieren, solange sie die Interessen des Adels vertrat. Als der Zar Paul gegen diese Interessen eine wirkliche Selbstherrschaft aufrichten wollte, wurde er ermordet und durch seinen jungen Sohn Alexander ersetzt; und als dieser Alexander I. nach dem Tilsiter Frieden auf Napoleons Verlangen den Handel mit England zum Schaden des Landadels unterband, begann man in Petersburg offen davon zu sprechen, daß man den Zaren töten müsse. Wie der französische Botschafter nach Paris meldete: man sprach davon „ohne alle Bosheit, als ob man vom Regen oder guten Wetter redete".

Nach den Napoleonischen Kriegen, als viel mehr Russen Europa aus persönlicher Erfahrung kennen gelernt hatten, wurden manche geistigen Ideen besonders von der Aristokratie ausgenommen. Während der Restaurationszeit bildeten sich, nach dem Muster verschiedener europäischer Länder, auch in Rußland Geheimgesellschaften mit nationalen und liberalen Aspirationen, aber während sie in Europa von dem Bürgertum getragen wurden, dessen Verlangen nach Emanzipation sie repräsentierten, bestanden sie in Rußland aus kleinen adligen Gruppen, meistens Offizieren, ohne bei irgendwelchen breiteren Schichten Unterstützung oder auch nur Anklang zu finden. Ihre Tätigkeit kulminierte in dem romantischen Dekabristenputsch, der die Offiziere nach Sibirien brachte, den künftigen Generationen aber ein poetisches Sinnbild adliger liberaler Bestrebungen hinterließ.

Kontrollierte wissenschaftliche Erziehung Der Regierung zeigte er jedoch die Gefahr der europäischen Anstekkung, die nun aus Rußland ausgetrieben werden mußte. Die wissenschaftliehe Erziehung wurde den offiziellen Kirchendogmen untergeordnet. Die Professoren mußten in ihren Vorträgen beweisen, daß reine Wissenschaft uns nichts lehren könne; in der Universität von Kasan wurden die Studenten mit Psalmensingen beschäftigt. Bücher, die selbst das Ministerium für Erziehung befürwortete, wurden von der Heiligen Synode auf den Index gesetzt. Kein Buch durfte erscheinen, bevor es nicht die amtliche Zensur passiert hatte; aber nach dem Erscheinen wurde es noch einmal von dem Überwachungskomitee der politischen Polizei überprüft, und dann wurden manchmal sowohl der Autor als auch der amtliche Zensor verhaftet und verschickt. Niemand war vor der Tätigkeit der politischen Polizei sicher. Gegen ihre Entscheidungen, Verhaftungen, Verschickungen gab es keine Berufung, selbst wenn aus Versehen eine falsche Person verschickt wurde. Es war keine Behörde da, um den Fall zu untersuchen und den Fehler wiedergutzumachen. Die Verschickung geschah ohne Gericht, auf administrativem Wege.

Doch während die intellektuelle Reaktion ihre Triumphe feierte, bemühte sich die Regierung darum, die Wirtschaft und damit das Bürgertum zu fördern. Sie organisierte Industrie-und Handelsausstellungen, richtete höhere Schulen ein, die die Kaufleute und Industriellen mit gebildetem Personal versorgen sollten. Eine Industriekammer wurde geschaffen, in der Vertreter der Bürgerschaft saßen. Aus der wohlhabenden Kaufmannschaft wurde von Amts wegen eine Zwischenschicht geformt, die sozial zwischen dem Adel und dem Rest des Volkes etwa auf der Stufe des mittleren Beamtentums stand. Ja, das Gefühl für die Notwendigkeit der materiellen Entwicklung war so stark, daß trotz der Überwachung der Universitäten, Schulen, Bücher, Gespräche, die Regierung fortfuhr, junge Leute zum technischen Studium ins Ausland zu schicken und ihnen nach der Rückkehr Professuren an den Universitäten einzuräumen. Es war der Regierung klar, daß Rußland nicht mehr ohne europäisch gebildete Wissenschaftler, Politiker, Verwaltungsbeamte auskommen konnte — man mußte nur ihre Tätigkeit beaufsichtigen.

Es waren nun diese europäisch gebildeten Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Denker, Philosophen, Schriftsteller, Publizisten, ja manche Industrielle und Kaufleute, die dieses Rußland in den Augen Europas als ein europäisches Land erscheinen ließen. Es war nur das reaktionäre Regime, das ihm ein etwas anderes Aussehen gab. Aber die Europäer, die so dachten, übersahen, daß die Russen selber, einschließlich dieser Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, so kühne und gründliche Denker darunter auch waren, andauernd beteuerten, daß sie nicht Europäer seien, und die Wesensverschiedenheit der europäischen und der russischen Kultur hervorhoben.

Selten wurde in einem Lande über das Wesen seiner Kultur, ihren Weg und ihr Ziel soviel diskutiert wie in dem Rußland des 19. Jahrhunderts. Aber so viele Schulen und Meinungen sich auch bildeten, keine einzige identifizierte Rußland mit Europa. Manche der europäisch gerichteten „Westler“ sprachen Rußland eine eigene Kultur ab, andere meinten, es wäre noch zu jung und hätte daher seine Kultur noch nicht voll entfaltet. Beide Gruppen verlangten daher, daß Rußland sich ohne Behinderung dem europäischen Geist öffne, um den Westen einzuholen. Die andere vorherrschende Richtung waren die „Slawophilen". Sie meinten, im Gegensatz dazu, daß die „Krankheit des Europäismus" überwunden werden müsse. Sie begrüßten die Verschiedenheit zwischen der europäischen und russischen Entwicklung, die darauf beruhe, daß Rußland dazu berufen sei, einen neuen, artverschiedenen Kulturtypus hervorzubringen. Der Kampf gegen die europäischen Herrschaftsbestrebungen habe kaum erst begonnen. Der Westen sei am Ende seiner Zivilisation, er sei steril geworden; der Osten, der um die slawische Einheit kämpft, werde eine tiefere harmonischere Zivilisation hervorbringen und so dem historischen Leben der Menschheit einen neuen Gehalt geben. „Die Propaganda der Tat“

Sogar Revolutionäre, Emigranten mit sozialistischen Ideen verbanden diese mit einer slawischen Mission, wie der in London lebende Alexander Herzen. Er sah die ganze europäische Entwicklung dem Kleinbürgertum als ihrer höchsten Stufe zustreben. Rußland allein hätte nicht den städtischen und ländlichen Mittelstand und wäre daher nicht von seiner Mentalität vergiftet. Es allein könne daher verhindern, daß die ganze Menschheit der bürgerlichen Weltordnung verfalle, statt die neue sozialistische Idee zu verwirklichen. Und mit echter panslawistischer Mystik erhoffte er, der in dem Zarenreich so verfehmt war, daß die bloße Bekanntschaft mit ihm zur Verschickung nach Sibirien genügte, die Verwirklichung des Sozialismus — von dem Zaren. Ja, sogar der Begründer des Anarchismus Bakunin erklärte, daß der Zar sich an die Spitze der revolutionären Volksbewegung stellen und damit der Retter und das Haupt der ganzen slawischen Welt werden müsse. Er, und er allein könnte in Rußland die ruhm-reichsteund segensreichste Revolution vollbringen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen.

Erst die nächste Generation, die nach der Bauernbefreiung aufgekommene Intelligenzia, die sich aus allen Volksschichten rekrutierte, erwartete nichts mehr vom Zaren. Die Revolutionäre dieser Generation nannten sich „denkende Realisten", die nichts „a priori" akzeptierten. Sie kannten die ausländischen Bewegungen und übernahmen viele Ideen, die sie nach russischen Prinzipien umbogen und für sofortige Anwendung in der Praxis zurechtlegten. Netschaew, einer der führenden Revolutionäre dieser Generation prägte für sie die Losung „Die Propaganda der Tat“. Ihr Ziel war, durch die Schrecken des Terrors eine soizalistische Revolution zu erzwingen. Aber wenn sie politische Umwandlung, industrielle Entwicklung und wissenschaftliche Bildung verlangten, geschah es auch nicht, um Rußland zu der westlichen Kulturstufe zu entwickeln, sondern um die bürgerliche Epoche des Kapitalismus und des Proletariats, die Lawrow „Das Geschwür des dekadenten Europa" nannte, zu überspringen.

Während sich nun der Polizeiterror und der revolutionäre Terror ein Duell lieferten, nutzte die Regierung die vorherrschende Abneigung gegen die europäische Entwicklung und das Gefühl, daß Rußland seinen eigenen, innerlich höheren Weg gehen müsse, aus, um, besonders in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine neue Welle von Reaktion, orthodoxem Klerikalismus und engem Nationalismus loszulösen. Das geschah gerade in der Zeit, als das Land dank des hereinströmenden ausländischen Kapitals sich in einer schnellen wirtschaftlichen Entwicklung befand.

Aber diese Entwicklung kam in der Hauptsache der dünnen Schicht des Mittelstandes zunutze. Die Bauern litten an Landmangel, die Arbeiter wurden ausgebeutet, und es waren die Bajonette und Gendarmen der Regierung, die den aufsteigenden Mittelstand aller politischen Schattierungen vor dem Volke schützten. Doch die Regierung förderte zwar den Mittelstand und erlaubte ihm, sich zu bereichern, aber sie gab ihm keine politischen Rechte, und so blickte er mit Neid nach dem Westen, wo er eine privilegierte Klasse bildete und die staatstragende Macht war. Er verlangte eine Konstitution nach dem westlichen Muster als einen legalen Schutz gegen die Übergriffe des Beamtentums, er verlangte Mitbestimmung an der Regierung des Landes, aber er war in der Majorität gegen Sozialreformen, die das Los der Bauern und Arbeiter verbessern würden, weil das auf seine Kosten geschehen müßte. Während er also den Schutz der Regierung gegen die revolutionäre Stimmung des Volkes suchte, spielte er diese Stimmung gegen die Regierung aus, um von ihr die Erfüllung seiner Aspirationen zu erzwingen.

Der Weg Lenins Als die Regierung sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der wachsenden revolutionären Bewegung bedroht fühlte, paktierte sie wirklich mit der Mittelklasse und gab 1905 eine Konstitution. Aber sie wußte, daß der Mittelstand keinerlei Verwurzelung im Volk und daher keine wirkliche Macht hatte, und begann sofort nach der allgemeinen Beruhigung die politischen Freiheiten und Konzessionen, die sie geben mußte, wieder zurückzunehmen. Dann kam der erste Weltkrieg. Er entfachte den Nationalismus, und die Regierung nutzte die patriotische Stimmung und den Kriegszustand, um das autokratische System wieder zu festigen. Die Duma — das russische Parlament — suchte die Reaktion dadurch zu parieren, daß sie die militärischen Niederlagen und die wirtschaftliche Desorganisation dem Volk als die Schuld des Regimes vorhielt. Sie hoffte, die Regierung durch das Gespenst der Revolution von neuem zum Paktieren zu zwingen, und dachte nicht daran, daß diese Revolution sich genauso gegen sie wie gegen die Autokratie wenden würde. Durch ihre eigene Phraseologie getäuscht, bildeten sich die Dumaabgeordneten ein, Führer des Volkes zu sein.

