Mit Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus der amerikanischen Zeitschrift „FOREIGN AFFAIRS* den folgenden Artikel von Sir Roger Makins:
Eine neue Phase der internationalen Nachkriegsbeziehungen hat in den ersten Monaten dieses Jahres eingesetzt. Aber erst jetzt ist es möglich zu erklären, wie es dazu kam, und die Bedeutung dieser Entwicklung für die Zukunft abzuschätzen, wobei es sich natürlich nur um eine rein persönliche Deutung aus englischer Sicht handeln kann.
Die internationale Nachkriegsentwicklung • von 1945 bis Ende 1952 zerfällt in zwei Haupt-abschnitte, wie ein Blick über diesen Zeitraum lehrt. In der ersten Phase versuchten die westlichen Nationen das während des Krieges gegründete Konsortium der Großmächte zusammenzuhalten. Nach einigen Schwierigkeiten konnte Frankreich seine moralische Position als Großmacht wieder einnehmen. Die besondere geographische Lage und das Vertrauen der Alliierten glichen seine anfängliche militärische und wirtschaftliche Schwäche 1 im internationalen Kräfteverhältnis wieder aus. Die noch während des Krieges in der Weltpolitik fühlbare Autorität von Tschiang-Kai-Scheks Regime war durch die trostlose politische und wirtschaftliche Situation Chinas endgültig zerstört worden. China wurde still fallengelassen und behielt nur seine rein formale Position im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Diese Phase erstreckt sich von der Potsdamer Konferenz über den Abschluß der weniger wichtigen Friedensverträge bis zum endgültigen Zusammenbruch der Viermächteverhandlungen auf der Londoner Konferenz Ende 1947. Obgleich die westlichen Staatsmänner sich immer weniger Illusionen über die Möglichkeiten einer wirklichen Zusammenarbeit mit Stalin machten, versuchten sie doch, sie nach Kräften im Rahmen des Möglichen aufrechtzuerhalten. Das Treffen im Pariser Palais Rose im Jahre 1949, auf dem nicht einmal eine Tagesordnung für eine Viermächte-Konferenz zustandekam, ist in dieser Richtung der letzte fruchtlose Versuch von Bedeutung gewesen.
Aufbau einer starken Position
Während der zweiten Phase wurde die westliche Front gefestigt und gekräftigt, um gegen die sowjetische Aggressionsdrohung gerüstet zu sein. Die Aufmerksamkeit des Westens konzentrierte sich in dieser Phase mehr auf Europa als auf Asien, und im Juni 1947 lancierte der Westen dann auch den Marshallplan. An dieser Stelle darf vielleicht darauf hingewiesen werden, daß Sir Winston Churchill ihn schon im vorangegangenen Jahr in einer Rede in Fulton (Missouri) angekündigt hatte, in der er ganz offen und klar die Wahrheit aussprach, die die westlichen Staatsmänner erst jetzt zu begreifen beginnen.
Zeitweilig überschneiden sich beide Phasen etwas, obgleich sie sich klar von einander unterscheiden. So besteht zum Beispiel heute noch eine Art Viermächte-Kontrolle in Östereich. Außerdem gab es im Jahr nach der Veröffentlichung des Marshallplanes einen scharfen Bruch zwischen der westlichen und der kommunistischen Welt auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet.
Im Laufe der zweiten Phase erlitt das Gleichgewicht der Kräfte innerhalb der westlichen Welt eine Veränderung, die vor allem die angloamerikanische Partnerschaft berührte, auf der letzen Endes die Stabilität der freien Welt ruht.
So ist zum Beispiel die in der „Truman-Doktrin“
angekündigte Übertragung der in erster Linie englischen Verantwortung für den Schutz Griechenlands und der Türkei auf die Vereinigten Staaten, die sich in der Stationierung einer starken amerikanischen Flotte im Mittelmeer ausdrückt, keineswegs das einzige Beispiel für die Ausdehnung des amerikanischen Einflusses und den Rückgang der englischen Überseeverpflichtungen.
Aber auch nach dieser Neuordnung hat England einen das Maß seiner wirtschaftlichen Kräfte weit überschreitenden militärischen und wirtschaftlichen Beitrag zur Eindämmung der sowjetischen Ambitionen geleistet. England haf auch weiterhin die Hauptverantwortung für den Mittleren Osten getragen, hat starke Streitkräfte in Malaya, Hongkong und in den fernöstlichen Gewässern unterhalten und eine wichtige Rolle in Korea gespielt.
Während dieser ganzen Zeit hielt man vor allem Europa von „tödlicher Gefahr" bedroht.
Wenn es Rußland, das zu jener Zeit militärisch sc viel stärker war als der Westen, geglückt wäre, sich des strategischen Potentials Deutschlands und Frankreichs zu bemächtigen oder auch nur seiner Herrschaft zu unterwerfen, so würde es sich damit eine Position geschaffen haben, mit der die übrige freie Welt es nicht mehr hätte aufnehmen können. Die Hauptanstrengungen konzentrierten sich daher auf eine Stärkung Europas, zuerst auf wirtschaftlichem dann auf militärischem Gebiet. Die entsprechenden Maßnahmen gipfelten in der Bildung des Nordatlantikpaktes und einer koordinierten westlichen Militärorganisation unter SHAPE. In jenen Tagen schien die Gefahr so bedrohlich, daß der Westen auf die möglichst schnelle Aufstellung von Streitkräften drängte. Der Plan einer politischen und wirtschaftlichen Integration stand zu jener Zeit natürlich im Vordergrund der europäischen Politik des Westens.
