Vortrag, gehalten bei der Evangelischen Akademie Tutzing am 25. Sept. 1954
Lassen Sie mich die Erörterung des heute gestellten Themas damit beginnen, daß ich versuche, den Gegenstand, um den es sich handelt, in einen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen.
Ich möchte Ihnen zunächst ein kleines Erlebnis erzählen, das ich jüngst hatte, als der Bundestag aus Anlaß der Neuwahl des Bundespräsidenten in Berlin weilte. Idi fuhr zum Brandenburger Tor und machte dann einen kleinen, besinnlichen Spaziergang zur Ruine des Reichstages, zur Siegessäule und durch das alte Diplomatenviertel, einst eine Stätte stolzer Repräsentation der Macht und Größe des Kaiserlichen Deutschland und der Partei-und Miiitärparaden der nationalsozialistischen Despotie. Heute sah ich eine einzige große Wüste mit Ruinen, Schutt und Trümmern. Im Mittelpunkt dieses Trümmerfeldes aber stand in der Besatzungszone der Westmächte das Siegesdenkmal der Russen, flankiert von zwei Panzern der Sowjetarmee, von russischen Soldaten bewacht, die unermüdlich bei Tag und bei Nacht auf-und abpatroullieren. Niemand, der dieses Denkmal sieht, kann überhören, was es sagen will:
„Hier sind wir — die Russen — hier bleiben wir."
Man wird nachdenklich bei solch einem Spaziergang. Soweit haben wir cs also gebracht, wir stolzen Deutschen, wir Deutschen der Reformation. Und wie kam es? Nicht oft genug und nicht eindringlich genug können wir über diese Resultate deutscher Politik nachdenken. Als ich nach Hause kam, nahm ich zwei Bücher aus dem Schrank, zwei Bände mit der Titelüberschrift: „Politik“. Sie enthalten den Abdruck von Vorlesungen über Politik, gehalten an der Universität von Berlin von Heinrich von Treitschke. AIs ich darin blätterte, fand ich ein Kapitel: „Das Verhältnis des Staates zum Sittengesetz". Zunächst wird darauf hingewiesen, daß im Mittelalter, in der Welt der persönlichen Gebundenheit an das von der Kirche verkündete, christliche Sittengesetz und in einer hierarchischen Welt, von einem Konflikt zwischen Moral und Politik gar nicht gesprochen werden konnte. Und dann heißt es wie folgt weiter:
„Das ward mit einemmal anders, als die Reformation aus der christlichen Welt hervorging und die alten Autoritäten zusammenbrachen. Nur inmitten der Auflösung aller alten, überlieferten Ordnung ist der gewaltige Denker zu verstehen, der zusammengearbeitet hat mir Martin Luther an der Befreiung des Staates. Es war Machiavelli, der den Gedanken aussprach, wenn es die Rettung des Staates gelte, so sollte gar nicht gefragt werden nach der Reinheit der Mittel. Man erhalte nur den Staat, die Mittel werde nachher jedermann billigen“ . . .
Dann sagt Treitschke weiter:
„Es wird immer Machiavellis Ruhm bleiben, daß er den Staat auf seine eigenen Füße gestellt und in seiner Sittlichkeit von der Kirche freigemacht hat, — und dann, daß er zum erstenmal klar ausgesprochen hat: „Der Staat ist Macht“. . . . Nichts soll uns daran hindern, freudig auszusprechen, daß der greise Florentiner mit der ganzen ungeheuren Konsequenz seines Denkens zuerst in die Mitte aller Politik den großen Gedanken gestellte hat: „Der Staat ist Macht". Denn das ist die Wahrheit: und wer nicht männlich genug ist, dieser Wahrheit ins Gesicht zu sehen, der soll seine Hände lassen von der Politik.“
In immer neuen Variationen wird dann das Hohelied der Macht und des vom Sittengesetz losgelösten Machtstaates gesungen und der himmelweite Unterschied zwischen öffentlicher und privater Moral herausgestellt. Dann werden mit Worten, die heute geradezu dumm und primitiv anmuten, mit Worten, von denen man heute glaubt, sie wären aus einer versunkenen Welt heraus gesprochen, Krieg und Schwertgewalt und arisches Heldentum gepriesen und verherrlicht: „Wer sich nicht am Trompetengeschmetter erfreut, ist zu feig, um selbst die Waffen für das Vaterland zu führen. Alle Hinweisung auf das Christentum ist hier verkehrt. Die Bibel sagt ausdrücklich, daß die Obrigkeit das Schwert führen soll . ..
Arisches Völkerleben verstehen die nicht, die den Unsinn vom ewigen Frieden vortragen. Die arischen Völker sind vor allen Dingen tapfer. Sie sind stets Manns genug gewesen, mit dem Schwert zu schützen, was sie mit dem Geist errungen hatten. So hat Goethe einmal gesagt: „Die Norddeutschen waren immer zivilisierter als die Süddeutschen“. Jawohl, denn sehen Sie sich einmal die Geschichte der Fürsten Niedersachsens an, die haben sich immer geschlagen und gewehrt und darauf kommt es an in der Geschichte.“
Meine Damen und Herren! Es ist schon nützlich, wenn man besinnliche Spaziergänge in der Gegend des Brandenburger Tors in Berlin macht and in alten Büchern blättert. Ich habe diese Stellen meinen Kindern vorgelesen und habe ihnen gesagt, wer diese Reden gehalten habe und was es mit ihnen für eine Bewandtnis habe. Sie haben es kaum für möglich gehalten, daß dies die Geisteshaltung der führenden Deutschen in der sog. gebildeten Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert war. Der Mann, der solche Dinge schrieb, hat diese Vorlesungen über das Wesen der Politik an der Berliner Universität von 1874/75 an regelmäßig jeden Winter bis zu seinem Tode im Jahre 1896, also mehr als 20 Jahre lang, gehalten. Er war der Hof-und Staatsphilosoph der Hohenzollern. Er hat das Denken von vielen Generationen der Oberschicht Deutschlands über den Staat bestimmt. Selbst ein Mann wie Ritteimeyer schreibt in seinen Lebens-erinnerungen über diese Vorlesungen, die die Krönung des Lebenswerks Treitschkes dargestellt hätten: „Der Mann ist uns ein Göttertrank gewesen und geblieben!“ Meine Damen und Herren! An diesem Göttertrank der theoretischen und praktischen Gottlosigkeit in der Politik, an dieser Anbetung der Macht und der Vergötzung des Staates ist das deusche Volk verdorben und zu Grunde gegangen. Hitler hat nur praktiziert, was Treitschke gelehrt hat. Für den politischen Raum hat man Gott abgesetzt. Man hat ihm den Stuhl vor die Tür gestellt. So hat man damals die Grenzen der christlichen Verwirklichung im politischen Raum gezogen.