Als dann der erste Aufstand in Petersburg plötzlich ausbrach, dachten die Dumabgeordneten wirklich, daß, wenn sie sich an die Spitze der Bewegung stellten, die Massen ihnen gehorchen würden. Sie verständigten sich leicht mit den höheren Kreisen, mit den kommandierenden Generälen, mit dem Adel, daß die Duma nunmehr den Zaren ersetzen sollte. Aber sobald die symbolische Figur des Zaren verschwand, war die Gewalt in den Händen der Männer, die die Waffen hielten, und ihr Sprachrohr waren die Soldaten-und Arbeiterräte. Das Prestige der Duma beim Volk bestand nur in der Einbildung der Abgeordneten. Der Versuch, die Revolution in Rußland nach europäischen Ideen zu leiten, versagte kläglich.

Jetzt waren die Revolutionäre an der Reihe, die die bürgerliche Epoche überspringen wollten. Sie wußten, daß nach marxistischer Theorie eine sozialistische Revolution nur gelingen konnte, wenn hochindustrialisierte Länder sich an ihr beteiligten. Lenin erwartete Revolutionen im Westen und beschloß, die russische Revolution, als den ersten Schritt zu den anderen Revolutionen, ideologisch mit ihnen zu verbinden. Gegen den Widerstand seiner Mitarbeiter benannte er seine bolschewistische Fraktion in die „kommunistische Partei“ um. Dadurch sollte bei den europäischen Arbeitern die Vorstellung erweckt werden, daß seine Partei hier in Rußland für ihre Ziele kämpfe. In Wirklichkeit wußte er, daß eine Diktatur des Proletariats in dem russischen Bauernreich nicht aufgerichtet werden konnte, und so folgte er in seiner Taktik nicht Marx sondern dem russischen Revolutionär der sechziger Jahre Netschaew.

Netschaew verachtete das Volk. Er erklärte, es wäre roher Teig, der von Verschwörern nach ihrem Willen geknetet werden konnte. Die Revolutionäre sollten es nicht aufklären oder belehren, sondern müßten es nur zum Aufruhr aufwiegeln. Alle Mittel wären dazu recht: gefälschte Aufrufe im Namen des Zaren, Proklamationen im Namen vielleicht gar nicht vorhandener revolutionärer Organisationen, Versprechungen, die nicht erfüllt zu werden brauchten, Verhetzung. Er lehrte, daß Revolutionen von einer Handvoll entschlossener Männer gemacht werden konnten, falls sie sich der Staatsmaschine bemächtigten und die vorhandenen Institutionen nicht zerstörten sondern in ihrem Sinne umbogen. Das war der Weg, den Lenin ging.

Seine Bolschewiki waren immer eine sozialistische Minderheitsfraktion gewesen. Sie erhielten ihren Namen von ihren maximalistischen Forderungen auf dem sozialistischen Kongreß von 1903 in Brüssel. Nur ein einziges Mal, auf dem Delegiertenkongreß in London 1907, hatten sie mehr Delegierte als die Menschewiki, bildeten aber auch da keine absolute Mehrheit, weil kleinere Gruppen die Balance hielten. Selbst auf dem Allrussischen Kongreß der Sowjets im Juni 1917, also schon nach der ersten Revolution, als alle Parteien offen wirkten und die Bolschewiki am aktivsten tätig waren, gab es nur 105 Bolschewiki gegen 248 Menschewiki und 28 5 Revolutionär-Sozialisten. Aber während die anderen sozialistischen Fraktionen sich an die Beschlüsse des Kongresses hielten, gingen die Bolschewiki daran, sie durch direkte Propaganda in den Kasernen und Fabriken zu diskreditieren.

Die Prinzipien Netschacws Netschaew hatte gelehrt, daß, um Verschwörer zusammenzubinden, man sie gemeinsam verbrecherische Taten begehen lassen sollte. Und so forderten die Bolschewiki die Bauern auf, nicht auf die Beschlüsse und Erlasse der Sowjets zu warten, sondern sich sofort selber des Landes der Gutsbesitzer zu bemächtigen. Die Arbeiter sollten sofort die Kontrolle der Fabriken übernehmen, die Soldaten die Disziplin abwerfen und sich mit den Gegnern verbrüdern. In Petrograd selber verlangten sie einen sofortigen Gewaltstreich, um unter der Parole, das Protektorat vor Möglichkeit konterrevolutionärer Attacken zu schützen, sich der Zügel der Regierung zu bemächtigen. Bei ihrer Machtergreifung bestand die ganze bolschewistische Partei aus 50 000 Mitgliedern, von denen sich 35 000 der Partei neu angeschlossen hatten und nur 15 000 alte Bolschewiki waren. Aber während im Lande Anarchie und Chaos entstanden, wurde die Partei fest diszipliniert, und schon sechs Wochen nach ihrer Machtergreifung organisierte sie die Tscheka, die politische Polizei, die unter verschiedenen Namen bis auf den heutigen Tag die Sicherheit des Regimes verbürgt hat.

Als der Bürgerkrieg ausbrach, verteidigten die Bauern, die sich des Grund und Bodens bemächtigt hatten, die Massen der Deserteure, die militarisierten Arbeiterbrigaden ihr eigenes Leben, indem sie das Bolschewikiregime verteidigten. Netschaews Prinzipien hatten sich in der Praxis auf der ganzen Linie bewährt und sind seitdem die Basis des Sowjet-regimes geblieben. Statt der Diktatur des Proletariats wurde die Diktatur der Partei aufgerichtet. Das Zentralkomitee diktierte den Organisationsund politischen Büros, und diese diktierten der Partei, und die Tscheka breitete ihr Netz über das ganze Land aus. Was für Konzessionen jeweils den Bauern oder den Arbeitern, dem Heer oder eigenwilligen Parteifunktionären zugebilligt werden mußten, am Ende bezahlten die Männer, die die Konzessionen erzwangen, diese mit ihrem Kopfe. Säuberung nach Säuberung sorgte für die Erhaltung einer einheitlichen Befehlslinie. Netschaew hatte einen seiner nächsten Mitarbeiter, der selbständig zu denken wagte, töten lassen: die revolutionäre Spitze mußte nur einen . Willen, den seinigen haben. Jetzt war es der Wille des Parteisekretärs. Netschaew machte sich gefürchtet, indem er belastendes Material über alle Mitrevolutionäre sammelte — jetzt überwachte die politische Polizei nicht nur das Land sondern hatte auch Dossiers über die Spitzen der Partei. Aber wie weit konnte der politischen Polizei getraut werden?

Und so wurde noch eine besondere Kremlpolizei eingerichtet, die ihre Befehle direkt von Stalin erhielt. Die Früchte ihrer Tätigkeit waren, daß die allmächtigen Chefs der politischen Polizei: Jagoda, Jeshow, und schließlich auch Beria hingerichtet wurden.

Der westliche Geist blieb der Feind Lenins Hoffnung auf Revolutionen in Europa erfüllte sich nicht. Die Erwartung, daß das Sowjetreich durch freundliche proletarische Länder industrialisiert werden wird, erwies sich als ein Trugschluß. Rußland mußte also wieder wie das alte Moskowitien mit Hilfe ausländischer Kapitalisten von Staats wegen industrialisiert werden, nur daß jetzt in der Hauptsache Amerika zum Lehrmeister wurde. Es erhielt Konzessionen, sandte Spezialisten, lieferte Maschinen, half an dem Bau des Dnjeprostroj. an dem Aufbau der Automobilindustrie, an der Entwicklung der Petroleum-und Goldminenwerke. Da die Technik jetzt Riesenkonzerne und Mammutwerke bevorzugte, war von der Staatsindustrialisierung sogar besserer Erfolg zu erwarten, aber genau wie in dem Moskowiterreich vzaren die Ausländer nur dazu da, um ihre Kunstfertigkeit im Dienste des Kreml auszuüben. Von dem russischen Menschen mußten sie ferngehalten werden, um ihn nicht mit ihren Ideen und Lebensanschauungen anzustecken. Der westliche Geist war und blieb der Feind. Er war der zersetzende Geist des individuellen Denkens, der in das Land der Sowjets noch weniger hereingelassen werden durfte als in das Zarenreich.

Das russische Volk wurde belehrt, daß die kapitalistischen Länder nur die Vernichtung der Sowjetdemokratie anstrebten. Die mit westlichen Maschinen und westlichen technischen Kenntnissen errichteten Industriewerke wurden den Russen als die Antwort der Sowjetregierung auf die Ränke der Kapitalisten und Imperialisten gepriesen. Das russische Volk mußte für die ganze Welt die Errungenschaften der proletarischen Revolution wahren und verteidigen, es mußte bereit sein, alle Opfer zu bringen, damit Rußland die kapitalistischen Länder nicht nur einhole sondern überhole. Der Staat als der alleinige Industrieherr konnte das Entwicklungstempo beschleunigen, indem er die Früchte der Arbeit zurückhielt und wieder investierte, anstatt sie dem Volke zugute kommen zu lassen. Der Lebensstandard müße darum auf dem Niveau des Existenzminimums gehalten und von dem Arbeiter trotzdem eine immer größere Leistung verlangt werden. Also brauchten die Sowjets ein ideologisches Ziel, das stark genug war, die geforderten Mühen und Entbehrungen zu rechtfertigen. Dieses ideologische Ziel fanden die Sowjets in der alten russischen Missionsidee, die von der christlich-byzantinischen in eine proletarisch-marxistische umgewandelt wurde. Rußland war das Land des Kommunismus, Rußland war das verheißene Land des Proletariats, also wurden die Proletarier dort nicht ausgebeutet, sondern brachten ein freiwilliges Opfer für das sozialistische Vaterland.

Dieses Bild des kommunistischen Rußland mußte aber auch dem Ausland gegenüber erhalten werden, für das es ja ursprünglich geschaffen worden war, um dort Anhänger zu werben. Wenn jedoch intellektuelle Kommunisten wie Romain Rolland, Panait Istrati usw. nach Rußland kamen, sahen sie den Widerspruch zwischen dem bolschewistischen Regime und den kommunistischen Ideen und entlarvten es nach der Rückkehr in ihre Heimat. Also griffen die Sowjets den ausländischen Reisenden gegenüber auf die bewährten Methoden des Moskowitischen Reiches des 16. Jahrhunderts zurück, um sie nur das sehen zu lassen, was tunlich war, und sie von jeder Berührung mit der Wirklichkeit zu bewahren. Die Anhänglich-keit dr kommunistischen Parteien des Auslands konnte man sich auch durch Direktiven, von deren Befolgung die Subsidien abhingen, und durch die Schulung der Funktionäre sichern. -

Seit Jahrhunderten verwurzeltes Kollektivbewußtsein So wurde die kommunistische Flagge nach außen und innen vorgehalten. Sie gab dem Regime nach außen hin das Prestige der internationalen revolutionären Führung, während im Innern, wo die Menschen keine Vergleichsmöglichkeiten hatten, in den jungen Russen der Stolz erweckt wurde, ein Vaterland aufzubauen, zu dem die Proletarier aller Länder angeblich als dem fortschrittlichsten Land der Welt aufblickten. Der Russe sah den Aufbau, die technischen Errungenschaften, und obgleich er persönlich nichts davon hatte, es war seine Kollektivleistung, die alles schuf.