Die großen Anstrengungen haben Früchte getragen. Die Nordatlantikpaktorganisation ist ins Leben gerufen worden und SHAPE hat das Kommando übernommen. Westeuropa war gerettet, und die Front entlang dem Eisernen Vorhang war jedenfalls für den Augenblick gefestigt worden. Während der Westen in Europa seine Position stärken konnte, vollzog sich in Asien eine große Wandlung. In Indien ist der Machtwechsel dank der Aufrechterhaltung der Beziehungen zu England glücklich vonstatten gegangen, und das Englische Commonwealth hat seine innere Verbundenheit und Anpassungsfähigkeit ungeachtet interner Spannungen in allen Punkten der Welt bewiesen. In ganz Asien aber stürmte der Nationalismus vorwärts. In einer Rede in Warschau im Jahre 1947 forderte Schdanow die Kolonialvölker auf, sich zu erheben und die Bedrücker zu vertreiben. 1948 verstärkte sich im Fernen Osten die kommunistische Wühlarbeit und führte im gleichen Jahr in Burma, Indonesien, Indochina und Malaya zur Anwendung von Gewalt und Willkür. Später kam der Koreakrieg. Der eigentliche kommunistische Vorstoß erfolgte also im Fernen Osten und nicht in Europa, wie jetzt die Entwicklung bewiesen hat und was einige Leute schon längst erkannt haben.
Entspannung an der Oberfläche
Nadi meiner Ansicht sind die internationalen Nachkriegsbeziehungen nach dem Tode Stalins zu Beginn des Jahres 1953 in eine neue Phase getreten. Auch diese kündigte Sir Winston Churchill in einer berühmten Rede an, und zwar in der am 11. Mai dieses Jahres im Unterhaus gehaltenen Ansprache.
Nicht nur der Tod des starrköpfigen Diktators im Kreml und die Entwicklung der Atomwaffen in Rußland und Amerika haben nach meiner Meinung zur dritten Phase geführt, sondern auch die erfolgreiche Zusammenraffung westlicher Entschlossenheit und Kraft.
Diese dritte Phase weist gewisse charakteristische Züge auf. Die Beziehungen Sowjetrußlands zu den anderen Ländern haben sich wenigstens an der Oberfläche etwas entspannt, eine Reihe von Konzessionen von geringerer Bedeutung sind gemacht worden; die Reisebeschränkungen für Ausländer von und nach der Sowjetunion wurden gelockert und Sowjetrußland hat den Konkurrenzkampf im internationalen Sport energisch ausgenommen, wie seine erfolgreiche Teilnahme an der Henley-Regatta im vergangenen Juli bewiesen hat.
Im Laufe dieses Jahres ist die sowjetische Regierung der UNESCO beigetreten, ist wieder Mitglied der I. L. O. geworden und hat ganz allgemein von neuem Interesse für eine Betätigung auf internationalem sozialem und wirtschaftlichem Gebiet gezeigt. Auch ihre Diplomatie ist geschmeidiger geworden. Auf der Berliner und Genfer Konferenz hat es keine endlosen Diskussionen über die Tagesordnung gegeben. Die sowjetischen Vertreter zeigten sich in Verfahrens-fragen entgegenkommend, und beide Konferenzen konnten sich ohne Verzug mit den wesentlichen Problemen befassen.
Auch die dritte Phase hatte schon begonnen, bevor die vorangegangene abgelaufen war. Schon vor Stalins Tod machte sie sich durchaus bemerkbar. Und das Ziel des Westens in der zweiten Phase, der Aufbau einer starken Position, ist noch nicht ganz erreicht worden. So sind zwei der vier größten Industriestaaten der freien Welt Deutschland im Westen und Japan im Osten, nicht in das Verteidigungssystem der freien Welt eingegliedert worden. Während in Europa ein hoher Grad politischer und wirtschaftlicher Stabilität erreicht worden ist, bleibt abzuwarten, ob das kommunistische Vordringen in Asien wirklich aufgehalten werden konnte.
Wie sollen wir die Haltung der neuen sowjetischen Führer zu den Weltproblemen und der Politik Rotchinas beurteilen?
Nichts läßt darauf schließen, daß die neuen sowjetischen Führer theoretisch und praktisch nicht mehr der marxistisch-leninistischen Ideologie anhängen. In allen wesentlichen Punkten hat sich das Regime nicht geändert. Der sich auf die kommunistische Partei stützende Machtapparat scheint so fest unter Kontrolle zu stehen wie nur je. Die Berija-Episode und ähnliche sich gegenwärtig abspielende Konflikte, deren Verlauf wir nur undeutlich erkennen können, sind Machtkämpfe innerhalb des Systems und keine Revolte gegen es. Daß die Macht nicht mehr länger in der Hand eines Mannes konzentriert ist, sondern das sowjetische Reich gegenwärtig von einer Junta oder einem Ausschuß, d. h. durch einen sowjetischen Rat regiert wird, ist wohl die wichtigste Veränderung. Mäßigende Einflüsse können sich leichter in einem Ausschuß als unter der Autokratie einer Person durchsetzen. Wie die Dinge auch immer liegen mögen, die gegenwärtigen Machthaber Rußlands versuchen jedenfalls den Eindruck zu erwecken, als ob sie sich von den extremen Erscheinungsformen des Stalin-sehen Polizeistaates äußerlich und innerlich distanzieren würden. Der Status der Sicherheitspolizei wurde beschnitten; das neue Landwirt-schaftsund Verbraucherprogramm bemüht sich sichtlich, die Auswirkungen der von Stalin übermäßig geförderten Entwicklung der Schwerindustrie zu mildern; auch auf verschiedenen anderen Gebieten, wie z. B. in den Beziehungen zu anderen Mächten erwies sich die sowjetische Führung als weniger starr und viel realer in der Verfolgung ihrer Politik.
Noch 'immer streben die sowjetischen Führer nach dem gleichen Ziel. Doch sind sie viel geschmeidiger und geschickter in der Methode. Sie haben Umfang und Durchschlagskraft der riesigen sowjetischen Streitkräfte nicht angetastet, auf die die ganze sowjetische Wirtschaft ausgerichtet ist.