Und nun lassen Sie mich auf einen anderen Vorgang kommen. Im August 1945, also bald nach der großen Katastrophe des 2. Weltkrieges, traten in Bad Treysa die führenden Männer der Evangelischen Kirche Deutschlands zusammen und machten Bilanz. Das Ergebnis dieser Bilanz ist in einer politischen Botschaft der Kirchenkonferenz von Treysa zusammengefaßt, deren erster Punkt wie folgt lautet: „Das furchtbare Erlebnis der vergangenen 12 Jahre hat weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der deutschen Kirchen die Augen dafür geöffnet, daß nur da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung bewahrt bleibt. Aus dieser Erkenntnis erwächst den evangelischen Kirchen Deutschlands (EKiD) die große und schwere Aufgabe, weit stärker als bisher auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft einzuwirken.“
Nur da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, bleibt die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung bewahrt. Dies ist eine eindeutige Aussage, der ich voll und ganz zustimme.
Hier wird eine Wahrheit ausgesprochen, der nach der Erfahrung der Geschichte nicht widersprochen werden kann. Hier wird ein Programm aufgestellt, das davon ausgeht, daß christlicher Geist und christliche Ordnungen Lebensnotwendigkeiten für die politische Gemeinschaft darstellen. Hier wird gesagt, daß die politische Gemeinschaft ohne christlichen Geist und christliche Ordnungen so wenig zu leben vermag wie der Fisch ohne Wasser und der Mensch ohne Luft.
Ich will jetzt nicht darüber sprechen, ob und inwieweit die evangelische Christenheit Deutschlands seit 1945 von diesen Erkenntnissen Notiz genommen hat und zur Realisierung dieses Programms tätig gewesen ist.
Man könnte darüber manches sagen, dies will ich aber nicht tun. Ich will kurzerhand davon ausgehen, daß dieses Programm richtig ist und möchte im Hinblick auf die den Christen durch dieses Programm auferlegte Verantwortung nicht nur klarstellen, welches die Grenzen, sondern auch welches die Voraussetzungen einer christlichen Verwirklichung im politischen Raum sind.
Nicht in Illusionen leben Zu einer solchen Darstellung ist einiger Anlaß gegeben. Auch heute noch bestehen hierüber große Unklarheiten. Es ist jedoch eine völlig nüchterne Betrachtung am Platz. Die Zeit ist zu ernst, um in Illusionen zu leben. Vor dem Jahre 1914 hat man Programme für die Christianisierung der Welt aufgestellt. Kurze Zeit darauf stand die Welt in Flammen. Wenn wir heute in einer verworrenen Zeit von christlicher Verwirklichung im politischen Raum reden, so kann dies nur mit großer Besonnenheit geschehen. Ich bin mir auch völlig klar darüber, daß ich zu dem Thema nichts Erschöpfendes und nichts Abschließendes sagen kann. Ich werde mich darauf beschränken müssen, einige Grundgedanken herauszustellen, die mir nach den Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart von vordringlicher Bedeutung zu sein scheinen. Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn ich erreichen könnte, daß diese Gedanken in ihrer grundlegenden Bedeutung erkannt und zur Diskussion gestellt werden.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich vorweg eine Klarstellung vornehmen. Bei der christlichen Verwirklichung im politischen Raum kann es sich keinesfalls nur um die Verkündigung christlicher Grundsätze handeln. Es wäre eine höchst billige und unfruchtbare Sache, die Geltung christlicher Grundsätze für die Politik zu behaupten, diese Grundsätze zu verkünden und sich nachher um deren praktische Verwirklichung nicht zu kümmern. Wenn man sich so verhalten würde, so würde dies nur beweisen, daß man vor den politischen Entscheidungen in bloße Deklamationen flüchtet. Die Verkündigung von christlichen Grundsätzen für die Politik ist noch längst keine christliche Verwirklichung im politischen Raum. Es handelt sich vielmehr um ein eindeutiges Engagement jedes Christen und der ganzen christlichen Gemeinde, also der christlichen Kirche, dafür, für die Realisierung bestimmter Vorstellungen im politischen Raum unter Einsatz der Existenz, also um dies noch deutlicher zu sagen, unter Einsatz von Kopf und Kragen einzutreten.
Die Kernzelle der Gesellschaft ist der Mensch Die erste Voraussetzung für eine christliche Verwirklichung im politischen Raum ist die Existenz und die Wirksamkeit der Christen und der christlichen Gemeinde innerhalb der Gesellschaft.
Es ist einer der größten Irrtümer unserer Zeit, zu glauben, der politische Raum beginne erst dort, wo der Staat mit dem ihm eigentümlichen Zwang wirksam werde. Vor dem Staat war die menschliche Gesellschaft. Wer den Staat bestimmen und gestalten und ändern will, muß die menschliche Gesellschaft bestimmen und ändern.