Dieses in der russischen Psyche seit Jahrhunderten verwurzelte Kollektivbewußtsein wurde von den Sowjets dazu benutzt, um den Individualismus zu bannen. Die Idee von Rußlands Ausschließlichkeit wurde in dem Zarenreich damit begründet, daß Rußland dazu bestimmt war, einen neuen, höheren Kulturtypus zu entwickeln. Und so erklärten die Sowjets, daß dieser höhere Typus bereits da war: der Sowjetmensch, der nicht aus niederen egoistischen Instinkten handelte, wie die bürgerlichen Menschen in dem kapitalistischen Westen, sondern aus einem höheren Kollektivbewußtsein. Dieser Mensch hatte erkannt, daß das Wohl der Gemeinschaft höher steht als sein eigenes Ich und war bereit, sich dafür zu opfern.

Individualist sein, etwas besseres für sich zu wollen, wurde nicht nur als verwerflich sondern geradezu als Verbrechen gebrandmarkt, weil es zur Lockerung der Disziplin und Hinderung der Kollektivanstrengung führte.

Jedes individualistische Denken war ein Überbleibsel bürgerlicher Anschauungen und spielte in die Hände der Reaktionäre; es mußte ausgerottet werden.

Damit wurde die ideelle Grundlage für die periodischen Anklagen, Säuberungen und öffentlichen Kasteiungen der Sowjet-Wissenschaftler, -Dichter und -Künstler gegeben. Sie sollten daran gehindert werden, aus Unachtsamkeit in die Barbarei des niedrigeren, überwundenen Niveaus der westlichen Anschauungen herabzusinken. Damit wurde auch die Behauptung, daß die Sowjets den westlichen Geist fürchteten, als eine böswillige Lüge entlarvt. Sie schlossen ihn aus, weil er wertlos und moralisch degradierend war. Die geistige Autarkie wurde zur Tugend erhoben, sie war notwendig zur Erhaltung des errungenen Fortschritts. Die westliche Wissenschaft stand tiefer als die marxistische, die westliche Kunst war eine dekadente Kunst des Verfalls. War es in dem zaristischen Rußland nur der Glaube, der durch die Berührung mit dem Westen Schaden erleiden konnte, so wurde der Westen jetzt in Sowjetrußland zu einer Bedrohung auf allen geistigen und kulturellen Gebieten erklärt.

Umwertung der Werte Ein Widerspruch mußte noch beseitigt werden? Rußland hatte so lange als ein technisch und wissenschaftlich rückständiges Land gegolten, wie konnte der fortschrittlichste Mensch der Welt hinter Europa zurückgeblieben gewesen sein? Also wurde erklärt, daß alle Erfindungen etwa vom Blitzableiter bis zum Flugzeug in Wirklichkeit von Russen gemacht aber von dem Westen gestohlen und kapitalistisch ausgebeutet worden waren. Die angebliche Rückständigkeit der Russen wurde damit ebenfalls als eine Lüge entlarvt, als ein Versuch der westlichen Imperialisten, Ruß-land nicht nur wirtschaftlich sondern auch geistig auszubeuten.

Diese Umwertung der Werte änderte die Situation. Wenn Ausländer mit Russen ins Gespräch kommen wollen, ist es, um Rußlands Fortschritte auszuspionieren und zu stehlen. Wenn Russinnen Ausländer heiraten, ist es Verrat. Sie dürfen ihr Land nicht verlassen, denn alles, was sie vielleicht in voller Unschuld draußen erzählen werden, wird zum Schaden der Sowjetdemokratie ausgenutzt. Bei dieser Einstellung ist es sinnlos zu glauben, daß ein Austausch von Professoren, Gelehrten, Studenten einem besseren Verständnis zwischen den Völkern dienen könnte. Es wird niemand herauskommen dürfen, der nicht von der Überlegenheit der Sowjets überzeugt ist, und der nicht weiß, daß alles, was ihm in Europa gezeigt wird, nur eine Schaustellung ist, die nicht der Wirklichkeit entspricht; und wer sich trotzdem einfangen läßt, wird nicht wie im 17. Jahrhundert Verräter heißen, sondern gar nicht dazu kommen, seine Ansichten zu Hause zu erzählen. Russische Sportmannschaften, Schach-meister usw., die nach dem Westen kommen, tun es nur, um die russische Überlegenheit zu demonstrieren. Gelingt ihnen das nicht, so haben sie ihre vaterländische Pflicht nicht erfüllt; es ist ausgeschlossen, daß der Westen besser sein kann, sie waren schlecht.

Das ist nichts neues, das ist nur eine ausgebaute und konsequent zu Ende geführte Einstellung Rußlands Europa gegenüber. Als Rußland von der orthodoxen zur revolutionären Autokratie wechselte, zerstörte es nicht die alten Einrichtungen und Ansichten sondern bog sie nur, treu nach Netschaews Prinzipien, in ihrem Sinne um und gebraucht die alten Methoden und Lehren weiter für seine Zwecke, nur mit neuer wissenschaftlicher Gründlichkeit. In Rußlands Geschichte wanderten seine Hauptstädte und jede Hauptstadt war symbolisch für seinen Charakter. Das genußfrohe europäisch-byzantinische Kiew wurde von dem selbstgenügsamen autokratisch-hochmütigen Moskau ersetzt. Als Iwan der Schreckliehe durch die Eroberung von Kasan die Erbschaft der Mongolenchane antrat, kam die Frage der Verlegung der Hauptstadt nach der Wolga auf; Peter der Große schob sie statt dessen an die Grenzen Europas, um seine Herrschaft nach Europa auszudehnen. Die Revolution machte den Kreml wieder zum Herrschersitz, und die Züge, die sich jetzt in Sowjetrußland zeigen, offenbaren das historische Gesicht des alten Moskowitiens, nur daß es jetzt statt des Zeichens des Kreuzes den Stempel des Hammers und der Sichel trägt. Was vor Jahrhunderten aus Mystik, aus Aberglauben, aus primitiven Trieben geschah, wird jetzt mit kalter wissenschaftlicher Logik angewandt.

Rußland hat die Renaissance nie erlebt Der Bau von Petersburg in den finnischen Morästen hatte Zehntausende von Menschenleben gekostet, die Turksibbahn und andere derartige Staatsunternehmungen sind auf den Knochen von ebenso vielen Zwangsarbeitern errichtet worden. Damals starben die Mushiks, jetzt die Kulaks, die Intellektuellen und ähnliche „Feinde des Volkes“. Als einmal, im Zusammenhang mit den Sowjetexporten die Frage der Zwangsarbeit und der Arbeitslager angeschnitten wurde, meinte Molotow: „Das hat nichts mit den Exporten zu tun. Wir haben es in der Vergangenheit getan, wir tun es jetzt, und wir werden es in Zukunft tun. Es ist im Interesse der Gesellschaft, und es ist auch gut für die Sträflinge, weil es sie an die Arbeit gewöhnt und sie zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft macht“. Das individuelle Schicksal und das individuelle Leiden war nach alter russischer Auffassung immer belanglos. Europa hat in der Renaissance die individuelle Entwicklung zu einem seiner Ideale gemacht, Rußland hat die Renaissance nie erlebt. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts hat die persönliche Freiheit aufs Schild gehoben, der Russe hat bestenfalls die Kollektivfreiheit gekannt; er kennt die persönliche Freiheit nicht und kann sie daher nicht schätzen. Lind die ganze bürgerliche Entwicklung ist gerade die Epoche, die zu überspringen Rußland entschlossen war.

Das bedeutet natürlich nicht, daß die Sowjetunion nun dreihundert Jahre zurückgegangen und zu Moskowitien geworden ist. Eine derartige Auslegung wäre falsch-. Die Geschichte wiederholt sich nicht in dieser Weise. Die Sowjets benutzten nur die Methoden und Wege Moskowitiens für ihre neuen Zwecke und Ziele. Es ist ein neues Gewächs, das sich jedoch aus den alten Wurzeln nährt, und wenn es dem Westen fremdartig vorkommt, er braucht nur zu den Wurzeln zurückzugehen, um sein Wesen zu verstehen. Die ganze Geschichte Rußlands hat sich seit der Mongolenzeit nicht nach europäischen Grundlagen und Idealen vollzogen, und diese Verschiedenheit von Europa hat ihm stets eine politische Einstellung zu dem Westen gegeben, die unmöglich wäre, wenn Rußland sich als einen Teil Europas und innerlich als dazugehörend gefühlt hätte. Um diese traditionelle Politik Rußlands Europa gegenüber, und ihre besondere Sowjetabart zu begreifen, muß man sie also ebenfalls in ihrem geschichtlichen Ablauf untersuchen.

Rußlands traditionelle Außenpolitik

Die mongolische Lawine im 13. Jahrhundert, die das Kiewer Rußland vernichtete und die Nordrussischen Fürstentümer in eine Provinz der Goldenen Horde verwandelte, hatte einzig das Nowgoroder Gebiet im äußersten Nordwesten unberührt gelassen, und sofort landeten die Schweden, rüsteten sich die Deutschritter im Bunde mit den Litauern gegen die freie Handelsstadt. Der junge Fürst Alexander siegte mit seinen Nowgoroder Aufgeboten zuerst über die Schweden an der Newa und dann über die Deutschritter auf dem Eise des Peipus Sees. Als der Papst ihn zum Katholizismus zu bekehren suchte und ihm dafür die Hilfe der westlichen Heere gegen die Mongolen versprach, lehnte er das Angebot hochmütig ab: als Schützling des Chans brauche er keine Hilfe. Jeden Einfall des Westens beantwortete er mit Gegenschlägen und furchtbaren Verwüstungen; dem Osten aber war er ein treuer Vasall, zog mit den Mongolen gegen seinen eigenen Bruder, der sich unbotmäßig zeigte, strafte hart seine Nowgoroder, weil sie sich gegen die mongolische Kopfsteuer empörten, und fuhr immer wieder in die Wolgasteppe zu dem Chan, um durch seine Ergebenheit Strafexpeditionen von russischen Fürstentümern abzuwenden. Als er starb, wurde sein Tod als ein nationales Unglück betrachtet. Er gilt als der Schutzheilige Rußlands. Peter der Große läßt seine Überreste aus Wladimir nach dem neuerbauten Petersburg bringen, Katharina I. gründet einen Alexander-Newski-Orden, Katharina II., Paul, Alexander I. feiern alljährlich sein Fest mit allem Pomp und aller Pracht. Und wenn Stalin 1942 neue Militärorden schafft, ist einer von ihnen der Alexander-Newski-Orden. Es ist, als ob alle Herrscher in Petersburg oder im Kreml bezeugen wollten, daß ihr Ruß-land durch Siege über den Westen aus Asiens Reich erstanden ist.