Die Armee der Sowjetunion wird im Gegenteil laufend mit den modernsten ballistischen und thermonuklearen Waffen ausgerüstet. Sie vertreten und lehren weiterhin die Ansicht, daß es keine echte und dauernde Verständigung mit dem Westen geben könne. Ihre Politik im Januar und Februar auf der Berliner Konferenz hat deutlich gezeigt, daß sie ungeachtet ihrer höflichen Worte fest entschlossen sind, nichts aufzugeben. Augenblicklich finden sie es einfach nützlich, eine Periode sogenannter „friedlicher Koexistenz" herbeizuführen.
Es ist bedeutsam, daß sie die mächtigste der westlichen Nationen, die Vereinigten Staaten, als ihren Hauptgegner erkannt haben. So ist die Isolierung der Vereinigten Staaten eines der Hauptziele der kommunistischen Tätigkeit. Durch den Versuch, den atlantischen Ozean breiter und tiefer erscheinen zu lassen, versuchen sie in Europa die anderen westlichen Nationen durch verführerische und schmeichelnde Worte von Amerika zu entfernen, und in Asien machen sie sich jede tatsächliche oder mutmaßliche Meinungsverschiedenheit Englands und Amerikas über die Behandlung gemeinsamer Probleme in diesen empfindsamen Ländern zunutze.
In Europa hat sich der Grundsatz sowjetischer Politik nicht geändert. Es bleibt das Hauptziel der Sowjetunion, die Kontrolle über Osteuropa zu behalten, die NATO zu zerstören und ihren* Einfluß nach Westen auszudehnen. Sie möchte die politische Verbindung der Bundesrepublik mit dem Westen und einen deutschen militärischen Beitrag zur westlichen Verteidigung in Form der EVG verhindern. Der Vorschlag eines rein europäischen „Sicherheitssystems" dient nur diesen Zwecken. Es ist sehr wohl denkbar, daß sich der kommunistische Block bei Verfolgung dieser Ziele in Europa defensiv verhalten und die sichtlich besseren Möglichkeiten in Asien und ganz allgemein in den unterentwickelten Gebieten ausnutzen wird. Angesichts der emporkommenden Macht Rotchinas kann der Kreml im Fernen Osten jetzt nicht mehr nur noch nach eigenem Gutdünken handeln. In den Jahren zwischen den Kriegen hat er die chinesischen Kommunisten in nur geringem Maße unterstützt, weil ihm vor allem an der Eindämmung der japanischen Expansion lag, wofür ihm die chinesische Nationalregierung als das beste Mittel dünkte. Erst nach der Niederlage Japans im Jahre 1945 hat Rußland den chinesischen Kommunisten aktive Hilfe zuteil werden lassen, wobei es stets ein Auge auf der Mandschurei und auf anderen Schlüsselpunkten hatte. Vielleicht hoffte Stalin, der Kampf werde sich hinziehen oder China sogar geteilt werden, wodurch die Kommunisten in größere Abhängigkeit von ihm geraten wären. Wie dem auch gewesen sein mag; Mao Tse-tungs unerwartet schnelle Eroberung des chinesischen Festlandes hat zur Bildung einer unabhängigen kommunistischen Regierung geführt, also zu etwas ganz anderem als zu dem üblichen sowjetischen Satellitenstaat. So wie sich in der Sowjetunion die Marxistisch-Leninistische Lehre mit den traditionellen Formen des russischen Imperialismus vermischt hat, besteht auch die Möglichkeit, daß der chinesische Kommunismus sowohl innerhalb der Landesgrenzen als auch in seinen außenpolitischen Zielen eine ausgesprochen chinesische Prägung erhält. Im Augenblick kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Moskau und Peking eng zusammenarbeiten und beide Staaten weitgehend voneinander abhängig sind. Doch haben sie zweifellos auch manche Interessen, die nicht parallel laufen und deren Entwicklung weder Zeit noch Kontakte mit dem Westen aufhalten werden.
Das Charakteristikum der dritten Phase ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Ost und West über die wichtigsten Probleme. Die am 10. Juli 1951 eröffneten koreanischen Waffenstillstandsverhandlungen wurden am 27. Juli 1953, ungefähr vier Monate nach dem Tode Stalins, abgeschlossen. Ergebnislose Verhandlungen wurden über die Einberufung einer politischen Koreakonferenz geführt. Schließlich brachte die Berliner Konferenz das im koreanischen Waffenstillstand vorgesehene politische Gespräch in Gang und setzte Indochina auf die Tagesordnung, wenn sie auch in europäischen Fragen, die eigentlich auf ihr verhandelt werden sollten, keine Fortschritte erzielen konnte. Auf der danach folgenden Genfer Konferenz konnte die Koreafrage zwar nicht gelöst werden, doch wurde ein Waffenstillstand in Indochina zustandegebracht. In Unkenntnis der historischen Tatsachen haben viele den Waffenstillstand als ein fernöstliches München bezeichnet; doch handelt es sich im Grunde nur um das gleiche Ergebnis wie in Panmunjon. 18 Monate nach Beginn der dritten Phase gab es zum ersten Mal seit 20 Jahren, abgesehen von Guerillakämpfen in Malaya und Zwischenfällen in der Formosastraße, keinen Krieg mehr im Fernen Osten.
Die Einstellung der Kampfhandlungen ist natürlich nicht gleichbedeutend mit einem Friedensschluß. Wir haben bis heute nicht viel mehr erreicht als eine unsichere Waffenruhe. Die Spannungen haben nicht aufgehört und werden vermutlich auch weiterhin zu Zwischenfällen führen, wie sie vor der Bildung der NATO in den Jahren 1947 und 1948 in Europa und im besonderen in Deutschland vorgekommen sind.