Die Kernzelle der Gesellschaft ist der Mensch. Wer die Gesellschaft ändern will, muß den einzelnen Menschen ändern. Die christliche Verwirklichung im politischen Raum hat zur Voraussetzung die Existenz von Menschen, die vom Wort Gottes und Geist Gottes geändert und erneuert sind und die die Dienstanweisungen, die der Herr Christus seiner Gemeinde gegeben hat, gegen sich selbst für alle ihre Lebensbeziehungen als normativ gelten lassen.
Karl Barth sagt: „Der rechte Staat muß in der rechten Kirche (d. h. also in der christlichen Gemeinde) sein Urbild und Vorbild haben. Die Kirche existiere also exemplarisch, d. h. so, daß sie durch ihr einfaches Dasein und Sosein auch die Quelle der Erneuerung und die Kraft der Erhaltung des Staates ist.“
Dieses Sosein und nicht Anderssein der Christen und der christlichen Gemeinde ist die Voraussetzung für jede Art von christlicher Verwirklichung im politischen Raum. Die Existenz der christlichen Gemeinde stellt an sich schon ein politisches Faktum allerersten Ranges dar.
Freilich nur dann, wenn sie so ist, wie sie nach dem Willen ihres Herrn sein soll und nicht anders. Wenn die Kirche den Glauben vom Leben trennt, ganze Lebensgebiete widerspruchslos preisgibt und der Herrschaft ihres Herrn entziehen läßt — ich erinnere nochmals an die Demonstrationen thoretischer und praktischer Gottlosigkeit an der Berliner Universität um den Ausgang des vorigen Jahrhunderts oder an die Behandlung der modernen Arbeiterfrage im aufkommenden Industriezeitalter — dann verrät sie ihren Herrn und läßt die Länder verderben und die Völker zu Grunde gehen.
Eine pervertierte Kirche pervertiert den Staat. Wenn einstmals christliche Staaten zu Grunde gehen oder in die Hände antichristlicher Mächte kommen, so liegt die Ursache in der Regel in der Pervertierung der christlichen Gemeinde.
Eine weltflüchtige Kirche hat keine weltüberwindende Kraft, sondern gibt die Herrschaft über die Welt den antichristlichen Mächten preis. Wir haben unerschütterlich daran festzuhalten, daß es nach der Bibel das Endziel der Weltgeschichte ist:
„Jesus Christus rex mundi“.
Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet. Die weltüberwindende Kraft des Glaubens muß zuerst im persönlichen Leben einzelner Menschen wirksam werden, die um das Geheimnis der Wiedergeburt wissen. Sind sie nicht vorhanden, so ist das Fundament brüchig. Kein christlicher Staatsmann und wäre er noch so klug, könnte auf solchem brüchigem Fundament aufbauen.
Der Ort aber, an dem sich die Auseinandersetzung des Christen und der christlichen Gemeinde mit der Welt abspielt, ist die Gesellschaft, also jedwede wechselseitige Beziehung von Mensch zu Mensch in Ehe, Familie, Verwandtschaft, Arbeits-, Standes-oder Berufsgemeinschaft, in bäuerlichen oder städtischen Wirtschaftsbetrieben, in den Gewerkschaften und den zahllosen anderen Organisationen, kurzum in der Gesamtheit aller nichtstaatlichen oder vorstaatlichen menschlichen Beziehungen. Hier, — nicht außerhalb dieser Beziehungen ist der Ort, an dem christliches Leben gelebt werden soll. Es gibt keine Verwirklichung im politischen Raum, wenn das gesellschaftliche Leben eines Volkes nicht zuvor in weitgehendem Maße zum Kampfplatz wurde, auf dem Christen-menschen an den Plätzen, an die sie im Leben gestellt sind, mit Ernst und Entschlossenheit als Christen zu leben versuchen. Wenn sie an jedem neuen Alltag in ihrem Beruf und im Zusammenleben mit den Menschen, denen sie zugeordnet sind, bereit sind, die absoluten Wertmaßstäbe des Evangeliums gegen sich gelten zu lassen und allerorts und gegenüber jedermann nach ihnen zu handeln, sich als Bürger des göttlichen Reichs zu bewahren und für den Platz, an dem sie stehen, Verantwortung zu übernehmen, dann wird ein Politikum wirksam, das von schlechthin entscheidender Bedeutung für die Fortentwicklung unserer politischen Gemeinschaft ist. Entscheidungen, die in diesem Raum völlig freiwillig, aus freier, sittlicher Entscheidung heraus fallen, sind unendlich viel wichtiger und bedeutungsvoller, als Ordnungen, die durch staatlichen Zwang aufgerichtet werden.
Konfuzius hat das bedeutsame Wort geprägt: „Nur das Freiwillige hat Bestand." Diesem Wort kommt eine ungewöhnliche Bedeutung zu.
Auf der ökumenischen Konferenz in Evanston wurde von einem der Referenten bei der Besprechung eines ähnlichen Themas folgendes ausgeführt: „Denken wir einmal an einen Mann, der in einer Fabrik mit Massenproduktion arbeitet. Bei aller Mechanisierung der Arbeit wird menschliche Redlichkeit einer der wesentlichsten Faktoren in der Produktion bleiben. Außerdem werden bei aller Mechanisierung immer noch andere Menschen mit ihm zusammen arbeiten. Lind einem christlichen Arbeiter sind die Beziehungen zu diesen anderen Menschen immer noch wichtiger als seine Beziehung zu seiner Maschine. In seinen Beziehungen zu den Menschen um sich herum schafft er die Möglichkeit, sein Leben zu einem Wegweiser zur Liebe und Gnade Gottes zu machen. Lebt er seinem Glauben, so werden seine Kollegen in ihm einen wahren Menschen sehen, dankbar, rücksichtsvoll, aufgeschlossen für die Nöte und Sorgen der anderen, dem am allgemeinen Wohl immer mehr gelegen ist als an seinem eigenen. Er wird, wenn es nötig ist, für Gerechtigkeit kämpfen; er wird aber vor allem versuchen, eine solche Atmosphäre zu schaffen, in der Gerechtigkeit in gegenseitiger Übereinstimmung besteht und nicht das Ergebnis eines Kampfes ist. Mit der Zeit werden dann vielleicht auch andere Arbeiter Christen werden, und so wird eine christliche Gemeinschaft in dieser Fabrik entstehen.