Dreifacher Erbschaftsanspruch Zuerst bleibt Rußland für zweieinhalb Jahrhunderte kaum mehr als eine mongolische Provinz, aber sobald es sich aus seinem Zustand der Abhängigkeit löst, stellt Moskau einen dreifachen Erbschaftsanspruch. Sein Großfürst war ein Nachkomme der Kiewer Großfürsten der vormongolischen Periode und verlangte daher als sein warägisches Erbe alle Länder zurück, die jemals Kiews Befehlen gehorcht hatten und inzwischen litauisch oder polnisch geworden waren. Ferner war er, nach dem Fall von Byzanz, der einzige unabhängige Herrscher der orthodoxen Oekumene, hatte die byzatinische Prinzessin Sophie Paleologue geheiratet, und beanspruchte als das byzantinische Erbe die Oberherrschaft über alle „rechtgläubigen Christen“, ob sie in Litauen, Galizien oder auf dem Balkan lebten. Und schließlich als Zar betrachtete er sich als den legitimen Erben der Chane der Goldenen Horde in ihrer Herrschaft über die tatarischen Völker und Stämme Nordasiens. Dieser im 15. Jahrhundert erhobene dreifache Anspruch bildet seitdem die Grundlage der russischen Politik; aber wenn Moskau seine Ansprüche auch sofort anmeldete, die Forderung auf ihre Erfüllung stellte es nur, wenn die Konstellation der Kräfte ihm günstig erschien.

Es dachte nicht daran, sich von Europa in einen Krieg gegen den mächtigen türkischen Sultan hineinziehen zu lassen, sondern schloß im Gegenteil mit dessen Vasall, dem Krim-Chan, ein Schutz-und Trutzbündnis, das den russischen Kaufleuten die früher italienischen aber nunmehr türkischen Häfen am Asowschen und Schwarzen Meer öffnete. Erst im 18. und 19. Jahrhundert, als die Türkei schwach und Rußland stark geworden war, wurden die byzantinischen Ansprüche zum Anlaß für einen Druck auf die Hohe Pforte und die vielen russisch-türkischen Kriege. Noch im ersten Weltkrieg verlangte der Zar Nikolaus II. von Frankreich und England die Anerkennung von Rußlands Recht auf Konstantinopel, und sofort nach dem zweiten Weltkrieg stellten die Sowjets an die Türkei die Forderung der gemeinsamen militärischen Überwachung der Dardanellen.

Den warägischen Anspruch machte Moskau sofort geltend. Die Gesandten Iwans III. hatten die Anweisung, an allen Höfen zu erklären: „Das ganze russische Land von alters her ist unser Erbland“, und dem Krim-Chan beteuerten sie, daß zwischen Moskau und Litauen es wohl Waffenstillstände geben könne aber keinen Frieden, ehe Moskau sich nicht alle rusischen Länder zurückgeholt habe, die unter Litauens Herrschaft stünden. So schwere Niederlagen das Ringen um die Erbschaft Moskau auch brachte, es dauerte bis ins 18. Jahrhundert an, bis schließlich das nicht mehr moskowitische sondern schon imperialistische Ruß-land Sieger geworden war, und dieses begnügte sich dann nicht mehr mit den alten russischen Ländern, sondern nahm sich dazu ganz Litauen und Teile Polens.

Der mongolische Erbschaftsanspruch gab Moskau die ganze Ausdehnung Asiens fast ohne Kampf. In kaum mehr als einem halben Jahrhundert hatte es seine Ostgrenze an die Ufer des Stillen Ozeans verlegt und China am Amur-Fluß erreicht. Es war dieser Herrscher Asiens und Erbe der mongolischen Chane, dem die sibirischen Häuptlinge huldigten und ihre Tribute zahlten, zu dem die Gesandschaft des Großmoguls Babur aus Indien aufbrach, dem der Schah von Persien, Abbas der Große, seine Freundschaft beteuerte; und als der erste russische Gesandte um 1656 am Hofe von Peking erschien, wurde ihm der Empfang beim Kaiser von China verweigert, weil er nicht zugeben wollte, daß sein Zar ein Vasall des Kaisers sei, wie es die Chane der Goldenen Horde gewesen waren.

So stellte sich Rußland mit seinen drei Erbschaftsansprüchen in die Mitte zwischen Europa und Asien, nach beiden ausgreifend und von beiden beeinflußt, aber zu keinem von ihnen gehörend. Gegen Europa hatte es um jeden Fußbreit zu kämpfen, Europa versperrte ihm den Weg nach dem nahen Orient, den es auf Grund seines byzantinischen Anspruch als sein natürliches Ziel betrachtete; in Asien wurde seine legitime Herrschaft anerkannt, und es benutzte später seine Stellung in Asien, um dort die Interessen seiner europäischen Gegner zu treffen.

Der Gegensatz zu Europa kam im 16. Jahrhundert auf, als der neue atlantische Handelskreislauf auch Osteuropa mit einzubeziehen begann, als polnisches und litauisches Getreide und schwedisches Holz und Eisen, wichtige Artikel auf den Märkten von Amsterdam und London wurden. Moskau schickte sich auch an, die Konjunktur auszunutzen, aber da fand es sich vor einer geschlossenen Barriere. Der Weg nach der Ostsee führte durch das Gebiet des livländischen Ordens, und alle aus Rußland kommenden Waren mußten dort umgeladen und verzollt werden. Die Ostsee-häfen wurden den Russen nach Gutdünken geöffnet oder wieder geschlossen; die Russen durften ihre Waren nur an Livländer verkaufen, die sich an dem Zwischenhandel bereicherten und nicht nur die russischen Exportpreise sondern auch Rußlands Import kontrollierten und die Durch-fuhr von Artikeln verboten, die Moskau am meisten begehrte: vor allem Waffen, Munition und anderes Kriegsmaterial.

Jetzt war die europäische Waffentechnik Asien überlegen, aber als Iwan der Schreckliche Techniker und Waffenmeister in Deutschland anzuwerben suchte, erwirkte der livländische Gesandte bei Kaiser Karl V. ein Ausreiseverbot für die Angeworbenen, indem er ihn anflehte, das Ordens-gebiet „vor der großen und furchtbaren Macht des Moskowiters zu retten, der voller Gier ist, sich Livland anzueignen und die Herrschaft auf der Ostsee zu gewinnen, was unabweislich die Unterjochung aller umliegenden Länder: Litauens, Polens und Schwedens zur Folge haben werde“.

So begann bereits im 16. Jahrhundert der Kampf um den Zugang zur Ostsee, der zuerst zu dem völligen Zusammenbruch Moskowitiens führte. Aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm Peter der Große ihn wieder auf, brach in einem zwanzigjährigen Krieg Schwedens Vormacht — und machte sofort aus der Frage des Zugangs zur Ostsee, die Frage der Herrschaft über die Ostsee. Durch ihn bekamen die europäischen Mächte zum ersten Male zu spüren, daß die russische Politik nicht der Linie der europäischen Politik folgt. Die europäischen Mächte kämpften um die Verschiebung einer Grenze, um eine zwischen ihnen liegende Provinz, um die Erbschaftsansprüche der miteinander rivalisierenden Dynastien. Die großen Gewinne lagen für sie in Übersee, in den Kolonialgebieten, die Handel und Reichtum verhießen und später als Rohstoffquellen und Absatzmärkte an Bedeutung noch gewannen.

Peter dagegen schickte seine Truppen sofort nach Norddeutschland und quartierte sie auf den Adelsgütern und in den Städten Mecklenburgs ein, wo sie Umlagen ausschrieben und eintrieben. Er hatte eine seiner Nichten mit dem Herzog von Mecklenburg verheiratet, und alle dem Herzog unliebsamen Personen verschwanden nacheinander im Kerker. Er wollte eine seiner Töchter mit dem Herzog von Holstein verheiraten und gleich einen Kanal durch Schleswig bauen, der seinen russischen Schiffen einen freien Zugang auch zur Nordsee öffnen würde. Er begriff nicht, daß die deutschen Fürsten und Stände sich von seinen Handlungen getroffen fühlten, daß sogar seine Freunde und Verbündeten die Zurückziehung seiner Truppen aus Europa verlangten. Es war doch Rußland, und Rußland allein, das Sachsen gerettet, Preußen die Odermündung, Dänemark Schleswig, Hannover Verden und Bremen gegeben hatte; und nun bemühten sie sich alle, Frieden mit seinem Feinde Schweden zu schließen. England erklärte ihm, daß es die Vernichtung Schwedens nicht erlauben könne, und die Niederlande, daß sie ihre Ostseeinteressen gegen ihn schützen werden.

In seiner Empörung war er bereit, ein Militärbündnis mit dem von den Seemächten gerade besiegten Frankreich zu schließen, um den von Frankreich bisher protegierten Stuart auf den englischen Thron zu setzen.

Aber selbst Frankreich riet ihm nur, seine Truppen aus Deutschland zurückzuziehen.

Peter sah in diesem Verhalten der europäischen Mächte nichts als böswillige Intrigen, die Rußland um die Früchte seines Sieges betrügen und die ihm gebührende Stellung in Europa verwehren sollten. Sieger sein, das bedeutete doch, nach Belieben schalten und walten zu können, und nun hielt man ihm vor, daß das Regime, das seine Soldaten einführten, der Tradition widersprach und die Empfindungen der Leute verletzte. Was bedeuten schon die Unannehmlichkeiten, die diese Leute erlitten im Vergleich mit dem, was das russische Volk selber hatte ertragen müssen, bis er imstande war, Schweden zu schlagen. Falls Europa sein Rußland als einen Fremdkörper empfand, der in das europäische Gewebe eindrang und seine Funktionen störte, so wird es sich eben daran gewöhnen müssen. Er rühmte von seinem Werk in Rußland, er habe „alles durch den Zwang geschaffen", er wird also auch Europa seinen Willen aufzwingen müssen.

Der Beginn des russischen Imperialismus Diese Europapolitik Peters war etwas Neues. Er hatte Rußland zu einer starken Militärmacht gemacht und es dadurch vor dem Schicksal Polens, ein Spielball seiner Nachbarn zu werden, bewahrt. Er hatte Rußland vor dem Schicksal der asiatischen Reiche, als Kolonialgebiete zu dienen, gerettet. Unter ihm war Rußland eine Eroberermacht geworden, und so sollte es selber Kolonien bekommen, die ihm Handel und Reichtum brachten. Aber Kolonien, das bedeutete für Rußland nicht überseeische Gebiete mit Rohstoffen und Absatzmärkten, diese hatte es selber zur Genüge. Kolonien, die Rußland brauchte, mußten ihm das geben, was es nicht hatte: Technik, administrative Kenntnisse, Handelsbeziehungen zu den Industrieländern. Da es sich selber als ein nichteuropäisches Reich empfand, konnte es diese Kolonien in Europa haben. Es hatte den Schweden Livland und Estland entrissen, Länder mit einer sprachlich und kulturell fremden Bevölkerung, die von Rußland niemals assimiliert werden konnte, aber darauf kam es auch gar nicht an. Diese Länder waren Europas Barriere gegen Rußland gewesen, jetzt verleibte Rußland sie ein, um sie zu seiner Pforte nach Europa zu machen.