Aus diesem Grunde sollten England und die übrigen Alliierten der neuen politischen Linie der dritten Phase nur vorsichtig folgen. Wir wissen nicht, wie lange sie anhalten wird. Die beiden vorangegangenen Phasen haben nicht länger als acht Jahre gedauert, wenn meine Deutung richtig ist. Bisher sind erst 18 Monate der letzten Phase vergangen, und ihre von mir beschriebenen charakteristischen Merkmale können sich ändern — wenn auch nicht über Nacht, so doch sehr schnell. Wenn wir die Absicht oder Aufrichtigkeit der verschiedenen kommunistischen Bemühungen zur Herbeiführung einer allgemeinen Entspannung falsch gedeutet hätten, so könnten wir zu einer drastischen Revision unserer eigenen Politik gezwungen sein. Niemand von uns darf die Möglichkeit außer acht lassen, daß ein unbewachter Funke, ein leichtsinniges Feuerwerk in irgendeinem der hochexplosiven zwischen Ost und West liegenden Gebiete über Nacht einen Brand auslösen können, den niemand sofort eindämmen könnte. Vielleicht ist eine vierte und weit unangenehmere Phase schon im Anzuge.
Probleme des Westens
Oberflächliches Nachlassen der Spannungen zwischen der kommunistischen und freien Welt kennzeichnet die dritte Phase. Welchen Problemen sieht sich der Westen bei diesem Stand der Dinge gegenüber? Vor allem wird es schwieriger werden, die westlichen Nationen bei der Stange zu halten, weil der starke Druck des starren Stalinismus etwas nachgelassen hat. Am stärksten ist der Druck im Fernen Osten und zwar aus zwei Gründen: In den Gebieten rot-chinesischer Ausdehnungsbestrebungen ist es zu regelrechten Kampfhandlungen gekommen. Zweitens ist die Haltung der Westmächte hier weniger einheitlich und ihre Politik daher nicht so eng koordiniert wie woanders.
Denn in vielen Teilen der Welt regen sich wieder alte politische Kräfte, die der Krieg gegen die faschistischen Mächte und später der Zusammenschluß der freien Welt gegen den Kommunismus zum Verstummen gebracht hatten. Man kann sie ganz allgemein als nationalistische und neutralistische Tendenzen bezeichnen. Am stärksten machen sie sich in Europa bemerkbar.
Die europäische Integrationsbewegung ist ge-
schwächt worden, woran vor allem Frankreichs Abneigung schuld ist, sich an die EVG zu binden.
Gleichzeitig macht sich die Neigung bemerkbar, das Hauptaugenmerk nicht auf Sicherheitsfragen, sondern auf die weniger wichtigen, Jahrhunderte alten territorialen Probleme, z. B. auf die Saar-
und Triestfrage zu richten. Unter der Oberfläche der Nachkriegsdemokratien in Deutschland, Italien und Japan ist wieder eine bisher noch schwache Vorliebe für alte politische Formen und Gewohnheiten fühlbar; diese Entwicklung aber begünstigt in anderen westlichen Ländern-zum Beispiel in der Frage der deutschen Wieder-bewaffnung — gerade gegensätzliche Tendenzen.
In den Vereinigten Staaten ist über die Verbündeten und die Wirkung kollektiver Maßnahmen eine gewisse Enttäuschung, die zwar noch nicht als Isolationismus anzusprechen ist, und ein starker Widerstand gegen eine liberale Handelspolitik spürbar. Ein guter Beobachter wird auch in England ähnliche Tendenzen wahrnehmen.
Es ginge zu weit, der veränderten sowjetischen diplomatischen Taktik allein das Wiederaufleben dieses politischen Gedankengutes und Verhaltens auf nationalem und internationalem Gebiete zuzuschreiben. Sie sind gefühlsmäßig bedingt, woran in keinem Fall ein Zweifel besteht.
Doch könnte das Nachlassen internationaler Spannungen ihre Wiedergeburt sehr wohl angeregt und beschleunigt haben. Da sie die Uneinigkeit zwischen den westlichen Mächten fördern, bilden sie für ihre Einigkeit eine dauernde Gefahr.
Das Ziel englischer Außenpolitik in der dritten Phase der internationalen Nachkriegsbeziehungen ist das gleiche, was es immer gewesen ist:
Frieden durch Stärke. Wir sind für internationale Zusammenarbeit, für die Wahrung des Rechtes und für eine möglichst geringe Anwendung der Stärke. Daher unterstützen wir die Vereinten Nationen, nicht etwa, weil wir sie für eine vollkommene Einrichtung halten, sondern weil wir der Ansicht sind, daß sie sich als ein wirksames Instrument internationaler Zusammenarbeit erwiesen haben und zur Regelung von Streitfragen fähig sind. Wenn auch die Entfremdung der Großmächte die Durchführung ihrer Empfehlungen zeitweilig verhindert hat, so sind sie doch immer noch wertvoll als Forum, auf dem die Ansichten des Ostens und Westens ausgetauscht und diskutiert werden können, und auf die man immer zurückgreifen kann, wenn andere Methoden für die friedliche Regelung von Streitfragen versagt haben oder überhaupt nicht zu Gebote stehen. Da wir an Frieden und Fortschritt glauben, bemühen wir uns, die Last und die Gefahr der Waffen, vor allem der Atomwaffen, auf jede Weise zu mindern, falls eine gleichmäßige internationale Kontrolle gewährleistet ist und die Demokratien nicht die Beute einer geheimen Verschwörung totalitärer Mächte werden können.