Wieviel Arbeiter kennen Sie, die in der Gesellschaft — die aus all den Menschen besteht, mit denen sie in ihrer Arbeit verbunden sind — den Ort sehen, wo der christliche Glaube bewährt, christliches Zeugnis abgelegt, christliches Leben geführt und die christliche Kirche gebaut werden muß? Wieviel Leiter großer Unternehmen kennen Sie, die das glauben und dementsprechend handeln? Wieviel Menschen in freien Berufen sehen ihren Beruf so an? Wieviel Politiker glauben das von ihrer Partei? Die Antwort auf diese Fragen wird ein ziemlich genaues Bild geben von der Unzulänglichkeit der Unterweisung, die die Kirche ihren Laien in bezug auf ihren Beruf in der Gesellschaft erteilt."
Man kann nun darüber streiten, ob es sich hier um Verwirklichungen im politischen Raum handelt. Aber dies wäre ein Streit um Worte. Halten wir uns an die Wirklichkeit und an die Tatsachen. Ehe die Nationalsozialisten den im engeren Sinn politischen Raum — also die Gewalt über die Staatsführung — erobert haben, eroberten sie schon vor 1933 den vorpolitischen Raum. Gab es nicht damals die heftigsten Auseinandersetzungen in allen Familien, in allen Büros, in allen Werkstätten, in allen Fabriken? Ist nicht damals alles in Bewegung geraten? Die Nationalsozialisten haben es uns vorexerziert, wie man den vorpolitischen Raum erobert. Wir dürfen es uns nicht einbilden, daß wir es billiger bekommen werden wie sie. Der christliche Glaube muß überall dort ins Leben übertragen werden, wo in der modernen und komplizierten Gesellschaft Menscen beieinander leben. Der ganze Teig der menschlichen Gesellschaft muß von der christlichen Substanz durchsäuert sein. Dies ist die erste Voraussetzung für die christliche Verwirklichung im politischen Raum.
Ohne christliche Staatsbürger keine christliche Verwirklichung im politischen Raum Die weitere Voraussetzung für eine christliche Verwirklichung im politischen Raum ist die Existenz von Staatsbürgern, und Poltikern, die aus christlicher Verantwortung heraus handeln. Ohne christliche Staatsbürger gibt es keine christliche Verwirklichung im politischen Raum.
Damit treffe ich eine Feststellung, die mit dem bisher Gesagten im engsten Zusammenhang steht. Jener Referent von der ökumenischen Konferenz in Evanston, von dem ich Ihnen vorhin berichtete, sprach davon, daß er eines Tages zu der Erkenntnis gekommen sei, daß die Politik der Ort seines christlichen Zeugnisses sei. Er wurde deshalb Politiker. Dann berichtete er von seinen Erfahrungen wie folgt: „Die beunruhigendste Entdeckung war die, daß viele unserer protestantischen Kirchen in meiner Gegend aus Leuten bestand, die nicht begriffen hatten, daß Christsein auch heißt, ein guter Staatsbürger zu sein, in einem schöpferischen und aufbauenden Sinn. Jedermann war natürlich der Meinung, daß ein Christ ohnehin insofern ein guter Staatsbürger sei, als er die Gesetze des Staates nicht übertrete. Aber nur wenige begriffen, daß Christ-sein weit mehr ist als nur Einhaltung der Gesetze — daß es bedeutet, die Rechte und Pflichten eines Bürgers auf sich zu nehmen (einschließlich des schlichten Ganges zur Wahlurne), damit die soziale Ordnung erhalten und verbessert werde. Mit anderen Worten: ein guter Staatsbürger im Sinne der Kirche ist ein Statsbürger, der verantwortungsvoll auf der Grundlage des christlichen Verständnisses von der Gesellschaft handelt. Die Glieder unserer Kirchen begreifen das nicht, weil sie von den Kirchen nicht dazu angehalten werden, ihre Pflicht als Staatsbürger als einen notwendigen und wesentlichen Bestandteil ihres christlichen Lebens zu betrachten. Die Kirchen, die ich kenne, sehen es nicht als ihre besondere Aufgabe an, ihre fähigsten Glieder ins öffentliche Leben zu entsenden. Dieselben Kirchen aber fühlen sich besonders verpflichtet, ihre besten Jungen und Mädchen aufzurufen, als Missionare nach Japan, Indien oder Afrika zu gehen, aber eine gleiche Verpflichtung, sie aufzurufen, als Missionare auf die politische Bühne zu gehen, fühlen sie nicht.“
Passen diese Feststellungen nicht auch für Deutschland?