Das war der Beginn des russischen Imperialismus Europa gegenüber. Der russische Imperialismus ist ein völlig anderer als der europäische. Als eine Kontinentalmacht interessierte sich Rußland nie für überseeischen Besitz. Noch im 19. Jahrhundert, als die Russisch-Amerikanische Kompanie nach dem Pazifik ausgriff und Stützpunkte an der amerikanischen Küste des Stillen Ozeans und auf den Hawai Inseln errichtet hatte, konnte sie keine Unterstützung der Regierung für ihre Kolonialpolitik bekommen. Obgleich die nach dem Pazifik vordringenden Vereinigten Staaten republikanisch waren, schätzte das zaristische Rußland das gute Einvernehmen mit ihnen, als einer ebenfalls nichteuropäischen Macht, höher ein, und ließ sich leicht dazu bewegen, kalifornische und andere Stützpunkte zu räumen und sogar Alaska zu verkaufen. Kolonien, die es begehrte, mußten an seinen Grenzen liegen. Die Kontinentalmacht wollte wachsen, indem sie ihre Grenzen hinausschob. Jedes Gebiet, in dem sie Fuß faßte, sollte als ein Keil zum weiteren Vordringen dienen.

Wenn es sich um entfernte asiatische Gebiete handelte, so mußte das neuerworbene Land gegen die Überfälle der Nachbarländer dadurch geschützt werden, daß man die Hand auch auf die Nachbarn legte. Handelte es sich um die Türkei oder um Polen, so machte sich Rußland zum Protektor irgend einer Minderheit, garantierte die Verfassung oder sorgte für die Schaffung eines autonomen Gebietes, dessen Protektorat es bald übernahm. Das Ziel war, sich in die inneren Angelegenheiten des schwachen Nachbars hineinmischen zu können, um ihn Rußlands Willen zu unterwerfen und sich dann dem neuen Nachbar zuzuwenden. Da die imperialistischen Bestrebungen sich in ihrer Haupttendenz gegen Europa richteten, war das die Methode, durch die Rußlnad in die westliche Welt hineinwuchs. Peter hatte aus der Frage des Handelszugangs zu der Ostsee, die Frage der Beherrschung der Ostsee gemacht. Im 18. Jahrhundert verleibte Katharina Kurland ein. Im 19. Jahrhundert nahm Alexander I. sich Finnland dazu, so daß nunmehr die ganze Ostküste des Meeres russisch wurde. Wenn der erste Weltkrieg die russische Westgrenze auch fast auf die Linie zurückwarf, von der aus Peter seinen Vormarsch angetreten hatte, als den Preis des zweiten Weltkrieges nahmen sich die Sowjets Königsberg und etablierten zugleich ihre Truppen in Stettin und auf Rügen in direkter Fortsetzung der imperialistischen Politik.

Schiedsrichter in Europa Es war Europas eigene Schuld, daß diese Politik Erfolg hatte. Nach Peters Tode zog sich Rußland erschöpft in sich zurück, aber die miteinander rivalisierenden westlichen Großmächte suchten es durch Bündnisse, Versprechungen, Subsidien, Bestechungen der Würdenträger in ihre Kriege mit hineinzuziehen. Seine Bajonette dienten England gegen Frankreich und Preußen, dann Frankreich und Österreich gegen Preußen, und schließlich war es Preußen, daß ein Bündnis mit ihm gegen seine Feinde suchte. Rußland lernte schnell, welche Vorteile ihm die Feindschaft der europäischen Mächte untereinander bot und formulierte seine Ziele danach. Der Großkanzler Bestushew erklärte ganz offen, daß es Rußlands Aufgabe sei: „das Gleichgewicht in Europa zu halten, Europa zu gebieten und ihm Gesetze vorzuschreiben". Die europäischen Mächte waren sich dieser Ziele voll bewußt. Friedrich der Große schrieb 1768 in seinem politischen Testament: „Welch einem Wahnsinn zufolge trägt das verblendete Europa zu dem Aufstieg einer Nation bei, die ihm eines Tages verderblich werden kann?“ Er war sich klar, daß Rußland die Zwistigkeiten zwischen Österreich und Preußen ausnutze: „und stark durch unsere Schwäche sich eine Gewalt und Macht anmaße, die zu vermindern künftig schwer fallen wird.“ Aber diese Erkenntnis veranlaßte ihn nicht, seine Politik gegen Österreich zu ändern, noch hinderte sie ihn daran, drei Jahre später, Rußland zur Teilung Polens anzuspornen. Das Zaren-reich erwies sich als ein gelehriger Schüler: die zweite Teilung Polens war bereits zum großen Teil sein eigenes Werk, und bei der dritten spielte es schon Preußen und Österreich geschickt gegeneinander aus.

Doch für das große Ziel, die bestimmende Macht in Europa zu werden, bedurfte es einer größeren europäischen Erschütterung, wie der Napoleonischen Kriege.

Alexander I. spielte den Retter und Schiedsrichter Europas. Er gewann die Franzosen, als den zweitnächsten Nachbar hinter Österreich und Preußen, durch die Erklärung, daß Frankreich nicht als Feind behandelt werden dürfe, die Alliierten nicht als Eroberer kämen und das konstitutionelle Regime erhalten werden solle. Er gründete die „Heilige Allianz“, um die Monarchen zur Bekämpfung aller revolutionären Bewegungen auf internationaler Basis zu verbünden, aber er tadelte Ferdinand VII. wegen der Widerrufung der spanischen Konstitution. Doch als ein so guter Europäer er sich auch gab, er vergaß dabei nicht, eine schatfe Trennung zwischen Europa und Rußland zu machen. In Rußland durfte keine Rede von irgendwelchen Reformen sein, Polen aber gab er unter seinem Szepter eine Konstitution, die fortschrittlicher als die meisten europäischen war. Die Wahlberechtigung war auf weitere kreise ausgedehnt als selbst in Frankreich, die offizielle Sprache war polnisch, zivile wie militärische Dienststellen waren für Polen reserviert. Erst als er im polnischen Parlament, statt Dank zu ernten, auf nationale Aspirationen stieß, als die Schlachta, die nicht mehr die führende Rolle hatte, sich gegen die Fremdherrschaft wandte, da begannen die Verbote der Parlamentssitzungen, Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Rußland war nicht gesinnt, an seiner Türschwelle einen rebellischen Vasallen zu dulden, der nicht begriff, daß schon sein Status als Vasall eine besondere Zarengnade war und statt ihm als das europäische Fenster zu dienen, die Gefühle Europas gegen Rußland aufhetzte.

Ablenkung in Asien Und wie Polen war ganz Europa eine Enttäuschung. Die Erwartung, ihm nun autokratisch diktieren zu können, erfüllte sich nicht. Es erwies sich bald, daß Rußland nur im Einvernehmen mit den Ostmächten Preußen und Österreich handeln konnte, und so mußte es, statt seine eigenen Interessen zu verfolgen, auf die ihrigen Rücksicht nehmen. Die Balance der Mächte wurde nicht von Rußland sondern von England gehalten, und England schränkte Rußlands Handlungsfreiheit noch mehr ein. Also suchte Rußland, da Europa ihm zu große Hindernisse entgegenstellte, nach Peters Rezept, eine Ablenkung in Asien zu schaffen.

Als Peter der Große seine Truppen aus Deutschland hatte zurückziehen müssen, begann er einen Feldzug gegen Persien am Kaspischen Meer, um dank seiner kürzeren Landverbindungen den persischen Handel der Seemächte nach Rußland herüberzuziehen. AIs jetzt im 19. Jahrhundert Rußland sich besonders durch England beeinträchtigt fühlte, fing es einen persischen und dann einen türkischen Krieg an, um dort die englischen Interessen zu treffen. Es brachte Persien in seine Abhängigkeit, indem es dem Schah den Schutz gegen rebellische Vasallen garantierte, und der russische Gesandte in Teheran wurde allmächtig, russische Konsulate öffneten sich in den wichtigen Städten Persiens. Dem türkischen Sultan garantierte es angeblich die Unantastbarkeit des türkischen Territoriums, und der Vertrag von Unkiar Skelesi machte die Türkei geradezu zu einem russischen Protektorat. England fühlte sich in seinen Handelsbeziehungen in ganz Vorderasien bedroht und mobilisierte die europäische Meinung, Rußland fürchtete sich, den Bogen zu überspannen und willigte ein, daß die Integrität der Türkei zu einer Garantie der fünf Großmächte wurde, denn es wollte sich nicht gegen Europa stellen, da es die Möglichkeit sah, bald seine Tätigkeit in Europa wieder aufnehmen zu können.

Die Revolutionen von 1848 schienen es von der Rücksichtnahme auf die Interessen seiner Nachbarn zu entbinden. Der Zar hatte die Einheit Österreichs durch die Niederwerfung der ungarischen Revolution gerettet. Preußen und Österreich lagen im Streit um die Frage der Hegemonie in Deutschland. Die Zeit war also gekommen, um den verlorenen Einfluß auf dem Balkan wieder zu gewinnen — und so stolperte Rußland in den Krimkrieg hinein. Wieder, wie zu Peters Zeiten, fand es plötzlich das Gefühl von ganz Europa gegen sich gerichtet. Sogar Österreich, das ihm doch ewig zu Dank hätte verpflichtet sein müssen, drohte ihm mit einer Kriegserklärung. Es war isoliert. Statt auf dem Balkan vorzudringen, wurde es von dort hinausgedrängt. Der Nimbus seiner Militärmacht war zerstört und seine Schwäche vor der ganzen Welt enthüllt. Es mußte von neuem um seinen Einfluß in Europa zu kämpfen beginnen, und es konnte das nur noch auf diplomatischem Wege tun.

Also begann es, kaum daß die Wunden, die der Krimkrieg ihm geschlagen hatte, verheilt waren, einen militärischen Aufmarsch in Zentralasien. Dieser Aufmarsch, der mit der Eroberung entlang der Flußläufe des Syr-darja und Amu-darja begann, brachte die russischen Heere in die Nähe von Afghanistan. Jetzt erstreckten sich die englisch-russischen Gegensätze vom Balkan bis zum Pamir, und je tiefer in Asien sie sich trafen, desto vorteilhafter war die Stellung Rußlands. England begann um seine Herrschaft in Indien zu fürchten und stellte 1869 die direkte Frage nach den Zielen und Zwecken des russischen Vormarsches.

Rußland hätte gern seine Position in Asien zu Kompensationszwecken auf dem Balkan benutzt, aber seine diplomatische Campagne, die während der ganzen Zeit in Europa weiterging, war ein Fehlschlag gewesen. Seine Versuche, Frankreich und dann Preußen für sich zu gewinnen, brachten nur seinen jeweiligen Verbündeten Vorteile. Statt sich einen Weg nach Europa zu öffnen, mußte Rußland zusehen, wie ein mächtiges Deutsches Reich an seiner Westgrenze entstand, das jeder Einmischung in deutsche Angelegenheiten ein Ende setzte. Rußland versuchte eine Verständigung mit Österreich zu erreichen, aber das Ergebnis war, daß die Früchte eines neuen russisch-türkischen Krieges nicht Rußland, sondern Österreich zufielen. Und dann formte sich der deutsch-österreichische Zweibund, der eine unübersteigbare Barriere zwischen Rußland und Europa aufrichtete, und außerdem waren Österreichs Interessen ebenfalls nach dem Balkan gerichtet. Zum ersten Mal fand Rußland, daß in Europa und in Asien ihm verschiedene europäische Mächte entgegenstanden, und es mußte die Konsequenzen ziehen.