Ein wichtiges Anliegen englischer Außenpolitik muß immer das wirtschaftliche Gedeihen unserer dichtbevölkerten Insel sein, die den größten Teil ihrer Nahrungsmittel und Rohmaterialien importieren und mit ihren Exporten bezahlen muß. Aus diesem Grunde glauben wir Engländer an die Bedeutung des wirtschaftlichen Faktors für internationale Beziehungen. Wir halten es für notwendig, daß die freien Nationen die Wirtschaft auf eine gesunde Basis stellen. Napoleon wollte uns kein Kompliment machen, als er uns eine Nation von Krämern nannte. Aber im Spott lag ein Körnchen Wahrheit. Sir Eyre Crowe wußte es in seinem 1907 geschriebenen berühmten Memorandum besser auszudrücken: „Der Sehnsucht nach Unabhängigkeit folgt an zweiter Stelle die Wertschätzung des freien Handels und Verkehrs auf allen Weltmarktplätzen, und je stärker England den Grundsatz größtmöglicher Handelsfreiheit verteidigt, desto größer wird zweifellos sein Einfluß auf andere befreundete Nationen . . England als Zentrum des Sterlingblocks befürwortet weltumspannende internationale Handels-und Finanzbeziehungen und lehnt daher eine regionale Behandlung der Fragen ab. Dieser Standpunkt gilt sowohl für den Handel zwischen Osten und Westen als auch für den Handel in der freien Welt.
Zu Beginn des Jahres 1952 versuchten die Mitgliedstaaten des Commonwealth die Wirtschaft der freien westlichen Welt im einzelnen und im ganzen auf eine solidere Grundlage zu stellen, und zwar durch eine klare innenpolitische Linie und Regelung der Handelsbeziehungen mit dem Auslande, um auf diese Weise den Handels-verkehr stärker zu liberalisieren und die Konvertibilität zu vergrößern. Schuldner und Gläubiger müssen auf dem Finanz-und Handelsgebiet gleichzeitig Maßnahmen ergreifen. Viel hängt von der Gewißheit ab, daß sich die auswärtige Handelspolitik der Vereinigten Staaten, als größter Gläubigerstaat der Welt, in liberaler Richtung entwickelt. Bis jetzt hat Amerika die in dieser entscheidenden Frage in es gesetzten Hoffnungen noch nicht erfüllt. Es ist aber wichtig, daß der Impuls nicht wieder verloren geht.
Aus zwei Gründen lege ich auf den Wirtschaftsfaktor in dieser dritten Nachkriegsphase besonderen Nachdruck.
Erstens aus Gründen der Verteidigung. Es ist eine Binsenwahrheit, daß ein demokratisches Land ohne gesunde Wirtschaft sich keine adäquate Verteidigung leisten kann. Umgekehrt ist es daher unsinnig, Streitkräfte aufzubauen, deren Umfang die Kapazität der Wirtschaft auf die Dauer übersteigen muß. Oder anders ausgedrückt: Verteidigungsprogramm, Ein das die Wirtschaft eines Landes zu sehr belastet, kann nicht beständig sein. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß die Einführung der neuen langfristigen Verteidigungspolitik, im Volksmunde „New Look“ genannt, mit dem Beginn der dritten Phase internationaler Nachkriegsbeziehungen zusammenfällt. Doch ist das zeitliche Zusammentreffen zu stark dramatisiert worden—im Grunde ist es nur die Folge normaler Regierungstätigkeit, die Verteidigungserfordernisse unter Berücksichtigung drohender Kriegsgefahr, wirtschaftlicher Möglichkeiten und der Entwicklung neuer Waffen und Methoden in der Kriegsführung zu überprüfen. Jedes einzelne Land und die NATO als kollektive Verteidigungsorganisation ist verpflichtet, derartige kombinierte politische, wirtschaftliche und strategische Überlegungen über Umfang und Art der erforderlichen Streitkräfte anzustellen. Es hat den Anschein, als ob die Kriegsdrohung in der dritten Phase geringer geworden sei, aber der Westen über einen langen Zeitraum hinweg stark und wachsam bleiben müsse. Die englische Verteidigungspolitik paßt sich laufend und methodisch dem wechselnden internationalen Klima an.
Zweitens die Vergrößerung der eigenen Wirtschaft wird die westlichen Mächte instand setzen, die abhängigen oder unabhängigen unterentwik-kelter Länder stärker zu fördern. Der Kampf gegen die Ausbreitung des Kommunismus wird in der dritten Phase weitgehend vom Urteil der Bewohner unterentwickelter Länder abhängen. Sie werden abwägen, ob ihnen die westliche oder die kommunistische Gesellschaftsform und die Annahme westlicher oder kommunistischer Hilfe bessere Chancen für die Erhöhung ihres eigenen Lebensstandards und die Befriedigung ihres nationalen Ehrgeizes bieten. Vielen Ländern, die zwar unabhängig und durchaus in der Lage sind, in Friedenszeiten eine gesunde Wirtschaft aufzubauen, fehlt es an entsprechenden technischen Einrichtungen und finanziellen Hilfsquellen, unter den heutigen Umständen, eine erforderliche Verteidigungsorganisation aufzubauen. -
Nach meiner Ansicht müßte den betreffenden Ländern je nach den örtlichen Gegebenheiten die Hilfe in einer Form gegeben werden, die ihnen die Annahme gestattet, und in einem Umfange, der von höher entwickelten Ländern billigerweise gefordert werden darf. Glücklicherweise sind die Vereinigten Staaten mit ihren großen Hilfsquellen bereit, den Löwenanteil der notwendigen umfangreichen Darlehen, Anleihen, Investierungen aller Art sowohl auf dem militärischen wie auf dem zivilen Sektor zu übernehmen. Audi wir leisten einen Beitrag. Obgleich die Vereinig-'
ten Staaten die Hauptlast der Verantwortung für die Unterstützung Griechenlands und derTür-
kei, jetzt glücklicherweise Mitglieder der NATO, übernommen haben, helfen wir zusammen mit den Vereinigten Staaten, den Niederlanden und Frankreich dem Iran bei der Erhöhung des Boden-ertrages, und in den arabischen Ländern sind in erster Linie immer noch wir für die Verteidigung und Förderung dieser unterentwickelten und hoch empfindlichen Gegend verantwortlich. Wir in England empfinden eine großeBefriedigung über die Ende Juli innerhalb zweier kurzer Wochen erfolgten Lösung langwieriger Streitfragen zwischen Ägypten, Saudi-Arabien und dem. Iran, und wir erkennen den Beitrag an, den die amerikanische Diplomatie zur Erreichung dieser Ergebnisse geleistet hat. Wir hoffen, daß durch diese Abkommen die Stellung des Westens im Mittleren Osten stärker und die Beziehungen zu seinen Völkern besser werden. Sie werden England erlauben, wieder bewegliche Reserven aufzubaucn, wodurch es mehr Bewegungsfreiheit in anderen Ländern der Erde erhalten wird.