Es genügt nicht, das Wort Gottes zu verkündigen, sich um seine Verwirklichung in Gesellschaft und Staat aber nicht zu kümmern. Welche Folgen hat dies? Adolf Stöcker rief einmal verzweifelt aus: „Ein ganzes Jahrhundert hindurch hatten die geistreichsten Prediger, Männer des Gebets und des Glaubens, des Gewissens und der Gnade auf den Berliner Kanzeln gestanden und das Ergebnis ihrer Arbeit war der völlige kirchliche Bankrott.“ 50 Jahre später gab es zahllose gläubige Christen und an vielen Orten eine lebendige Kirche in Deutschland. Trotzdem fiel Deutschland (teils mit Willen, teils mit Duldung, an den meisten Orten ohne Widerspruch) dem falschen Propheten zum Opfer. Das Ergebnis war der völlige nationale Bankrott. In der Zeit des heraufkommenden Nationalsozialismus haben die politischen Vertreter des katholischen Volksteils dank der Standfestigkeit ihrer Wähler ihre Plätze bis zuletzt behaupten können. Wären die evangelischen Wähler in der Erkenntnis der Gefährlichkeit des Nationalsozialismus ebenso klarsehend und standhaft gewesen wie die Katholiken, so hätte vielleicht die Geschichte einen anderen Ablauf ge-nommen. So aber wurde der deutsche Protestantismus in besonderem Maße zum Rekrutierungsfeld des Nationalsozialismus. Es gab zahllose Menschen, die im Privatleben gute Christen waren. Über ihren persönlichen Bereich hinaus aber waren sie ohne jede Urteilskraft und fielen ohne Hemmung dem falschen Propheten anheim. Die evangelische Kirche Deutschlands als solche aber hat sich erst in Kampfstellung begeben, als Hitler bereits die Macht hatte und das Kind in den Brunnen gefallen war.
Wir wollen doch bescheiden und wahrheitsliebend genug sein, dies ganz offen auszusprechen.
Die deutsche Demokratie ist nicht gefestigt Wie aber ist es heute? Wie wird es morgen sein, wenn die großen Krisen kommen, die wir ganz sicher vor uns haben?
Idi spreche hier nicht als Parteimann. Ich spreche als deutscher Demokrat. Was ich jetzt sage, kann von jedem Politiker, gleich welcher Partei, unterschrieben werden. Die deutsche Demokratie ist nicht gefestigt. Sie befindet sich bis heute in einem sehr kritischen Zustand. Die Zahl der Mitglieder der Parteien ist im Vergleich zur Zahl der wahlberechtigten Bevölkerung geradezu beschämend gering. Nur eine ganz kleine und dünne Schicht von Staatsbürgern hat sich dazu entschlossen, sich einen politischen Arbeitsplatz und einen politischen Standort zu wählen und damit politische Verantwortung zu übernehmen. Es gibt zahllose Christen in Deutschland, die über den fehlenden christlichen Charakter des Volkslebens jammern, die extremsten Forderungen an den Staat stellen, ständig Krokodilstränen über den unzulänglichen Staat und seine Willensträger vergießen, selbst aber keinen Schritt tun, um diesen Zustand zu ändern. Dies bedeutet, daß es den Parteien an den für ihre Arbeit nötigen Kräften vielfach fehlt. Sie haben ein Riesenmaß von Verantwortung. Sie werden heftig kritisiert, aber sie bekommen keine Kraftzufuhr aus der christlichen Gemeinde. Wenn dies nicht anders wird, wird die Demokratie in den Krisenzeiten, die vor uns stehen, ihrer Aufgabe nicht gewachsen sein.
Idi halte es bei dieser Sachlage für eine besondere Aufgabe der Kirchen, unserer in großer Notzeit entstandenen Demokratie christlich gesinnte Staatsbürger zu stellen, die in allen demokratischen Parteien tätig sein sollen. Karl Barth — ich muß gestehen, daß es mir bei seiner politischen Praxis nicht ganz leicht fällt, ihn zu zitieren — sagt in seiner Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde" folgendes: „Die Bürgergemeinde hat kein allen gemeinsames Bewußtsein ihres Verhältnisses zu Gott. So kann man in ihren Angelegenheiten weder an das Wort noch an den Geist Gottes appellieren. Die Bürgergemeinde als solche ist geistlich blind und unwissend. Sie hat weder Glaube noch Liebe noch Hoffnung. Sie hat kein Bekenntnis und keine Botschaft. In ihr wird nicht gebetet und in ihr ist man nicht Bruder und nicht Schwester.“
So trostlos wäre es in der Tat, wenn nicht die Christengemeinde die Bürgergemeinde, — die Kirchen die Willensträger der Demokratie mit Staatsbürgern ausrüsten würden, die als Bürger zweier Reiche etwas vom Wort und Geist Gottes wissen, die Glaube und Liebe und Hoffnung, ein klares Bekenntnis und eine leuchtende Botschaft haben; die Lüge und Wahrheit zu unterscheiden wissen, die am Scheideweg stehend den rechten Weg erkennen, und die etwas davon wissen, daß wir als Brüder und Schwestern miteinander leben sollen.
Bekommen unsere Demokratie in Deutschland und ihre Willensträger, die Parteien, diese Kraftzufuhr von der christlichen Gemeinde nicht, so ist an eine christliche Verwirklichung im politischen Raum auf lange Sicht nicht zu denken.
Bedenken wir weiter, daß wir in einem ideologischen Zeitalter leben. Die großen Geistes-und Machtkämpfe unserer Zeit werden bis zum heutigen Tag jedenfalls von den Machthabern des Ostens in erster Linie mit der Waffe der Ideologie ausgetragen. Die Frage, woraus die Partei des Proletariats ihre Kraft beziehe, hat Lenin in einer berühmt gewordenen Schrift wie folgt beantwortet: 1. aus dem Klassenbewußtsein der proletarischen Avantgarde, ihrer Ergebenheit für die Revolution, ihrer Ausdauer, ihrer Selbstaufopferung, ihrem Heroismus.
2. ihrer Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, mit proletarischen und nicht proletarischen zu verbinden, sich ihnen anzunähern und sich sogar mit ihnen zu verschmelzen.