Ein Vordringen nach Europa war unmöglich geworden, aber Rußland hatte sich gegen die deutsche Hegemonie mit Frankreich verbündet, und französisches Geld floß nach Rußland, um seine technische Entwicklung zu fördern. Die neue deutsche Industrie ließ sich ebenfalls das dankbare Betätigungsfeld nicht entgehen. Und so bemühte sich dasselbe Europa, das sich so gegen das Vordringen der russischen Macht wehrte, darum, diese Macht aufzubauen. Rußland konnte natürlich diese Macht nicht gegen Europa anwenden, also verständigte es sich mit Österreich über den , Status quo‘ auf dem Balkan. Ein Feldzug über die Berge nach Indien war eine Unmöglichkeit, also schloß es einen Kompromiß mit England, daß Afghanistan als ein Pufferstaat erhalten werde. Und dann ging es daran, den europäischen Mächten, die nach China vom Meer aus eindrangen, den Rang abzulaufen. Es hatte ja eine Landverbindung nach dem Fernen Osten, und es gab keine europäische Macht, die dem Druck der russischen Heere vom Norden her auf China Halt gebieten konnte.

Doch England fand einen Verbündeten, und der russisch-japanische Krieg belehrte das Zarenreich, daß es sich verrechnet hatte. Der Ferne Osten erwies sich als zu abgelegen für die Landverbindung, um die Macht, die es mit Hilfe Europas im Westen aufbaute, dort mit Erfolg einzusetzen. Die Frontwendung war ein Irrtum gewesen, Rußlands Ziel lag nicht in Asien sondern in dem industriellen Europa, und der Weg nach Europa wurde ihm letzten Endes nicht von England sondern von der deutsch-österreichischen Barriere versperrt. Diese Barriere mußte gebrochen werden, und so gab Rußland in allen asiatischen Fragen England nach, um alle Gegensätze zu beseitigen, und kehrte zu seiner traditionellen Politik zurück: als der Erbe von Byzanz war der Zar der Protektor der orthodoxen Völker des Balkans, und es war gleichgültig, ob er dabei die türkische oder die österreichische Oberhoheit zu brechen hatte.

Ein „cordon sanitaire"

Als der erste Weltkrieg begann, verhinderte Petersburg die Annahme des türkischen Angebots, an der Seite der Alliierten zu kämpfen, und ließ sich von England und Frankreich sein Recht auf Konstantinopel anerkennen. Jetzt wollte es endlich sein byzantinisches Erbe haben und dazu die letzten Reste des warägischen Erbes, denn das österreichische Ost-galizien war in der vormongolischen Zeit ein russisches Fürstentum gewesen. Außerdem sollte das panslawistische Ziel erfüllt und ganz Polen als Königreich Polen unter dem Zarenzepter vereint werden. Wenn Ruß-land seine Westgrenze bis an die Warthe und die Karpathen vorschob, dann würden Deutschland und Österreich wieder schwache Nachbarn zur Geltendmachung künftiger Wünsche werden.

Statt dessen endete der erste Weltkrieg für Rußland mit dem Verluste aller Eroberungen in Europa seit zwei Jahrhunderten. Es fand sich auf die Grenzen unter Peter zurückgeworfen und aus Europa ausgeschlossen. Aber indem die Alliierten anderWestgrenze derSowjets einen, cordon sanitaire'aus schwachen Nachbarn aufrichteten, aus Nachbarn, die Rußland dazu noch als seine Provinzen zu betrachten gewohnt war, bewiesen sie, daß sie weder den Charakter der russischen Politik noch die Lehren seiner Geschichte begriffen. Das war direkt eine Einladung zur Wiederaufnahme der alten moskowitischen Politik, und die Sowjets zögerten keinen Augenblick, dieser Einladung Folge zu leisten.

Rußland hatte nie einen ideologischen Unterschied zwischen den einzelnen Staaten des Westens gemacht. Es war ihm völlig gleichgültig, mit wem oder gegen wen es sich verband, wenn es nur dabei die europäische Front spalten konnte. Die Sowjets waren von dem Ausbleiben der deutschen proletarischen Revolution, auf die sie gehofft hatten, tief enttäuscht, aber das hinderte sie nicht, mit der Weimarer Regierung, die diese Revolution niedergeschlagen hatte, im April 1922 den Rapallo-Vertrag zu schließen. Es war die übliche Methode, den zweitnächsten Nachbar gegen den nächsten zu benutzen. Pelen erkannte in der deutsch-russischen Freundschaft den Schatten einer neuen Teilung, aber die Sowjets waren bereit, auch mit ihm jeden gewünschten Nichtangriffs-oder Freundschaftspakt zu schließen. Sie hatten die Barriere des „cordon sanitaire’ durchbrochen, Deutschland den Rücken gestärkt, und konnten die Zeit reifen lassen, bis neue Verwicklungen ihnen die Chance zum Eingreifen geben würden, während sie inzwischen ihre Zersetzungsarbeit im Westen, einschließlich der befreundeten Weimarer Republik, ausbauten.

Ausweitung der ideologischen Aufgabe Ihre Einstellung zu Europa blieb die gleiche wie in der Zarenzeit nur mit einem veränderten Vorzeichen. Die Ausschließlichkeit des Moskowiterreiches beruhte darauf, daß es der einzige Hort der Rechtgläubigkeit war: das Sowjetreich war nach außen hin der einzige Hort der marxistischen Religion. Die Erlösungsmission des alten Moskau richtete sich vor allem an die Slawen des Balkans, die des neuen galt den Proletariern aller Länder. Während die Sowjets also schwächer geworden waren, hatte sich ihre ideologische Aufgabe ausgeweitet, und sie propagierten sie in der gleichen Weise. Die Gesandten Iwans III. erklärten, daß es keinen Frieden zwischen Moskau und Litauen geben könne, ehe Moskau sich nicht alle russischen Lande zurückgeholt habe: jetzt verkündeten die Kominternagenten, daß es keinen wahren Frieden auf Erden geben könne, solange der Kapitalismus im Westen nicht durch die proletarische Revolution überwunden sei. Alexander I. schuf die Heilige Allianz der Monarchen zum gemeinsamen Kampf gegen Revolutionen, Stalin proklamierte eine Heilige Allianz der Kommunisten gegen die nicht kommunistischen Regimes, indem er erklärte, daß „die Förderung und Unterstützung der Revolution in andern Ländern die essentielle Aufgabe der siegreichen Revolution ist“. Wie Rußland nach den Napoleonischen Kriegen, so gingen die Sowjets jetzt daran, die Lebensinteressen des Britischen Weltreichs in Asien zu treffen. Ihre Freundschaftsverträge mit Persien, mit Afghanistan, mit der Türkei datieren ein ganzes Jahr vor Rapallo.

Auf der Lausanner Konferenz 1923 vertraten sie in der Dardanellenfrage den türkischen Standpunkt. Sie machten sich zu Fürsprechern der Befreiung Indiens und Ägyptens, sie schürten die nationale Bewegung in China und erklärten sich zu Beschützern aller Kolonialvölker. Es galt jetzt Europa nicht nur in zwei Lager zu teilen, sondern jedes Lager auch innerlich zu schwächen und zu zersetzen. .

Aber die kommunistisch-proletarische Erlösungsidee erwies sich wider Erwarten als zu schwach. Europa war nach dem ersten Weltkrieg auf nationaler Grundlage neu organisiert worden, und der Nationalismus war stärker. Die Sowjets zögerten lange, den Nationalismus in ihren Dienst zu stellen, denn sie predigten ja, daß jeder Nationalismus von Übel war, weil er zum Haß gegen andere Völker und zum Imperialismus führe. Aber als sie sich entschlossen, dem russischen Volke neben den revolutionären auch seine alten nationalen Helden als Beispiele vorzuhalten, damit es nicht nur die glorreiche Revolution sondern auch das Heilige Rußland verteidige, erfanden sie den Sowjetpatriotismus". Obgleich sie ihm Helden wie Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen, Alexander Newski, Suworow vorhielten, erklärten sie, es sei nicht russischer Patriotismus, zu dem sie die Russen aufriefen. Der russische Nationalismus wäre nur e i n Nationalismus unter vielen andern, der Sowjetpatriotismus aber griff über das enge Vaterland hinaus und wandte sich an die Revolutionäre aller Länder. Er gab ihnen eine größere internationale Bindung, sie mußten im Namen des Sowjetpatriotismus mit der roten Armee gegen die reaktionären Kräfte auch ihres eigenen Vaterlandes kämpfen. Das war eine Losung, die draußen die revolutionären und zu Hause die nationalen Gefühle verband, und wenn die Sowjets auf allen internationalen Kongressen die Abrüstung verlangten, das berührte ja nicht die rote Armee, denn sie diente ja nicht nationalistischen Zielen.

Sowjetpatriotismus Inzwischen verschärften sich die Gegensätze in Europa und für die Sowjets war es nur noch die Frage, welche der Gruppierungen sich wie im 18. Jahrhundert um die russischen Bajonette bewerben und für sie mehr bieten würde. Die Unterzeichnung des Vertrags mit Ribbentrop über die vierte Teilung Polens war vielleicht der schönste Augenblick in der Geschichte der Sowjets. Dieser Vertrag lieferte ihnen nicht nur mit einem Schlage den ganzen , cordon sanitaire aus, sondern setzte zugleich Europa in Brand. Jetzt brauchten sie nur zu warten, bis die beiden feindlichen Koalitionen sich gegenseitig aufrieben, und weitere Früchte würden ihnen in den Schoß fallen. Doch diesem Triumph folgte eine bittere Enttäuschung: der militärische Zusammenbruch des Westens ließ das Hitlerreich stärker als je. Die Sowjets mußten selber die Hauptlast des Krieges tragen. Sein Ausgang jedoch rechtfertigte alle Opfer. Mit Ausnahme von Konstantinopel erreichten die Sowjets alle Ziele, für die der Zar in den ersten Weltkrieg gezogen war.

Es konnte für die Alliierten kein Geheimnis sein, daß das Kriegs-bündnis ideologisch für die Sowjets nur ein Notbehelf in einer Zwangslage war, aber sie dachten, daß der Wiederaufbau des Landes und die Wiederherstellung normaler Lebensbedingungen für das Volk sowie die Hilfe, die sie dabei zu leisten bereit waren, den Sowjets wichtiger sein würden als die ideologische Gegnerschaft. Sie täuschten sich in der Sowjetpsyche. So schlimm die Zerstörung Rußlands auch war, Europa war auch zerstört und desorganisiert, und die einmalige Gelegenheit, die der europäische Zusammenbruch ihnen zur Machtausdehnung im Westen bot, war den Sowjets wichtiger als die Hilfe der Alliierten. Die Westmächte wollten ein Chaos in Europa vermeiden, die Sowjets hatten kein Interesse an der Erholung Europas. Sie versuchten den Anschein der Allianz zu wahren, indem sie darauf bestanden, daß alle Beschlüsse einstimmig gefaßt sein müßten. Da sie ihren Willen gegen drei Mächte durchsetzen wollten, erklärten sie, daß die Majorität eine Vergewaltigung wäre und stimmten keinem Beschlusse bei, der ihre Wünsche nicht erfüllte. Aber diese Einstimmigkeitsforderung galt nur für die Gebiete und Fragen, die außerhalb ihres Machtbereiches lagen. Über die Länder, die sie besetzt hatten, gab es nichts zu verhandeln, jede Einflußnahme der Westmächte wäre eine Einmischung in deren interne Angelegenheiten.