Die englischen Inseln sind natürlich nur das Herz des englischen Reiches. Unser Schicksal, unsere Wirtschaft und Gefühle aber sind eng mit den anderen souveränen Staaten des Commonwealth verbunden, was zu einer einzigartigen und vielfältigen Zusammenarbeit zwischen England, den übrigen Staaten mit vorwiegend englischem Charakter und den neugebildeten, durch die Umformung der alten Kulturen Indiens entstandenen Nationen geführt hat. Wir sollten Sorge, Mühe und Geld nicht scheuen, um den noch abhängigen Ländern des Empire zur Selbstregierung zu verhelfen und ihre Entwicklung zu fördern.
Eine Diskussion der Kolonialfrage in diesem Zusammenhang hat oft die wahren Probleme nur verdunkelt, in denen es darum geht, die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Völker so weit voranzutreiben, daß sie in der Lage sind, sich in der heutigen Welt zu behaupten.
Immer noch neigen die Amerikaner dazu, ihr Wissen über den Kolonialismus aus Schulbüchern und unklaren Vorstellungen über die rotröcki-
gen britischen Soldaten zu beziehen; oder sie denken an die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonialgebietc gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Das alles gehört der Vergangenheit an. Kein ehrlicher Kritiker könnte England jetzt noch des Mangels an kühner Initiative bei der Förderung von Selbstregierungsbestrebungen in den englischen Kolonien zeihen. Viele Leute sind im Gegenteil in den letzten Jahren sogar der Ansicht gewesen, wir gingen zu schnell vorwärts. Nach unserer Überzeugung haben wir die Aufgabe übernommen, abhängige Völker soweit zu fördern, daß sie imstande sind, die wachsende Vielfalt eines modernen Staates zu meistern. Dieser Pflicht müssen wir auch weiterhin nachkommen.
Es erübrigt sich wohl, an dieser Stelle die schnelle Entwicklung an der Goldküste und in Nigeria, die Pläne für einen Staatenbund in Westindien und die in Malaya und Kenia — ungeachtet der ungeordneten Verhältnisse — erzielten Fortschritte zu erwähnen.
Es wird auch viel wirres Zeug über den „Kolonialismus" mancher Gegend geredet, so z. B. über den Mittleren Osten. Da der Kommunismus seine Angriffe auf den vermeintlichen Kolonialismus und Imperialismus des Westens wahrscheinlich intensivieren wird, müssen wir uns unbedingt über die Bedeutung der Begriffe klar werden und keine Ausdrücke gebrauchen, die unsere Stellung untergraben könnten. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen sind viele Länder wirtschaftlich und militärisch ohne auswärtige Hilfe offensichtlich nicht lebensfähig.
Diesen Ländern aber kann nur geholfen werden, wenn sie selbst auf halbem Wege entgegenkommen.
Die Vereinigten Staaten (und das Vereinigte Königreich) verbinden ihre Hilfe mit einem absoluten Minimum an Einmischung in die Angelegenheiten und Zielsetzungen der betreffenden Länder. Die Sowjetunion hingegen und zweifellos auch Rotchina würden ihre Unterstützung nur bei einem Maximum an zentraler Kontrolle, Bedrückung und Unterordnung gewähren.
Der Ferne Osten noch immer Prüfstein westlicher Diplomatie
Über die Europapolitik Englands möchte ich an dieser Stelle nicht viel sagen. Sie beschränkt sich auf die Unterstützung einer schrittweisen Integration. Noch immer ist Europa von entscheidender Bedeutung. Es befindet sich gerade wieder an einem Wendepunkt. Mit großer Befriedigung kann man es nur zur Kenntnis nehmen, daß die englische und amerikanische Politik gerade auf diesem entscheidenden Gebiet eng und harmonisch zusammenarbeitet.
Der Ferne Osten aber dürfte noch immer der wahre Prüfstein westlicher Diplomatie sein. Dem Westen stellt sich die große Aufgabe, in den freien Teilen Asiens Bereitwilligkeit und Fähigkeit, sich gegen den chinesischen Imperialismus zu behaupten, zu fördern und zu erhöhen. Denn der Westen kann diese riesengroße und nie endende Aufgabe nicht allein bewältigen, wenn der größte Teil Asiens gleichgültig zuschaut oder sich sogar feindlich verhält. Die beiden Schlüsselmächte sind Indien als das größte und einflußreichste Land im freien Asien, und Japan mit seinem großen industriellen und technischen Potential.
Aber auch jede andere Nation in Süd-und Ost-asien spielt eine Rolle. Wir müssen uns nach meiner Ansicht im Fernen Osten so verhalten, daß die asiatischen Völker von unseren guten Absichten überzeugt sind und uns zu Verbündeten in ihrem Kampfe gegen den kommunistischen Imperialismus machen, der sich hinter dem trügerischen Kampfruf „Asien den Asiaten“ verbirgt.