3.der Richtigkeit der politischen Strategie und Taktik.
Man kann nicht bestreiten, daß diese östliche Ideologie sich dank dieser Eigenschaften allüberall in der Welt in einem fast unaufhaltsamen Vormarsch befindet. Was hat die westliche Welt ihr entgegenzustellen? Ihre Uneinigkeit? Ihren Materialismus? Ihre Unfähigkeit, aus dem Zwiespalt die Einheit zu machen? Ihre Selbstsicherheit? Ihr Vertrauen auf materielle und militärische Macht? Ihren Mangel an geistiger Substanz? Ihre Blindheit gegenüber den eigenen Fehlern?
Meine Damen und Herren! Wir wissen um die Brüchigkeit ideologischer Systeme. Eine westliche Welt aber, die nicht imstande ist, sich mit solchen Systemen mit der scharfen Waffe des Geistes und der Wahrheit auseinanderzusetzen und die nicht über ein festgefügtes Arsenal von absoluten sittlichen und moralischen Werten verfügt, die alle Staatsbürger und vor allem die Willensträger der Demokratie ohne Unterschied der Partei gegen sich gelten lassen, wird in diesem Kampfe nicht bestehen können. Auch aus diesem Grunde wird klar, daß es für eine christliche Verwirklichung im politischen Raum eine entscheidend wichtige Voraussetzung ist, über krisenfeste, selbstlose, dienstbereite, verantwortungsbewußte, an die christliche Wahrheit gebundene Staatsbürger zu verfügen, die mit ihrer gesamten Existenz für das eintreten, was sie für recht erkannt haben.
Grenzen der christlichen Verwirklichung Wir haben uns bis jetzt in einem Bereich bewegt, in dem es einzig auf die sittliche Willensentscheidung des einzelnen, in der Gesellschaft, im vorpolitischen Raum und bei der politischen Willensbildung im Rahmen des modernen demokratischen Staats ankam. Wir haben gesehen, daß es keine christliche Verwirklichung im politischen Raum ohne solche in völliger Freiwilligkeit an Hand absoluter Maßstäbe erfolgender Entscheidungen von Einzelpersönlichkeiten gibt und daß solchen auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgenden Entscheidungen der christlichen Bürger und der christlichen Gemeinde eine außerordentliche große Bedeutung für die Gestaltung der menschlichen Gemeinschaft zukommt.
Durch solche freiwilligen Entscheidungen wird der menschlichen Gemeinschaftsordnung ein Fundament gegeben, das Bestand hat.
Nunmehr ist aber die Frage zu klären, welches die Grenzen der christlichen Verwirklichung in dem — im engeren Sinne — politischen Raum sind, in dem der Staat (ich zitiere die Barmer theologische Erklärung von 1934)
„nach dem Maße menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“ hat.
In diesem Bereiche scheinen die Dinge erheblich anders zu liegen. Der Staat soll zwar in Dingen des Glaubens und der Sitte nicht indifferent sein. Es gibt für ihn keine Neutralität der Werte. Auch für den Staatsmann gelten nach christlichem Verständnis unverzichtbare Maßstäbe wie Recht und Unrecht, Gut und Böse. Diese Maßstäbe hat er nicht aufgerichtet. Sie sind über ihm aufgerichtet. Er hat sie zu bewahren und anzuwenden. Er hat die Guten zu schützen, die Bösen zu strafen. Es gehört zum Wesen des Staates, dabei Zwang und Gewalt anzuwenden und z. B.den Strafrichtern die Macht zu geben, den Menschen, die gegen das Strafgesetz verstoßen, die Freiheit zu nehmen.
Dies ist die Auffassung Luthers, dessen Lehre von den zwei Reichen jahrhundertelang in und außerhalb Deutschlands unerhört mißbraucht und mißverstanden wurde. Seine Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ enthält in ihrem dritten Teil eine An-Weisung für das christliche Verhalten der Staatsmänner, die man auch heute noch fast Wort für Wort unterschreiben kann. Luther bindet die Staatsmänner an das Gesetz der Liebe, das ihnen allein den rechten Weg weisen könne und warnt sie vor Eigennutz und Selbstsucht. Er ermahnt sie in eindringlichster Weise zur Gottesfurcht, Nächstenliebe und Gottvertrauen. Karl Barth bezeichnet als die Aufgabe des Staates ganz allgemein, den Raum für die Verkündigung des Evangeliums frei zu machen. Nadi seiner Auffassung gibt es zwar nicht den christlichen Staat, aber es gibt staatliche Formen und staatliches Handeln, die in einer größeren oder geringeren Affinität zum Evangelium stehen. Es hat also auch der Staatsmann glaubensmäßig bedingte, ethische Entscheidungen zu treffen.
Unzweifelhaft aber setzt die Staatsauffassung der Reformation dem Staate in der Anwendung von Zwang und Gewalt auf bestimmten Gebieten feste Grenzen. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
In der oben angeführten Schrift Luthers „Von der weltlichen Obrigkeit und wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei", hat Luther den zweiten Teil der Erörterung der Frage gewidmet, „Wie weit sich weltliche Obrigkeit erstrecke“. In der Einleitung erklärt Luther, man müsse auch lernen, wie lang der Obrigkeit Arm und Hand reiche, „daß sie sich nicht zu weit strecke und Gott in sein Reich und Regiment greife“. Dies sei sehr nötig zu wissen. „Denn unerträglicher und greulicher Schaden daraus folgt, so man der Obrigkeit zu weit Raum gibt.“ Dann kommt der entscheidende Satz:
„Denn über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen, denn sich selbst allein. Darum wo weltliche Gewalt sich vermißt, der Seele Gesetz zu geben, da greift sie Gott in sein Regiment und verführt und verderbt nur die Seelen. Das wollen wir so klar machen, daß mans greifen sollte, auf daß unsere Junker, die Fürsten und Bischöfe, sehen, was für Narren sie sind, wenn sie Leute mit ihren Gesetzen und Geboten zwingen wollen, anders oder so zu glauben.“
Diese Generallinie zieht sich durch diesen ganzen Teil der Schrift hin.