Ihr Ziel ist Europa Das Ziel der Sowjets war jetzt ganz Europa, denn nach dem Kriege war ganz Europa ihr schwacher Nachbar geworden. Selbst Großbritannien war zu erschöpft, um allein an sich ihrem Einfluß auf dem Festland Halt gebieten zu können. Ihre Macht in Europa konnte nur von den jenseits des Ozeans liegenden Vereinigten Staaten streitig gemacht werden, und so konzentrierten sich ihre ideologischen Angriffe auf die Vereinigten Staaten. Da es ihnen nicht gelang, die Vereinigten Staaten aus Europa hinauszudrängen oder ihr Interesse an Europa abzuschwächen, griffen sie nach dem alten Rezept einer Ablenkung in Asien.

Diese Ablenkung gelang ihnen eigentlich zu gut für ihre Wünsche. Wenn Mao nur Nordchina erobert hätte, wenn Tschiang-Kai-Tscheks Reich am Hwei-ho oder am Jang-tsee-kiang weiterbestanden hätte, dann wäre Mao nichts mehr als Moskaus Satellit, der seine Befehle vom Kreml empfangen müßte. Mit den Ideen und Ansichten eines Herrschers über 400 Millionen Chinesen müssen jedoch die Männer im Kreml rechnen, und die Chinesen haben ein noch längeres Gedächtnis als die Russen. Vorläufig braucht Mao die Hilfe der Sowjets, aber sein Kommunismus wird ein chinesischer sein, sein Nationalismus ist ein asiatischer, und er wird den Sowjetimperialismus ebensowenig lieben wie den europäischen. Die Chinesen haben nie aufgehört, die Mandschurei, die Mongolei, Sinkiang usw. als chinesisch zu betrachten, und die Sowjets wissen es, und wir erleben schon solche Wunder wie die freundschaftliche Räumung Port Arthurs, des wichtigsten Stützpunktes am Stillen Ozean, und werden mehr derartiger freundlicher Zugeständnisse sehen, denn die Sowjet-interessen in Ostasien sind weniger wichtig als die in Europa, und Maos China dient dazu, Amerikas Kräfte zu zersplittern und sein Interesse von Europa abzuziehen.

Asien kann den Sowjets nichts geben. Sie haben selber das Menschen-material, den Absatzmarkt, die Rohstoffe, die sie brauchen. Ihr eigener Lebensstandard ist höher als in irgend einem asiatischen Lande. Eine Ausdehnung nach Asien würde sie also nur belasten. Sie müßten einen Teil ihrer industriellen Kraft dazu benutzen, um die neuerworbenen Länder zu ihrem eigenen Niveau zu entwickeln. Ihr Ziel ist Europa, denn um ihre Macht zu stärken, brauchen sie die europäische Produktion, Technik, Industrie; und zwar nicht ihre Produkte auf dem normalen Wege des Handelsaustausches. Ein solcher Austausch würde nicht nur dem russischen Volke die Überlegenheit Europas zeigen und die Sowjetideologie untergraben, er könnte auch Europa stärken, und ein starkes Europa mit freiem europäischem Geist an den Grenzen der von ihnen unterworfenen Länder ist gerade das, was die Sowjets zu verhindern suchen. Sie brauchen ein Europa von schwachen Nachbarn, die sie, einen nach dem andern, unter Druck setzen können, bis sie Europa in ihr Kolonialland verwandeln und seine Kraft und Kenntnisse für sich ausbeuten können.

Darin liegt der Wesensunterschied zwischen dem europäischen und dem Sowjetimperialismus. Der europäische ging in die unentwickelten Länder und kolonisierte sie. Er nutzte sie aus, er nahm sich den Löwenanteil an den Gewinnen, aber er entwickelte dabei die brachliegenden Naturschätze dieser Länder und machte sie dadurch potentiell reicher. Er erschloß sie durch die europäische Technik, und wenn diese Länder jetzt eines nach dem andern selbständig werden, finden sie sich vor unvergleichlich besseren Entwicklungsmöglichkeiten als sie sie vorher hatten. Dem Volke sind neue Berufe und Verdienstmöglichkeiten geöffnet worden, die hygienischen Verhältnisse haben sich gebessert, die europäische Wissenschaft hat ihnen neue Wege und Mittel zur Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten gezeigt. Der Sowjetimperialismus dagegen sucht sich nicht unentwickelte sondern höher entwickelte Länder zu unterwerfen, Länder mit einer wissenschaftlich und technisch höher gebildeten Bevölkerung, deren Kenntnisse und Geschicklichkeit er für sich auswerten könnte. Er kann sie nicht entwickeln, sondern will sie für seine eigene Entwicklung ausnutzen. Er kann ihnen nichts geben, sondern muß nur von ihnen nehmen. Seit dem Kriege sind 100 Millionen Menschen in den verschiedenen Ländern westlich der Sowjetgrenzen von 1939 unter die Sowjetherrschaft gekommen, und in jedem dieser Länder ist der Lebensstandard gefallen.

Es wäre falsch, darin eine besondere Bosheit der Sowjets zu suchen; sie sehen einfach nicht ein, mit welchem Rechte die unterworfenen Völker besser leben wollen als die siegreichen Russen. Wenn sie bisher besser gelebt haben, weil sie fortschrittlicher waren und auf einer höheren Stufe der technischen Entwicklung standen, so ist es nur recht, wenn sie jetzt Opfer bringen, damit das Sowjetreich auf diese höhere Entwicklungsstufe kommt. Daß sie dabei leiden, kümmert die Sowjets wenig. Es ist derselbe Standpunkt, den Peter der Große hatte, als die deutsche Bevölkerung sich über den Terror seiner Soldaten aufregte: die Russen wurden ja schlimmer ausgebeutet und unterdrückt, mußten mehr leiden. Und genau wie Peter seinen Sieg über die Schweden zur Herrschaft . über die Ostsee ausweiten wollte, so erwarteten die Sowjets, daß sie den Sieg über Deutschland zur Beherrschung Europas ausbauen könnten. Zu der Befehlsgewalt in der Ost-zone verlangten sie die Mitbestimmung an der Ruhr; zu dem Verlangen an die Türken, die Dardanellen mitzubewachen, gesellte sich die Forderung nach irgendeiner der italienischen Kolonien in Nordafrika, denn das würde ihnen ein Mitbestimmungsrecht im Mittelländischen Meer geben.

Sie hofften nicht wirklich auf die Erfüllung ihrer Wünsche, sie meldeten nur, wie Iwan III. es getan hatte, ihre Ansprüche an. Die Erfüllung der Ansprüche wird erst verlangt, wenn die Konstellation der Mächte günstig ist.

Nur wenn ihnen das unmittelbare Ziel, das sie vor sich sehen, verwehrt wird, sind die Sowjets wirklich entrüstet. Die Zonenteilung Deutschlands hätte sich ihren Plänen nach so auswirken sollen, daß jede der vier Zonen gleichmäßig unter einer andern Fremdherrschaft zu leiden gehabt hätte. Dann hätten sie, nach dem Muster der polnischen Teilungen, schließlich die Zonen als , eine historische Lösung* unter dem Sowjetzepter vereinigt. Als die Westmächte statt dessen die Bundesrepublik schufen, war daher die Empörung der Sowjets ganz aufrichtig. Sie fühlten sich um die besten Früchte ihres Sieges betrogen durch die böswilligen Machenschaften der angelsächsischen Mächte, die ihnen schon an der Grenze der Ostzone eine Barriere aufrichteten.

Ansprüche Die Schwäche des Landimperialismus besteht nämlich darin, daß seine empfindlichsten Teile immer seine Grenzgebiete sein müssen. Sie sind bewohnt von den nichtassimilierten Völkern, denen die Kolonialrolle zugeschrieben ist, ihre eigene Entwicklung den Bedürfnissen und Wünschen der Imperialmacht anzupassen. Sie sind verbittert und daher allen Einflüssen von außen um so zugänglicher. Die Länder des , cordon sanitaire , die nach dem ersten Weltkrieg eine Barriere gegen das Vordringen des Sowjeteinflusses bildeten, können deshalb jetzt, unter der Sowjetmacht, nicht ein , Cordon sanitaire* gegen die europäischen Einflüsse sein. Im Gegenteil, sie mußten durch einen zweiten Gürtel von sogenannt .freundlichen Mächten* selber von europäischen Einflüssen abgeschnitten werden, um sie sowjettreu zu halten. Diese Aufgabe wird nun durch Ungarn, die Tschechoslowakei, die Ostzone erfüllt. „Herrscher der Herrscher“

In diesen Ländern spielen die Sowjets die Rolle, die die Mongolenchane im alten Rußland gespielt hatten: sie sind nur . Herrscher der Herrscher*. Es sind die eingeborenen Kommunisten, die für sie die Tribute in ihrem Vaterlande einzusammeln und an sie abzuführen haben, wie die russischen Fürsten es einstmals für die Chane der Goldenen Horde taten. Bedienen sie ihren Herrscher schlecht, so spielen sie mit ihrem Leben, bedienen sie ihn gut, so steigt ihre Macht. Falls sie dabei bei ihrem Volk verhaßt werden, so ist das eher ein Vorteil als ein Nachteil. Wie Iwan der Schreckliche von seinen Opritschniki, die das Land unter dem Vorwand, den Verrat auszutreiben, terrorisierten, sagte: „je verhaßter sie sind, desto treuer müssen sie mir dienen, denn wohin könnten sie dann von mir gehen“.

Aber je mehr diese zweite Reihe des , cordon sanitaire* mit den Sowjets gleichgeschaltet wird, desto wichtiger wäre es, hinter ihren Grenzen eine neue »freundliche* Barriere aufzurichten, um sie selber von den westlichen Einflüssen abzuschneiden. Doch da liegt die Bundesrepublik, da liegt Jugoslawien. Die Bundesrepublik glauben sie noch mit der Wiedervereinigung ködern zu können, aber Jugoslawien ist ihnen verloren-gegangen, und deshalb wurde kein Kapitalist und kein Imperialist so beschimpft und gehaßt wie Tito.