Ob unsere Taten und unser Verhalten die noch an keine Seite gebundenen Völker Asiens überzeugen können oder nicht zu überzeugen vermögen, daß sie bei einem Anschluß an den Westen die größere Chance haben, ihre nationalen Zielsetzungen zu erreichen und Lebensstandard und Wohlergehen zu erhöhen, das wird das Ergebnis unserer Bemühungen bestimmen. Aus diesem Grande sind wir in England der Ansicht, daß der Westen sich nicht in Asien durch Krieg oder Blockade mit einer Politik der Zerstörung identifizieren noch irgendeinem asiatischen Lande etwas vorenthalten darf, was die Asiaten als ihren rechtmäßigen Anspruch betrachten. Aus dem gleichen Grunde schenken wir den Standpunkten der sogenannten „Colombo-Mächte* Beachtung, was einige Amerikaner für übertrieben halten. Gerade jene Nationen aber wollen wir ja auf unsere Seite ziehen. Natürlich müssen wir uns Angriffen widersetzen. Aber das wahre Problem besteht in der Stärkung des Widerstandes gegen Durchdringung und Unterwanderung, deren sich wahrscheinlich der Kommunismus in den allernächsten Jahren zur Ausbreitung bedienen wird. Es muß daher unser Hauptziel sein, das von China zerstörte Gleichgewicht der Kräfte in Asien geduldig wieder aufzubauen.
Hierfür muß jede Kraftquelle erschlossen werden.
Es verlangt von Indien die Übernahme von Verantwortung. Indien hat, zuerst in Korea und dann in Indochina, ständig an Bedeutung gewonnen und die Last der Verantwortung auf die Schulter genommen.
Wenn es uns glückt, ähnlich wie in den von Rußland auch in den von China bedrohten Ge-bieten eine Art Gleichgewicht herzustellen, wird die Drohung einer kommunistischen Expansion durch Waffengewalt geringer werden. Es wird dann unsere Aufgabe sein, durch günstigere Lebensbedingungen auf der westlichen Seite mit der Unterwanderung und Infiltration fertig zu werden. Wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt müssen ständig sich auf dem Vormarsch befinden.
Die entscheidende Frage ist vielleicht, ob eine „friedliche Koexistenz" zwischen der kommunistischen und nicht-kommunistischen Welt möglich ist. Obgleich dieser Ausdruck heute ganz allgemein gebraucht wird, schätze ich ihn nicht übermäßig. Denn im sowjetischen Sprachgebrauch hat er einen technischen Sinn und deshalb im Westen und Osten jeweils eine ganz verschiedene Bedeutung. Die Russen bezeichnen damit eine vorübergehende Entspannung, die ihnen Zeit läßt, das kommunistische Potential zu stärken und die Entschlußkraft der freien Welt zu untergraben. Also eine Art . vorübergehende Kriegsunlust“. Die Herstellung eines „modus vivendi“ zwischen Ost und West halte ich hingegen für unser Ziel. Da dieser Ausdrude einer toten Sprache angehört, wird sein Sinn vielen dunkel bleiben, und er ist daher weit weniger der Gefahr ausgesetzt, ein volkstümliches Schlagwort zu werden. Außerdem kommt er der Idee eines auf dem Frieden durch Stärke ruhenden Gleichgewichts viel näher als irgendein anderes Synonym.
Zwischen England (und Europa im allgemeinen) und denVereinigten Staaten gibt es zweifellos einen bemerkenswerten Unterschied in der allgemeinen Ansicht, ob die Herstellung eines „modus vivendi“ nur ein wünschenswertes oder auch ein erreichbares Ziel ist. Die Voreingenommenheit Amerikas gegenüber Rotchina scheint die amerikanische Politik gegenüber dem Ostblock entscheidend zu beeinflussen. Die Vereinigten Staaten weigern sich grundsätzlich, die Bedeutung oder auch nur die Beständigkeit des kommunistischen Regimes in Peking anzuerkennen. Gibt es denn überhaupt einen beschreitbaren Mittelweg in den Beziehungen zu Rotchina, der zwischen der Politik des Präsidenten Syngman Rhee und der der englischen Regierung liegt?
Gibt es auf die Dauer gesehen einen dritten Weg, der zwischen dem Kampf gegen Rotchina und einer Verständigung mit ihm liegt? Die kritischen Äußerungen in Europa entzünden sich wahrscheinlich nicht einmal so sehr am Verlauf der amerikanischen Politik, sondern sind wohl vor allem der Ausdruck der Besorgnis, daß diese Politik in eine Sackgasse führen könnte.
Es handelt sich nicht einfach darum, ob Rot-china „in diesem Jahr, im nächsten vielleicht, irgendwann oder niemals“ den Platz Chinas in den Vereinten Nationen einnehmen wird. Es handelt sich um viel mehr als nur um diesen einen politischen Akt. Westliche Demokratien können aus grundsätzlichen Erwägungen keine aggressive Politik treiben, da dies ihrer Überzeugung widersprechen würde. Deshalb müssen sie nach unserer Ansicht zu Verhandlungen bereit sein. An diesem Punkte aber machen sich allgemein verbreitete Vorurteile bemerkbar. Verhandlungen werden für gleichbedeutend mit einer „Politik der Milde“, der Schwäche, für ein neues Münc 1 hen, ein neues Jalta gehalten, für eine Parallele zu historischen Ereignissen, deren wirkliche Bedeutung die meisten Menschen nur dunkel in Erinnerung haben. Man sagt uns, man könne mit kommunistischen Ländern nicht verhandeln, sie seien unzuverlässig, unaufrichtig usw. Vielleicht sind sie wirklich so, und wenn es zutrifft, dann wären wir ja bereits gewarnt und genügend gerüstet. Aber wir müssen doch irgendeine Politik treiben. Sir Winston Churchill sagt, „Reden sei besser als Krieg führen“, das ist sein politisches Dogma. Präsident Syngman Rhee sagt, „Krieg führen sei besser als reden“, das ist wenigstens eine klar verständliche Politik, was man auch immer von ihr halten mag. Aber „weder zu reden noch Krieg zu führen" ist bestimmt keine wirksame Politik, wenn man es überhaupt als eine solche bezeichnen will. Natürlich können Verhandlungen nur von einer starken Position aus geführt werden. Hinter ihnen müssen ein fester und einmütiger Wille, eine gutorganisierte Wirtschaft und starke Streitkräfte stehen. Ein modus vivendi mit den kommunistischen Nationen läßt sich nur bei dauernden gleichwertigen physischen und moralischen Kräften erreichen.