„Der Seele soll und kann niemand gebieten, er wisse ihr denn den Weg zu weisen gen Himmel.“
„Es ist unmöglich und umsonst, jemand zu gebieten oder zu zwingen mit Gewalt, so oder so zu glauben.“
„Ketzerei ist ein geistliches Ding. Das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken."
Offenkundig also statuiert die Reformation die Freiheit des Menschen sich für den Unglauben zu entscheiden. Dieses ist der entscheidende Grund, der Luther veranlaßt, die Grenzen der Obrigkeit in allen Fragen des Glaubens und der Seele eng zu ziehen und vor der Überschreitung dieser Grenzen eindringlich zu warnen. Er weiß, daß es unzählige Menschen gibt, die sich für den Unglauben entschieden haben und schreckt davor zurück, sie durch staatliche Gewalt zum Glauben oder zu einem entsprechenden Leben zu zwingen. Luther warnt offenkundig vor übergroßen oder schwärmerischen Hoffnungen auf die Ergebnisse der Anwendung staatlicher Gewalt. So eindeutig und entschlossen er die Staatsmänner seiner Zeit dazu ermahnt, auf Gott zu hören und sich von ihm unterrichten zu lassen, so skeptisch und zurückhaltend ist er in seinen Erwartungen, durch weltliches Regiment, also durch Zwangsmaßnahmen die Welt und die breite Masse zu einem christlichen Verhalten veranlassen zu können.
„Die Welt und die Menge ist und bleibt Unchristen, ob sie gleich alle getauft und Christen heißen. Darum leidets sichs in der Welt nicht, daß ein christliches Regiment gemein werde über alle Welt, ja noch über ein Land oder große Menge. Denn der Bösen sind immer viel mehr denn die Frommen.“
Dem weltlichen Regiment wird daher die Aufgabe zugewiesen, „äußerlich Frieden zu schaffen und bösen Werken zu wehren". Aber auch aus Gründen der Staatsklugheit warnt Luther vor enthusiastischen Hoffnungen staatlicher Gewaltmaßnahmen: Ganz kühl erklärt er: „Wer nicht kann durch die Finger sehen, der kann nicht regieren.“ Ganz auf dieser Linie liegt es, wenn Karl Barth der polis die Aufgabe der „Sicherung sowohl der äußeren, relativen, vorläufigen Freiheit der einzelnen als auch des äußeren, relativen, vorläufigen Friedens ihrer Gemeinschaft und insofern Sicherung der äußeren, relativen, vorläufigen Humanisierung ihres Lebens und Zusammenlebens“ zuweist.
Nicht mehr Staat — sondern weniger Staat Sehr beachtlich und sicher auch aus der gleichen Grundeinstellung entsprungen ist die in letzter Zeit mehrfach erfolgte Warnung evangelischer Bischöfe wie Lilje und Dibelius vor der Überforderung des Staates: „Nicht mehr Staat, — sondern weniger Staat“ sei heute das Gebot der Stunde.
Aus allen diesen Gründen ergibt sich ganz klar, daß die Staatsauffassung der Reformation dem Staate kein Mandat dafür gibt, in den gewaltigen Kampf zwischen Glauben und Unglauben mit den Mitteln staatlichen Zwangs und staatlicher Gewalt einzugreifen. Der Anwendung staatlichen Zwangs in Fragen der Weltanschauung, des Gewissens und des Glaubens sind durch Gott selbst und durch die Freiheit des Menschen zwischen Glauben und Unglauben zu entscheiden, Grenzen gesetzt, die nicht übersehen und überschritten werden dürfen. Mit der reformatorischen Staatsauffassung kann weder ein totalitärer noch ein christlicher Polizeistaat vereinbar werden.
Sie sind gefährliche Phantome, vor denen gewarnt werden muß. Auch wenn wir in Deutschland ein der Mehrheit nach christliches Volk wären, — ich habe Anlaß, trotz des Ausfalls der letzten Bundestagswahl vom 6. September 1953 hieran zu zweifeln — hätte der Staat keine Zuständigkeit, in Sachen der Weltanschauung und des Glaubens staatlichen Zwang anzuwenden.
Die Freiheit der Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild und die Abschaffung der Zensur muß unter diesen Aspekten betrachtet und dem Grundsatz nach bejaht werden.
Wenn dies festgestellt wird, so soll damit die Notwendigkeit gesetzlichen Schutzes für die sittlichen und moralischen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft keinesfalls verneint, sondern ausdrücklich bejaht werden.