Titos Abfall hatte für die Sowjets noch eine besondere Bedeutung. Sie können kapitalistische Länder dulden. Nach ihrer Theorie sind diese Länder Überbleibsel, die ja doch dem Untergang geweiht sind. Jedes von ihnen enthält eine kommunistische Partei, die nach Sowjetdirektiven arbeitet. Aber ein unabhängiger kommunistischer Staat ist für sie unerträglich. Er stützt sich ja auch auf das Proletariat, und wenn ein kommunistisches Proletariat nicht den Moskauer Befehlen folgt, untergräbt es die internationale kommunistische Treue. Er ist eine lebendige Mahnung an die proletarische Welt, daß es Kommunisten geben kann, die anderer Meinung als Moskau sind und die statt des Sowjetpatriotismus einen eigenen Patriotismus pflegen dürfen. Und das ist gefährlich, weil es die Kommunisten anderer Länder veranlassen könnte zu fragen, ob sie sich denn wirklich für Sowjetrußland opfern müssen, und schließlich abtrünnig werden.

Die Anschauung, daß jedes andere, wie es jetzt heißt . volksdemokratische* Land seine eigenen Interessen hinter die Bedürfnisse der Sowjets zurückstellen muß, ist zu einem Dogma erhoben worden. Aber sie ist nicht neu. Es ist das alte russische Prinzip, mit dem der Panslawismus immer arbeitete. Die kleinen slawischen Völker mußten sich für Rußland und den Zaren als den Vorkämpfern des Slawentums zu opfern bereit sein. AIs Peter der Große gegen die Türken Krieg führen wollte, hetzten seine Emissäre die christlichen Balkanvölker auf, als er gegen den Kaukasus zog, mußten sich die christlichen Volkschaften Georgiens erheben — nachher wurden sie ohne die geringsten Gewissensbisse der Wut der Türken überlassen. Sie litten für Rußlands Ziele. Lind so muß jetzt jedes Land, in dem die Sowjetideologie herrscht, sich willig und opferfreudig in den Dienst der Sowjets stellen, ihnen die Früchte seiner Arbeit geben, seinen Lebensstandard zu dem in Sowjetrußland herrschenden Standard sinken lassen. Einzig die Interessen der Sowjets sind maßgebend, und auf ihren Wunsch mußten die Satellitenstaaten sogar auf die ihnen so notwendige Hilfe durch den Marshallplan verzichten.

Ein europäischer Kommunist deshalb, der sich einbildet, daß er unter der Protektion der Sowjets imstande sein wird, in seinem Lande ein kommunistisches Regime aufzurichten, beweist nur, daß er die Natur der Sowjets nicht versteht. Es darf für ihn keinen anderen als den Sowjet-patriotismus geben. Wenn er das Interesse seines eigenen Landes, seines eigenen Volkes zu dem seinigen macht, ist er ein , Feind des Volkes und wird liquidiert, wie manche der führenden Kommunisten in den Satelliten-staaten es zu ihrem Leidwesen zu spät gemerkt haben. Die marxistische Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ ist von den Bolschewisten ergänzt worden: „im Dienste der Sowjets“. Sie dürfen nur ein Vaterland kennen, das sie dafür um so despotischer und ausschließlicher beherrscht: Sowjetrußland. Ihre eigenen Vaterländer dürfen nur seine Kolonien sein und sich für seine Größe und Macht ausbeuten lassen.

Dieses Ziel, die europäischen Länder als technische Kolonialgebiete für den Aufbau des Sowjetimperiums auszunutzen, bedeutet für Europa eine ganz besondere Gefahr. Die Klassenscheidung, auf der Marx seineTheorie aufgebaut hatte, ist keine Richtlinie mehr für die Sowjets. Proletarier, die für die Hebung des Lebensstandards ihrer Klasse sorgen, sind ihre Feinde. Die Sowjets wollen nicht den Wohlstand der Arbeiter, sondern ihre Unzufriedenheit, und es ist ihnen gleichgültig, aus welchem Lager die Unzufriedenen kommen. Die Kommunisten auf Cyprus müssen die Nationalisten bei ihrer Forderung nach der Vereinigung mit Griechenland unterstützen, obgleich es wenige Regierungen gibt, die den Kommunisten so verhaßt sind, wie die griechische. Aber die Sowjets hoffen, daß, wenn nach der Vereinigung der Lebensstandard der Cyprioten fällt, sie das ganze Volk gegen die Regierung aufhetzen können. Jede Nation muß innerlich gespalten werden, um bei der ersten Gelegenheit durch bewaffnete Aufstände ihrer Anhänger zur Macht zu gelangen.

Außerdem bedeutet aber dieses Ziel und die Natur des Sowjetimperialismus, daß er nie befriedigt sein kann, so lange es an den Grenzen der von ihm unterworfenen Länder freiheitliche Staaten gibt, deren Lebensweise eine Lockung für die unterjochten Völker bildet. Falls es ihm gelingt, einen dritten Gürtel »freundlicher Länder'hinter die bereits vorhandenen zwei zu legen, werden diese ihm nach ein paar Jahren wieder als Ausgangspunkt für einen Angriff auf den dahinterliegenden Nachbar dienen müssen, denn je weiter die Sowjets ihre Macht ausdehnen, desto empfindlicher werden die Grenzländer gegen Einflüsse von außen sein, und desto mehr wird sich die Zentralgewalt bedroht fühlen und rüsten wollen. Um sich sicher zu fühlen, müssen die Sowjets von Meer zu Meer herrschen.

Der kollektive Sowjetmensch ist zielgerichtet Die Sowjetherrschaft bringt aber nicht nur den Untergang der europäischen Kultur und des europäischen Geistes mit sich, die von den Sowjets als bürgerlich abgelehnt werden, sondern auch die Vernichtung des europäischen Menschen, wie er sich im Verlauf der europäischen Geschichte herausgebildet hat, und sein Ersatz durch den Sowjetmenschen. Er ist der neue Typus von Mensch, den zu entwickeln angeblich die Mission Rußlands war, die von den Sowjets vollbracht worden ist. Nun, der Sowjet-mensch ist kein Massenmensch im europäischen Sinne. Er ist ein Kollektiv-mensch. Der Unterschied besteht darin, daß der Massenmensch nicht zielgerichtet ist. Er paßt sich in seinem Geschmack, in seinen Neigungen und seinen Bestrebungen der Massenspsyche an. Was er möchte, ist in die gerade nächsthöhere Massenschicht hinaufzusteigen, um für sich etwas mehr von den gebotenen Massengenüssen zu sichern. Der kollektive Sowjetmensch ist zielgerichtet. Eigene Neigungen, Bestrebungen brandmarken ihn als Karrieristen. Sein Wille und sein ganzes Wesen müssen darauf gerichtet sein, dem ihm eingedrillten Ziel auf die vollkommenste Weise nachzustreben. Irren wir uns nicht über die Macht dieses Drills, besonders über die jungen Menschen. Auch er ist bereits von Netschaew vorgezeichnet worden, und Dostojewski schrieb in seinem . Tagebuch eines Schriftstellers'über die Netschaewgruppe: „sie nutzen jede List und haben gerade die großmütigen Seiten der menschlichen Seele, am meisten der jungen Seele studiert, um auf ihr wie auf einem Musikinstrument spielen zu können ... Ich selber, ich hätte wahrscheinlich nie Netschaew werden können; aber ein Netschaewist, ich kann nicht garantieren, vielleicht hätte ich das gekonnt ... in den Tagen meiner Jugend.“ Und es ist die Jugend, die zu gewinnen und abzurichten die große Sorge der Sowjets ist.

Nun, es steht natürlich jedem frei, den europäischen Menschen weiter erhalten zu wollen, oder der Meinung zu sein, daß er seinen Untergang verdient hat und schnellstens durch den neuen Typus ersetzt werden soll. Aber wir müssen uns klar sein, daß niemand zugleich ein Europäer und ein Sowjetmensch sein kann. Jeder muß sich für das eine oder das andere entscheiden. Die beiden Typen vermischen sich nicht. Sie können bestenfalls, wenn auch nicht miteinander, so doch nebeneinander co-existieren. Das bedeutet: jeder sein eigenes Leben führen, ohne sich und seine Lebensanschauung dem andern aufzudrängen. Gegenwärtig ist diese Co-existenz noch nicht da, weil die Sowjets im Angriff sind, aber dieser Angriff ist eine Fortsetzung des Angriffs, den Rußland infolge seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner Stellung zum Abendland vor 300 Jahren begonnen hatte. Unter der Sowjetautokratie hat sich der Charakter des Angriffs geändert; seine Wucht hat sich verstärkt, die Schlagworte, mit denen er begründet wird, sind anders geworden, und sein Ziel bedroht das Leben Europas: Rußland wollte Europa diktieren, aber sein Wesen erhalten; die Sowjets wollen Europa ausbeuten und sein Wesen sich angleichen.

Zum Wohle Europas?

Die Gefahr ist realer, aber dafür deutlicher geworden, und wenn Europa begreift, daß Rußland eine der europäischen Lebensform und dem europäischen Wesen fremde Macht ist, die jetzt in der Gestalt von Sowjetrußland die europäische Kultur und den europäischen Geist bekämpft und nur die praktischen Errungenschaften in ihren Dienst zwingen will, indem sie ihre Träger zur Sklavenarbeit verurteilt, dann wird die Anwesenheit der Sowjets an den Toren Europas vielleicht nicht ein geschichtliches Übel, sondern sogar ein Gewinn sein können.

Der Hauptvorteil der Sowjets der freien Welt gegenüber besteht darin, daß sie nur mit einer Stimme sprechen, daß in ihrem Mächteblock nur ein Wille herrscht, gleichgültig ob es der Wille des Parteisekretärs oder der einer Spitzengruppe ist. In der freien Welt gibt es alle Schattierungen von Meinungen, und es schallt eine solche Vielfalt von Stimmen, daß niemand sicher sein kann, welche die wesentliche ist. Es gilt also, der sowjetischen Einheit eine europäische Einheit entgegenzusetzen, aber das ist nicht leicht, denn diese Einheit muß erst herausgearbeitet werden. Außerdem müssen die einzelnen Mitglieder der freien Welt dazu auf viele ihrer Sonderwünsche und einen Teil ihrer Freiheiten verzichten — und das tut weh.

Aber falls sie sich zu diesem Verzicht durchringen, dann werden die künftigen Historiker des dritten Jahrtausends zurückblickend schreiben, daß die russische Gefahr in der Form der Sowjetgefahr Europa gerettet hat, indem sie die europäischen Länder im 20. Jahrhundert zwang, ihre kleinlichen, widerstreitenden Interessen endlich zu vergessen und mit ihrer tausendjährigen Selbstzerfleischung aufzuhören, um sich zu einer kulturellen und administrativen Einheit zusammenzuschließen. Dann werden sie vielleicht den Sowjets den Ehrennamen geben, den die russischen Chronisten des 14. Jahrhunderts, angesichts der unaufhörlichen haßerfüllten Bruderkriege der russischen Teilfürsten, den mongolischen Chanen gaben: „Die Zuchtrute Gottes, die die Sünder auf den Pfad der Buße bringt“. Und sie werden vielleicht sogar hinzufügen, daß, wenn es kein Sowjetrußland gegeben hätte, man es zum Wohle Europas hätte erfinden sollen.

Anmerkung Michael Prawdin, Schriftsteller, russischer Emigrant, lebte nach dem 1. Weltkrieg länge Jahre in Deutschland und seit 1932 in England. Verfasser u. a.des in 24 Fremdsprachen übersetzten „DSCHINGIS KHAN".

Fussnoten

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