Einigkeit, Treue, Wachsamkeit
Ich sagte schon an anderer Stelle, daß die Aufrechterhaltung der anglo-amerikanischen Freundschaft, unter der ich eine Freundschaft im weitesten Sinne zwischen dem Commonwealth und den Vereinigten Staaten verstehe, der entscheidende Faktor sein wird. Und da wir dazu neigen, unsere Meinungsverschiedenheiten zu verherrlichen und zu preisen und unsere gemeinsamen Ansichten unbeachtet zu lassen, möchte ich einige Worte über die anglo-amerikanischen Beziehungen sagen. Ohne die allgemeine und vielleicht auch offizielle unterschiedliche Beurteilung in beiden Ländern der, was ich vielleicht kurz die drei C's — China, Colonialismus und Coexistenz — nennen darf, leugnen zu wollen, bleibt es eine Tatsache, daß es sich bei den so viel diskutierten „Rissen" im Jahre 1954 fast immer nur um eine unterschiedliche Zeitauffassung gehandelt hat. Auf dem Gebiet der Außenpolitik scheinenAmerikaner gegen Verhandlungen garnichts einzuwendenhaben, aber sie sind versessen auf handgreifliche Ergebnisse. Sie setzen zeitliche Grenzen und zwar sehr kurze. Die Meinung der amerikanischen Öffentlichkeit ist viel stärkeren Schwankungen unterworfen — ich spreche hier nicht von der Meinung der Regierung — als in anderen Ländern: Am heutigen Montag ist sie für Intervention und eine Woche später für Isolationismus.
Im Gegensatz dazu verändert sich die Meinung der englischen Öffentlichkeit viel langsamer, ihre Geduld ist viel größer.. Und Geduld ist erforderlich. Alles in allem genommen waren 8 Jahre notwendig, um das Problem der Suez-Militärstützpunkte zu lösen. Vier Jahre waren erforderlich, um nach der Aufgabe von Abadan die Lage in Persien wieder herzustellen.
Wieviele Jahre müssen demnach darangegeben werden, um die viel schwierigeren fernöstlichen Probleme zu lösen? Engländer und Amerikaner wählen fast immer die gleichen Wege, doch bewegen sie sich nicht im gleichen Tempo. Nur wenn sie gerade auf der gleichen Höhe sind, befinden sie sich in vollkommener Harmonie miteinander.
Wir müssen versuchen, dafür Verständnis zu haben.
Wir müssen außerdem versuchen, die Bildung von Mythen zu verhindern. In den Vereinigten Staaten kann man oft die Ansicht vernehmen, daß die Engländer nur aus selbstsüchtiger Berechnung handelten, während die Amerikaner in der Außenpolitik nur die hehrsten moralischen Grundsäaze walten ließen. In England hingegen kann man hören, daß die Amerikaner zwar die Macht besäßen, in der Diplomatie aber unglücklicherweise naiv und unerfahren seien und sich von der höheren Weisheit der zwar verarmten, aber klugen und erfahrenen Engländer leiten lassen sollten. Wir können uns in dieser dritten Nachkriegsphase der internationalen Beziehungen angesichts des gerissenen geschmeidigen Widersachers so selbstverherrlichende, die Ziele nur trübende Vergleiche nicht leisten. Darum müssen wir vor allen Zusammenhalten, um auf strategischem und wirtschaftlichem Felde der kommunistischen Welt überlegen bleiben zu können. Die freie Welt muß das Militärpotential aufrecht erhalten, was eine wesentliche Voraussetzung zur Bewahrung des Gleichgewichts zwischen den beiden Welten ist. Wie brauchen die NATO, MEDO (Middle East Defense Organization), SEADO (South East Defense Organization) — Organisationen, die die Kommunisten nur zu gern sprengen oder verhindern möchten. Niemals darf unsere Wachsamkeit einschlafen, noch dürfen wir aufhören, unsere Hoffnung und Überzeugung laut zu verkünden, daß schließlich doch die Freiheit den Sieg davontragen wird. Wir sollten, wie es in der Washingtoner Erklärung vom 29. Juni 1954 heißt, „niemals teilhaben an einer Regelung oder einem Vertrag, durch den die unfreiwillige Knechtung souveräner, jetzt geknebelter Staaten bekräftigt und verlängert wird.“ Aber es hieße, jegliche Entwicklung und Veränderung innerhalb der menschlichen Gesellschaft verneinen, wenn man es für unmöglich halten würde, einen modus vivendi zu erreichen und zu erhalten. Die Geschichte lehrt, daß totalitäre Tyranneien den Keim der Zerstörung in sich tragen. Sicher hat Dulles recht in seinem Glauben, daß „die Zeit und die Grundwahrheiten“ unsere mächtigsten Verbündeten sind. Ich kann nicht glauben, daß das sowjetische System so vollkommen der mensch-
lischen Psyche und wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeit entspricht, daß es sich nicht selbst widerlegt oder im Laufe der Zeit verändert, wenn wir nur unsere Stärke und den Glauben an unsere Ideale bewahren. „Einigkeit, Treue, Wachsamkeit" waren Sir Winston Churchills Leitworte, an die wir uns alle oft erinnern sollten.
Nach meiner Ansicht müssen wir uns in der dritten Phase in dieser einzig annehmbaren po-