Gewarnt werden muß aber vor einer Überbewertung staatlichen Zwangs. Hier kommt es entscheidend auf die Akzente an. Bei Ausübung staatlichen Zwangs in sittlichen Fragen besteht immer die Gefahr der Aufrichtung von Fassaden und potemkinschen Dörfern, hinter denen nichts steht. Wenn Menschen in freier sittlicher Entscheidung sich für das Gute und gegen das Böse, für den Glauben und gegen den Unglauben entscheiden, dann ist Raum für das Gute gewonnen, dann hat sich ein Stück christlicher Verwirklichung ereignet. Wenn ich nur ein Polizeiverbot aufrichte, dann werden zwar vielleicht Schwache geschützt, was gut und notwendig sein kann und die Aufgabe des Staates ist, aber das Land hinter dem Polizeivorhang ist noch längst kein für die Herrschaft Gottes erobertes Land. Wenn Menschen geändert werden, ist das Land für das Gute frei. Wenn Gesetze geändert und Verbotstafeln aufgerichtet werden, besteht dafür noch keine Gewähr. Ich weiß, daß viele über diese Frage anders denken und daß ich mich mit diesen Feststellungen der Gefahr aussetze, mißverstanden zu werden. Kein Zweifel kann aber darüber bestehen, daß die freie sittliche Entscheidung einzelner Bürger für das Gute einen größeren und dauerhafteren Wert hat als Polizeimaßnahmen. Die Prohibition in Amerika hat in dieses Land die Herrschaft der Gangster-banden gebracht. Die Herrschaft Gottes im öffentlichen Leben ist nicht in erster Linie durch Polizeimaßahmen, sondern durch die Änderung der Herzen einzelner Menschen zu bewirken. Kommt diese zu Stande, dann sind der Demokratie Kraftquellen erschlossen, die nicht mehr verschüttet werden können. Der Schwerpunkt des christlichen Beitrags für die Schaffung einer guten Gemeinschaftsordnung liegt jedenfalls nicht in Hem, was durch staatlichen Zwang geschaffen werden kann, sondern in dem So-sein und nicht anders sein von Bürgern, die in das Kraftfeld des göttlichen Wortes und Geistes gekommen sind, aus den Gerichten Gottes mit un-serem Volk und den bitteren Erfahrungen unserer Geschichte gelernt haben und in ihrem Wesen und in ihrer Haltung gegenüber sittlichen und politischen Fragen geändert wurden.
Es wäre eine verlockende Aufgabe, jetzt noch in eine Erörterung darüber einzutreten, wie diese Grundsätze etwa auf die heutige politische Situation in der Bundesrepublik anzuwenden sind Im bundespolitischen Raum stehen wir tagtäglich vor Entscheidungen wichtigster Art, die wir nur dann richtig fällen können, wenn wir Klarheit über diese Grundfragen der christlichen Verwirklichung im politischen Raum haben.
Noch haben wir die Freiheit der Entscheidung Zum Schlüsse möge es mir gestattet sein, folgendes auszusprechen: Ein ungeheurer Kampf um die Ordnung und Gestaltung des menschlichen Gemeinschaftslebens durchtobt die Welt. Der Osten ist totalitär bestimmt und will der ganzen Welt eine Ordnung aufzwingen. Die frei-Welt ist heute noch uneinig und zerfallen. Ofenkundig aber mehrt sich angesichts der Verworrenheit der Weltlage die Zahl der Menschen, die der Überzeugung sind, die Menschen täten gut daran, diejenige Art zu leben anzunehmen, die der Herr Christus seinen Nacholgern anbefohlen hat. Vielleicht wird es in nicht zu ferner Zeit gar keine Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Lebens der Menschen mehr geben als die nach dieser Regel. Umso größer ist die Verantwortung der christlichen Gemeinde dafür, daß sie allen Andersdenkenden durch ihre beispielhafte Haltung ein Gemeinschaftsleben nach der christlichen Regel anbietet und anziehend macht.
Der Raum für eine christliche Verwirklichung im politischen Raum ist unerhört weit. Noch haben wir die Freiheit der Entscheidung. Wie lange wir sie noch haben werden, weiß niemand. Niemand ist gehindert, als Arbeiter an die Ernte zu gehen. Niemand ist gehindert in seinem persönlichen Leben, in seinem Familienleben, in seinem Betrieb auf die Stimme seines göttlichen Herrn zu hören und in Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflichten unserem Volk dazu zu verhelfen, diesmal, wieder am Scheidewege stehend, den rechten Weg zu wählen. Wir haben volle Freiheit, auch unseren politischen Gegnern Güte und Freundschaft entgegenzubringen. Gerade von unserer Fähigkeit dies zu tun, wird unendlich viel abhängen. Es ist uns Deutschen bisher nicht gelungen, im innenpolitischen Raum eine Bereinigung zu Stande zu bringen und eine gute Atmosphäre zu schaffen. Es ist uns nicht gelungen, die Herzen der Franzosen zu gewinnen und ihr Mißtrauen und ihre Furcht zu überwinden. Möge es unserem Volke geschenkt werden, durch eine neue, aus göttlichem Geist geschöpfte Lebensqualität einen Beitrag zum Wiederaufbau der Welt zu erbringen, der wir so viel Leid zugefügt haben.
Anmerkung Chester Bowles, ehemaliger Botschafter der Vereinigten Staaten in Indien, ehemaliger Gouverneur des Staates Connecticut und Leiter des Amtes für die Stabilisierung der Wirtschaft; Autor des Buches: „Bericht eines Botschafters“.
Paul Bausch, MdB, geb. 27. Mai 1895 in Korntal. Ab 1910 Laufbahn des gehobenen württembergischen Verwaltungsdienstes. 1914— 18 Kriegsteilnehmer. 1919 Staatsprüfung für den Verwaltungsdienst. 1920 Beamter beim Württembergischen Wirtschaftsministerium. Beschäftigte sich nach seiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg intensiv mit politischen Fragen, besonders mit der Frage, welche politische Haltung der evangelische Christ in der neugegründeten Demokratie einzunehmen habe. 1924 Mitgründer des Christlich-Sozialen Volksdienstes. 1928— 1930 Abgeordneter des Christlich-Sozialen Volksdienstes im Württembergischen Landtag, 1930— 1933 im Deutschen Reichstag. Nach 1945 maßgebliche Beteiligung am Aufbau der CDU in Württemberg-Baden. 1946 Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung, danach des Landtages Württemberg-Baden. Mitglied des Landesvorstandes der CDU Nordwürttemberg. Vor dem Eintritt in den 1. Bundestag Oberregierungsrat und Hauptabteilungsleiter im Wirtschaftsministerium in Stuttgart.